Deutschlandradio Kultur / Die Reportage Titel: Mauer des Schweigens - Der Prozess gegen die frühere RAF-Terroristin Verena Becker Autor: Thomas Moser ___________________________________________________________________ AT 1/Atmo (Im Gerichtssaal Gerede) - (drunter bleiben) Oberlandesgericht Stuttgart, Saal 153, 9 h morgens, Warten auf den Sitzungsbeginn. Etwa 30 Personen sind da. Die Angeklagte, Verteidiger, Bundesanwälte, Journalisten, Zuschauer, Polizeibeamte, und heute auch der Pressesprecher des Gerichtes. Warten auf einen prominenten Zeugen: den früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Ludwig-Holger Pfahls. AT 2/Atmo (Kameraklicken) - (drunter bleiben) Pfahls kommt mit Verspätung und mit Begleitung. Er wird aus Bayreuth gebracht, wo er eine mehrjährige Freiheitsstrafe absitzt. Er trägt Handschellen. Der ihn begleitende Justizwachtmeister schließt sie auf und setzt sich neben Pfahls. Ein früherer Chef des Inlandsgeheimdienstes der Bundesrepublik Deutschland, als Häftling im Zeugenstand, im Prozess um das Attentat auf den Generalbundesanwalt vor 35 Jahren, gegen ein ehemaliges Mitglied der Terrororganisation RAF, zugleich Informantin des Verfassungsschutzes - in dieser Szene ist die ganze Dimension des Falles eingefangen. Das Gericht betritt den Saal; der 6. Strafsenat des OLG Stuttgart: Fünf Richter und ein Ergänzungsrichter unter dem Vorsitz von Hermann Wieland. OT 1/Atmo-O-Ton Hermann Wieland (ca. 0'05) - (blenden) Atmo - "Guten Morgen. Nehmen Sie bitte Platz.// Dann darf ich bitten, dass Aufnahmen eingestellt werden." - Atmo Es ist der 16. März 2012 - der 80. Verhandlkungstag im Prozess gegen die frühere RAF-Terroristin Verena Becker. Atmo Auftrieb (Archiv) Der Ansturm am 1. Prozesstag - eineinhalb Jahre vorher, am 30. September 2010 - ist riesig. Mehr als 150 Besucher wollen hinein. Nach Jahren noch einmal ein RAF- Prozess, exakt an dem Ort, wo Andreas Baader und Gudrun Ensslin die Richter als "Faschisten" beschimpften: In Stuttgart-Stammheim. Dort, wo auch die Angeklagte von heute sich rücklings auf die Anklagebank warf und später zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Damals wegen versuchten Mordes an mehreren Polizisten. Diesmal geht es um die Ermordung des Generalbundesanwaltes Siegfried Buback am 7. April 1977, seines Fahrers Wolfgang Göbel und des Sicherheitsbeamten Georg Wurster. In den 80er Jahren wurden Christian Klar, Knut Folkerts und Brigitte Mohnhaupt wegen gemeinschaftlichen Mordes verurteilt. Wer aber am Gründonnerstag 1977 tatsächlich zum Mordkommando gehörte, ist bis heute ungeklärt. Atmo Leibesvisitation (Archiv) In dem Gebäude, in den 70er Jahren extra für RAF-Prozesse unmittelbar neben der Justizvollzugsanstalt errichtet, gelten strengste Sicherheitsvorkehrungen: Jacken, Taschen, Schlüssel, Geldbeutel - alles muss abgegeben werden. Journalisten können Kugelschreiber und Notizblock mitnehmen, Handys werden extra verwahrt, in den Pausen sind Telefonate erlaubt. AT 3/Atmo Gerichtssaal Stammheim Verena Becker betritt den Saal mit Jeansjacke und Sonnenbrille. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr Mittäterschaft vor. Die Verlesung der Anklage dauert gerade mal zehn Minuten. Nach ein paar Mitteilungen des Gerichtes ist diese erste Sitzung auch schon wieder zu Ende. Der erste, der danach von den Journalisten bestürmt wird, ist Michael Buback, der Sohn des ermordeten Generalbundesanwaltes. Der Mann mit den ruhelosen Augen und dem schütteren Haar nimmt zusammen mit seiner Frau Elisabeth als Nebenkläger an dem Prozess teil: OT 3/O-Ton Michael Buback 1 (ca. 0'28/0'38) Fragen- und Stimmengewirr: - "Wie wollen Sie jetzt nachweisen, dass es Frau Becker war, wie wollen Sie das nachweisen?- Sie wollen wissen, wer auf dem Motorrad saß? (Reporter) - Wir wollen wissen, wer die beiden Personen auf dem Motorrad waren, und ich denke, dass das keine persönliche Angelegenheit der Bubacks ist.// Was erwarten Sie denn von Frau Becker in dem Prozess? (Reporter) - Ach Gott, ich erwarte von Frau Becker nicht, dass sie sich zur Tat äußert. Ich denke, das ist auch sehr gut zu verstehen./ Wenn in Deutschland nur die Strafsachen zu einem Urteil kämen, wo die Täter selbst ihre Tat bekennen, möglicherweise noch die Indizien mitbringen, dann brauchten wir ja eigentlich kaum noch Gerichte." Dann stellt sich ein Mann in rot-schimmernder Robe und gestutztem weißen Vollbart der internationalen Presse - Bundesanwalt Walter Hemberger. Er vertritt die Anklage: OT 4/O-Ton Walter Hemberger 1 (ca. 0'25/0'36) Also, der Tatvorwurf stützt sich darauf, dass Frau Becker entscheidend an der Vorbereitung, Planung des Anschlages beteiligt war, dass es zahlreiche Indizien und Beweismittel gibt, die darauf hinweisen, dass sie sich mit ihrer Schuld an diesem Anschlag auseinandersetzt und auch an Asservaten Spuren von ihr festgestellt werden konnten. Das begründet in einer Gesamtheit den Tatvorwurf der Mittäterschaft an dem Anschlag vom 7. April 1977." Verteidigt wird Becker von Walter Venedey und Hans-Wolfgang Euler: OT 5/O-Ton Hans-Wolfgang Euler (0'41) "Also nach unserer Auffassung stützen die uns bekannten Beweismittel, da können natürlich noch welche dazukommen, die Anklage nicht, die darin besteht, dass Frau Becker ideologisch aufgerüstet, die Täter, die wir ja gar nicht kennen, in ihrem Tatentschluss befeuert haben soll. Und der zweite Vorwurf ist der, dass sie am Tag vor dem Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback selbst ausgespäht haben soll am Tatort oder anderen dabei geholfen haben soll, indem sie sie abgeholt hat./ - Wird Frau Becker sich in dem Prozess irgendwie einlassen, irgendwie etwas Erhellendes beitragen können, wollen? (Reporter) - Frau Becker hat heute morgen über uns erklären lassen, dass sie sich z.Zt. nicht einlässt. Das lässt Interpretationen offen. - Das heißt, Sie schließen nicht aus, dass noch eine generelle Aussage kommen wird, oder? - Lassen Sie's einfach so stehen." Die Angeklagte hat den Saal längst verlassen. Ihre Verteidiger haben gegenüber dem Gericht erklärt: Frau Becker wird keinerlei Angaben machen. AT 4/Atmo Gerichtssaal 153 - (drunter bleiben) Ein paar Monate tagt das Gericht in Stammheim am Stadtrand von Stuttgart. Dann zieht es ins Justizviertel nahe des Landtages um. Im Saal 153, so groß wie ein Klassenzimmer, sitzen alle dicht beieinander. In den Pausen steht man zusammen auf dem Flur. Die Sicherheitsvorkehrungen haben sich als unnötig erwiesen. Verena Becker ist angeklagt, aber frei. Sie reist zu jedem Sitzungstag aus Berlin an, meist mit dem Flugzeug, manchmal mit dem Zug. Mehr als eineinhalb Jahre, Woche für Woche, betritt sie morgens mit ihrer Umhängetasche das Gerichtsgebäude, grüßt die vor der Tür wartenden Besucher flüchtig im Vorbeigehen. Und zieht sich dann mit ihren Verteidigern bis zum Prozessbeginn in einen Raum am Ende des Flurs zurück. Mit einem Urteil wird Ende Mai, Anfang Juni gerechnet. AT 4(2)/Atmo Gerichtssaal 153 Becker ist 59, gilt als chronisch kranke, erwerbsunfähige Rentnerin. Aus gesundheitlichen Gründen darf sie im Gerichtssaal trinken und eine Sonnenbrille tragen. Hundertmal fällt an jedem Prozesstag in Saal 153 ihr Name. Sie aber schweigt. Und scheint dennoch bei der Sache zu sein, auch wenn man keinen Blick erkennen kann, der etwas verrät. Manchmal röten sich ihre Wangen oder sie spielt mit ihren Händen. AT 5/Atmo Gerichtsflur (Buback, Ponto, Beckurts) Unter den Besuchern der Hauptverhandlung in Stuttgart sind immer wieder zwei Frauen, die aus München anreisen. Corinna Ponto, die Tochter von Jürgen Ponto, der ebenfalls 1977 ermordet wurde. Und Ina Beckurts, die Frau des Siemensmanagers Karl Heinz Beckurts, der zusammen mit seinem Fahrer Eckhard Groppler 1986 einem Anschlag zum Opfer fiel. Ina Beckurts ist 79 Jahre alt, wirkt aber jünger. Eine aufmerksame, wache Frau, die am Rande des Prozesses mit vielen Leuten spricht. Natürlich, sagt sie auf dem Weg in die Mittagspause, hinterlässt der Prozess bei ihr Spuren. OT 6/O-Ton Beckurts 2 (0'10/0'21) "Ich hab durchaus hier auch Augenblicke gehabt, wo ich dann in der Pause mal in irgendeine Ecke ging und am ganzen Körper zitterte und dachte, ich glaub, ich kann das hier nicht./ AT 6/Atmo Cafeteria In der Mittagspause sitzt Beckurts, wie viele Prozessbesucher, in der Cafeteria der Landesbibliothek direkt gegenüber vom Gericht. Zunächst, erzählt sie, beobachtet sie den Prozess aus der Ferne. Aus dem Buback-Verfahren versucht sie, Schlüsse zu ziehen für den Mord an ihrem Mann. Denn, wie eine ganze Reihe von Attentaten aus den 80er Jahren, die der RAF zugeschrieben werden, ist auch das auf Karl Heinz Beckurts bis heute nicht aufgeklärt. OT 7/O-Ton Ina Beckurts 3 (0'28/0'33) "Es heißt immer nur: Es ist nichts bekannt, der Staat weiß nichts, man weiß gar nichts, es ist nichts dazu zu sagen. Und dieses Nichts ist natürlich ein bisschen wenig in meiner Hand./ Aber ich hab das Gefühl, dass ich ganz viele kleine Bausteine finde und mir auch aufschreibe und auch hinterfrage./ Es kann ja sein, dass eines Tages plötzlich irgendein Paukenschlag kommt, wo all diese Mosaiksteinchen sich zu irgendetwas fügen." Sie will jeden Tag, den sie in Stuttgart ist, nutzen. Will etwas erfahren und zeigen, dass sie präsent ist. Als sie einmal nach Sitzungsende auf Verena Becker trifft, muss sie die Angeklagte einfach ansprechen. Eigentlich ist das während des Prozesses untersagt. OT 8/O-Ton Beckurts 4 (0'31/0'42) "Ich gebe zu, ich war wahnsinnig aufgeregt und ich war auch unvorbereitet und ich dachte auch, der erste Satz muss sitzen./ Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt hab. Sie hat nur gemerkt, dass ich gesagt hab: Ich habe keinerlei Rachegefühle und ich bin nicht mal überzeugt, ob es die RAF war und schon gar nicht Sie./ Übrigens: Der Anwalt hat ihr noch zugerufen, wer ich bin. Ich glaube, damit sie nicht Angst hat, ich tu ihr was, sondern dass er wüsste, wer ich bin. Sie hat entsetzt geguckt, sofern man eine Sonnenbrille als entsetzt definieren kann. Und sie hat den Mund zusammengekniffen und sie hat die Hände fest auf den Bauch gepresst." Atmo Raum leise Von September 2010 bis April 2012 befragt der Senat knapp 170 Zeugen. Darunter welche, die den Anschlag unmittelbar erlebten. Und welche, die ausdrücklich eine Frau als Schützin auf dem Motorrad wahrgenommen haben wollen. Augenzeugen, die bis dahin nicht gehört oder nicht einmal ermittelt worden sind. Einige melden sich von sich aus im Laufe des Prozesses. Eine Woche nach Prozessbeginn taucht plötzlich auch das Motorrad auf, von dem aus am 7. April 1977 geschossen wurde. Der Besitzer meldet sich und stellt dem Gericht die Maschine als Beweismittel zur Verfügung. Die Bundesanwaltschaft hatte das Fahrzeug 1982 offiziell verkauft. All das: Beispiele für eine Reihe von Oberflächlichkeiten und Ungereimtheiten. Der Prozess legt sie offen. Atmo Gericht Ab Frühjahr 2011 lädt das Gericht mehr als ein Dutzend ehemalige RAF-Mitglieder in den Zeugenstand. Ein paar wenige, wie Peter Jürgen Boock, stellen sich. Wer die Attentäter waren, können oder wollen sie aber nicht sagen. Die meisten verweigern die Aussage. Auch Günter Sonnenberg, der als Fahrer des Motorrades gilt. Oder Brigitte Mohnhaupt, eine der RAF-Führungsfiguren. Sie müssen sich nicht selber belasten. AT 7/Atmo Kameraklicken/Auftritt Klar September 2011. Saal 153 ist bis auf den letzten Platz besetzt. Kamerateams und Fotografen warten auf den Ex-RAF-Mann Christian Klar. Er kommt aus Berlin, betritt mit schnellen Schritten den Saal. Klar trägt Jeans, Jackett, eine grüne Schiebermütze und Pilotenbrille. Sein Gesicht versucht er mit einer Ausgabe des Tagesspiegels gegen Fotoaufnahmen zu verdecken. Dann sieht ihn das Publikum nur noch von hinten. Atmo Gerichtssaal Bevor der vorsitzende Richter die erste Frage stellt, redet er Klar minutenlang ins Gewissen. "Wenn Sie aussagen, brächte Ihnen das Respekt ein. Es könnte zur Versöhnung beitragen. Das ist eine historische Chance für Sie." Christian Klar könnte das Rätsel wohl lösen, wer die tödlichen Schüsse abfeuerte. Doch auch er schweigt. Vom bewaffneten Kampf hat sich die RAF bereits vor 20 Jahren verabschiedet. Das Schweigegelübde, es gilt offenbar noch immer. Der Richter arbeitet seinen Fragenkatalog ab. Klar antwortet leise immer wieder: "Ich mach´ keine Angaben." Oder er sagt gar nichts. Als der Richter, ohne eine Antwort abzuwarten, weiterfragt, mischt sich Michael Buback ein. Keine drei Meter ist er vom Zeugen entfernt. "Herr Klar muss sagen, ob er die Frage beantwortet oder nicht", sagt Buback. Klar sagt: "Ich mache keine Angaben." Unmittelbar nach der Vernehmung verlässt er im Laufschritt das Gerichtsgebäude. AT 8/Atmo-O-Ton Frageversuche an Klar/Angriffe auf Journalisten In seinem Gefolge ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen, die die wartenden Fotografen und Reporter wegdrängen, nach ihnen schlagen. Bis Christian Klar in einem Taxi sitzt und davon fährt. Atmo Gerichtssaal Zurück im Gerichtssaal. Bundesanwalt Walter Hemberger gibt ein Interview. Die selbstverordnete Zurückhaltung seiner Behörde - an diesem Tag gilt sie nicht. OT 9/O-Töne Hemberger 2 (ca. 0'13/0'22) - (einblenden) Der Herr Vorsitzende hat heute einen sehr eindringlichen Appell an ihn gerichtet, aber der hat auch nicht gefruchtet, so dass Herr Klar bei seinem Auskunftsverweigerungsrecht, das ihm zusteht, was wirklich sehr schwer verständlich ist, geblieben ist." Michael Buback steht unterdessen draußen auf dem Flur, wo die Zuschauer angeregt diskutieren. Er kann und will einfach nicht verstehen, dass der frühere Terrorist die Aussage verweigern darf. Schließlich sei der doch schon verurteilt. Buback, 67 Jahre alt, wirkt erschöpft. Wie lange wir das noch mitmachen werden, sagt er, weiß ich auch nicht. Atmo Cafeteria Der nächste Prozesstag. Der Chemieprofessor aus Göttingen macht mit seiner Frau Mittagspause in der Cafeteria. Zwischendurch tippt er Notizen in seinen Laptop. Für einen Fernsehsender schreibt er einen Blog über die Verhandlungstage. Drinnen im Gerichtssaal wird er später wieder viele Fragen stellen und Erklärungen abgeben. Ein aktiver Nebenkläger. Das kennt die Justiz so nicht. Und Buback stößt dabei immer wieder an die Grenzen der Rechte von Nebenklägern: OT 22/O-Ton Buback 3 (0'19/0'31) "Wir müssen alle Kosten selbst tragen. Also alle Fahrtkosten, alle sonstigen Kosten, die mit der Reise verbunden sind, natürlich die Übernachtungen hier in Stuttgart. Also wir bekommen nichts. Das, was wir bekommen, ist die Beiordnung der Anwälte." Atmo Gericht Nach einem Jahr Prozessdauer nimmt Buback selber auf dem Zeugenstuhl Platz. Weil sich viele Zeugen, tatsächliche oder vermeintliche, bis heute an ihn wenden. Das Gericht ist erschlagen von der Menge an Informationen, wahr oder nicht, die Buback referiert. Der Fall beschäftigt ihn seit nunmehr fünf Jahren Tag und Nacht. Buback glaubt nach wie vor, dass Verena Becker seinen Vater erschossen hat. Bei ihr wurde die Tatwaffe sowie ein Schraubenzieher aus dem Werkzeugset des Tatmotorrades gefunden. Indizien, aber keine Beweise. Die Stimmung im Gerichtssaal zwischen Buback und Bundesanwalt Hemberger ist oft gereizt. Der Nebenkläger ist zum eigentlichen Ankläger geworden. Dafür sind sich Bundesanwaltschaft und Becker-Verteidigung oft erstaunlich einig. Und Verena Becker spielt eine untergeordnete Rolle. Die ganze Zeit, die Buback redet, weicht Beckers Blick nicht von ihm. Am Ende wendet er sich persönlich an die Angeklagte und bittet sie, doch zu sagen, wo sie am 7. April 1977 war. Wenn sie nicht in Karlsruhe dabei war, könne man den quälenden Prozess sofort beenden, meint Buback. Verena Becker bleibt stumm. OT 23/O-Ton Buback 4 (0'43) "Das ist fast unwirklich. Es ist ihr Recht, nichts zu sagen, das ist völlig klar. Nur dennoch: ich meine, es ist ja, das spüren meine Frau und ich besonders stark, es ist ja auch Lebenszeit, die das hier kostet, die uns das kostet, die es ja auch Frau Becker kostet./ Deshalb sehnt man sich, dass da eine Klärung kommt. Und es gibt ja nun diesen Hinweis, dass Frau Becker bei einer Telefonüberwachung gesagt haben soll, sie will die Buback-Geschichte aufschreiben. Daraus entnehme ich auch, dass auch sie irgendwie das Bedürfnis hat, da reinen Tisch zu machen. Und das würde ich natürlich auch gern unterstützen." AT 6(2)/Atmo Cafeteria Spät im Laufe des Prozesses entschließt sich ein Mann, ebenfalls als Besucher zuzuhören: Walter Kuhn, Sohn des früheren Ermittlungsrichters am Bundesgerichtshof Horst Kuhn. OT 11/O-Ton Walter Kuhn 1 (0'12) "Mein Vater hat Suizid gemacht. Das hat die Familie damals sehr belastet./ Ich selbst habe lange Jahre Alpträume gehabt, massive Alpträume, also Träume vom Kaliber, daß mich eben Terroristen entführen und umbringen." Horst Kuhn war mit dem Buback-Komplex betraut; der Haftbefehl von damals gegen Verena Becker trägt seine Unterschrift. Die RAF-Frau zählte für ihn zum Kreis der Täter. OT 12/O-Ton Kuhn 2 (0'12) "Er ist also quasi derjenige, welcher dafür gesorgt hatte, dass Verena Becker erst mal in ein ordentliches Verfahren hineinkam./ Ich weiß, dass er damals davon überzeugt war, dass sie's war, sonst hätte er das auch nicht unterschrieben." Walter Kuhn sitzt ein paar Tische neben Buback vor einer Tasse Kaffee. Der untersetzte Mann redet ruhig, ist aber aufgewühlt. Er kann sich noch gut an harte und konfrontative Telefonate erinnern, die sein Vater mit staatlichen Stellen führte. 1977 war er 13 Jahre alt. Die RAF-Geschichte hat auch ihn tief gezeichnet. Schlafstörungen, Ausgrenzungen im Freundeskreis, später der Suizid seines Vaters. Walter Kuhn sieht einen Zusammenhang mit dessen Tätigkeit als RAF-Ermittler: OT 13/O-Ton Kuhn 3 (0'32) "Das ist eindeutig erkennbar. Die schlimmste Zeit, und ich sag das jetzt mal bewusst als Familienmitglied damals, die ich erlebt hab, das waren so die Jahre zwischen 1977 bis '80 etwa. Das war auch privat der reinste Terror. Anders kann man das nicht formulieren. Mein Vater hat mehr oder minder nur noch gearbeitet, Stress gehabt. Es ging ganz klar um Buback und einige andere Thematiken: Schleyer, Landshut, die ganzen Geschichten da./ Ich mein, Sie können nicht monatelang über 80 Stunden oder z.T. auch noch mehr arbeiten. Irgendwann hat das ne Grenze dann." AT 4(3)/Atmo (Im Gerichtssaal) Gesichert ist, dass Verena Becker ab 1981 umfangreiche Aussagen vor dem Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln gemacht hat. Unklar ist bisher, wie lang dieser Kontakt ging - und vor allem, wann er begann. Um das zu klären, lädt der 6. Strafsenat mehrere Beamte des Verfassungsschutzes als Zeugen vor. Unter ihnen im März den früheren Chef des Inlandsgeheimdienstes der Bundesrepublik Deutschland und heutigen Häftling Ludwig-Holger Pfahls. OT 1/Atmo-O-Ton Hermann Wieland (ca. 0'05) - (blenden) Atmo - "Guten Morgen. Nehmen Sie bitte Platz." Pflahls ist am 80. Prozesstag als einziger Zeuge geladen. Er sieht mitgenommen aus. Aber man merkt, dass er einst hohe Staatsämter inne gehabt hat. Er drückt sich sehr formal und korrekt aus. Verena Becker sehe ich zum ersten Mal, sagt er. Dass sie eine V-Frau des Verfassungsschutzes gewesen sein soll, habe er in seinem Amt nicht zur Kenntnis bekommen. Dass sie die Schützin gewesen sein soll, auch nicht. Wie alle Zeugen, bleibt auch Pfahls unvereidigt. Nach nur einer Stunde schließt ihm der Wachtmeister wieder die Handschellen an, legt eine Jacke über Pfahls Unterarme, damit man die demütigende Fesselung nicht sieht. Und bringt ihn zurück ins Gefängnis. Atmo (Flur Gericht) Ein halbes Dutzend Verfassungsschützer hat das Gericht nun gehört. Alle haben sie Aussagegenehmigungen mitgebracht, die eng gefasst sind. Michael Buback und Ina Beckurts können das nicht verstehen. Schließlich geht es doch um die Aufklärung eines Mordes - obendrein am obersten Strafverfolger des Staates: OT 16/O-Ton Beckurts 6 (0'13) "Die sind für mich alle eine Bestätigung, für das, was sich hier eigentlich abspielt.// Aber wenn sie so strikt nichts sagen dürfen, ist es für mich ein komplettes überschaubares System, und da steckt die Antwort." Die Hintergründe der Zusammenarbeit Beckers mit dem Verfassungsschutz aufzudecken sowie ihre mögliche Tatbeteiligung gelingt in Stuttgart nicht - auch nicht durch den ranghöchsten Zeugen: OT 17/O-Ton Gerhart Baum 1 (0'14/0'18) "Ich bin selten in meinem Leben als Zeuge aufgetreten und noch nie als Zeuge im Hinblick auf meine Amtstätigkeit im Innenministerium. Das ist also eine neue Erfahrung." ... sagt Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Er ist am Morgen des 77. Prozesstages mit dem ICE von Köln nach Stuttgart gekommen. Auch der Minister a.D. darf vor Gericht nicht alle Fragen beantworten. Und schon gar nicht die, - so steht es in der Aussagegenehmigung des Innenministeriums - die dem Wohl des Bundes schaden könnten. "Damit kann ich eigentlich wenig anfangen", sagt Baum. "Wo beginnt das Wohl des Bundes? Und wer legt das fest?" Zeuge Baum erklärt, gewusst zu haben, dass es eine Verbindung zwischen Becker und dem Verfassungsschutz gab. Woher - das wisse er aber nicht mehr. - Pause. AT 9/Atmo Gehen auf dem Flur/Sitzungssaal In einem abgelegenen Verhandlungsraum stellt sich der Ex-Innenminister einigen Fragen. OT 18/O-Ton Baum 2 (0'02) "Ich kann nichts, ich kann nichts mehr beitragen." ... sagt er gleich kurz und knapp. Und, dass die am Mordkomplott Beteiligten reden müssten. Der 80jährige ist hellwach, konzentriert und noch immer Staatsmann. Den Verdacht, dass staatliche Stellen vielleicht mehr wissen, als sie zugeben - weist er entschieden zurück. OT 19/O-Ton Baum 3 (0'12) "Also ich sage noch einmal: Wenn der Staat, die staatlichen Organe den Schützen kennen würden oder die Schützin und das verheimlichen, das würde ich für abenteuerlich halten. Das ist meines Erachtens auch nicht der Fall." Frage: Was bedeutet es für die Bundesrepublik, dass das Attentat auf ihren höchsten Ermittler auch nach 35 Jahren nicht aufgeklärt ist? Baum zögert eine Sekunde und antwortet dann mit bedauernder Geste: OT 20/O-Ton Baum 4 (0'15/0'20) "Ich kann Ihnen natürlich jetzt entgegnen: die Morde an Beckurts, Rohwedder und anderen ab '85 sind auch nicht aufgeklärt. Es ist leider so, dass viele Straftaten nicht aufgeklärt werden - können. Viele Morde bleiben ungesühnt, leider." AT 9(2)/Atmo (Gehen auf dem Flur)/ Gerichtssaal Nach 15 Minuten wird die Befragung im Saal 153 fortgesetzt. Michael Buback fragt Gerhart Baum, wie lange die Identität einer Quelle geheim gehalten wird. Denn, wenn Becker 1981 vor dem Verfassungsschutz ausgesagt hat, sei die Frist von 30 Jahren doch abgelaufen. Baum entgegnet, der Quellenschutz gilt, solange die Quelle lebt. Im Publikum kommt Unruhe auf. Ein Besucher twittert: "Nach mehr als 30 Jahren bleiben Akten immer noch unter Verschluss, so Zeuge Baum, zum Wohle des Staates oder zum Schutz von Informanten. Welches Geheimwissen zum Fall Buback bleibt unter der Decke? Trauriges Kapitel deutscher Rechtsermittlungen. - 24. Februar 2012, 11:39 h." Es ist Walter Kuhn, der Sohn des früheren Ermittlungsrichters. Wie das Verfahren abläuft, sagt er in der Pause, das regt mich auf. Und das soll auch die Öffentlichkeit erfahren. * 13