KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 00.05 Titel : "Dasein als Staffage" Zur literarischen Inszenierung der Zigeuner Autor :Beate Ziegs Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 24.07.2011 Besetzung : Sprecher : Sprecherin :Zitatorin : Zitator Regie : 0-Ton/Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Orthographie und Grammatik in den Zitaten sowie evtl. Hervorhebungen entsprechen den Quellen, denen sie entnommen sind. MUSIK ZITATOR Ein lumpicht Bettelvolk füllt alle Straßen an, Vor dem ein Reisender sich kaum noch retten kann; Wenn dieß Zigeunerpack mit Weib und Kindern lärmet, Und wilden Hummeln gleich um Pferd und Kutsche schwärmet. Ists Faulheit, die dieß Volk zum Bettelstabe treibt? Ists Unart, die so gern beym Müßiggange bleibt? () Ein Zucht- und Arbeitshaus vertreibt die Krankheit leicht, Die mancher Obrigkeit so gar unheilbar deucht.1 SPRECHER Johann Christoph Gottsched, deutscher Moralist, Dramaturg und Li- teraturtheoretiker, im Januar 1733 in einem Gedicht an seine Verlob- te. Musik kurz hoch ZITATOR [Sie sind] eine verworfene Indische Kaste, die von allem, was sich göttlich, anständig und bürgerlich nennet, ihrer Geburt nach entfernt ist und dieser erniedrigenden Bestimmung noch nach Jahrhunderten treu bleibt.2 SPRECHER Johann Gottfried Herder, einer der einflussreichsten deutschen Schriftsteller und Denker im Zeitalter der Aufklärung, 1791 in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Musik kurz hoch ZITATOR Doch mag ich nicht da leben, denn die Zigeuner sind alle zum Gal- gen reif und gar nicht romantisch.3 SPRECHER Clemens Brentano im Sommer 1810 in einem Brief aus der Bukowina an seine Freunde Jacob und Wilhelm Grimm. O-TON 1 Klaus-Michael Bogdal: Das ist eine Form von Diskriminierung, die immer auf Ausschluss be- ruht. Das ist deutsche Tradition. SPRECHER Klaus-Michael Bogdal, Literaturwissenschaftler an der Universität Bie- lefeld. Musik kurz hoch ZITATORIN Wären Zigeuner verbrannt, hätte es mich nicht gestört - Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma egal.4 SPRECHER Die 16jährige Schülerin Ramona in einem Interview mit dem Magazin Stern, nachdem sie gemeinsam mit anderen Jugendlichen im August 1992 unter dem Johlen und Klatschen der meist älteren Schaulusti- gen in Rostock-Lichtenhagen Benzinbomben in ein Ausländerheim geschleudert hat, das voller Menschen war. ZITATOR Präsident Sarkozy ließ () im Sommer [2010] 40 Zigeunerlager in Frankreich schließen und die Bewohner nach Rumänien und Bulga- rien zurückführen. () Was den Franzosen recht ist, sollte uns Deut- schen billig sein!5 SPRECHER Die Bürgerbewegung "Pro Berlin" am 5. Februar 2011 in ihrem Pam- phlet Nachteile der Freizügigkeit. Musik kurz hoch, auf den Ausklang Sprecherin SPRECHERIN Sie haben eine starke erotische Ausstrahlung, können auffallend gut tanzen und musizieren, verfügen über magische und wahrsagerische Fähigkeiten, sind gute Handwerker und Musiker sowie extrem frei- heitsliebend. SPRECHER Trotz dieser positiven oder zumindest ambivalenten Eigenschaften, die den Roma-Ethnien zugeschrieben werden, rangierten sie im Früh- jahr 2008 bei einer repräsentativen Umfrage in allen EU-Staaten an letzter Stelle bei der Frage, wen man gerne als Nachbar hätte. Denn sie gelten als geborene Diebe und Lügner, als faul und dreckig, nicht integrierbar, sondern zum "ewigen Wandern" verurteilt. Außerdem hält man für sie feige und streitlustig, unzuverlässig und anmaßend. SPRECHERIN Und es wird ihnen eine Eigenart nachgesagt, die auch Elias Canetti Angst machte. ZITATOR Ich lebte in panischem Schrecken vor ihnen. Ich nehme an, es waren die Mädchen, die mir an den langen Abenden im Dunkel auf dem Sofa auch von den Zigeunern erzählt hatten. Ich dachte daran, daß sie Kin- der stehlen und war überzeugt davon, daß sie es auf mich abgesehen hatten.6 SPRECHERIN Über keine andere Minderheit wissen die Angehörigen der Mehrheits- gesellschaft so wenig und meinen dennoch, so viel Negatives über sie sagen zu können wie über so genannte Zigeuner. Die Ressentiments beruhen in den seltensten Fällen auf persönlichen Erfahrungen, sind aber dennoch nicht völlig aus der Luft gegriffen. SPRECHER Denn sie sind Bestandteil eines kulturellen Erbes, zu dem in diesem Fall die Literatur einen wesentlichen Beitrag geleistet hat - und mit immer neuem Stoff weiterhin leistet. Seit Jahrhunderten liefern der Li- teratur- und der Musikbetrieb sowie neuere Medien wie Film und In- ternet Inszenierungen des Zigeunerlebens, die mit der Lebenswirklich- keit von Sinti, Manouches oder Kalderasch wenig zu tun haben. ZITATOR Wir thun niemanden Leids, wir säubern Land vom Ungeziefer, essen Hamstern, Wieseln und Feldmäus. () Es friert uns nicht, gingen wir nackend und blos. Es schauert uns nicht vorm Schneegestöber, wenn die Wölfe heulen, und Spenster krächzen, wenn's Irrlicht kommt und der feurige Mann.7 SPRECHERIN Ihrer vermeintlichen Natur entsprechend, ernähren sie sich, als wären sie lebende Müllschlucker, und frieren selbst dann nicht, wenn sie nackt durch den Schnee stapfen. Ist es ihr "Spenster"-Glaube, der ih- nen die Kraft zu derlei menschlich-unmenschlichen Fähigkeiten ver- leiht? SPRECHER Goethe lässt diese Frage in seiner Schilderung eines Zigeunerlagers im Götz von Berlichingen offen - beziehungsweise stellt sie erst gar nicht. Das Schauspiel gilt als eines der ersten und wichtigsten Werke des Sturm und Drang. Einige Literaturwissenschaftler würdigen es obendrein als "Wendepunkt" von negativen zu positiven Zigeunerbil- dern. Was aber ist positiv daran, wenn Goethe Götz von Berlichingen im Maskenzug zum Dezember 1818 feststellen lässt: ZITATOR Und fernerhin Zigeuner zeigen an, Es sei um Ordnung in dem Reich getan. () Sind räuberisch, entführen oft zum Scherz, Wahrsagerinnen, Menschen Geist und Herz.8 SPRECHER Ausgerechnet die am Rande der Gesellschaft lebenden Zigeuner sol- len ein Indikator dafür sein, wie zur Zeit der Bauernkriege das Land im Chaos versank? Das hat wohl wenig mit Geschichtskenntnissen zu tun, dafür um so mehr mit der Angst des Weimarer Hofbeamten, die zu seiner Zeit schon seit über 300 Jahren in Deutschland lebende Minderheit der Sinti könnte die öffentliche Ordnung gefährden. SPRECHERIN Kaum ein anderer deutscher Schriftsteller hat sich so häufig über Zi- geuner geäußert wie Goethe. Man hält ihm zugute, sie durch seine Werke "literaturfähig" gemacht zu haben. Tatsächlich hat er nur die Vorurteile über sie literaturfähig gemacht und sie - wie er in Dichtung und Wahrheit selbst bekennt - bühnenwirksam eingesetzt in dem Wissen, wie gut unzivilisierte Räuberbanden oder zahnlose alte Zi- geunerweiber, die um ein Lagerfeuer hocken und unverständliche Laute murmeln, beim Publikum seiner Zeit ankommen. Ein ganz an- deres Klischee bedient er mit dem "wunderbaren Kind" namens Mig- non in seinem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, das in ei- ner Gruppe fahrender Seiltänzer und Gaukler als "spanische Tänze- rin" auftritt. ZITATOR Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Kör- per war gut gebaut (). Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffal- lend; ihre Stirn geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und der Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schien, und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Diese Gestalt prägte sich Wilhelmen sehr tief ein ().9 SPRECHERIN Als Mignon von dem Anführer ihrer Gruppe geschlagen wird, kauft Wilhelm sie los und nimmt sie wie eine Tochter auf. ZITATOR In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang (). In seinem Dienste war das Kind unermüdet, und früh mit der Sonne auf; es ver- lor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nack- ten Erde, und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen.10 SPRECHERIN Auch die Zigeuner im Götz von Berlichingen schlafen mit Vorliebe auf der nackten Erde, wie es sich für ein primitives Naturvolk gehört. Goe- the stattet seine Mignon darüber hinaus mit allen Attributen aus, die zur literarischen Figur der "jungen Zigeunerin" gehören: Sie hat schwarze Haare, schwarze Augen und einen dunklen Teint; sie spricht eine seltsame Sprache und tanzt vor allem einen "hochartistischen Eiertanz" mit jener Bravour, wie man sie von einer Flamenco tanzen- den andalusischen Gitana kennt. SPRECHER Nur, dass Mignon gar keine Zigeunerin ist, sondern - wie sich im Mit- telteil des Romans herausstellt - eine Italienerin, die "in sehr früher Jugend durch eine Gesellschaft Seiltänzer ihren Eltern entführt wor- den" ist. Von da an überträgt der Leser das Imago des Zigeunerhaf- ten nicht mehr auf Mignon, sondern auf die Seiltänzer, denn Kindes- raub war zur Zeit Goethes ein beliebtes literarisches Sujet, das vor- zugsweise den Sinti und Roma angedichtet wurde. SPRECHERIN Mignon ist durch die Entführung nachhaltig traumatisiert. Jedes Mal, wenn sie befürchtet, von Wilhelm verlassen zu werden, bekommt sie heftige Herzattacken. Als sie Zeugin wird, wie er seine Braut Therese umarmt und küsst, - ZITATOR - fuhr [Mignon] auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei () für tot nieder.11 MUSIK SPRECHERIN Das Motiv des Kinderraubs hat Goethe bei Miguel de Cervantes auf- gegriffen. In dessen Erzählung Das Zigeunermädchen aus dem Jahr 1613 wird das spanische Edelfräulein Preciosa als Kind von einer al- ten Zigeunerin entführt. Aber anders als Mignon, fühlt sich Preciosa bei den Zigeunern wohl und verehrt ihre Entführerin auch dann noch, als diese die Tat gesteht, denn durch sie hat Preciosa ein freies Leben führen können, das ihr nach der standesgemäßen Heirat, mit der die Novelle endet, nicht mehr zusteht. Doch so positiv, lebensfroh und geistreich Cervantes die Figur der Preciosa auch zeichnen mag, so verhängnisvoll ist der Mythos vom Kindesraub, den er in die Welt ge- setzt hat. SPRECHER Diese seit dem Erscheinen der Novelle immer wieder vorgebrachte Anschuldigung ist nie durch Polizeiakten oder Gerichtsprotokolle be- legt worden. Wohl aber gibt es zahlreiche Belege für eine staatlich or- ganisierte Praxis, durch die zum Beispiel den Roma oder den Jeni- schen die Kinder weggenommen wurden, damit sie sich nicht an das "Zigeunerleben" ihrer Eltern gewöhnen können. So erließ 1773 Köni- gin Maria Theresia eine entsprechende Verfügung für Ungarn; in der Schweiz glaubte sich das "Hilfswerk für Kinder der Landstraße" noch bis 1973 zu solchen Maßnahmen berechtigt. SPRECHERIN Doch trotz der Beweislücke für den Kinderraub-Vorwurf, haben viele Schriftsteller eifrig an der Fortschreibung dieser Fiktion mitgewirkt. Zum Beispiel Joseph von Eichendorf 1815 mit seinem Roman Ahnung und Gegenwart, E.T.A. Hoffmann 1825 mit seiner Erzählung Das öde Haus oder Eduard Mörike 1832 mit seinem Roman Maler Nolten. Dar- in wird Elisabeth, das Kind einer Zigeunerin und eines Bürgerlichen, als Siebenjährige aus ihrem Vaterhaus entführt - und zwar von eben jener "Zigeunerbande", der ihre im Kindbett verstorbene Mutter ent- stammt. Theobald Nolten begegnet ihr in einer verfallenen und gott- verlassenen Burgruine. ZITATOR Nach und nach erklärte er, daß ihm das Mädchen über sich selbst nichts weiter zu sagen gewußt, als: sie habe sich vor vier Tagen heimlich von ihrer Gesellschaft, einer übrigens öffentlich geduldeten Zigeunerhorde, getrennt, weil sie ihre Heimath habe wieder suchen wollen, der man sie in jungen Jahren entrissen, deren sie sich auch nur schwach mehr erinnere. () sie fügte sogar noch den naiven Trost hinzu:12 ZITATORIN "Seyd nur nicht bang', () daß ich Jemand Übels zufüge (). Diese Nacht noch zieht Elisabeth weiter, woher sie gekommen, denn die Heimath ist nicht mehr zu finden. Man hat mir sie verstellt; die Berge, das Haus und den grünen See, mir Alles verstellt! Wie das nur möglich ist! Ich muss lachen!"12 SPRECHERIN Man wird Elisabeth später in der Nähe eines Landguts tot auffinden; der Leser darf vermuten, dass sie an Entkräftung gestorben ist. Auch wenn in Hoffmanns Erzählung Das öde Haus der Verdacht des Kinderraubs als unbegründet entlarvt wird, und auch wenn Mörike das Motiv benutzt, um seine spätromantische Todessehnsucht und die oft vergebliche Suche nach dem Anderen des eigenen Ich zu thematisie- ren: Der Vorwurf muss bestehen bleiben, dass sich beide wie viele an- dere ihrer schreibenden Kollegen bedenkenlos eines Stereotyps be- dienen, das erheblich zur Kriminalisierung der Sinti und Roma beige- tragen hat. SPRECHER Selbst der Versuch, den Vorwurf zu entkräften, kommt nicht ohne neu- erliche Beschuldigungen aus. So erklärt der Philosoph Walter Benja- min in einer seiner Rundfunkansprachen, die er zwischen 1929 und 1932 zur Aufklärung der Jugend hält: ZITATOR Groß sind diese Familien, denn die Zigeuner haben furchtbar viele Kinder. Sie sind, weiß Gott, nicht darauf angewiesen, kleine Kinder von fremden Leuten zu stehlen. () Man kann den Zigeunern so viele böse Streiche mit Recht nachsagen, daß man es gar nicht nötig hat, sie da anzuschwärzen, wo sie unschuldig sind.13 SPRECHER Obwohl es sich um eine rein literarische Erfindung handelt, findet sich die Mär vom Kinderraub auch in wissenschaftlichen - besser gesagt: pseudowissenschaftlichen - Abhandlungen wieder. Etwa in dem 1783 erschienenen Historischen Versuch über die Zigeuner des Statistikers und Kulturhistorikers Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann. Zum Stich- wort "Kinderraub" schreibt Grellmann, er halte die tradierten Gerüchte deshalb für glaubwürdig, weil es die Zigeuner, so wörtlich: "nach jun- gem Menschenfleisch gelüstet". Sein "Beweis" für die "Menschenfres- serey" sind Zeitungsberichte, die sich allerdings als Falschmeldungen herausstellen. Daraufhin vermerkt er in der zweiten Auflage seines Hi- storischen Versuchs von 1787, dass der Kannibalismus "mit größter Wahrscheinlichkeit" eine Gewohnheit der Zigeuner sei.14 Grellmanns ethnisch begründeter Rassismus wurde immer wieder kritisiert. Trotz- dem galt sein Werk bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als das Standardwerk schlechthin. SPRECHERIN Wie subtil Grellmanns Unterstellungen literarisch adaptiert wurden, lässt sich u.a. in Thomas Münsters Roman Des Kaisers arme Zigeu- ner von 1962 nachlesen, der 1980 unter dem Titel Des Kaisers ver- fluchte Zigeuner neu aufgelegt wurde. Einerseits rekonstruiert Münster die Entstehungsgeschichte des Gerüchts und weist den Kannibalis- musverdacht als "infam" zurück; andererseits schildert er so genannte "typische" Verhaltensweisen, die eine derart ungeheuerliche Anschul- digung erst ermöglichen und rechtfertigen würden. Zum Beispiel die Sorglosigkeit, mit der sich Zigeuner angeblich dem Hier und Jetzt ver- schreiben. ZITATOR Keiner von ihnen hatte jemals gelernt, den kommenden Tag zu be- denken. Vorfreude war ihnen so unbekannt wie die Angst vor dem nächsten Morgenrot: Sorge heute nicht um das Brot, nach dem dich erst in drei Tagen hungern wird.15 MUSIK Georges Bizet: "Carmen" Auf den Ausklang der Musik: O-TON 2 Wilhelm Solms: Es gibt keine Adaption von Carmen in der deutschen Literatur. Also diese kraftvollen Frauen, die gibt es nicht. Als ob die Dichter Angst vor ihnen hätten. SPRECHER Wilhelm Solms war bis zu seiner Emeritierung 2001 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg. Er ist einer der ersten Literaturwissenschaftler, die sich mit der Überliefe- rungsgeschichte von Zigeunerklischees befasst haben. 1998 wurde auf seine Initiative hin die "Gesellschaft für Antiziganismusforschung" gegründet, deren Vorsitzender er ist. O-TON 3 Wilhelm Solms: Das Bild der "schönen Zigeunerin" beginnt erst in der Romantik. In der Romantik wird sie als schön und attraktiv, anziehend - die Steigerung ist "unwiderstehlich" - beschrieben. Das Absurde ist, dass man diese erotischen Gefühle ausgerechnet auf Sinti-Frauen projiziert hat, die völlig unerreichbar gewesen sind. Die wären ja von ihrer Gruppe aus- gestoßen worden. Das sind Gegenbilder, von denen man zwar träu- men konnte, die aber nicht wirklich Gewicht haben durften. Deswegen scheitern diese Zigeunerinnen ja auch alle. Beim Happy End ist sie nie dabei. Da muss sie verschwinden und stirbt oder bleibt irgendwo un- terwegs liegen. Manchmal wird sie einfach vergessen vom Schrift- steller. Im frühen Drama von Brentano Aloys und Imelde hat er eine große Liebe mit ihr. Aber ab dem 3. Akt vergisst der Dichter sie ein- fach. SPRECHERIN Carmen hingegen kann man nicht vergessen. Ihr Anderssein, ihre ins Mythische erhobene Erotik und ihr Freiheitsdrang, der gegenüber kei- nem Verehrer Pardon kennt, macht allerdings nicht nur den deutschen Dichtern zu schaffen, sondern auch dem Schöpfer dieses Inbegriffs der "schönen Zigeunerin": Nachdem Prosper Mérimée stellvertretend für alle Sesshaften Carmen zur Ikone der eigenen Sehnsucht nach dem Freien und Wilden in sich selbst aufgebaut hat, muss er ihr ein jä- hes Ende bereiten - denn wie sonst wäre es ertragbar, jener Sehn- sucht zu entsagen und auf die eigene Entgrenzung zu verzichten?! ZITATOR Zum letzten Mal, rief ich, willst du bei mir bleiben? Nein, nein, nein!, rief sie, indem sie mit dem Fuß aufstampfte und den Ring, den sie von mir hatte, vom Finger zog und ins Gebüsch schleu- derte. Ich stach und stach nochmals. () Noch ist's mir, als schaute ich ihr großes schwarzes Auge starr auf mich gerichtet. Bald ward es trübe und schloss sich. Mindestens eine Stunde stand ich vor der Leiche, wie im Traum. () [Dann grub ich] ihr mit meinem Messer ein Grab und legte sie darein. () Schließlich saß ich auf und ritt im Galopp nach Kor- dova und gab mich dem erstbesten Wachposten zu erkennen. Ich ha- be angegeben, dass ich Carmen ermordet hatte; aber wo ihr Leib liegt, habe ich nicht gesagt.16 SPRECHERIN Zu seiner eigenen Rechtfertigung des Mords darf Don José, der ver- schmähte Liebhaber, die Erzählung mit den Worten beschließen: ZITATOR Armes Ding! Die Zigeuner tragen die Schuld; sie haben sie so erzo- gen.17 SPRECHERIN Zu einer Virtuosin des Überlebens nämlich. Denn bevor sie von Don José erstochen wird, lebt Carmen mal unter Schmugglern, mal unter Soldaten, mal in der Estremadura, mal in Sevilla, mal auf Gibraltar; sie kann sich in verschiedenen Sprachen verständigen und ist in ebenso verschiedenen Religionen zu Hause; überdies vermag sie nicht nur aus Büchern zu lesen, sondern auch aus Spielkarten, Glaskugeln oder Handlinien. Kurzum: Carmen lebt nicht diesseits oder jenseits einer Grenze, die man zwischen Norm und Abweichung von der Norm zie- hen könnte, sondern sie lebt auf der Grenze. Auf der Grenze zwischen Traum und Realität, Illusion und Enttäuschung. Zu den wenigen Aus- nahmen, die an diesem gefährlichen Ort mit dem Leben davon kom- men, gehört - ZITATOR - ein schwarzbraunes, zerlumptes, sonst glattes und hübsches Mägd- lein, glänzend und schlank wie ein brauner Aal.18 SPRECHERIN Gemeint ist Mitidika - dieses Mal eine echte Zigeunerin -, die in der Erzählung Die mehreren Wehmüller und andere ungarische National- gesichter von Clemens Brentano den Männern den Kopf verdreht. Ma- rino, der Führer einer Reisegruppe, drängt sich schon bei der ersten Begegnung anzüglich an sie heran, nennt sie einen "braunen Schatz" und gibt ihr - sicher nicht nur dem Reim zuliebe - einen "Schmatz". Ob er sich das auch bei einer sesshaften Frau herausgenommen hät- te? Für Baciochi, den Erzähler der Geschichte, ist sie mal "die kleine Braune", mal "die kleine flinke Braune" und mal "die nussbraune Jung- fer". SPRECHER Damit variiert Brentano Berichte von Chronisten aus dem frühen 15. Jahrhundert, in denen die eingewanderten Sinti unter anderem als "schwarz wie die Tartaren" beschrieben werden. Für den Literatur- wissenschaftler Wilhelm Solms verbirgt sich hinter der scheinbar ob- jektiven Beschreibung der Hautfarbe ein tief sitzendes Vorurteil. O-TON 4 Wilhelm Solms: Schwarz ist die Teufelsfarbe. "Der Schwarze" sagt man ja auch zum Teufel. Und "der Schwarze" wird auch der Geiger in Romeo und Julia auf dem Dorfe von Gottfried Keller genannt. Mal ist es Schwarz, mal ist es Braun. Und als man dann annahm, dass die Zigeuner nicht aus Ägypten stammen - die älteste Vorstellung war, es sind Ägypter, "gip- sy" auf Englisch -, sondern ein einheimisches Gesindel sind, musste man natürlich die dunkle Hautfarbe erklären, Und da schreiben die Chronisten und die Schriftsteller, sie haben die Babys mit Öl bestri- chen und in die Sonne zum Braten gelegt, damit sie diese braune Hautfarbe annehmen. Und als man dann entdeckte, dass sie aus In- dien stammen: Auf einmal schreiben die Schriftsteller "die gelben", "die quittegelben", "die zitronengelben" Zigeuner. Als hätten sie eine andere Brille aufgesetzt! Nachher hat man sich dann auf Bronze oder so etwas geeinigt. SPRECHERIN Für Mitidika spielt die dubiose Farbenlehre der Schriftsteller keine Rol- le: Sie erwartet ihren Schatz, den "wilden Jäger", und putzt sich mitten in der Nacht für ihn heraus. Baciochi beobachtet sie heimlich dabei. ZITATOR Sie nahm die kleine, von buntem Stroh geflochtene Mütze von ihrem Kopf und ein Strom von schwarzen Haaren stürzte ihr über die Schul- ter (). Sie kämmte sich, schlängelte sich goldene Schnüre in die Zöp- fe, die sie flocht und kunstreich wie eine Krone um das schöne, runde Köpfchen legte. Sie wusch sich das Gesicht und die Hände, putzte die Zähne, beschnitt sich die Nägel und tat alles mit so unbegreiflicher Zierlichkeit, Anmut und hinreißender Schnelligkeit der Bewegungen, daß es mir vor den Augen zitterte und bebte. Als sie die brillantenen Ohrringe in die kleinen schwarzen Muschelöhrchen befestigte und die glitzernden Zitternadeln in den Flechtenkranz steckte und die Koral- len- und Bernsteinschnüre um das braune Hälschen legte und dabei hin und her zuckte wie ein Wunderwerkchen, gingen mir die Augen über. Sie begoß sich mit Wohlgerüchen, rieb sich die schwarzen Patschchen mit duftendem Öl und steckte sich ein blitzendes Ringlein um das andere an die schlanken Fingerchen.19 SPRECHERIN Später tritt Mitidika in all ihrem - natürlich geklauten - Schmuck vor die Reisegesellschaft, auf die sie nun nicht mehr "zerlumpt", sondern "wie eine Zauberin" wirkt. Über charakterliche Eigenschaften irgend- welcher Art schweigt sich Brentano aus: Mitidika bleibt trotz aller An- mut und Raffinesse ein puppenhaftes Objekt, eine Kunstfigur - ein "Wunderwerkchen" eben. Das "Naturkind", als das Mitidika auch be- zeichnet wird, wohnt übrigens bei seiner Großmutter, einer alten Zi- geunerin, die sich mit "Wahrsagerei, Hexerei, Dieberei" und "Viehdok- torei" über Wasser hält. ZITATOR Ihr Schatten sah aus wie der Teufel, der sich über die Leiden der Ver- dammten bucklicht gelacht, und wäre er nicht vor ihr her in die Stube gefallen, um einen ein wenig vorzubereiten, ich hätte geglaubt, der Alp komme, mich zu würgen, als sie eintrat. Sie war von oben und rings herum eine Borste, ein Pelz und eine Quaste und sah darin aus wie der Oberpriester der Stachelschweine.20 O-TON 5 Wilhelm Solms: Das sind zwei Kehrseiten derselben Medaille. Die eine ist eine Zaube- rin, die Junge, und die Alte ist hexenhaft. Was ist denn der Unter- schied zwischen Zauberin und Hexe? Gibt es doch gar nicht, ist nur eine andere Beleuchtung derselben Sache. Und dann kommt noch das schmutzige Zigeunervolk, in dem die Mitidika und alle anderen schönen Zigeunerinnen leben, als Hintergrund, um diese Schöne her- auszustellen. SPRECHERIN So gibt es in Ludwig Tiecks Märchen Die Elfen viele "abscheuliche Weiber" sowie noch mehr "häßliche und schmuzige Kinder" - allesamt Zigeuner, die als Kontrastfiguren zu den Elfen mit ihren "gelockten gel- ben Haaren und hellen Augen" fungieren. Und Gerhart Hauptmann lässt in seinem Epos Till Eulenspiegel von 1927 den Gaukler Till, ei- nen ehemaligen Flieger, desillusioniert aus dem Krieg heimkehren und durch Deutschlands Gaue wandern. Dabei stößt er auf halbnackte "braune Rangen", "jede(r) Diebstahl im Blick"; auf "rüde Teufel", die sich zu Banden zusammengerottet haben; auf alte "Vetteln", "die wie diebische Raben sich lauernd niederhockten". Außerdem sind sie "hundsäugig" und lassen sich ebenso wenig verscheuchen wie eine lästige Fliege. Trotzdem fühlt sich Till unter den Zigeunern kurzfristig wohl, denn er spürt endlich wieder das, was er "das Dasein" nennt: eine archaische Lebenswelt von existentiellen Außenseitern. Dabei geht es keineswegs um das Dasein der Zigeu-ner, sondern um das, was diese für den Möchtegern-Nomaden Till symbolisieren. Eine wei- tere Funktion kommt den Zigeunern nicht zu. Weder bei Hauptmann, noch bei Goethe, Brentano oder Mörike und wie sie alle heißen. In der Literaturwissenschaft nennt man so etwas ein "blindes Motiv". Man könnte auch sagen: Die Literatur nötigt Sinti und Roma zu einem Da- sein als bloße Staffage. MUSIK O-TON 6 Wilhelm Solms: Die Zigeunerbilder haben überhaupt nichts mit Sinti und Roma zu tun. Die Schriftsteller sind in der Regel nie mit denen zusammengekom- men. Aber sie werden vom Leser auf Sinti und Roma projiziert - und durchaus im Sinne der Schriftsteller. Das ist ihnen recht, weil daraus resultiert ja auch die Wirkung. Und deswegen frage ich mich: Sind die Zigeunerbilder geeignet, Achtung vor dieser Minderheit zu gewinnen? Die verzerrenden und die verklärenden Zigeunerbilder schneiden schlecht ab, weil sie tragen beide zur Andersartigkeit bei - und damit zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft. SPRECHERIN Zur Ausgrenzung gehört auch, dass die Zigeuner für gewöhnlich wie ein Spuk aus dem Nichts auftauchen und nach einem mehr oder weni- ger spektakulären Intermezzo wieder im Nichts verschwinden als hät- ten sie weder Herkunft noch Geschichte. In Hermann Hesses Erzäh- lung Narziß und Goldmund aus dem Jahre 1930 zum Beispiel ist es die Zigeunerin Lise, die plötzlich die literarische Bühne betritt. ZITATOR Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in ei- nem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfer- nung, neugierig und mißtrauisch, sah, daß er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen, nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Mißtrauen schwand, der hübsche schlafende Jun- ge sah nicht gefährlich aus, er gefiel ihr wohl -.21 SPRECHERIN Lise bettet den Kopf des blonden, blauäugigen Jünglings in ihren Schoß und küsst ihn wach. ZITATOR Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin ().22 SPRECHERIN Nach beendetem Liebesspiel fragt Goldmund: ZITATOR Wo wohnst du denn, wo bist du zu Hause? ZITATORIN Ich wohne nirgends, mein Schatz. () ZITATOR Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn? ZITATORIN Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu.23 SPRECHERIN Als Goldmund Narziß von der Begegnung mit der "braunen Frau" er- zählt, sagt er: ZITATOR Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zi- geunerin.24 SPRECHERIN Am Morgen nach der Liebesnacht, die übrigens auf einem "großen Heuhaufen" stattfand, enteilt Lise flinken Schrittes in jenes Nichts, aus dem sie gekommen ist. Und heimatlos, wie sie ist, hinterlässt sie dabei keinerlei Spuren. SPRECHER Es ist das Jahr 1407, als in Hildesheim zum ersten Mal das Auftau- chen von Sinti offiziell beurkundet wird. Wie kann man da von "Hei- matlosen", von "Fremden" reden? Das kann man wohl nur als Ignorant - und als Schriftsteller, der sich zugunsten seiner eigenen Befindlich- keitsproblematik historischen Fakten verweigert. MUSIK Die Musik steht kurz frei, bleibt im Hintergrund SPRECHER Die Urheimat der Sinti und Roma ist das indische Punjab. Von dort werden sie im 9. und 10. Jahrhundert von Arabern verschleppt, als Soldaten verheizt oder als Sklaven nach Griechenland, Rumänien oder in die Walachei verkauft. Anfang des 15. Jahrhunderts fliehen die Vorfahren der deutschen Sinti aus der Sklaverei nach Westeuropa. SPRECHERIN Zunächst bewahren sie Schutzbriefe vor Übergriffen. Beim Adel sind sie wegen ihrer handwerklichen Fähigkeiten beliebt - nicht jedoch bei den Zünften, die sie als Konkurrenten ansehen. Die Kirchen lehnen sie als vermeintliche Heiden ab. Seit dem Eindringen der Türken in Südosteuropa hält man sie überdies für Spione der "Osmanen". SPRECHER Ab 1499 ergehen zahlreiche Erlasse, in denen sie für vogelfrei erklärt werden. Jedermann kann sie jagen, auspeitschen, einsperren oder töten. Straffrei. 1539 werden sie aus Paris vertrieben, 1563 aus Eng- land - jeweils unter Androhung der Todesstrafe. Im 17. und 18. Jahr- hundert verweigern mehrere Edikte ihnen das Aufenthaltsrecht. Bei Zuwiderhandlung werden sie gestäupt, gebrandmarkt, ertränkt - oder nur des Landes verwiesen. SPRECHERIN Mit Gründung des Deutschen Reiches 1871 sind die Kreisämter be- fugt, eingewanderten Roma die Ausstellung von Gewerbescheinen zu versagen. 1926 wird das bayerische "Zigeuner- und Arbeitsscheuen- gesetz" erlassen, das u.a. die Einweisung in Zwangsarbeitslager vor- sieht. SPRECHER 1936 wird in Wien die "Internationale Zentralstelle" zur Bekämpfung der so bezeichneten "Zigeunerplage" geschaffen. Im Mai 1940 be- ginnen in Deutschland die ersten Deportationen von "geschlossenen Sippen" ins Generalgouvernement. Am 16. Dezember 1942 erteilt der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, den "Auschwitz-Befehl" zur Ver- nichtung der Sinti und Roma. Musik noch einmal kurz hoch, dann auf den Ausklang: SPRECHERIN Dezember 1942 - zu diesem Zeitpunkt schreibt Gerhart Hauptmann an einer fiktiven Begegnung mit Goethe. Es wird seine letzte abge- schlossene Erzählung vor seinem Tod. Er nennt sie Mignon. Der Titel ist Programm, denn wie Goethes Wilhelm Meister gerät auch Haupt- manns Ich-Erzähler in den Bann eines jungen Mädchens, das auf dem Marktplatz des italienischen Städtchens Stresa als Seiltänzerin auftritt. ZITATOR Meine Veränderung ging so weit, dass ich, als ich den Blick unver- wandt in den der Zigeunerin bohrte - es konnte leicht eine solche sein -, in ihr ein Kind der Romantik sah, in unsere banale Zeit verstoßen.25 SPRECHERIN Was immer Gerhart Hauptmann unter "banal" verstanden haben mag, für Zigeuner - und nicht nur für sie - war die Zeit keineswegs "banal". Sein Ich-Erzähler fühlt sich jedoch durch den Auftritt des Mädchens schlagartig in die Romantik zurückversetzt und verfällt in eine "Mig- nonbesessenheit", die ihn alles andere vergessen lässt. Das Mädchen heißt zwar Aga, hat aber tatsächlich viel Ähnlichkeit mit Goethes Mig- non. So tanzt auch sie einen hinreißenden "Eiertanz", der in Raserei übergeht. Ihr Reiz ist für den Ich-Erzähler allerdings weniger erotisch als rätselhaft; ihr Wesen erinnert ihn an den Homo ferus, den "wilden Menschen" wie Kasper Hauser - ZITATOR - [der] ganz und gar ein Mensch, sonst aber ganz und durchaus ein Tier sei. Dass meine Mignon lesen und schreiben konnte, glaube ich nicht.26 SPRECHERIN Wie zu erwarten, ist auch Aga nicht lebensfähig. Nach wiederholten Schwächeanfällen stirbt sie. O-TON 7 Klaus-Michael Bogdal: Diese Geschichten erzählen immer davon, welche Legitimation oder welche Rechtfertigung es gibt, diese Figuren sterben zu lassen oder zu töten. Und das nenne ich die "Lizenz zum Töten". SPRECHER Klaus-Michael Bogdal ist Professor für Germanistische Literaturwis- senschaft an der Universität Bielefeld. In seiner umfangreichen Studie Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, die im November bei Suhrkamp erscheint, weist Bogdal nach, dass keine der unterschiedlichen Macht- und Gesellschaftsord- nungen eine endgültige Ankunft der Sinti und Roma in Europa zuließ - weder in der politischen Realität noch in den Imaginationen der Künst- ler und Schriftsteller. O-TON 8 Klaus-Michael Bogdal: Und das Erschreckende ist, das ist auch bei der Bearbeitung des Ho- locaust so. Es gibt eine Reportage von Josef Müller-Marein, dem langjährigen Chefredakteur der "Zeit", die ist `46 in der "Zeit" erschie- nen. Er sucht die Holocaust-Überlebenden in Hamburg auf, die am Hafen wohnen. Und dieser Bericht geht mit einer Rohheit und einer Unverschämtheit darüber hinweg, um dann wieder zu den Zigeuner- klischees zu kommen, dass es einem wirklich kalt den Rücken her- unter läuft. ZITATOR Zwei Bürschlein von drei und vier Jahren, halb nackt, mit kohlraben- schwarzen Locken und die Daumen im Mund, ein achtjähriges Mäd- chen und ein sechzehnjähriger Zigeunerbackfisch mit rotgeschmink- ten Lippen. Diese alle bleiben respektvoll im Hintergrund (). Zwei zehn- und elfjährige Mädchen () haben sich auf wenige Schritte heran- gewagt; und ein dreizehnjähriger Junge mit dem echten romantischen Zigeunerblick ist an die Seite des Alten getreten (). Aus dem Wohn- wagen lugt eine etwa vierzigjährige Frau, deren Gesicht zerstört zu sein scheint von frühem Alter und geheimen Leiden. "Dies ist alles, was von meiner Familie übriggeblieben ist", erläutert der alte Zigeuner, der seine vierundachtzig Jahre mit großer Uner- schütterlichkeit trägt. "Doch daß ich nicht lüge! Es sind noch zwei Männer da. Sie sind in Geschäften über Land ..." Nun, man kennt die Geschäfte der Zigeuner. Und wenn man nach dem Aussehen des Greises und der Wohlgenährtheit seiner Nach- kommenschaft schließen darf, ist die Zeit augenblicklich nicht gerade ungünstig für Zigeuner. () "Haben Sie Verbindung mit vielen Zigeunern?" "Nein, das war früher! Die meisten Zigeuner, die ich kannte, sind tot. Vergast, verbrannt, verloren!" Er stockt und steht in gedankenvollem Schweigen. () "Sind Gründe angegeben worden, warum dies an den Zigeunern ge- schah?" Der Alte schüttelt den Kopf. "Keine Gründe!" Und er verliert sich in die alte melancholische Zigeunerklage, daß noch zu keiner Zeit die Leute seines Stammes geliebt wurden, wäh- rend doch die Zigeuner so gute, so harmlose Menschen seien. Seine dunklen Augen schauen treuherzig, vielleicht sogar ein bisschen zu treuherzig drein ...27 SPRECHER Auch in der Belletristik werden nach 1945, nach der Ermordung von bis zu 500.000 Sinti und Roma, tradierte Klischees, Stigmata und Vor- urteile nahezu ungebrochen weitererzählt. Besonders ärgerlich sind Wiedergutmachungstexte, in denen es um Freundschaften und ver- meintliche Toleranz des Anderen geht. Als herausragendes Beispiel sei hier nur die Kurzgeschichte Jenö war mein Freund von Wolfdie- trich Schnurre aus dem Jahre 1958 erwähnt. Sie ist bis heute die am stärksten verbreitete und oft einzige Schullektüre über Sinti und Ro- ma. SPRECHERIN Erzählt wird aus der Sicht des neunjährigen Bruno - allerdings im Rückblick des erwachsenen Bruno der Nachkriegszeit. Er freundet sich mit dem gleichaltrigen Zigeunerjungen Jenö an, dessen Groß- mutter "unglaublich verwahrlost" ist. Jenö selbst "riecht wie ein Wiede- hopf", pafft eine Zigarette nach der anderen, ist unzuverlässig und klaut, was das Zeug hält. Für Bruno aber verkörpert er das freie Leben ohne Schulzwang und einengende Benimmregeln. Trotzdem - oder gerade deswegen - bleibt Jenös Persönlichkeit ohne Konturen, son- dern allein auf seine Fremdheit reduziert. Dass er stiehlt, wird von Bru- nos Vater mit den "anderen Sitten" der Zigeuner entschuldigt - als ge- höre Diebstahl zum Kollektivcharakter von Sinti und Roma. Was Schnurre als Toleranz verstanden wissen will, ist in Wirklichkeit unre- flektierte Vorverurteilung. Am Ende entlarvt der Autor sich selbst, wenn er Bruno von der Deportation seines Freundes berichten lässt: ZITATOR Und dann haben sie sie eines Tages doch abgeholt: die ganze Bande; auch Jenö war dabei.28 SPRECHER "Bande"? Nach dem deutschen Strafrecht ist damit eine kriminelle Vereinigung gemeint. Ob das im Schulunterricht reflektiert wird? O-TON 9 Klaus-Michael Bogdal: Was falsch ist, ist die Verallgemeinerung. Das ist natürlich die Grund- sünde aller Völkerstereotype, von Individuen auf ein Volk zu schlie- ßen. Und das ist meine These auch, dass all diese Texte, die aus gu- ter Absicht geschrieben sind - und, wie es sich für gut recherchieren- de Autoren gehört, die sich mit ethnographischem und anthropologi- schem Wissen ausgerüstet haben - genau daran scheitern. Wie Schnurre auch. Und auch Grass scheitert. Die "Jenny" ist eine schöne Figur, die er da in den Hundejahren erfindet. Aber alles, was er ihr als "Zigeunerischem" zuschreibt, ist das Schwache an dieser Figur. Muss ich die noch ethnisch markieren? Kann ich die ethnisch markieren? Würde man das als Autor von Weltrang bei einer französischen Figur machen? Würde man nicht. ZITATOR Manchmal wechselten Waldzigeuner über die Grenze. Sie galten als harmlos (). Sie nannten sich Gakkos, sprachen sich an: More! wurden allgemein als Mängische bezeichnet, auch als Ziganken.29 SPRECHERIN So klischeehaft, wie es nur geht, tauchen die "Gakkos" unvermittelt vor den Schlagball spielenden Sextanern Eduard Amsel und Walter Matern auf, den beiden Hauptfiguren des 1963 erschienenen Romans, der in den Jahren 1917 bis 1962 spielt. ZITATOR () da wirft ihm ein Haselstrauch den Ball zu. Fangen und Aufblicken: aus verzweigten Blättern wächst Kopf und Oberkörper eines Mannes. Am Ohr, am linken, schaukelt ein Messingring, weil er lacht, lautlos. Dunkel bleich braun. Hat keinen Zahn im Mund. () Der hat ein greinen- des Bündelchen unterm Arm. () Das Bündelchen verhielt sich stille. () "Wie heißen Sie eigentlich?" "Bi - dan - den - gero. Hab keinen Zahn mehr." () "Und das Bündel vorne?" "Estersweh, kleines Estersweh."30 SPRECHERIN Sie verständigen sich in einem "auf- und abschwellenden Brabbeln" und gehen voll und ganz in der Natur auf, sind Teil von ihr. Die Jungen folgen ihnen und beobachten, wie sie durch das hohe Gras auf eine leerstehende Fabrik zu"schwimmen" und für eine Weile darin ver- schwinden. ZITATOR Da springt aus dem vierten Fensterloch links der erste Gakko (). Wie- der einer, jetzt springen zwei in bunten Pracherfleppen (). Keiner durchs offene Tor, alle Ziganken durch Fensterlöcher, als letzter, Kopf voran, Bidandengero. Denn alle Mängischen haben bei der Maschari geschworen: Niemals durch Türen, immer durch die Feneten. Fächerförmig wie sie gekommen, schwimmen die Gakkos durchs Zit- tergras dem Wald zu, der sie verschluckt.31 SPRECHERIN Und sie für die restlichen über 550 von 682 Seiten auch nicht mehr ausspuckt. Die Zigeuner haben ihre Schuldigkeit getan, nämlich "das Bündelchen" zurückgelassen. Aus "Estersweh" wird die Adoptivtochter Jenny des Lehrers Oswald Brunies, die schon als Halbjährige "etwas zum Fingern und Spielen" hat: Angustri, Bidandengeros Silberring. Im weiteren Verlauf der Geschichte entwickelt sich Jenny zu einem pum- meligen Teenager, der zum Beweis seiner "zigeunerischen Herkunft" ungewöhnlich gut tanzen kann. Von der gleichaltrigen Tulla und deren Freunden wird Jenny als Schneemann verpackt und verwandelt sich in eine gertenschlanke junge Frau. ZITATOR Da stand im matschigen, grau löcherigen Schnee () kein verfrorener Pummel, kein Eisklößchen, kein Pudding stand auf Beinen, da stand ein zerbrechlicher Strich (). Und der Strich hatte ein Gesicht winzig und puppig, wie ja auch Jennys Gesicht puppig gewesen war. Doch stand dort dünn, zum Vorbeisehen dünn, eine ganz andere Puppe und rührte sich nicht.32 SPRECHERIN Von nun an macht Jenny Karriere als Prima Ballerina - und bleibt doch nichts weiter als eine Puppe, etwas begriffsstutzig, "seifig" und "fade". Den Zweiten Weltkrieg nimmt sie erst zur Kenntnis, als sie durch eine Luftmine verletzt wird und man ihr die Zehen beider Füße amputieren muss. Mit dem Ballett ist es von da an aus. Zum Schluss führt sie in Berlin die Kneipe "Chez Jenny", eine Bretterbude, hinter deren Theke sie mit "vergrämtem Ziegengesicht" auf Gäste wartet und nach "Zigeunerrezept" Getränke zubereitet. Beim Finale ist sie erwar- tungsgemäß nicht dabei, denn ihre Bude geht vorher in Flammen auf. ZITATOR Die Schankwirtin Jenny - wie gut ihr das Feuer steht, wie vorteilhaft Hitze die bereits welke Giselle abermals erblühen läßt ().33 SPRECHERIN "Jäh entzündet" erzählt Jenny in ihrem Kauderwelsch, das mit Roma- nes nichts zu tun hat, Geschichten, die keiner hören will, um dann, nachdem der Brand gelöscht ist, müde und alleingelassen in sich zu- sammenzusinken. Das war's für sie. MUSIK SPRECHER Etwa 10 Millionen Roma leben in Europa, die meisten von ihnen schon seit Generationen - in der Slowakei und im Burgenland schon seit Jahrhunderten - als Sesshafte. In Deutschland gibt es ungefähr 70.000 Sinti mit deutscher Staatsbürgerschaft und 50.000 Arbeitsmi- granten und Flüchtlinge. Eine verschwindend geringe Minderheit also. In Rumänien hingegen schwanken die Schätzungen zwischen 1,2 und 2,5 Millionen Roma. In den Fürstentümern Walachei und Moldau wur- den sie bis 1848 als Leibeigene gehalten. Sie konnten von ihren welt- lichen und geistlichen Herren jederzeit verschenkt, verkauft oder ver- pachtet werden. Viele wurden gezwungen, als Handwerker, Goldwä- scher, Musiker oder Gaukler umherzuziehen, um Geld zu verdienen - und einen bestimmten Betrag beim Fürsten abzuliefern. In der kom- munistischen Phase erhielten sie im Zuge der planmäßigen Industria- lisierung feste Erwerbsmöglichkeiten. Nach der Revolution von 1989 gehörten sie jedoch zu denen, die zuerst entlassen wurden. Seitdem nimmt die Verelendung zu - und mit ihr Kleinkriminalität und Alkoho- lismus. Das wiederum führt dazu, dass in einigen Städten und Ge- meinden die Roma administrativ in die Isolation gedrängt werden, in- dem man sie vom Rest der Bevölkerung in Ghettos absondert. SPRECHERIN Durch dieses zwischen Gewinnern und Verlierern der Marktwirtschaft und der Globalisierung aufgespaltene Land reist immer wieder Andrzej Stasiuk. Er ist nicht nur einer der berühmtesten lebenden polnischen Autoren, sondern auch einer der aufmerksamsten Chronisten der der- zeitigen Transformationsprozesse in Osteuropa. Davon zeugen auch seine Reiseskizzen, die er 2008 unter dem Titel Fado veröffentlichte - in denen die Roma allerdings keinen Anteil an der Geschichte und der Entwicklung des Landes zu haben scheinen. ZITATOR Wir wollten uns vom Wahnsinn der wechselnden Bilder und Land- schaften erholen, wollten uns endlich ausruhen von diesen ständigen Veränderungen. Da kam von der Gegenseite, zwischen goldenen Strahlen hervor, irgendwo aus dem lichterfüllten Nichts, ein Zigeuner- treck direkt auf uns zu. Die vier Wagen, von vier mageren Pferden ge- zogen, waren mit zerfetzter, löchriger Plastikfolie bedeckt. Irgendwas hing heraus, irgendwelche Eimer, Blechdosen, Plastikkanister für Öl. () Piotr griff nach seiner Leica und hängte sich die Nikon über die Schulter. Sie hielten an und warteten. Dunkelhäutig, abgerissen, bunt. Sie hatten nichts, was nach unseren Maßstäben irgendeinen Wert darstellte. Decken, Geschirr, klapprige archaische Wagen und Tiere, so hager wie sie selbst. Ja, sie kamen auf einer Abkürzung aus dem Abgrund der Vergangenheit und fühlten sich in der Gegenwart recht wohl. () Sie kamen aus einer vergangenen Zeit, da die Menschen mit wesentlich weniger zufrieden waren, und versuchten, in der Gegen- wart zu leben, in Wirklichkeit aber erlaubten sie der Gegenwart, neben ihnen herzufließen. Wahrscheinlich behandelten sie sie wie ein Ele- ment, das man nutzen kann wie zum Beispiel Feuer zum Kochen oder Wasser zum Waschen.34 O-TON 10 Klaus-Michael Bogdal: Das findet man häufig bei postsozialistischen Schriftstellern: die Vor- stellung, dass einem in den Zigeunern - das ist natürlich ein Mythos! - genau die Gesellschaft begegnet, die man schon durch den Sozialis- mus verloren hat. SPRECHER Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal. O-TON 11 Klaus-Michael Bogdal: Das hat nichts mit einer historischen Analyse zu tun, sondern mit einer Wunschvorstellung von einer ursprünglichen, osteuropäischen Gesell- schaft, die anders ist als die westeuropäische Gesellschaft. Sie neh- men einen Eindruck, der sehr genau beobachtet ist. Das können sie auch, dafür haben sie einen Blick. Sie werten das auch nicht ab; das würde ein westlicher Reisender machen: "Das ist die Rückständigkeit dieser sozialistischen Länder. Es ist falsch, dass wir sie in die EU auf- genommen haben." Das natürlich nicht, sondern sie machen das zu Allegorien und entdecken damit das Ewige, das Zeitlose, das Einfa- che, das Unverdorbene. SPRECHER Zigeuner als Symbol für eine "Traumzeit" Europas. Es ist erschrek- kend, wie wenig sich Schriftsteller der Gegenwart ihrer zu bloßen Ob- jekten degradierten Zigeuner stellen; wie sehr es ihnen immer noch und immer wieder darum geht, die eigene Identität zu sichern, indem sie Sinti oder Roma nur als Fremde gelten lassen. Als Lehrer, Arzt, Banker oder Kriminalhauptkommissar kommen sie in den Romanen nicht vor, wohl aber in der Realität. Literarisch ignoriert werden auch die Elendstrabanten aus Pappbaracken, Wohnwagen und Blechcon- tainern, die in der Peripherie der Peripherie westeuropäischer Groß- städte entstehen und von Roma oder anderen Migranten aus meist osteuropäischen Ländern bewohnt werden. SPRECHERIN Die Italienerin Milena Magnani hat mit ihrem 2010 erschienenen Ro- man Der gerettete Zirkus vorgemacht, wie man als Schriftsteller auch ohne Verklärung, ohne überflüssige Ethnisierung und ohne Verzer- rung oder Kriminalisierung auskommen kann. ZITATOR Vielleicht zum ersten Mal sehe ich diesen Ort so, wie er ist. Immer hörte ich, dass alle >Baracken-Camp< dazu sagten, aber in Wirklichkeit ist es nur ein Gerinnsel. Ein Pfropf, der vom Schicksal aus dem unaufhaltsamen Fluss der Wohlstandsströmung hinausge- schwemmt wurde. Ich versuche, mich umzusehen. Am Zaun hocken überall Fotografen der Lokalredaktionen. Sie knip- sen wie verrückt und blinzeln zufrieden. Fast alle rücken den Ma- schendraht in den Vordergrund, sodass mein Bild in den morgigen Ta- geszeitungen Assoziationen an Konzentrationslager heraufbeschwö- ren kann. Manche winken den Kindern zu posieren. Und zeigen ihnen sogar, wie. () Der Polizist schüttelt ungehalten den Kopf, zeigt auf zwei Kinder am Rand einer Pfütze und murmelt: "Es heißt, die hier seien Flüchtlinge, aber Flüchtlinge, Zigeuner ... wo ist der Unterschied? Wenn du sie an- schaust, sind sie alle gleich, alle verlaust und verdreckt." Der Kollege nickt, aber man sieht genau, dass es ihm völlig egal ist. () [Im] Grunde genommen sind wir weder Angehörige eines Clans noch blutsverwandt, sondern kommen aus unglaublich weit voneinander entfernten Ländern, aber uns eint der Umstand, dass wir auf densel- ben Leinen Wäsche aufgehängt haben, dass wir einander als entwur- zelte Bürger akzeptiert haben.35 SPRECHERIN Erzählt wird die Geschichte von Branko Hrabal. Als er in dem Camp auftaucht, wird er jedoch keineswegs freundlich aufgenommen. Der ungekrönte Lagerkönig Askan, ein Flüchtling aus Bosnien, der von Serben gefoltert wurde, weist ihm einen Platz am schlammigen Rand des Lagers zu, denn Branko ist nicht nur Roma, sondern vor allem Un- gar. Ein Fremder unter Fremden - unter Alkoholikern, Drogendealern, Rosenverkäufern, Bettlern und Schwarzarbeitern. Die Kinder aller- dings sind fasziniert von ihm. Von seinen Geschichten und von der großen Truhe, die er mitgebracht hat. Darin verbergen sich die Über- reste des "Kék Cirkusz", der seinem Großvater gehörte und der als Zirkusdirektor stets einen leuchtend weißen Hut trug. Während des Zweiten Weltkriegs wurden er und seine Artisten von seinem ehema- ligen Kumpanen Lászlo an die Nazis verraten. Seine letzten Worte waren: ZITATOR "Hört mir gut zu, kleine Söhne eines unermesslichen Zirkus!" Und sein Atem ist fast ein Röcheln. "Hört zu: Was immer euch zustößt, ich ver- lange, dass ihr diesen Mist überlebt und hinterher, als allererstes, vor jeder anderen Tat, sage ich euch, müsst ihr mich rächen an diesem Schandkerl von Lászlo!"36 SPRECHERIN Der einzige, der Auschwitz überlebt, ist Brankos Vater. Er wird unga- rischer Finanzbeamter, denkt nicht an Rache, sondern daran, dass sein Sohn Branko niemals in Schwierigkeiten geraten soll, nur weil er ein Roma ist. Also verheimlicht er ihm die Herkunft. Doch als er sieht, wie Branko, der es inzwischen zum Vorarbeiter im Gerüstbau ge- bracht hat, akrobatisch zwischen den Eisenträgern hin und her schwingt, holt ihn das Trauma ein. Er erzählt seinem Sohn nun doch die Familiengeschichte. Mit dem Resultat, dass Branko alles aufgibt, Lászlo tötet - und selbst getötet wird. Rache gegen Rache. Der Zirkus aber ist gerettet: Die Kinder üben sich bereits als Artisten; und viel- leicht wird es auch wieder ein Zirkuszelt geben. Branko ist bereits tot, als dieser vage Hoffnungsschimmer in die harte Realität des Barak- kenlagers eindringt, sich Phantastisches mit dem Alltag von Armut und Rassismus, Gewalt und Gleichgültigkeit verbindet. ZITATOR Wenn man wollte, könnte alles zu Ende sein. Der Hut meines Großvaters liegt auf meinem Erdhügel, und von hier aus gesehen gleicht er einer Nelke. Der Wind zupft ab und zu an der Krempe. Und wer weiß, ob jemand, wenn er ihn betrachtet, versteht, wie ich ge- lebt habe. Im Grund war es ein Leben ohne Zurück. Ein Versuch: ich gegen die anonyme Peripherie. Ich betrachte den Hut, ja, wenn man wollte, könnte es so sein, dass morgen wieder ein neuer Tag beginnt.37 MUSIK (noch offen) Quellenangabe: 1) Zitiert nach Wilhelm Solms, Zigeunerbilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik. Königshausen & Neumann. Würzburg 2008: 110 2) Johann Gottfried Herder: "Fremde Völker in Europa" in ders., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt am Main 1989: 1176 3) Zitiert nach Wilhelm Solms a.a.O.: 206 4) "Jetzt geht's los: Heim für Heim" in Der Stern 37/1992: 21f 5) Zitiert nach "Lehrstücke in Sachen extrem rechter Antiziganismus" auf der Website antizig,blogsport.de vom 18.02.2011 des Antiziganismus Watchblog 6) Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Fischer. Frankfurt am Main 1979: 20 7) Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel. Mit Anmer- kungen von Volker Neuhaus. Reclam. Stuttgart 2002: 143 8) Zitiert nach Wilhelm Solms a.a.O.: 151 9) Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Erster Teil. dtv-Gesamtausgabe Band 15. München 1962: 85 10) Ebda.: 95 11) Ebda. Zweiter Teil. dtv-Gesamtausgabe Band 16. München 1962: 243 12) Eduard Mörike: "Maler Nolten" in ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Band 3. Herausgegeben von Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer und Bernhard Zeller. Klett-Cotta. Stuttgart 1967: 1977f 13) Zitiert nach Almut Hille, Identitätskonstruktionen. Die "Zigeunerin" in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann. Würzburg 2005: 31f 14) Zu Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann siehe die entsprechenden Kapitel u.a. in Wilhelm Solms a.a.O., Almut Hille a.a.O. oder Herbert Uerlings/Julia Karin-Patrut (Hg.), "Zigeuner" und Nation. Repräsenta- tion-Inklusion-Exklusion. Peter Lang. Frankfurt am Main 2008 15) Thomas Münster, Des Kaisers verfluchte Zigeuner. Verlag Josef Habbel. Regensburg 1980: 11 16) Prosper Mérimée, Carmen. Aus dem Französischen von Arthur Schurig. Anaconda. Köln 2006: 93f 17) Ebda: 94 18) Clemens Brentano: "Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter" in ders. Werke. Band 2. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek und Friedhelm Kemp. Hanser-Verlag. Mün- chen 1963-1968: 680 19) Ebda.: 689f 20) Ebda.: 685 21) Hermann Hesse, Naziß und Goldmund. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1978: 77 22) Ebda.: 78 23) Ebda.: 79 24) Ebda.: 82 25) Gerhart Hauptmann: "Mignon" in ders. Das erzählerische Werk. Band 4. Herausgegeben von Ulrich Lau- terbach. Propyläen-Verlag. Frankfurt/Main 1964: 498 26) Ebda.: 534 27) Jan Molitor (Pseudonym von Josef Müller-Marein): "Glanz und Elend der Zigeuner" in ders., Cavalcade 1946. Verlag Hans Dulk. Hamburg 1947: 78f 28) Wolfdietrich Schnurre: "Als Jenö mein Freund war" in ders., Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten. Luchterhand. München 1993: 78 29) Günter Grass, Hundejahre. Luchterhand. Neuwied am Rhein, Berlin 1963: 117f 30) Ebda.: 116, 127f 31) Ebda.: 130 32) Ebda.: 260 33) Ebda.: 641 34) Andrzej Stasiuk, Fado. Reiseskizzen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp. Frank- furt am Main 2008: 17 35) Milena Magnani, Der gerettete Zirkus. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Edition Nautilus. Hamburg 2010: 40, 42, 163 36) Ebda.: 101 37) Ebda.: 165 1