COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR FORSCHUNG & GESELLSCHAFT Forschung und Gesellschaft 16.1.2014 Demenz und Depression – Wenn die Grenzen verschwimmen Von Anja Arp Redaktion: Kim Kindermann Sendetermin: 16.1.2014 ________________________________________________________ Atmo Kollage Sprecher/Sprecherin: Vergesslich, traurig, aggressiv, müde, antriebslos, appetitlos, ängstlich, hilflos, orientierungslos, verzweifelt, wütend, aufbrausend, niedergeschlagen, wortlos … 01 O-Ton Förstl 06’46: „Wenn jemand die Welt nicht mehr versteht, weil er sich nicht mehr richtig orientieren kann. Und immer das Gefühl hat, ich müsste es doch eigentlich wissen, weil ich etwas tun muss. Und ich weiß aber nicht mehr genau, was ich tun muss. Unter diesem ständigen Druck versagen dann auch die Gefühle. Man gerät in Angst, wird erschöpft und depressiv. Und diese affektive Belastung, diese aufgewühlten Gefühle, die überfordern das Gehirn natürlich zusätzlich noch mehr. Und diese geistigen Leistungsstörungen nehmen noch weiter zu, bis sich die Sache wieder beruhigt hat.“ Atmo Kollage wieder hoch: Vergesslich, traurig, aggressiv, müde, antriebslos, appetitlos, ängstlich, hilflos, orientierungslos, verzweifelt, wütend, aufbrausend, niedergeschlagen, wortlos Autorin: Symptome, die auch Marliese Müller plötzlich an den Tag legte. Die 81jährige Frau lebt seit ein paar Jahren im Haus Wetterstein in Brühl. Dort gibt es eine Beschäftigungsgruppe für demente Menschen: 02 O-Ton Dechert 26´44 „Marliese hilft immer beim Abendessen. Sie schmiert die Brote. Also wir haben da Teamarbeit. Die Marliese schmiert die Butter drauf und ich die Wurst. Das ist überhaupt ein ganz wichtiger Aspekt, dass die Teilnehmer mit in den Alltag einbezogen werden. Also das ist eigentlich das oberste Ziel bei uns hier in der Wohnküche oder in unserem Beschäftigungsprogramm, dass wir versuchen, ganz normalen Alltag zu leben, soweit das überhaupt noch möglich ist. Und dann kommen manchmal auch schon noch Restfähigkeiten wieder hervor, die durch Motivation und Motivieren einfach wieder getraut werden. Das ist ganz wichtig. Dass da Vertrauen geschaffen wird, dass man sich auch wieder alte Sachen traut, die man verlernt hat. Und die Marliese ist jemand, der immer fleißig ist und uns immer beiseite steht, wo sie nur kann, stimmt doch, ne?“ Atmo Kollage wieder hoch: Vergesslich, traurig, aggressiv, müde, antriebslos, appetitlos, ängstlich, hilflos, orientierungslos, verzweifelt, wütend, aufbrausend, niedergeschlagen, wortlos … 03 O-Ton Barbara Cepielik 00’51: „Als ich das erste Mal ins Krankenhaus kam, kam sie aus dem OP. Und wirkte eigentlich schon wieder ganz vernünftig. // Aber das war ein großer Irrtum. Es folgte dann, wenige Tage später, die zweite Operation, weil es wirklich ein komplizierter Bruch war. Und in der Woche habe ich schon gemerkt, dass meine Mutter sich überhaupt nichts mehr merken kann. Ich habe ihr jeden Tag x-mal erzählt, warum sie eine Schiene an dem Arm hat, dass sie nicht wegen ihres Knies da ist. Sie hat alles durcheinander gebracht. Und das hat mich schon sehr verwundert.“ Autorin: Zwei Frauen, zwei Krankheiten – und doch ähnliche Symptome: Vergesslich, traurig, aggressiv, müde, antriebslos, appetitlos, ängstlich, hilflos, orientierungslos. All das kann sowohl bei einer Demenz als auch bei einer Depression auftauchen. Beide Erkrankungen sind gerade bei älteren Menschen in ihren Erscheinungsformen so ähnlich, dass selbst Fachärzten eine genaue Diagnose schwer fällt. 04. O-Ton Förstl 01´03: „Das ist eben das Problem im hohen Alter. Autorin: Professor Hans Förstl. Er ist Direktor der psychiatrischen Klinik der Technischen Universität München und hat täglich mit solchen Patienten zu tun. 04. O-Ton Förstl 01´03: Denn man tut sich sehr schwer, bestimmte Grunderkrankungen voneinander abzugrenzen. Weil auch die Symptome dieser Erkrankungen vollkommen ineinander verschwimmen können. Und oft erst der Verlauf zeigt, was wirklich in erster Linie dahinter steckt. Irregeleitet ist die Öffentlichkeit im gewissen Sinne auch durch die Wissenschaft. // Man spricht immer gerne von Alzheimer, dann im Gegensatz die Durchblutungsstörungen und dann die Depression. So, als würde sich das nicht überlagern und nebeneinander stehen. Das ist eine Pseudoschärfe, die man in der Wirklichkeit, im Krankenhaus, in der Praxis kaum antrifft.“ Autorin: Dabei unterscheiden sich die beiden Krankheiten im Kern deutlich voneinander: Eine Demenz entsteht als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Erkrankung des Gehirns. Das auffälligste Symptom ist dabei die Gedächtnisstörung, die vor allem das Kurzzeitgedächtnis betrifft. Hinzu kommen Sprachstörungen und die Motorik kann beeinträchtig sein. 05 O-Ton Förstl 07´26 “Die typischen Merkmale bei einen Demenzsyndrom also Syndrom bedeutet , da gehören immer mehrere Symtome dazu, sind Vergesslichkeit. Aber es bleibt da nicht allein bei dieser Gedächtnisstörung, sondern vor allem auch Wortfindungsstörungen, auch Orientierungsstörungen. Und das alles führt dazu, dass der Mensch nicht mehr wie gewohnt seinen Alltag bewältigen kann. Das ist ein Demenzsyndrom.“ Autorin: Eine Depression hingegen ist eine psychische Erkrankung, bei der eine niedergeschlagene Grundstimmung im Vordergrund steht In der Praxis ist die exakte Abgrenzung von Demenz und Depression gerade bei älteren Menschen jedoch oft schwierig: 06 O-Ton Förstl 2´10 “Jeder, der sich ein bisschen auskennt mit alten Menschen und jeder, der auch ein bisschen Gelegenheit hatte, Gehirne alter Menschen anzuschauen, mit neuen Bildgebenden Verfahren und klassischen neuropathologischen Hirnuntersuchungstechniken, der weiß, dass es ganz schwer ist, zu trennen und zu unterscheiden, was bei dem jeweiligen Patienten das wirklich Wesentliche ist, das im Vordergrund steht.“ Autorin: In beiden Fällen kann das Gedächtnis, das Denken, die Orientierung und die Auffassungsgabe nachhaltig beeinträchtig sein. Genau das beobachtete Barbara Cepielik aus Köln bei ihrer 85jährigen Mutter. Juliane Cepielik lebte bis vor kurzem noch allein in Bremerhaven und war vollkommen fit und selbständig - bis sie nach einem Armbruch aus der Narkose erwachte und völlig verwirrt war. Solche plötzlichen Veränderungen können oft eine Folge der Narkose sein - ein sogenanntes Durchgangs-Syndrom. Doch bei Juliane Cepielik hielt die Vergesslichkeit auch noch acht Wochen nach der Operation an. Dazu kamen regelmäßige Panikattacken. Mutter und Tochter gingen daraufhin zum Neurologen. 07 O-Ton Barbara Cepielik 04’55: „Der hat dann in einem viertelstündigen Gespräch festgestellt, dass meine Mutter unter einer Depression leidet. Das man nicht auseinander halten kann, ob die Depression von der beginnenden Demenz kommt. Oder ob meine Mutter vergesslich ist, weil sie depressiv wird. Und er hat ihr erste Medikamente gegeben, damit sie regelmäßiger schläft. Und nicht mehr von diesen Panikattacken heimgesucht wird.“ Autorin: Demenz oder Depression? Barbara Cepielik wollte es genauer wissen und hat ihre Mutter in die Memory-Klinik in Bremerhaven gebracht. 08 O-Ton Barbara Cepielik 06’12: „Die beschäftigen sich mit jeder Art von Vergessen. Auch mit Vergessen oder Verdrängung nach Unfällen. Da ist meine Mutter zwei Tage gewesen. Die haben einen klassischen Demenztest gemacht. Haben sich aber auch mit ihr unterhalten. Sie haben geguckt, wie sie, wie sie motorisch sich verhält. Und auch da war die Diagnose: Es ist nicht ganz klar, ist es Depression, ist es Demenz?“ Autorin: Bei einer Demenz, zu der auch die Alzheimer-Krankheit zählt, ist zumeist eine neurodegenerative Erkrankung des Gehirns die Ursache. Das kann man mit neuen bildgebenden Verfahren inzwischen gut diagnostizieren. Die Methoden und Möglichkeiten haben sich in diesem Bereich in den letzten Jahren erheblich verbessert. So ist zum Beispiel die Diagnose einer Alzheimer-Krankheit heute bereits in einem frühen Stadium möglich. Man erkennt sie an den typischen Hirnveränderungen, den sogenannten Plaques und Neurofibrillen. Sieht man solche hirnorganischen Veränderungen aber nicht, dann ist es schwieriger: Das klassische Symptom einer Demenzerkrankung sind Gedächtnisstörungen, die aber auch auf eine depressive Verstimmung zurückgehen können. Welche Ursache zu Grunde liegt, versuchen die Ärzte dann mit Hilfe klinischer Tests zu ermitteln. Und mit einem umfangreichen Blutbild sollten zudem andere Ursachen ausgeschlossen werden. 09 O-Ton Förstl 08´00 “Wenn im Vordergrund die Gedächtnisstörungen stehen und der Mensch sonst nichts anderes hat an Problemen, die er selbst spürt, die er zeigt an Untersuchungsbefunden, die sich da aufdecken lassen, dann sagt man, es ist wahrscheinlich eine Alzheimerdemenz.“ Autorin: Bei Barbara Cepieliks Mutter lautet die Diagnose mittlerweile: Pseudo-Demenz. Das heißt, Juliane Cepielik zeigt alle typischen Symptome einer Demenz, also Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen und Orientierungslosigkeit. Doch dahinter verbirgt sich eine Depression. Solch eine Pseudo-Demenz kann in Belastungssituationen entstehen. Professor Hans Förstl. 10 O-Ton Förstl 04’22: „Der Mensch kam im Alltag gut zurecht. Und dann kommt es zum Stress im Krankenhaus. Und der wird dabei förmlich aus der Kurve getragen. Ist hinterher im Mark erschüttert. Und hat an Selbstsicherheit massiv verloren. Wirkt dann wirklich auch depressiv, traut sich selber gar nichts mehr zu. Und kann es dann prompt auch nicht mehr. Und alles, was man untersuchen kann, was man testet, neuropsychologisch testet, das spricht dann auch dafür tatsächlich, er hat eine Demenz. Und zusätzlich ist es noch emotional gefärbt. Also er wirkt depressiv. Und das sind dann eben die Gelegenheiten, wo nur der Verlauf zeigen kann, was das Entscheidende gewesen ist. Aber wichtig ist zunächst, jedes dieser Symptome, jedes dieser Zeichen aufzugreifen und energisch zu behandeln.“ Autorin: Juliane Cepielik bekommt jetzt tagsüber ein leichtes Beruhigungsmittel und abends ein Entspannungsmittel zum Einschlafen - beides verträgt sie gut: 11 O-Ton Barbara 07’33: „Sie hat vorher ein anderes bekommen, tagsüber, davon war sie völlig, völlig benommen. Und zwar schon, schon nach einer Woche. Sie sprach, als wenn sie betrunken ist. Das ist sehr schnell abgesetzt worden. Morgens und abends kommt der Pflegedienst, der darauf aufpasst, dass sie ihre Medikamente nimmt. Und im Notfall ihr auch helfen würde beim Baden. Das lehnt meine Mutter aber ab. Das macht sie lieber alleine. Was ganz toll ist, dass der Nervenarzt ihr den ambulanten psychologischen Dienst empfohlen hat. Das sind Leute, die kommen drei- bis viermal die Woche. Und sprechen mit meiner Mutter, begleiten sie zum Einkaufen, gucken, ob und wie sie kocht, wie sie ihr Leben organisiert.“ Autorin: Diese Begleitung ist allerdings zeitlich begrenzt. Bald wird die Krankenkasse den ambulanten Dienst nicht mehr bezahlen. Deshalb sucht Barbara Cepielik schon jetzt nach einem Seniorenwohnheim. 12 O-Ton Barbara 09’48: „Es gibt ja hier in Köln lange Wartelisten. Und nicht jede Einrichtung ist auch gleich angenehm oder gut zu erreichen. Es ist der Wunsch meiner Mutter, in ihrer Wohnung zu bleiben. Und am liebsten hätte sie gerne so eine Rund-um-Polin. Eigentlich braucht meine Mutter aber niemand, der sie aus dem Bett holt oder die Windeln wechselt. Von daher weiß ich nicht, ob das passt Ich fand eigentlich eine Demen-WG gut, wo sie mit anderen Leuten was zu tun hat – fände ich sehr viel besser.“ Autorin: In vielen Pflegeeinrichtungen gibt es Wartelisten von bis zu 8 Monaten. Wichtig ist bei solchen Entscheidungen ist, jeder Schritt sollte möglichst sorgfältig zusammen mit dem Betroffenen abgestimmt werden – soweit das geht. Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Altershilfe in Köln. 13 O-Ton Sowinski 01’34: „Das Allerwichtigste ist, ihn erst einmal selber zu befragen, wie er das sieht. Denn sehr viele ältere Menschen haben natürlich eine wahnsinnige Angst vor Demenz. Und leugnen natürlich, wenn irgendetwas in der Richtung ist. Also, es ist auch nicht gut, wenn man gegen den Willen die Menschen da irgendwo zum Arzt zerrt. Und ich habe als Krankenschwester einen schönen, einen Slogan gehört, in der Schule. Der hieß immer: Der Patient führt. Genauso wie es im Umgang mit tödlichen Krankheiten ist. Natürlich haben die Ärzte immer eine Aufklärungspflicht. Aber gerade wir in der Pflege oder auch als Angehöriger ist es besser: Man geht dem so nach, wie der Betreffende das selber auch sieht.“ Autorin: Das Kuratorium Deutsche Altershilfe rät deshalb zu einer Familienkonferenz bei der alle Familienmitglieder gemeinsam beraten, wie es am besten weitergehen soll. 14 Atmo Einspielung Gesang in der Wohngruppe 21´16: „Wer will fleißige Handwerker sehen.“ Autorin: Mittwochnachmittag im Haus Wetterstein in Brühl bei Köln. 15 O-Ton Dechert 02´43 (steht länger): „Und die Magda, die hat Euch heute ein Thema mitgebracht und zwar das Thema Berufe. Wir wollen über Berufe sprechen.“ Autorin: Magda Smolin, eine der Betreuerinnen im Pflegeheim Haus Wetterstein, hat eine Kiste voller Utensilien mitgebracht, die sie nacheinander hochhält: 16 O-Ton 11´08: „Kochlöffel, damit kann man Süppchen kochen. 13´08 Nudelholz, Teigausrollen Nudelherstellung.“ Autorin: Das einfache Spiel hat einen tieferen Sinn, erklärt Andrea Dechert. Die Diplom-Pädagogin leitet das Begegnungs- und Aktivierungsangebot für Menschen mit Demenz. 17 O-Ton Dechert 19’36: „Und zwar ist das, um biographische Erinnerungen wieder hervorzurufen. Also vom Fachbegriff ist das Erinnerungsarbeit. Und bei der Erinnerungsarbeit ist es ganz wichtig, dass man auch immer einen Gegenstand greifen kann. Und über diesen Gegenstand kommen dann die Erinnerungen wieder zurück. Und deswegen ist es wichtig, dass man, wenn man in ein Thema reingeht, nicht nur rein theoretisch an dem Thema arbeitet, sondern dass man visuell auch etwas zum Sehen hat. Wenn möglich auch was zum Riechen hat. Also dass verschiedene Sinne angesprochen werden.“ 18 Atmo Gesang 22´22 (siehe Atmo 14 : „Das Wandern ist des Müllers Lust“ Autorin: Auch wenn manche in der Gruppe ihren eigenen Namen nicht mehr wissen - singen können fast alle - auch Marliese Müller, den Namen hat die Redaktion geändert. Das Gedächtnis der 81jährigen Frau hat sich nach dem Tod ihres Lebenspartners rasant verschlechtert. Auch bei ihr war anfangs unklar, ist sie dement oder depressiv? Irgendwann aber war Marliese Müller geistig so verwirrt, dass sie nicht mehr alleine leben konnte. Ihre Söhne mussten für sie die Entscheidung treffen, wo sie zukünftig lebt: Seit acht Jahren ist sie jetzt im Seniorenheim Haus Wetterstein zuhause – und zwar gerne. 19 O-Ton Dechert 29´09 „Ja, du hast viel mitgemacht. Aber jetzt sind wir da, um es uns schön zu machen. Ach wo, das interessiert uns doch gar nicht, was andere sagen, Marliese. Hauptsache wir verstehen uns ne.“ Autorin: Wenn die Symptome von Demenz und Depression sich vermischen, dann sind die Betreuer besonders gefordert. Andrea Dechert schildert die Grundlinie des Konzeptes im Haus Wetterstein: 20 O-Ton Dechert 49’55: „Im Vordergrund steht, dass gemeinschaftliche Betätigungen im Alltag gemeistert werden mit einem biographischen Ansatz. Das heißt, dass unsere Bewohner in ihren Stärken gestützt werden. Und dort noch gefördert werden, wo Ressourcen da sind. Immer mit dem Hintergrund, Förderung, aber nicht Überforderung. Und, ja, ansonsten versuchen wir hier, einen ganz normalen Alltag miteinander zu leben und tagesstrukturierende Angebote zu machen, die, einen biographischen Hintergrund haben.“ Autorin: Wichtig sind dabei auch Rituale, sie helfen dabei den Alltag zu strukturieren. 21 O-Ton Dechert 39’43: „Das fängt morgens an mit einem Frühstück. // Wir haben dann um zehn Uhr unsere Zeitungsrunde, die vorher angekündigt wird. Die auch, wo gerne auch mitgemacht wird. Auch speziell die Marliese ist auch immer sehr interessiert an der Zeitungsrunde. Und beteiligt sich auch an den Gesprächen. Dann findet ein Beschäftigungsprogramm mit unterschiedlichen Schwerpunkten statt. Dann ab halb Elf/dreiviertel Elf. Ab zwölf Uhr ist dann das Mittagessen. Und so zieht sich das halt über den Tag. Dass immer wieder feste Punkte da sind. Und das ist auch wichtig, um eine Struktur im Alltag zu haben.“ Autorin: Solche festen Strukturen sind für alte Menschen mit Depression und/oder Demenz gleichermaßen wichtig. Sie sind für die Betroffenen quasi die Angelpunkte in einer zunehmend undurchsichtigen Welt. Demenz und Depression und ihre vielfältigen Misch-Formen sind aber auch für die Angehörigen eine besondere Herausforderung. Barbara Cepielik. 22 O-Ton Barbara Cepielik 00’26: „Jenseits dieser Vergesslichkeit, die ich gut akzeptieren könnte, sind das auch Phasen, die ich kaum beschreiben kann. Meine Mutter schlägt vor, den Kleiderschrank umzuräumen. Die Frühlingspullover nach oben und die Winterklamotten runter zu holen. Das dauert aber drei Stunden. Und am nächsten Tag wird der Kleiderschrank wieder umgeräumt. Und zwar anders. Und gleichzeitig hat sie mir dann unterstellt, ich habe Dinge verschwinden lassen, sie sei bestohlen worden von der Putzfrau. Die eher was dazu legen würde. Wir haben auch Dinge an ungewöhnlichsten Orten gefunden und wiedergefunden. Auch Dinge, die meiner Mutter lieb und wert waren. Und das haben wir phasenweise mit den Pullovern am Wochenende zweimal gemacht. Und mit dem Schrank, mit den Dosentomaten und den Lebensmitteln auch. Gott sei dank habe ich zwischen den Lebensmitteln dann den Schmuck wiedergefunden. Aber dieses ewige Suchen, Umräumen und dann auch hören, dass meine Mutter Fremde verdächtigt, die Dinge genommen zu haben oder woanders hingetan zu haben. Das war schlimm. Und das zweite war, dass diese Gespräche darüber, wie die Dinge denn nun wo sind, dass meine Mutter aggressiv wurde. Und zwar so aggressiv, nicht nur verbal, sie hat mich beschimpft. Und hat gesagt, eher schmeiße ich mein Geld vom Balkon, als dass ich es dir vererbe, sondern sie hat mich auch mehrere Male geschlagen. Und da war ich, da war ich sehr ratlos.“ Autorin: Demenz und Depression im Alter haben viele Gesichter: Bei Marliese Müller kommen zu ihren Problemen sich zu erinnern, auch noch Ängste aus ihren Kindertagen dazu. Sie hatte offenbar kein gutes Verhältnis zur eigenen Mutter und sie hatte das traumatische Erlebnis im Krieg verschüttet gewesen zu sein. Und obwohl das alles schon knapp 70 Jahre zurück liegt, befindet sich Marliese Müller emotional heute wieder in ihrer Kindheit und Jugend. 23 O-Ton Dechert 37’30: „Weil sie sich vom Gemütszustand und vom Gefühlszustand in dem, als Mädchen sieht, wie sie 14 Jahre alt war. Und da geht es darum, sie zu stützen, ihr Sicherheit zu geben, ihr, ja, zu zeigen, wir sind für dich da. Und deswegen duzen wir sie auch. Also normalerweise duzen wir unsere Bewohner nicht, sondern siezen alle. Bei Marlise ist es , dass sie es braucht, Marliese genannt zu werden.“ 24 O-Ton Dechert 31´27: „Da ist schon Butter drauf. Marliese: Habe ich gar nicht gesehen. Ach Marlieschen komm. Jetzt lass uns den Abend nicht verderben. Wir zwei machen das jetzt schön. Hier, da ist noch ein bisschen Butter, da muss noch ein bisschen Butter zu.“ Autorin: Obwohl Marliese Müller dement ist bekommt sie ein Antidepressivum, das gegen ihre Ängste helfen soll und auch allgemein positiv ihre Stimmung wirken soll. Früher hat man das nicht so gerne getan, zumal die Medikamente gerade bei älteren Menschen häufig erst die Verwirrungszustände auslösten. Heute aber sind die neuen Antidepressiva diesbezüglich Nebenwirkungsärmer, meint Hans Förstl. 25 O-Ton Förstl 12’26: „Heutzutage ist es so, dass die Antidepressiva eigentlich sehr nebenwirkungsarm sind. Und dass die auch von älteren Menschen gut vertragen werden. Und es ist meiner Meinung nach ein unverzeihlicher Fehler, wenn man bei dem geringsten Verdacht auf eine depressive Komponente beim alten Menschen darauf verzichtet, ihn wirklich, natürlich mit guten Worten, mit guten Taten in der richtigen Umgebung, aber auch mit Medikamenten zu behandeln. Es gibt immer wieder Situationen, wo alte Menschen wie ein Phönix aus der Asche sozusagen aus dieser vermeintlichen Demenz wieder auftauchen können. Wenn man keinen Fehler macht und wenn man die Sache nicht schleifen lässt.“ Autorin: Umso wichtiger ist also eine gute und umfassende Diagnostik und falls nötig eine entsprechende Medikation. Denn heute gibt es inzwischen auch Medikamente, die eine Demenz zwar nicht heilen, aber zumindest kurzzeitig aufhalten können. 26 O-Ton Förstl 10’18: „Bei der Demenz versucht man ja, bestimmte Defizite in den Botenstoffen auszugleichen. Da gibt es zwei berühmte Neurotransmitter, also Botenstoffe: Von einem ist zu viel da, vom anderen zu wenig. Zu wenig hat man von dem so genannten Acetylcholin. Und das wenige, was aber dann noch produziert wird, wird sehr schnell abgebaut. Das heißt, man versucht, diesen Abbau zu bremsen. Da gibt es entsprechende Medikamente. Und dann wird die Konzentration des Patienten wieder besser.“ Autorin: Wenn es den Ärzten trotz ausgiebiger Diagnoseverfahren nicht gelingt, eine Demenz und eine Depression exakt voneinander abzugrenzen, dann sprechen die Fachleute von einer Pseudo-Depression oder einer Pseudo-Demenz. In solchen Fällen können Medikamente gegen Demenz durchaus hilfreich sein. 27 O-Ton Förstl 16’11: „Zeitweise kann der Patient möglicherweise sogar von diesen Medikamenten gegen Demenz profitieren. Das lohnt sich, das zu versuchen. Wenn er nicht zu sehr unter Nebenwirkungen leidet. Und wenn keine Gründe vorliegen, dass er diese Medikamente nicht erhalten sollte. Also das kann schon einen schwierigen Zustand überbrücken. Und wenn die Konzentration dann besser wird und er wieder mehr begreift, was um ihn herum vorgeht, was von ihm erwartet wird, dann stärkt das natürlich auch das Selbstgefühl und er kommt wieder etwas leichter aus der Depression heraus.“ Autorin: In jedem Fall ist es wichtig, möglichst viel über die diversen Demenzformen und ihr Zusammenwirken mit Depressionen zu wissen. In Köln gibt es zum Beispiel das Alzheimer Forum, das sich seit fast 20 Jahren um die Angehörigen und die Erkrankten kümmert – mittlerweile auch um Barbara Cepielik und ihre Mutter. 28 O-Ton Barbara Cepielik 10´55: “Ich hatte ganz großes Glück. Ich bin relativ früh zu einer gratis Alzheimer-Beratung gegangen. Da hat mir der Professor Schirmer den Kopf gewaschen und hat gesagt: Wenn sie sich noch lange so um ihre Mutter kümmern, dann sind sie eher in der Psychiatrie als ihre Mutter. Der Mann hatte Recht. Er hat mir eine Menge Hinweise gegeben, die ich nicht direkt befolgt habe, aber ich habe mich bei allen sozialen Diensten gut aufgehoben gefühlt, auch die Versicherung war hilfreich.“ Autorin: Hans Joachim Schirmer hat schon vielen Demenz-Patienten und ihren Angehörigen geholfen. Der Facharzt für Nervenheilkunde arbeitet in einem großen städtischen Altenheim in Köln. 29 O-Ton Schirmer 01’59: „Häufig ist es so, dass Patienten zu mir kommen, die nicht mehr ganz so jung sind, sagen wir mal 55 Jahre alt. Und dann kommen und sagen, hören sie mal, ich glaube, ich habe die Alzheimer-Krankheit, ich vergesse alles. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren, wo man schon fast sagen kann: Menschen, die von ganz alleine zum Facharzt kommen, die der Meinung sind, sie hätten eine Demenz, die Alzheimer-Krankheit, die haben in der Regel, das ist so die Erfahrung, eine Depression. Weil man sucht ja eine Erklärung, man ist konzentrationsgemindert, verlegt Sachen, man sieht keinen Sinn mehr im Leben und all so was. Hat der Patient aber eine Demenz, da ist es meistens so, dass er halt gebracht wird oder aber ich werde gerufen vom Pflegepersonal, also von Leuten, die einen Menschen betreuen. Dann ist es so, dass neben Merk- und Erinnerungsstörungen sehr häufig auch eine Depression vorliegt. So dass es eigentlich ein Symptom der Demenz ist, wie Unruhe, Schlafstörungen, wie Verwahrlosungstendenzen. Ist es auch ein Symptom, das der Patient eine Depression hat, die man auch ganz gut behandeln kann.“ Autorin: Darin sind sich die beiden Experten offenbar einig: Depressionen lassen sich häufig relativ gut in den Griff bekommen. Bei einer Demenz sieht das leider anders aus. 30 O-Ton Schirmer 04’36: „Das heißt, es gibt ja Medikamente, schlussendlich vier verschiedene, die zugelassen sind zur Behandlung der Demenz. Eigentlich ist es so, dass man im seltenen Fall eine Besserung sieht. Das muss man leider so sagen. Aber zumindest wissenschaftlich ist erwiesen, dass die Krankheit, der Verlauf der Krankheit, um bis zu zwei Jahre gestoppt wird. Das klingt vielleicht nicht so toll. Aber wenn man 85 Jahre alt ist, ja, und dadurch zwei Jahre lang die Heimaufnahmebedürftigkeit hinausziehen kann, also zu Hause leben kann, dann ist das schon was. Also das heißt, jeder Patient, der die Diagnose Alzheimer und die häufigste Demenz-Form ist halt die Alzheimer-Krankheit, die Diagnose Alzheimer bekommt, der kriegt auch ein solches Medikament.“ Autorin: Ist die Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung eindeutig, dann bekommt der Patient in der Regel eines dieser Medikamente verschrieben. 31 O-Ton Schirmer 05´00: „Und da es wahrscheinlich nicht nur eine Alzheimer-Krankheit gibt, sondern eine ganze Menge, vielleicht 20 verschiedene Formen, ist es tatsächlich schon einmal so, dass Angehörige sagen, ja, seit er das Medikament bekommt, ist der Patient merklich ruhiger, weniger vergesslich, wirkt zufriedener. Das habe ich auch schon erlebt, ja.“ Autorin: In jedem Fall ist es wichtig, bei länger anhaltenden Anzeichen von Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen oder Desorientierung zum Arzt zu gehen und sich eingehend untersuchen zu lassen. Denn manchmal verstecken sich hinter den Symptomen auch andere, gut behandelbare Erkrankungen. 32 O-Ton Schirmer 07’50: „Denn immerhin, auch bei älteren Leuten, zehn Prozent der Patienten, da findet man etwas, was man reparieren kann. Gar nicht selten, dass sich eine Schilddrüsenunterfunktion oder -überfunktion gefunden habe. Das ist natürlich totale Klasse. Oder der Patient, man fühlt schon reflexartig den Puls. Und dann kommt so raus, ja der hat einen Puls hier, bei Aufregung beim Arzt, von 48. Das ist viel zu wenig. Oder, ich habe schon erlebt, 38. Ja. Und dann hat man wenigstens etwas. Herzschrittmacher oder so. Es ist schon wichtig, das auch zu erwähnen.“ 33 Einspielung Marliese Müller Klavier spielen Autorin: Lautet die die Diagnose aber Demenz, so wie bei Marliese Müller dann ist die Unterbringung in einem Pflegeheim oft richtig und wichtig. Seit die 81jährige in der Wohngruppe im Haus Wetterstein lebt, blüht sie wieder auf – sie sie spielt sogar wieder Klavier, was ihr lange gar nicht möglich war. Fast schien das Klavierspiel in ihrem Gedächtnis verschüttet, doch durch die gute und anregende Begleitung hat sich die alte Frau jetzt wieder daran erinnert. Solche Erfolge lassen sich durch eine entsprechende Förderung durchaus erzielen, wenn auch nicht immer. So weiß Marliese Müller heute nicht mehr, dass sie mal Schneiderin war. 34 O-Ton Dechert 34´: „Also das Nähen geht bei ihr nicht mehr. Das haben wir schon ausprobiert. Und wie sie gemerkt hat, dass sie das auch nicht mehr kann, dann wurde sie unruhig und hat dann auch Ängste entwickelt. Weil sie das schon intuitiv gespürt hat, dass da eine Fähigkeit war, dass sie das nicht mehr kann. Dann muss man sofort aufhören und ablenken. Und dann in eine andere Richtung mit ihr gehen, halt, ne. Atmo Kollage hoch und kurz stehen lassen: Vergesslich, traurig, aggressiv, müde, antriebslos, appetitlos, ängstlich, hilflos, orientierungslos, verzweifelt, wütend, aufbrausend, niedergeschlagen, wortlos … Autorin: Demenz und Depression. Zwei Krankheiten. Ähnliche Symptome - und beide machen Angst. Jede auf ihre Art. Sie aber unbehandelt zu lassen, ist noch viel schlimmer. Denn dann entziehen sie den späten Jahren die letzte Lebensfreude. Zumal beide Erkrankungen – wenn auch in Maßen – behandelt werden können. Und so gilt es Mut zu haben, einen Arzt aufsuchen und sich helfen lassen. Juliane Cepielik und Marliese Müller sind beide Beispiele dafür, dass es sich lohnt. 1