COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 20.4.2010, 19.30 Uhr KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: ?Die andere Weltsicht? Blinde in der Literatur Autor : Holmar A. Mück Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 20.04. 2010 Besetzung : Sprecher : Sprecherin : Zitator Musik + o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Holmar Attila Mück III/2 Die andere Weltsicht Der Blinde in der Literatur O-Ton: Felix ?Die Mühle im Koselbruch- Es war eine Zeit zwischen Neujahr und dem Dreikönigstag. Krabat ein Junge von 14 Jahren; damals hatte er sich mit zwei Bettlerjungen zusammengetan und obgleich?? (auf Atmosphäre) Sprecher Felix ist so alt wie der Held in dieser sorbischen Sage. Er hält im Vorlesen inne. Seine Finger gehen zurück zum Anfang des Satzes. Er hat einen Buchstaben, vielleicht ein Wort nicht richtig gelesen, war mög-licherweise zu schnell über die Zeile hinüber gelitten. Sprecherin Felix liest mit den Fingern. Er ist blind. Es passierte nach einer Krankheit als er dreieinhalb Jahre alt war. An das Licht und an Farben kann er sich nicht er- innern. O-Ton Felix Das Buch heißt ?K r ab a t ?- Das müssen wir jetzt in Deutsch in der Schule lesen. /liest weiter/ ?? und obgleich seine durchlauchtigste Gnaden der Kurfürst von Sachsen das Betteln und Vagabundieren in?Höchstselbiger?bei Strafe verboten hatte.? / darauf/ Sprecher Felix besucht ein reguläres Berliner Gymnasium. Seine Mitschüler können sehen. Was sie in ihre Hefte schreiben, notiert er sich mit der Punktschrift in seinem Computer. Der Franzosen Louis Braille hat diese Schrift 1825 ent-wickelt. Sie trägt seinen Namen und wird in Deutschland heute von der Mehr-heit der 160 Tausend Blinden gelesen und geschrieben. O-Ton Felix Es sind halt sechs Punkte. Die Punkte sind in einem Rechteck geschrieben?und je nach Buchstaben sind die Punkte verschieden angebracht? Wenn ich mit den Fingern zu stark auf die einzelnen Punkte drücke, dann ver-schwinden die mit der Zeit und dann kann man die nicht mehr gut lesen. Daher muss man damit zart umgehen. Sprecherin Irgendwann wird er an die Stelle im Buch kommen, wo das Mädchen Kantorka mit verbundenen Augen Krabat, ihren Liebsten, unter den elf Müllergesellen finden muss, um sich vor dem Tod zu retten. Die Liebe hilft dem ängstlich herumtastenden Mädchen. Es wird leben und lieben ? und das Böse ist besiegt. Für Kantorka waren es nur wenige fürchterliche Minuten in der Dunkelheit. Sie wusste, dass sie möglicherweise ins Licht zurückkehren wird?. Sprecher Blinde wecken seit Jahrtausenden das Interesse der Schriftsteller und Dichter. Ihre Geschichten und Schicksale stehen in fast jedem Bücherregal. Sprecherin ?Blinde in der Literatur? kommen aus nahezu allen Gesellschaftsschichten. Es sind Heilige, Halunken, Hausierer, Musiker, Korbflechter, Notare und Ver-sicherungsvertreter? Sprecher In gut sortierten Bibliotheken steht die illustre Schar ihrer Schöpfer: Zitator (ausblenden) Canetti, Dickens, Enzensberger, Stefan Zweig, Jack London, Rilke, Hamsun, Edgar Wallace, Susan Sontag, Yasunari Kawabata? Sprecherin Einer der berühmtesten Blinden der Weltliteratur hat jedermann schon in der Kindheit das Gruseln gelehrt. In später, dunkler Stunde lässt ihn Robert Louis Stevenson in seinem Roman ?Die Schatzinsel? auf das Gasthaus ?Zum Admiral Benbow? zuhumpeln: /Atmosphäre: Wind, knarrende Tür, schlägt zu / Zitator ?Ich hielt meine Hand hin, und der schreckliche, sanft redende, blinde Mensch packte sie im Nu wie ein Schraubstock. Ich war so arg erschrocken, dass ich mich wehrte, um loszukommen; aber der blinde Mann zog mich mit einem Ruck seines Arms eng an sich?. Ich habe nie eine so grausame, kalte und hässliche Stimme wie die des Blinden gehört. Sie schüchterte mich mehr ein als der Schmerz? Der Blinde blieb dicht bei mir, hielt mich fest mit einer eisernen Faust?? /Übers.: Otto Weith/ Sprecher Stevenson zeigt dem jungen Jim Hawkins: Sprecherin Blinde haben nicht nur ?tote Augen?, sondern sind zudem böse und gewalttätig ? auf jeden Fall undurchsichtig. Ihr ? toter, leere Blick? irrt durch die gesamte Welt- und Trivialliteratur. Der Blinde ist überall zu finden, im Roman, Vers, Drama oder Lied. Zitator (ausblenden) Er tastet herum, jammert, bettelt mit demütig gesenktem Kopf, musiziert, weissagt, segnet, rettet, lügt, betrügt?. Sprecherin Der Berliner Blinden-Lehrer Werner Schmidt hat 1930 mit seiner Schrift ?Der Blinde in der schönen Literatur?, eine erste ernst zu nehmende Studie geliefert. Mehr als sechzig Jahre später wurden an den Universitäten zu Köln und Mar- burg zwei Doktorarbeiten zu diesem Thema erfolgreich verteidigt. Sprecher Eine hat Pilar Baumeister geschrieben. Sie ist blind. Ihre Kindheit verlebte sie in Barcelona; hier begann sie mit 12 Jahren Gedichte zu schreiben und für das Lehramt Germanistik und Englisch zu studieren. Ihre Doktorarbeit trägt den Titel: ? Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert?. O-Ton Baumeister Ich habe leider viele Vorurteile erleben müssen, nicht nur in der deutschen Literatur. Ich habe ungefähr die gleichen Klischees in allen Ländern festgestellt. Die sehenden Autoren gehen meist von dem Sehen aus ? das ist ihr Hauptmotiv. Und das ist logisch. Wie ist es, wenn man erblindet? Das ist eine Sache, die den sehenden Autor sehr stark motiviert hat, über Blindheit zu schreiben. Trotzdem haben sie ? nicht alle ? eine falsche Interpretation der Blindheit gege-ben. Für die Sehenden ist das Blindsein wichtiger als der Mensch, das Mensch-sein. Der Blinde wird sehr einseitig dargestellt. Sprecherin Als Harry Merkle das wehrpflichtige Alter erreicht, interessieren ihn die Men-schen mit dem ?weiße Stock? mehr als der modernste Panzer der Welt. Seinen Zivildienst leistet er in der Marburger Blindenstudienanstalt ab. Er kommt auch danach nicht los von dem Thema und promoviert im Fach Germanistik. Sein Interesse galt den ? künstlichen Blinden ? den blinden Figuren in Texten sehender Autoren? O-Ton Merkle Für den sehenden Autor wird es immer ein Faszinosum bleiben. Was verbirgt sich hinter dem Blinden? Andererseits ist die Blindheit natürlich für jeden Au-tor, der sieht, ein Angst auslösendes Moment. Es ist ja nicht so, dass man nur eine exotische Figur finden möchte. Sondern mit der blinden Figur kommt ja auch eine ganz andere Erzählperspektive in den Text. Man kann von einer literarischen Figur nicht ein ?Eins-zu-Eins-Abbild? erwar -ten, gerade nicht von einem Blinden, der von einem Sehenden erfunden wird. Man darf auch nicht von der Literatur einen Emanzipationsanspruch verlangen, der nur in der Wirklichkeit eingelöst werden kann. Sprecher Die Blindheit wird als Makel, zumindest als Minderwertigkeit definiert. Viele geläufige Redensarten belegen diese Ansicht: Zitator (ausblenden) Das merkt ein Blinder ? blindlings urteilen - blinde Triebe ?blinder Passagier ein blindes Huhn ?.blindes Vertrauen - blinde Liebe ? blind vor Eifersucht ?? blinde Verehrung ? O-Ton Baumeister Die Hauptvorurteile sind entweder: der Blinde ist zu bewundern, eine Super-begabung oder der Blinde ist zu bemitleiden. O-Ton Merkle Wenn wir über L i t e r a t u r reden, dürfen wir ja nie die Kompetenz des Blin-den sehen, wie er den Verlust der Sehkraft kompensiert, sondern wir müssen im-mer schauen, was macht der sehende Autor damit. Interessant ist auch die dämonische Dimension der Blindheit. Sprecherin Bei der Blindengestalt unterscheidet Merkle hauptsächlich zwei Aspekte: Die charismatische und die dämonische Blindheit. Sprecher Nahezu jeder kann diesen beiden Kategorien sofort klangvolle Namen zuordnen: Gestalten der Antike, Figuren in den Werken vor und nach der Aufklärung, der Periode der Moderne und der Gegenwartsliteratur. Viele haben Dauerquartiere in allen Bibliotheken des Morgen ? und Abendlandes; sie gehören zum Weltkul-turerbe: Zitator ( ausblenden) Homer ? Teiresias ? Ödipus - Faust ? Lear ? Helen Keller - Gantenbein?. der Mönch Jorge?Nydia aus Pompeji? Sprecherin Von allen Sinnesorganen findet das Augen, der so genannte Gesichtssinn, in allen Kultur und Zeiten, in Sagen, Mythen und Religionen besondere Be-achtung und wird mit Superlativen bedacht: Sprecher Die vielleicht anrührendste Huldigung an das Auge findet sich in der christ-lichen Legende von der heiligen Lucia. ? Sprecherin Die Wurzel dieses Namens ?lux, luci? bedeutet LICHT! Der bekennenden Christin wurden unter Kaiser Diokletian vermutlich die Augen ausgestochen. Auf seltsamer Weise aber kam das Augenlicht zurück. Kein Wunder also, dass sie noch heute die Schutzheilige der Blinden und Sehschwachen ist. Sprecher Dieser brutale Racheakt erinnert an zwei andere Namen: Odysseus und Polyphem, den einäugigen Riesen bei Homer. O-Ton Baumeister ?die Götter oder Gott haben dem Blinden als Ersatz für diesen großen Verlust des Sehens andere Möglichkeiten gegeben der ?inneren Sicht?, und deshalb gibt es Blinde, die Propheten sind. M u s i k Sprecherin Der Blinde wirkt hilflos, und er verunsichert. Sein in Dunkelheit geführtes Leben bleibt rätselhaft und wird gemieden. Lieber tot als blind ! Sprecher Darum baten schon die alten Hebräer ihren Gott beim Anblick des geblendeten, sich quälenden Samson. Sprecherin Im Neue Testament erzählen die Apostel Matthäus, Markus und Johannes über Jesus Christus und seine wundersamen Heilungen der blicklosen Gestalten. O-Ton Merkle Es gibt die so genannten Guten, die mehr vom Leben wissen, die den Ausgang kennen und sich opfern. Sprecher Und so etwas geschieht im Jahre 79 nach Jesu Kreuzigungstod. Im fernen Pom-peji hadert die blinde Skalvin Nydia nicht mit ihrem Schicksal. Am Tag, an dem der Vesuv ausbricht, wird sie zur Retterin. Sie ist die Heldin in Edward Bulwer-Lyttons Roman ?Die letzten Tage von Pompeji? Zitator ?So tastete sie sich denn mit Hilfe des Stabes, den sie immer mit sich führte, mit unglaublicher ? Geschicklichkeit durch die Trümmerhaufen, die ihren Weg ver- sperrten ? solch ein Segen war jetzt ihr Leben in Finsternis, das sonst ein so be-dauernswertes Gebrechen ist. Nur sie war aufgrund ihrer Blindheit noch mit der Gegend vertraut.? / Übers. Günter Jürgensmeier/ Sprecherin Aber Nydias stirbt. Weil ihre große Liebe nicht erwidert wird, sucht sie den Freitod in den tosenden Fluten. O-Ton Baumeister Und neben diesen Figuren gibt?s dann auch das Böse, die Hässlichkeit, nicht nur die äußere Hässlichkeit, sondern auch eine innere. Es gibt sogar die Sekte der Blinden, die übermenschliche Kräfte und nur Böses im Sinn haben. Sprecher Bei den ihnen zugeschriebenen Eigenarten ist die Zahl der bösen Blinden in der Literatur natürlich groß. Zitator (ausblenden) ?Und Helmbrechts Maß, das war jetzt voll? Der Scherge stach ihm zum Entgelt Die Augen aus. Und nicht genug, Die Mutter rächt er, da er schlug Die Hand ihm ab und einen Fuß.. Helmbrecht, der Dieb und Blinde Schied von Frau Gotelind an zweier Wege Scheide Mit reuig bittrem Blick? Den Blinden bracht´ ein Knecht ein Stab?? Sprecherin So besingt der Dichter Walter der Gartenere um 1270 mit der Versnovelle ?Meier Helmbrecht? das schlimme Schicksal des räuberischen Bauern- burschen. Sprecher 300 Jahre später führt ein junger Knecht seinen Herrn durch die Gegend um Salamanca. Der Jüngling heißt Lazarillo. ?Was derselbe für Unglück und Widerwärtigkeiten ausgestanden hat? erzählt der Schelmenroman aus Spanien. Sprecherin Die ?Widerwärtigkeiten?, die der Jüngling Lazarillo auf seiner Wanderschaft nach Salamanca ertrug, brockte ihm natürlich sein blinder Herr ein. Zitator ?Bei all seiner Durchtriebenheit hinterging ich ihn derart, dass immer, oder doch meisten, mir das Meiste und Beste zufiel?Dazu spielte ich ihm teuflische Strei-che?? /Übers.: Hartmut Köhler/ Sprecherin Nicht weniger durchtrieben, schlitzohrig und orakelhaft tastet sich der Blinde von Sophokles bis Samuel Beckett durch die Dramatik. Sprecher Geradezu gespenstig wirkt Becketts Szene mit dem undurchsichtigen H a m m. Zitator ?Hast du je meine Augen gesehen? Hat dich niemals verlangt, während ich schlief, meine Brille abzunehmen und meine Augen zu betrachten? Eines Tages werde ich sie dir zeigen. Sie sollen ganz weiß geworden sein?? /Übers.: Elmar Tophoven/ Sprecherin Der Hauptakteur in Becketts Drama ?Endspiel? ist blind. Er ist Herr über Leben und Tod. Er genießt die Lust an der Macht, das Spiel mit der Angst. Selten er-lebt man den Blinden in einer so dominierenden Position. Stimme: (unter Hall) Hier spricht Edgar Wallace! Sprecher Auch der Großmeister der Gruselgeschichten schickt einen blinden Killer durch Londons Nächte. Zitator ?Sieh mich nur gut an, Kleine, dass du mich auch wieder erkennst! Warum schießt du denn nicht auf den ollen Jake?? /Übers.: Fritz Pütsch/ Sprecherin Fragen die ?Toten Augen von London?. Und dann sind sie, so geheimnisvoll wie sie kamen, verschwunden. In dem düstren Blindenheim von Paddington werden sie wieder auftauchen. Sprecher Nicht nur die Unterhaltungsliteratur bedient sich des Blinden als Sinnbild des Unheimlichen, Hilflosen, Hinterhältigen; die bekannten Stigmata und das Charakteristikum mysteriös sind ebenso in der so genannten seriöse Literatur zu finden. Sprecherin Mit seiner mehrfach verfilmten Erzählung ?La Symphonie Pastorale?. sorgte André Gide 1919 unter den blinden Lesern für einen wahren Sturm der Em-pörung. Sprecher Sein sündiger Geistlicher erkennt in Gertrud, dem jungen Mündel, Zeichen man-gelhafter Intelligenz. Diese und ihre gestörte Psyche lässt der Autor auf die Blindheit zurückführen. Nachfolgende Autorengenerationen bemühen sich intensiv um Verständnis, erkunden die Ursachen von Vorurteilen. Der Alltag des Blinden wird - wie die Entwicklung seiner gesellschaftlichen Position - genauer untersucht. Sprecherin Einer der engagierten Autoren war Gert Hofmann. Zu seiner Erzählung ?Der Blindensturz? inspirierte ihn ein bildender Künstler: Pieter Bruegel. 1568 malte der das Bild ? Das Gleichnis von den Blinden? nach einem Bericht aus dem Matthäus-Evangelium. Sprecher Sechs zerlumpte, verwahrloste, kränkliche Blinde, die Augen geschlossen, ein-ander stützend verlassen ein Dorf. Im Hintergrund sind die Umrisse der Kirche zu erkennen. Selbst sie hat die Schutzlosen als ?von Gott Gestrafte? verstoßen. Zitator ?Also dann, sagen wir. Und kriechen, wie immer, wenn man uns betrachtet, dichter zusammen, blicken steiler nach oben hinauf. Und fühlen, dass wir gesehen werden, teils aus der Nähe, teils aus der Ferne. Ein Meereswunder sind wir, wenn wir so durch die Dörfer ziehen, ein gemeinsames, mühsam bewegtes, stilles und dunkles Ding. Dem, wenn es zur Schau geführt wird, Angst, Ekel und Erbarmen entgegenschlägt.? Erbarmen mit den Blinden, rufen wir und schwenken unsere Stöcke?. (Wenn sie unsere Stöcke dann nicht mehr fürchten, zeigen wir ihnen unsere Augen.)? O-Ton Baumeister Dieser Autor umfasst auf einer großartigen Meisterschaf Art und Weise den Konflikt zwischen den Blinden und der Gesellschaft, weil die meisten sehenden Autoren sind so auf das Optische fixiert. O-Ton Merkle Ich habe festgestellt, dass viele Blinde kein Gesicht haben, es werden ganz selten Blinde porträtiert, physiognomisch. Sie sind einfach blind ? und damit ha-ben sie ihren Ausdruck. Erstaunlich. Der Blinde muss als Blinder genug sein. ?Wenn das Augenlicht erlischt, stirbt eigentlich das Gesicht?, sagt Susan Sontag in ihrem Roman ?Todesstation?. Damit wird der Individualitätsverlust der blin-den Figur ausgedrückt?. Die Blindheit als literarische Möglichkeit bietet Autoren die Gelegenheit, die Welt zu verlassen und trotzdem in ihr zu sein, in ihrer blinden Figur, sie wissen ja, was die blinde Figur macht, sie sehen ja? Sprecherin Genau dieses Experiment wagt Max Frisch mit seinem Roman ?Mein Name sei Gantenbein?. Sein Held ?probiert Lebensläufe wie Kleider an? und schließlich nützt er einen Unfall, sich die Blindheit zuzulegen. Die Verschiebung von Realität und Phantasie bringt ihn aus der Balance. Eine völlige Identifikation, erfährt Gantenbein, ist nicht möglich; aber er erkennt hin-ter der Brille, seinem Versteck, eine Wahrheit, die er sehend nicht erlebt hätte. Zitator ?Ein Blinder, der sich umschaut! Der erste Schnitzer?Sein Vorsatz, ohne Ansehen der Person niemand aus dem Weg zu gehen, mag richtig sein. Eine Weile bleibt Gantenbein stehen; er muss lockerer werden? Wichtig vor allem: dass man sich, was immer man gerade sieht, innerlich aller Urteile enthält. Warum wirken Blinde nicht traurig, sondern versöhnlich?? Sprecher Frisch stellte sich die Frage: Was wäre wenn? Und er suchte die Antwort durch den Extremversuch. Sprecherin Das Szenario kann noch beklemmender sein. Der Portugiese José Saramago lässt eine ganze Stadt erblinden. Es geschieht ganz plötzlich, am hellichten Tag, mitten auf der Straße: Zitator ?Ich sehe nicht, ich sehe nichts, murmelt er weinend. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, bat der andere. Der Blinde hob die Hände vor die Augen und bewegte sie, Nichts, als wäre ich mitten in einem Nebel, als wäre ich in ein milchiges Meer gefallen. Aber Blindheit ist nicht so, sagte der andere, Blindheit, heißt es, ist doch schwarz, aber ich sehe alles weiß.? / Übers.: Ray-Güde Mertin / Sprecherin Der Literatur-Nobelpreisträger malt ein apokalyptisches Gemälde. Zitator ?Grausam, Ekel erregend und erschütternd bekommt man den Untergang des Menschlichen, der Verantwortung, Liebe, Seele, Zivilisation und Würde vor Augen geführt. Zudem verfolgt man die absolute Entgleisung zivilisatorischer Kraft?Es wird schnell deutlich, dass die genutzte Metapher des Autors greift: Blindsein bedeutet nicht nur Nichts sehen.? Sprecher Der verstümmelte Meier Helmbrecht, die aufopferungsvolle Sklavin Nydia, der würgende blicklose Jake ! - der Blinde auch wenn er in Hamsuns Noelle ?Pan? nur kurz durch die Szene weht oder wie in einem Rilke-Gedicht von der ?Schwere des Fluchs? klagt, bleibt geheimnisvoll. Sprecherin Mitunter aber besetzt er doch einen Hauptpart, führt und entscheidet ein Schicksal wie der langsam erblindende Kapitän Larsen in Jack Londons Erzäh-lung ?Der Seewolf? oder er dient, wie in der Novelle ?Die unsichtbare Samm-lung? von Stefan Zweig, als Metapher für eine aus der Balance geratenen Zeit. Sprecher Zweigs blinder Kunstsammler wird aus Liebe und Rücksicht belogen. Man verheimlicht ihm das wahre Leben, die bedrückende Situation nach dem ersten Weltkrieg, die existentielle Bedrohung während der Inflation. Seine wertvolle Grafiksammlung wird ? von ihm unbemerkt - veräußert. Das ermöglicht das Überleben. Zitator ?Mir lief es kalt über den Rücken, als der Ahnungslose ein vollkommen leeres Blatt so begeistert rühmte, und es war gespenstig mit anzusehen, wie er mit dem Fingernagel bis zum Millimeter genau auf alle die nur in seiner Phantasie noch vorhandenen unsichtbaren Sammler hindeutete.? M u s i k Sprecher Die Braille-Schrift hat den Blinden den Zugang zu Literatur und Wissenschaft wesentlich erleichtert; sie traten mehr und mehr aus dem Schatten, vom Rand der Gesellschaft, heraus. Zitator ?Wir sind blind und leben unser blindes Leben in Blindheit zu Ende. Dichter sind verdammt, aber sie sind nicht blind ? sie sehen mit den Augen der Engel.? Sprecher Mit diesen Worten begleitet William Carlos Williams die Gedichtsammlung von Allen Ginsberg. Hört man Verse von Baudelaire, Hans Carossa, Klabund oder Neruda dann sind, was die Sehschärfe der beflügelten Himmelsgestalten angeht, durchaus Zweifel angebracht. Zitator (Strophen durch kurzen ,leisen musikal. Akkord/elektr. Sphärenklänge unterbrechen) Schau an sie, Seele: Sie sind fürchterlich! Wie Nachtgebannte, schrecklich, sonderbar; Wie Gliederpuppen, beinahe lächerlich; Wohin zielt nur ihr trübes Sternenpaar? Die Augen starren, Gottes Lichts beraubt? - Gib mir deine Hände, Blinder. Die Hände der Blinden Sind wie Wurzeln dieser schwachen Menschen, sie dunkeln im Feuer der Januarsonne, im Herbst spüren sie den Tod nahen? Gezeichnet und unterwürfig im Schweigen leben sie, mit den Fingern zerbröseln sie die Faser des Schmerzes? /Übers.: Carlo Schmid/ Sprecherin Mit zunehmender Akzeptanz des Blinden durch die Gesellschaft veränderte sich auch die Sichtweise des Literaten. Vorurteile treten zurück, Berührungsängste lassen nach, das Verbindende gewinnt an Bedeutung. Zitator Blindenschrift lochstreifen flattern vom Himmel es schneit elektronen-braille aus allen Wolken fallen digitale propheten mit verbundenen augen tastet belsazer die flimmernde wand ab: mit händen zu greifen immer dasselbe pogramm: meneh tekel meneh meneh tekel meneh tekel gezeichnet: unleserlich nimm die binde ab könig mensch und lies unter der blinden schrift deinen eigenen namen Sprecherin ?nimm die binde ab?lies unter der blinden schrift deinen eigenen namen? fordert Hans Magnus Enzensberger die Sehenden auf. Sprecher Will er damit nicht sagen: Beginne, dich zu erfahren, lerne zu sehen, dich auch im Nichtsehenden zu erkennen? Sprecherin Und dabei hilft eine ganz einfache Methode: O-Ton Baumeister Blinde Autoren lesen! Viele wissen gar nicht, dass auch die Blinden schreiben. Es gibt blinde Autoren: Es gibt Jacques Lusseyran, es gibt Tom Sullivan, Jorge Louis Borges, dann John Milton. Die meisten haben einen biographischen Aspekt im Hintergrund; sie beschreiben ihr eigenes Leben, was auch legitim ist, aber es gibt auch Autoren wie Oskar Baum, die über andere, also fiktionale Texte verfasst haben. Sprecher Auch der französische Literaturwissenschaftler Jacques Lusseyran zählt zu den interessantesten blinden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Er ist ein Beispiel dafür, wie hart der Weg aus der Isolation hin zur völligen Emanzipation ist. Sprecherin Mit 8 Jahren erblindet er. Mit 16 Jahren leitet er eine Jugendgruppe der Re- stistance. Mit 19 verhaftet ihn die Gestapo. Man deportiert ihn ins KZ Buchen- wald. Sprecher Sein Buch ?Das wieder gefundene Licht? gehört zu den eindrucksvollsten Autobiographien und Zeitdokumenten des 2o Jahrhunderts. Noch in den 50-iger Jahren wird ihm in Frankreich wegen seiner Blindheit ein Lehramt verweigert. In den USA darf der Sorbonne - Absolvent unterrichten. Lusseyran schreibt: Zitator ?Die Blindheit ist in der Welt der Sehenden nicht sehr willkommen. Sie ist so wenig bekannt, man kann manchmal fast sagen, so gefürchtet! Deshalb beginnt die Blindheit stets mit der Isolation. Ich habe die Einsamkeit kennen gelernt, sie und alle ihre Dämonen.? / Übers.: Uta Schmalzriedt/ Sprecherin Für die Überwindung dieser Isolierung haben die Blinden eine enorme Energie aufgebracht. Ihre Erfolge wären ohne die modernen technischen Kommuni-kationsmitteln nicht denkbar. Das hat ihr Selbstbewußtsein gestärkt; sie reden freimütig über ihre Befind-lichkeit; sie mischen sich ein, wenn es um die Beurteilung ihres Lebens und ihrer ?Weltsicht? geht. Sprecher Brücken, die den Zuwachs an Emanzipation erleichtern, sind gebundene Bücher und Hörbücher. Sie stehen unter anderem seit 115 Jahren in der Deutschen Zen-tralen Bücherei für Blinde in Leipzig. Sprecherin Thomas Kalisch - der Herr über mehr als vierzigtausend Objekte ?Bücher in Braille-Schrift, Braille - Musiknoten, DAISY-Hörbücher und Zeitschriften - ist blind und kein Literaturwissenschaftler. Er ist promovierter Informatiker, ein Computerfachmann. Das ist durchaus als Zeichen dafür zu verstehen, dass man an allen verbesserten oder neuen Kommunikationsformen interessiert ist. O-Ton Kalisch Die Hörbuchprofis in Deutschland sitzen in den Blindenbüchereien, und die Nutzer zu Hause und hören. Früher auf Kassette, heute auf dem digitalen Me-dium DAISY. D A I S Y ist eine englische Abkürzung und heißt ? Digital Accessible Information System? ist also im Prinzip ein digitales System für den Zugang zu Informationen. Die Bücher sind im Grunde aufgesprochene Hörbücher plus - und das ist ein ganz entscheidender Vorteil - eine Navigationsmöglichkeit. So wie die Sehenden in einem Buch blättern, so kann der blinde Hörer in einem Buch auch blättern, von Kapitel zu Kapitel, kann einfach gezielt eine Seiten-ziffer eingeben. Wir können nicht nur blinde Autoren hier anbieten, wir möchten ja das gesamte Spektrum der Literatur den blinden Menschen zugänglich machen, dazu gehört die Erfahrungswelt der blinden Menschen?. Wenn man in die Literatur guckt, dann findet man Beispiele, wo blinde Men- schen über sich selbst schreiben, die diesem alten Stigma auch widersprechen, dokumentieren und ablesbar machen, wie viele positive Aspekte man haben kann, wenn man eben nicht sieht. Sprecherin Abenteuergeschichten der besonderen Art; alle sind wirklich geschehen und machen den Blinden Mut, die eigenen Grenzen zu erkunden, und der Sehnende wird zur Begegnung ermutigt. Sprecher Und die Poesie? Was ist mit dem Gedicht des zeitgenössischen blinden Dichters, das man allein und im Stillen lesen, von dem man sich mitnehmen lassen soll in die Welt, die sich allein vom Ton und durch das Fühlen mitteilt? Sprecherin ?Lyrikbrücken? ? ist eine neue Anthologie von Gedichten blinder Poeten. Sie schreiben in zehn Sprachen. Es ist die kleine Berliner ?Dahlemer Verlangsanstalt?, die sich diesem Autoren-kreis seit mehr als einem Jahrzehnt zuwendet, ihm ein Podium bietet. Randgruppen-Poesie? ? Sprecher Der professionellen Kritik ist sie jedenfalls kaum ins Auge gefallen. Was we-niger an der Poesie liegt. Sprecherin Eine der großen Tugenden der Blinden war und ist die Geduld. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Felix, der sich weiter und mit Freude durch die Krabat-Geschichte tastet, einmal in der Autorendatei der Leipziger Blinden- bücherei zu finden sein wird. O-Ton ? Felix Mit meinen Händen kann ich eben alles ertasten, sind wie für andere die Augen. Ich würde mir wünschen Programmierer zu werden oder Schriftsteller, weil ich auch gerne Geschichten schreibe. Sprecherin In der Braille-Schrift bestehen die Wörter I g n o r a n z und T o l e r a n z aus derselben Anzahl von Punkten ? 25! Sprecher Das Wort B r ü c k e ist kürzer, es sind nur 17 Punkte. Sprecherin und vielleicht 17 weite Sprünge für den Sehenden. Wobei doch ein einziger genügen würde? Sprecher ?der Sprung über den eigenen Schatten! 5