COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 6.4.2010, 19.30 Uhr KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: ?Freund, komm mit mir auf Meer Reale und symbolische Wasser in der Poesie Autor : Carola Wiemers Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 06.04.2010 Besetzung : Sprecher : Sprecherin (Autorin) Musik + o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Carola Wiemers ?Freund, komm mit mir aufs Meer!? Reale und symbolische Wasser in der Poesie (20) Regen-Musik: Brönner Einsamkeit Stimmen ineinander gehend - wie Zauberformeln! Musik bleibt! (1) Durs Grünbein Erklärte Nacht Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen/ Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen. (2) Goethe Der Zauberlehrling/Westphal Walle! walle Manche Strecke, Dass zum Zwecke Wasser fließe, Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße (14) Ingeborg Bachmann Erklär mir, Liebe Wasser weiß zu reden, die Welle nimmt die Welle an der Hand, im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus! Ein Stein weiß einen andern zu erweichen! (17) Elisabeth Borchers Eia Wasser regnet Schlaf Eia Wasser regnet Schlaf Eia Abend schwimmt ins Gras Wer zum Wasser geht, wird Schlaf Wer zum Abend kommt wird Gras (3) Durs Grünbein Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren, Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen. (20) Regen-Musik: Brönner Einsamkeit/0:00-0:30 - nochmals aufnehmen bei - Den Spiegel durchbrechen - Hart ausblenden! Autorin Im Februar 1825 wird die deutsche Nordseeküste von einer gigantischen Springflut heimgesucht. Menschen sterben, es brechen die Deiche. Johann Wolfgang Goethe, der diese Landschaft nie sah, übersetzt seine Erschütterung in Poesie. ?Faust? wird im II. Teil der Dichtung zum Helden des Dammbaus. (4) Faust II/Hülsmann So bleibe denn die Sonne mir im Rücken! Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, Ihn schau? ich an mit wachsendem Entzücken. Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend, Dann abertausend Strömen sich ergießend, Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend. Autorin Bereits 1797 hatte Goethe auf seiner Reise durch die Schweiz den Rheinfall von Schaffhausen, Europas größten Wasserfall, mit ?heftig innern Empfindungen? erlebt. Neben der Flut als Naturkatastrophe bestimmt nun auch das optische Phänomen des Regenbogens als naturmagische Chiffre die Wassersymbolik in seinem Werk. (5) Faust II/Hülsmann Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend, Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer, Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend, Umher verbreitend duftig kühle Schauer. Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Autorin Nur zwei Wasserstoffatome und ein Sauerstoffatom garantieren das Leben auf der Erde. Wasser durchströmt alles. Es kennt keine Grenzen. Wasser ist global. Unentwegt transportiert es die lebensnotwendigen Substanzen in der Natur und sorgt für das Funktionieren von Körper und Geist. Der Kreislauf des Wassers ist mit den anthropogenen Systemen aufs engste verbunden. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. beobachtet der chinesische Philosoph Laotse Sprecher Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich. Autorin Und Leonardo da Vinci wusste vom Wasser Sprecher Es nimmt so viele Merkmale an wie die Orte, durch die es fließt. Mit der Zeit und mit dem Wasser ändert sich alles. Autorin Wie im Bild der Gezeiten, gehen vom Wasser glückhafte Euphorie und tödliche Gefahr aus. Als Grundnahrungsmittel, beim Baden und in der Medizin sorgt es für Wohlbefinden. Doch in seiner Weite, Tiefe und Unbändigkeit ist es physisch nicht fassbar. Flüssig und flüchtig, fasziniert und frustriert seine enorme Wandlungsfähigkeit. Gerade in diesem Reichtum aber ist das Reservoir kultureller Symbolwelten verborgen. Seit der Antike bestimmen Meeresgeschichten und maritime Schöpfungsmythen die Poesie. Universell und zeitlos dienen sie als phantasievolle Modelle der Deutung und Warnung. Sie helfen die menschliche Psyche in der Balance zu halten. Das Schiff als Ursymbol der Dichtung gibt dabei den Kurs an. Mal glänzen seine gestrafften Segel im Wind, mal verwischt sich die Silhouette im Nebelsturm. Wir wissen und bangen um seine Existenz, und beschwören es in Mythen, Liedern und Versen. Oft genug verlieren wir es aus den Augen. Sprecher Mit dem Meer wurde der mögliche Schiffbruch unentwegt mitgedacht. Autorin Meint der Kunsthistoriker Horst Bredekamp Sprecher Glückhafte Seefahrt bzw. Schiffbruch stieg unter den Bedingungen dieser Meeresangst zu einem der erfolgreichsten, auf alle Lebensbedingungen passenden Sinnbilder auf. Autorin Das Selbstverständnis des Menschen hat sich aus der ambivalenten Erfahrung mit den Elementen und in ihnen entwickelt. Deshalb wird das Wasser immer dann, wenn der Glaube an die Weltordnung erschüttert oder erschöpft scheint, als Medium bedeutsam, das Geburt und Tod, Untergang und Auferstehung ? und immer wieder Hoffnung symbolisiert. Musik Gabarek/Kashkashian Conversation with a stone. Aus Praise of Dreams/Track 7 - ab 1:20 einspielen! Oft nimmt sich die Poesie mit einer hochgradig aufgeladenen Wassersymbolik des Unbewussten menschlichen Daseins an, um das Unaussprechliche in uns beredt zu machen. Lange vor der Psychoanalyse wird das Wasser zum Spiegelbild der Seele. (6) Will Quadflieg Gesang der Geister über den Wassern Des Menschen Seele Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es, Und wieder nieder Zur Erde muß es, Ewig wechselnd. Musik weich ausblenden! Autorin Die Ode Gesang der Geister über den Wassern entstand 1779 als Goethe den berühmten Wasserfall des Staubbachs bei Lauterbrunnen sah. Er bezeichnet ihn als einen ?sehr erhabenen Gegenstand?. Denn aus 311 Metern stürzt das Wasser herab, verändert im freien Fall seine Gestalt und wird zur feuchten Wolke. Das Auge nimmt einen Vorgang wahr, der physikalisch erklärbar ist, als sinnliches Erlebnis aber ein Echo hinterlässt. In diesem Echoraum nistet die Kraft der Imagination. (7) Quadflieg/Ab ?Das Auge nimmt einen Vorgang wahr? einblenden Strömt von der hohen, Steilen Felswand Der reine Strahl, Dann stäubt er lieblich In Wolkenwellen Zum glatten Fels, Und leicht empfangen Wallt er verschleiernd, Leisrauschend Zur Tiefe nieder. Ragen Klippen Dem Sturz entgegen, Schäumt er unmutig Stufenweise Zum Abgrund. Im flachen Bette Schleicht er das Wiesental hin, Und in dem glatten See Weiden ihr Antlitz Alle Gestirne. Autorin Aus dem metaphorischen Klang der Elemente entsteht bei Goethe eine poetische Zauberformel. Ihr ist das Wesen der menschlichen Natur als ein frühes Psychogramm eingeschrieben. (8) Quadflieg/0:49-1:08 Wind ist der Welle Lieblicher Buhler; Wind mischt vom Grund aus Schäumende Wogen. Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind! Autorin Mit Goethe kündigt sich bereits eine Kritik des Umgangs mit den Elementen an. Seine Faustgestalt sorgt für eine Beunruhigung, mit der er weit in die Zukunft weist. Das gigantische Projekt der Landgewinnung macht ihn nicht nur zum Helden, sondern auch zum Kolonisator des Meeres. Die Elemente beherrschen zu wollen, heißt sie vergessen machen. Und so schaufelt Faust sein eigenes Grab. (11) Faust II/Hülsmann&Lehmann Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! Es ist die Menge, die mir frönet, Die Erde mit sich selbst versöhnet, Den Wellen ihre Grenze setzt, (Mephistopheles) In jeder Art seid ihr verloren; - Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft?s hinaus. Autorin In der Verbindung von technischem Fortschritt und Magie, Realität und Imagination wird das Faustische Prinzip zur poetischen Chiffre. Sein Machtstreben zeigt sich als moderne Herrschaftsform. Wenn die Elemente schweigen, gibt es kein Erinnern, keine Trauer, keine Geschichte mehr. Gernot und Hartmut Böhme schreiben in ihrer ?Kulturgeschichte der Elemente? Sprecher Die Natur ist so wenig zu überwinden wie die Elemente, ohne das Antlitz des Menschen auszulöschen, wie es historisch gebildet wurde. Feuer, Wasser, Erde und Luft gab und gibt es immer; und bis heute ist keine Kultur denkbar, die ohne tiefenstrukturell symbolische, alltagspraktische und technisch-wissenschaftliche Bezüge auf die Elemente auskommt. Musik Gabarek/Kashkashian Conversation with a stone. Aus Praise of Dreams/Track 7/ ab 1:20 - In den Text einspielen Autorin In der Sprache der Poesie werden die Elemente historisch erfahrbar. Sie bietet ein Archiv elementarer, zeitloser Erfahrungen. Jeder Vers hält ein kulturelles Muster bereit, in dem sich die Geschehnisse der Zeit, das Denken und Fühlen spiegeln. Collage ? Stimmen gehen ineinander (14) Bachmann Erklär mir, Liebe Wasser weiß zu reden, die Welle nimmt die Welle an der Hand, im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt. So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus! Ein Stein weiß einen andern zu erweichen! Sprecher: (Heine Du schönes Fischermädchen ) Mein Herz gleicht ganz dem Meere, Hat Sturm und Ebb? und Flut, Und manche schöne Perle In seiner Tiefe ruht. (16) Grass Lamento bei Regen/Lyrikstimmen Niemals verweigert der Regen Dem Eimer die Trommel Den Vers Du solltest dich nicht so erregen, es regnet nicht deinetwegen (9) Goethe Der Zauberlehrling Walle! walle Manche Strecke, Dass zum Zwecke Wasser fließe, Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße (17) Elisabeth Borchers Eia Wasser regnet Schlaf Eia Wasser regnet Schlaf Eia Abend schwimmt ins Gras Wer zum Wasser geht, wird Schlaf Wer zum Abend kommt wird Gras (18) Eich Botschaften des Regens Nachrichten, die für mich bestimmt sind, weitergetrommelt von Regen zu Regen, von Schiefer- zu Ziegeldach, eingeschleppt wie eine Krankheit, Schmuggelgut, dem überbracht, der es nicht haben will ? Autorin In den Falten der Versrhythmik tritt die Launenhaftigkeit des Elements als Leidenschaft, Angst oder Sehnsucht hervor. Denn im Auge des Betrachters erscheinen Meer und See, Fluss und Moor je nach Jahres- und Tageszeit als dunkler, tiefer Grund oder als Licht durchfluteter Raum. Der Wechsel des Szenariums reizt. Ströme maritimer Abenteurer, Schiffbrüchiger und Meerungeheuer ziehen vorbei. Musik der Loreley den Text unterlegen! Im Phantasiepotential um 1800 wird die Loreley zu einer begehrenswerten, aber gefährlichen Wasserfrau. ?Zu Bacharach am Rheine?, so Clemens Brentanos Gedicht von 1801, sind es ihre Augen, die wie ?zwei Flammen? den Tod bringen. Bei Heinrich Heine hockt sie 1824 als unerreichbares Schauobjekt auf dem Felsen und lockt mit ihrer Stimme die Seefahrer in den Strudel des Rheins. In der Sage von der Loreley ist bis heute die Urangst des Menschen vor einer neuen Sintflut ? als Widerruf der Schöpfung - verborgen. Schönheit und Verderben liegen eng beieinander. Musik langsam ausblenden! Das Wasser zu objektivieren, es als Stoff zu verfremden, nimmt bereits im 19. Jahrhundert gefährliche Ausmaße an. Die Natur gerät aus der Balance und mit ihr der Mensch. Mit der Technisierung und Industrialisierung des Lebens droht ein Wissen verloren zu gehen, das an die Elemente gebunden ist. Die Literatur reagiert wie ein ästhetisches Gegenstromprinzip auf diese Strategien der Entfremdung. Während die Lehre von den Elementen aus den Naturwissenschaften immer mehr ausgeblendet wird, entwickelt sich die Lyrik zur reinen Wasserpoesie. Sprecher (Meyer Der römische Brunnen) Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.? Autorin Conrad Ferdinand Meyer tastet im Gedicht ?Der römische Brunnen? von 1882 die Silhouette der Fontäne an der Villa Borghese in Rom ab. Während gigantische Staudämme und Bewässerungsanlagen die Topographie der Landschaft verändern, entstehen in der Poesie reizvolle Modelle einer ästhetischen Domestizierung des Wassers. Inspiriert von Brunnen, Wassertreppen und Fontänen, die in der Gartenarchitektur eine vitale Kulisse abgeben, suggerieren sie einen spielerischen Umgang mit dem Element. Meyers Sprechen folgt dem kunstvoll gebändigten Schwall des Wassers und labt sich an der Schönheit seiner Bewegungen. Auch Rainer Maria Rilke wiegt sich angesichts solch gebannter Flut in rhetorischer Sicherheit. In seinem Gedicht ?Römische Fontäne? von 1906 schärft er den Blick für einen ästhetischen Tanz des Elements, der Betrachter und Leser gleichermaßen vitalisiert. Alles Bedrohliche ist verdinglicht. An seine Stelle tritt eine in Reim gefasste Ästhetik. Das Gedicht entsteht in Paris, wo Rilke in der Nähe des Künstlers Auguste Rodin selbst wie ein Bildhauer ?vor der Natur? schaffen will. Die Fontäne in Rom wird zum Ideal und die Unrast des schreibenden Intellektuellen scheint gebannt. Sprecher: (Rilke Römische Fontäne) Borghese Zwei Becken, eins das andre übersteigend aus einem alten runden Marmorrand, und aus dem oberen Wasser leis sich neigend zum Wasser, welches unten wartend stand, dem leise redenden entgegenschweigend und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand, ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend wie einen unbekannten Gegenstand; sich selber ruhig in der schönen Schale verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis, nur manchmal träumerisch und tropfenweis sich niederlassend an den Moosbehängen zum letzten Spiegel, der sein Becken leis von unten lächeln macht mit Übergängen. Musik Gabarek/Kashkashian Conversation with a stone. Aus Praise of Dreams/Track 7/ab 1:20 Autorin 1922 schreibt der Kultursoziologe Max Weber Sprecher Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge ? im Prinzip ? durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Autorin Saßen die Fischer einst erwartungsvoll am Ufer und hofften, dass eine Aphrodite den Wellen entsteigt, fischt man im 20. Jahrhundert mit riesigen Netzwerken in stinkenden Gewässern. Die tödliche Gefahr lauert im Verborgenen und macht aus dem Lebenselixier eine Kloake. Auf der Kehrseite des Fortschritts nehmen Verunreinigung und Verseuchung des Wassers zu. An Donau, Seine, Elbe und Spree wird zunehmend Totes an Land gespült. Die Poesie hält dafür Bilder bereit. Seit Arthur Rimbauds Gedicht ?Ophelia? von 1870 treibt vor allem die holde Weiblichkeit als stumme, anonyme Wasserfrau im feuchten Element. Ihr Tod reflektiert das Sterben der Natur als umfassenden Vorgang. Im Schatten der Décadence begründet Georg Heym 1910 im expressionistischen Gedicht ?Die Tote im Wasser? eine schaurige Wasserleichenpoesie. Ophelia wird zum Symbol einer maroden, industrialisierten Welt. Sprecher Die Leiche wälzt sich ganz heraus. Es bläht Das Kleid sich wie ein weißes Schiff im Wind. Die toten Augen starren groß und blind Zum Himmel, der voll rosa Wolken steht. Das lila Wasser bebt von kleiner Welle. Der Wasserratten Fährte, die bemannen Das weiße Schiff. Nun treibt es stolz von dannen, Voll grauer Köpfe und voll schwarzer Felle. Die Tote segelt froh hinaus, gerissen Von Wind und Flut. Ihr dicker Bauch entragt Dem Wasser groß, zerhöhlt und fast zernagt. Wie eine Grotte dröhnt er von den Bissen. Sie treibt ins Meer. Ihr salutiert Neptun Von einem Wrack, da sie das Meer verschlingt, Darinnen sie zur grünen Tiefe sinkt, Im Arm der feisten Kraken auszuruhn. Autorin Für eine Elementarfrau wie Undine, mit der Friedrich de la Motte Fouqué 1811 der Elementenlehre des Paracelsus literarische Gestalt verlieh, ist längst kein Platz mehr. Nun symbolisiert Undine den Bruch mit der Natur. An ihr ist Verrat geübt worden. Körperlich und seelisch versehrt tritt sie den Menschen als Warnung entgegen und wird doch als Märchenvision gern belächelt. Peter Rühmkorf stilisiert sie 1975 zur Projektionsfläche für ein trauriges Liebesbegehren, mit dem auch um die Kreativität des Dichtens gebangt wird. (19) Rühmkorf Undine Zieh sie an Land, die säuselnde Sirene; frag nicht, wer dich belügt ? Ein Kopf voll Haare und das Maul voll Zähne genügt. Schmeckt nur die Brust nicht schal; wo hätte Wahnsinn je das Glück gemindert? Du ? krank im Geiste und sie gehbehindert, egal ? egal. Der Wind zieht an und schleift die Wolkenreiche; langsam steigt dir der Whisky zum Zenit. Wer weiß ? du nicht ? ob auf der Knochenbleiche nochmal die Primel blüht. Ob das nochmal zuhauf, nochmal zusammenkommt, der Wust an Gotteswundern... wie zwei Flundern, die Jadebucht reißt auf: Wasser strömt vor, ein Sturmtief wirft Meerflocken über das entflammte Laken. Komm, kucken, Kunst: die japsenden Kloaken ? der Bagger seufzt und schlürft. (20) Regen-Musik: Brönner/Rilke Einsamkeit Ab ?Wasser strömt vor? einblenden (21) Rilke Einsamkeit/Lindenberg&Brönner Die Einsamkeit ist wie ein Regen. Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat. Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt. Autorin Im Vorgang des Regnens findet Rainer Maria Rilke ein geeignetes Szenarium, um das schmerzhafte Gefühl der Einsamkeit zu versachlichen. Kein Ton der Klage ist zu hören. Die Entfremdung ist längst Teil des Daseins geworden. Vor der ästhetischen Kulisse wird der Regen zur Chiffre. Und Rilkes Trauer um die Landschaft von Westerwede wird in der Anonymität der Großstadt zum entrückten Gefühl. (22) Rilke Einsamkeit/Lindenberg&Brönner Regnet hernieder in den Zwitterstunden, wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen und wenn die Leiber, welche nichts gefunden, enttäuscht und traurig von einander lassen; und wenn die Menschen, die einander hassen, in einem Bett zusammen schlafen müssen: dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen. (23) Musik weiter bis Ende Autorin Von Rilkes Bild der Einsamkeit zur Schreckensvision der Apokalypse ist es nicht mehr weit. Im 20. Jahrhundert nimmt die Entfremdung des Menschen von der Natur ungeahnte Dimensionen an. Zwei Weltkriege drohen sein Antlitz auszulöschen. Das Sprechen über die Elemente verliert seine Eleganz, verkommt zum Stottern oder wird ausgeblendet. Die Natur wird zur Kippfigur, in der kaltes Grauen und ewiger Tod hausen. In der Großstadtlyrik wird das Wallen, Strömen und Fließen zum ästhetischen Prinzip. Während Georg Heym, Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Jakob van Hoddis das Weltende prophezeien, wird kurze Zeit später der Weltuntergang zum politischen Programm erklärt. Tragen die Expressionisten auf feuchten Sohlen eine bizarre Wasserpoesie in die Metropolen, so dominiert in der Poesie nach 1945 eine dunkle Wassersymbolik mit gefrorenen und stehenden Gewässern. Der sprachkritische Zweifel sowie die Sorge, dass die Vergangenheit vom Wasser abgewaschen und weggespült wird, weisen der poetischen Reflexion die Richtung. In der Lyrik Peter Huchels und Johannes Bobrowskis werden Ströme und Seen zu Refugien der Stille, aus denen Einsamkeit und Kälte emporsteigen. Auf ihrem Grund liegen die ungeborgenen Schandtaten. (24) Bobrowski Im Strom Im Strom Mit den Flößen hinab im helleren Grau des fremden Ufers, einem Glanz, der zurücktritt, dem Grau schräger Flächen, aus Spiegeln beschoß uns das Licht. Es lag des Täufers Haupt auf der zerrissenen Schläfe, in das verschnittene Haar eine Hand mit bläulichen, losen Nägeln gekrallt. Als ich dich liebte, unruhig Dein Herz, die Speise auf schlagendem Feuer, der Mund, der sich öffnete, offen, der Strom war ein Regen und flog mit den Reihern, Blätter fielen und füllten sein Bett. Wir beugten uns über erstarrte Fische, mit Schuppen bekleidet trat der Grille Gesang über den Sand, aus den Lauben des Ufers, wir waren gekommen einzuschlafen, Niemand umschritt das Lager, Niemand löschte die Spiegel, Niemand wird uns wecken zu unserer Zeit. Autorin Vom lautmalerischen Potential des Regens lässt sich Günter Eich in seinen ?Botschaften des Regens? von 1958 inspirieren. Die Regentropfen hämmern ein Prélude, dessen Rhythmus als Trommelgewitter wahrgenommen wird. Es appelliert an ein verdrängtes Wissen und stellt Forderungen. (25) Eich Botschaften des Regens Jenseits der Wand schallt das Fensterblech, rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen, und der Regen redet in der Sprache, von welcher ich glaubte, niemand kenne sie außer mir ? Bestürzt vernehme ich die Botschaften der Verzweiflung, die Botschaften der Armut und die Botschaften des Vorwurfs. Es kränkt mich, dass sie an mich gerichtet sind, denn ich fühle mich ohne Schuld. Autorin Nach der verheerenden Jahrhundertflut offenbart sich die wüste Kluft zwischen Mensch und Natur in einem unruhigen, reimlosen Versmaß. Die Sprache des Regens fordert das lyrische Ich zu einer kritischen Selbstbefragung heraus. Aus den nur scheinbar anonymen Botschaften des Regens wird bei Eich ein Sprechen über die unterlassene Trauerarbeit. (25) Eich/0:50-1:03 Ich spreche es laut aus, dass ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen und den nicht, der sie mir zuschickte, dass ich zu guter Stunde hinausgehen und ihm antworten will. (20) Musik Brönner Einsamkeit/Track 6/0:00-0:30 (1) Durs Grünbein Erklärte Nacht Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen/ Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen. Autorin Wenn der Vers ein Taucher ist, wie Durs Grünbein im Gedicht Erklärte Nacht von 1999 meint, dann gleicht er jenem cartesischen Taucher, der auf die Veränderung des Wassers reagiert. Er taucht ein und schnellt empor, fällt und steigt ? und findet niemals Ruhe. Dichten sei ein Akt des Sinkens, meint Grünbein, ein vertikales Eintauchen in die Zeiten und das Denken in der Zeit. Mit dem Philosophen Gaston Bachelard ist er sich darin einig (36) Grünbein/Gespräch/58:01-58:14 Das dichterische Bild ist ein Emportauchen aus der Sprache, es ist immer ein wenig über der bedeutungsgebundenen Sprache. Wer Gedichte erlebt, macht also die heilsame Erfahrung des Emportauchens. Autorin Er durchquert die darin ausgeleuchteten realen und imaginierten Räume und muss bei seiner Heimkehr ? wie einst Odysseus - damit rechnen, dass nichts mehr so ist wie zuvor. (31) Grünbein/Erklärte Nacht Oder Dichtung, was ist das schon? Entführung in alte Gefühle.../Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil. Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen./ Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel./ Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das »Echt Absolut Reelle«... (32) 0:46-0:51 Rückkehr der Echos zur Quelle, zum Mund, wo die Laute sich runden. Autorin Paul Celan sprach 1958 in seiner Bremer Rede vom Gedicht als einer Flaschenpost. Einmal ausgesetzt, würde es vielleicht irgendwo und irgendwann an Herzland gespült werden. Grünbeins cartesisches Tauchprinzip und Celans Gleichnis geben einen hoffnungsvollen Kompass für die Bewegungen der Poesie in die Hand. (34) Grünbein Gespräch Lange ist es da draußen, auf der hohen See der Bücherwelt, in diesem Meer des gedruckten Verstummens, umhergeschaukelt, und ihm nun wieder vor die Füße gespült worden. A message in a bottle, wie es in der Sprache der klassischen Seefahrernation heißt: ein versiegelter Fetzen Text mit keinem Adressaten, außer dem zufälligen Strandgänger, der ihn herausfischt und verwundert zu lesen beginnt. Autorin Der Dichter ein hoffnungsvoller Schiffbrüchiger ? der Leser ein zufälliger Strandgänger. Plötzlich beginnt alles wieder von vorn. (35) Grünbein Erklärte Nacht Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding. Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht. Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht. 1