COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur 19.2.2012, 00.05 Uhr Im Fluss der Erinnerungen Autor: Stefan Heckmann Redaktion: Dorothea Westphal Autor spricht selbst 1 Zitatorin / Sprecherin für voice-over 1 Zitator/ Sprecher für voice -over MUSIK Belá Ágoston einblenden ab time –code 33:41 Autor: Atmo einblenden unter Text Noch liegt die „Rosen“ vertäut am Ufer im bulgarischen Ruse, Stadt an der Donau, in der 1905 der Schriftsteller und Nobelpreisträger Elias Canetti geboren wurde. Dr. Penka Angelova, Direktorin des Internationalen Canetti-Institutes führt durch den ersten Leseabend und eine Diskussion über die Notwendigkeit, sich zu erinnern und die Macht nationalistischer Mythen. 1. O-Ton Penka Angelova Es muss etwas geschehen, damit die jungen Leute sich die Frage stellen: Na, was hast du denn, mein lieber Vater oder mein lieber Großvater damals gemacht, wenn du jetzt so angibst oder wenn du jetzt so schweigst. Denn Angeben und Schweigen gehen Hand in Hand. Autor: Die Gedichte von Kristin Dimitrova, geboren 1963 in Sofia, zeigen ironisch, wie die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit im Heute angekommen ist: 1. Atmo Kristin Dimitrova Sprecherin overvoice Weil wir keine Lotterielose kauften / Verpassten wir unsere Chance die Welt zu beherrschen /Unser Bus bringt uns weg durch die Berge / während wir über unsere Unterlassung grübeln / Das Lose-Geld vergiftet unsere Taschen. Maya: In einem Film sagten sie, dass wenn du kein 200 Euro Kleid kaufst, wirst Du um 200 Euro reicher. Ich: In New York hab ich mir das Chrysler Building angesehen, war kein gutes Geschäft / Nicht zu dem Preis! Maya: Da hast du dein Geld gespart. Sie / versuchten mir den Louvre zu verkaufen / Aber, nein, mein Herr, ich habe nicht gekauft. / Ich: Wenn ich ein Angebot für den Tadj Mahal ablehnte komplett mit Nord-Indien. Was mache ich / Mit all dem Geld jetzt? / Wenn du vor dem Kauf der Welt anhältst / Wirst du unendlich reich sein. / Wenn du sie kaufst, wirst du zum Bettler. / Wenn du so bist wie Maya und ich im Bus / Hast du auf jeden Fall Pläne. Autor: ev. Atmo einblenden Auf den Lesungen an Bord eines Ausflugsschiffes sind zum Ende hin nicht mehr viele Zuhörer, in der Stadt dagegen wird lustig gefeiert. Nationalfeiertag: Am 22. September wurde 1908 Bulgariens Unabhängigkeit ausgerufen. Ich treffe Kristin Dimitrova und will von ihr wissen, wie sie die Situation einschätzt zwischen der Feierlaune und der nicht nur für junge Autorinnen prekären wirtschaftlichen Lage im Lande. 2. O- Ton Kristin Dimitrova Sprecherin overvoice Die Leute brauchen Arbeit und sie brauchen Geld. Dass Bulgarien auf dem richtigen Weg sei, ist politische Terminologie. Sicher, die Dinge verbessern sich hier und da, aber gleichzeitig wollen die Menschen auch ein Stück Sicherheit, um leben und planen zu können, und das ist augenblicklich sehr schwierig. Also ich gehe mal davon aus, dass diese jungen Leute, die wir da gestern erlebt haben, nächstes Jahr irgendwo anders in Europa feiern werden, weil sie nämlich weggehen werden von hier. Viele sind ja bereits weg. Autor: Die Häuser an der Flaniermeile Alexandrowska im Herzen der Stadt, die sich für das Jahr 2015 als Kulturhauptstadt Europas bewerben wird, sind größtenteils restauriert, der Caféhausbetrieb floriert, hinter den Fassaden aber herrscht der Dämmerschlaf jahrzehntelanger Baufälligkeit. Bulgarien wartet noch auf den Zugang zum Schengenland, trotzdem hat es bereits gewaltige Veränderungen gegeben. 3. O- Ton Kristin Dimitrova Sprecherin overvoice Das Leben ist sehr ökonomisch geworden. Die Künste arbeiten noch, gehen aber vor die Hunde. Die Kultur geht in den meisten Fällen die Puste aus, oder sie sehr kommerziell geworden. Es ist ja nicht so, dass ich kommerzielle Kultur überhaupt nicht mag; Actionfilme zum Beispiel, die schau ich mir an wie alle anderen auch, aber es gibt keine Möglichkeiten mehr, um etwas anderes auszuprobieren. Menschlichkeit ist heutzutage absolut unwichtig geworden, und die Welt verändert sich zu einer einzigen shopping mall voller Mathematiker, Wirtschaftler und Politiker. Und das ist alles. 2. Atmo Kristin Dimitrova Sprecherin overvoice Wir spielten Karten mit Gott, / als er meinen König mit einer Zwei trumpfte. Aber, Gott, sagte ich, nach den Regeln / kannst du das nicht machen und ich warf /meine Karten hin. / Dann denk über eine Erklärung dafür nach, sagte er nur / und mischte neu. in Applaus Atmos und Musikfolie (time-code ab ca. 22:00) Autor: Bei Zigeunersommerwetter, wie man in Bulgarien die noch sehr warmen Frühherbsttage nennt, geht es die Donau flussaufwärts. Das Boot schiebt sich langsam vorbei an Sandbänken, die aus dem Wasser auftauchen wie Eisschollen. Baumstämme ragen aus dem Fluss wie Ertrinkende, die sich mit letzter Kraft ans Ufer krallen. Ernest Wichner, Leiter des Berliner Literaturhauses, über Belene, eine Insel in der Donau, die nach 1945 als bulgarisches Konzentrationslager diente. 4. 0-Ton Dr. Ernest Wichner Das war ein Vernichtungslager, darüber redet man nicht, denn die Donau hat regelmäßig diese Insel überschwemmt. Das war klar, da sind dreitausend Leute, und nach dem Frühjahrs - oder Winterhochwasser ist die Insel leer, und dann können wieder drei- bis fünftausend Leute dahin gebracht werden. So einfach ist das. Und das war sozusagen erwünscht. Das nächste Donauhochwasser kam und hat die Baracken mitsamt den darin Schlafenden oder Sitzenden einfach weggeschwemmt, und in dem kalten Donauwasser waren die bald tot. Autor: Eintragungen in Elias Canettis Skizzenbuch „Die Provinz des Menschen“: Zitator Elias Canetti Der Mensch, das Tier, das sich merkt, was es mordet. Musikakzent Einmal in jedem Monat sei bei ihnen von der See ein Dämon aus dem Volk der Geister erschienen, der ausgesehen habe wie ein Schiff voller Lampen. Als ich hinschaute, sah ich zu meinem Erstaunen, etwas wie ein großes Schiff, das anscheinend voller Lampen und Fackeln war. Da sagten sie: „Dies ist der Dämon.“ Musikakzent Er entlief der Binsen-Gegenwart in jede alte Lüge. Atmos zuspielen Autor: Zwischenstation in der südlichsten rumänischen Stadt Zimnicea. Atmo- Mischung unterlegen Landgang über brüchige Holzstege, die unvermeidlich offiziöse Passkontrolle, im Hintergrund das große neue InterAgro BioDiesel-Werk, dann Fahrt ins Zentrum der Kleinstadt, bettelnde Romakinder am Taxi, Handkarren, Pferdewagen, jede Menge alte Renault 12 Dacias. Das 4- Sterne-Hotel Inter, ein Neubau, ist umstellt von Ruinen aus sozialistischer Zeit. Ein Marmor- Springbrunnen als Entree, air conditioning, im Restaurant -gleich jeder Großstadtboutique- Beschallung mit Popmusik. Der Kontrast zwischen bäuerlicher Geduld und Langsamkeit, den Unfertigkeiten des abgeschafften Kommunismus und den machtvollen Insignien westlich geprägter Ökonomie könnte nicht schärfer sein. Von hier führt die Fahrt zum zweiten Ziel der Literaturreise, Portul Cetate, Donaukilometer 811, ein ehemaligerr Getreidehafen in ländlicher Abgeschiedenheit, heute Kulturstiftung des rumänischen Dichters Mircea Dinescu. Bei gutem Essen, von Dinescu selbst produziertem Wein und scharfem Cuijka-Schnaps, nach dem Platzmusik-Besuch einer Dorfband und dem nächtlichen Gejaule zahlloser Hunde, frage ich Mircea Dinesucs langjährigen Freund, den Poeten Dinu Adam, nach den Anfängen für dieses Kunst- und Kulturrefugium und ob der berühmte Dichter neben seinen satirischen Politmagazinen Mitte der 1990er auch schon als Showkoch im rumänischen Fernsehen gewirkt habe? 5. O-Ton Dinu Adam Sprecher overvoice (lacht) Nein, nein. Das ging erst los, nachdem wir dieses Abenteuer hier begonnen hatten und feststellten, dass es nicht weitergehen würde, ohne etwas zu essen. Später nannten wir unser Projekt hier schlicht Cuisine Art / KüchenKunst als Verbindung zwischen Essen, Kunst und Poesie. Autor: Inzwischen gehören regelmäßige Lesungen in Cetate und in Städten der Umgebung, Schriftstellerstipendien und Workshops von Bildhauern zum festen Bestandteil von Dinesucs künstlerischen Programm in Cetate. 6. O-Ton Dinu Adam Sprecher overvoice Mircea ist ja eine sehr wichtige Person unseres öffentlichen Lebens, denn schließlich war er es, der 1989 den Sturz Ceauscescus im Fernsehen öffentlich bekannt gab. Wir haben die Fondazione Mircea Dinescu gegründet, um der Öffentlichkeit Zugang zur zeitgenössischen rumänischen Literatur zu ermöglichen, weil sich in den 90ern die Publikationsbedingungen sozusagen von der politischen zur ökonomischen Zensur verändert hatten. Atmo-Mischung und Musikfolie (time-code ca. 30:59) Autor: Wo im Länderdreieck zwischen Serbien, Bulgarien und Rumänien der Hahn angeblich in drei verschiedenen Sprachen kräht und der Stör ins Donautreibholz beißt, liegen ans Ufer geduckt die Häuser aufgereiht wie sortiertes Strandgut. Skulpturen säumen Uferweg und Vorplatz der alten Gebäude, ein rostiger Bootskörper zeugt vom stillgelegten Hafen, an den Stränden suhlen sich Schweine, und durch die Auenwälder treiben Zigeuner ihre mit Holz beladenen Pferdewagen. sehr leise 26. Atmo unterlegen 7. O-Ton Dinu Adam Sprecher overvoice Die Situation der Roma in Rumänien, das ist eine spezielle Sache. Sogenannte interethnische Probleme, die finden wir überall in Europa. Aber hier wissen die Meisten nichts über die Kultur der Roma. Es gibt eine große Zahl von Verzweigungen innerhalb der Zigeunergesellschaften, vertikal und horizontal, es gibt viele verschiedene Gruppierungen, die sich sogar gegenseitig nicht als Roma anerkennen. Und innerhalb der verschiedenen Gruppen gibt es jeweils eine eigene soziale Pyramide von sehr, sehr arm bis zu sehr, sehr reich. Autor: Dinu Adam ist mit einer Romafrau liiert, bleibt aber, wie er sagt, in der Gemeinschaft dennoch immer ein gadjo, ein Fremder. Auch wenn ihm kleine Einblicke in die Romakultur möglich sind, interpretieren muss er diese letztlich selbst. 8. O-Ton Dinu Adam Sprecher overvoice Es gibt eine uralte traditionell verwurzelte Auseinandersetzung untereinander. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte Sklaverei in Rumänien. Seit dem Mittelalter ist die Bezeichnung Zigeuner gleichbedeutend gewesen mit Sklaverei. Danach hat sich aber nichts wesentlich verändert, außer, dass die Gesellschaft zerfiel in die, die weiter nomadisch unterwegs waren und die, die sich niederließen und assimilierten, die dann ihre eigene Sprache verloren, ihre Traditionen und deshalb von den anderen kasali genannt wurden. Daraus allein entstanden große Konflikte. Musik Autor: Marian Tutui, Leiter des rumänischen Filmarchivs in Bukarest, zeigt Dokumentarfilm- Fundstücke, u.a. über die Insel Ada Kaleh, die in der Donauflussenge am so genannten Eisernen Tor lag. Ceausescu ließ diese Insel 1969 fluten zugunsten von Staudamm und Schleuse für eine erheblich erleichterte Befahrbarkeit der Donau. Was da in der Donau in vierzig Meter tiefem reißendem Strom versank, beschreibt der Autor Franz Bahl in seinem Buch „Die Donau von der Quelle bis zur Mündung“ aus dem Jahr 1961 romantisch verklärt: Zitator Franz Bahl: Atmo-Mischung unterlegen Ada Kaleh - das klingt fast nach Sage, nach Tausend und einer Nacht, und sagenhaft schön liegt die Insel zwischen Bergen im Fluss. Eine Felsenbank fruchtbar geworden durch jahrtausendealten Löß, Brückenkopf und Bastion der Mächte, die hier das Donautal beherrschten, das Land regierten und das Wasser liebten, dunkles Wasser, das sich zwischen den Pässen staut: Kazan und Eisernes Tor. Im Grün der Bäume schimmern die schlanken Minarette, liegt die Moschee; denn türkisch war die Insel zuletzt, türkisch das Leben … Der Muezzin grüßt die Sonne, wenn sie über dem Flusse erscheint, grüßt den Himmel, in dem sie flackernd steht, grüßt die Berge, hinter deren Wäldern sie purpurn versinkt. Vergessenes Eiland- im Rauch der Pfeifen, im Dampf des Mokkas reitet der Pascha dahin, … Ada Kaleh. Die Felsenriffe starren am Eisernen Tor, Stromschnellen brausen über geschliffenen Stein, reißen das Wasser auf, brechen die Flut. Autor: Bei Maschinenbetriebsleiter Günther Reith vom österreichischen Schaufelraddampfer MS Stadt Wien stellt sich etwas weniger Verklärung ein, wenn er sich an Passagen durch die Flußenge am Eisernen Tor erinnert: 9. O-Ton Günther Reith So eine Reise hat in der Regel einen Monat gedauert. Das war eher eine abenteuerliche Fahrt, da sind die Katarakte gewesen, die die Donau zusammen gepresst haben von zwei Kilometer auf ein paar hundert Meter, und da sind in den Katarakten ja lauter Strom- schnellen gewesen, da hast du ohne Lotse sowieso nicht durchfahren dürfen. Nur bei Tag. Übernacht überhaupt nicht. Da war der Siebkanal. Da ist eine große Dampflok, die hat ein Seil gegeben. Da hats mal gepfiffen und da hast du auf deiner Maschine full power geben müssen und der hat auf seiner Dampflok auch full power gegeben und der hat ca. 7-800 Meter durchgezogen und dann hat der das zweite Mal gepfiffen und dann das Seil losgelassen und dann sind die Gräben gekommen, der Streckenabschnitt hat Gräben geheißen, und da ist ein Schiff gestanden, das ist am Rand verankert gewesen und hat vorn eine Seiltrommel gehabt. Und da hat er sie zurückgespult, das war auch ein Dampfschiff, ein rumänisches, und hat auch ein Seil gegeben und hat dich mitgezogen. Musikfolie (time-code 39:40) Autor: Der künstlich erzeugte Untergang der Donauinsel Ada Kaleh und die Arbeit des Dokumentaristen Tutui erinnern mich an Filip Florians Roman „Kleine Finger“. Darin wird in einem Karpatenstädtchen in den Ruinen einer römischen Festung ein Massengrab entdeckt, und alles scheint auf ein Verbrechen aus kommunistischer Zeit zu deuten. Zitator Filip Florian „Kleine Finger“ S. 38 …Mich erwartet eine weite, sehr weite Reise, …, dieses Schiffchen zerteilt die Wellen ja nun wirklich mit aller Macht; der arme Schriftsteller, wie so viele andere im Bann des Massengrabes und überzeugt, dass der neue Staat ein vom alten Staat begangenes Verbrechen deckte, ahnte nicht im geringsten, dass er einem Schwachkopf von Polizisten das Wort redete. Etwas blieb im Dunklen, ein leicht gekrümmtes Herz, ein kläffendes Hündchen und ein Clown umringten das Boot, schienen an Bord gehen oder auf dem Wasser dahingleiten zu wollen… Autor: Bei einer Lesung in Craiova, Hauptstadt der Kleinen Walachei, wo man auf Schritt und Tritt auf Spuren alter Zeiten und damit auch auf römische und osmanische Einflüsse in Architektur und Kultur trifft, frage ich den 44 jährigen Autor aus Bukarest nach den Motiven für seinen Roman. 10. O-Ton Filip Florian Sprecher overvoice Die erste Erklärung: Ich wollte an einem bestimmten Punkt in meiner Schulzeit, ich war noch ziemlich jung, Archäologe werden. Das war ein Traum. Während der dunklen und für die Rumänen sehr schwierigen Zeit des Kommunismus erlaubte die Arbeit des Archäologen in meinen Augen, sich von der Realität abwenden und sich der Geschichte widmen zu können. Man müsste nicht in großen Städten leben, man könnte flüchten, dachte ich. Eine andere Erklärung ist, dass man als Archäologe die Vergangenheit erspüren kann. Ich denke, die Fähigkeit sich zu erinnern, ist in Rumänien generell nicht sehr ausgeprägt. Die Leute hier vergessen sehr schnell. Der Archäologe aber geht Stück für, Epoche für Epoche zurück. Und ich habe in meinem Roman versucht, die Erinnerung an die letzten Jahre des Kommunismus mit der Geschichte anderer Epochen zu verbinden. Musikfolie (time-code ab ca. 46:00) Autor: Weiterreise Richtung Serbien nach Belgrad. Auf dem Weg ins Zentrum werden wir gleich mehrfach auf die jüngere Geschichte verwiesen. Zuerst die in auffallend frischem Weiß gekälkte Fassade der US-Botschaft mit zur Straße hin zugemauerten Fenstern, wenig später dann die Kriegsruine des serbischen Verteidigungsministeriums, seit dem Nato- Raketenangriff ein Koloss aus geborstenem Stahlbeton. Am Abend ist im BITEF-Theater das Stück Patriotic Hypermarket zu sehen, eine Koproduktion von Künstlern aus Belgrad und Pristina. Thema der Tanzperformance: der Kosovo-Konflikt. Atmo Bitef- Theater „Patriotic Hypermarket“ Ein Mann im Frack reibt sich den nackten Wanst unterm geöffneten weißen Hemd. Kosovo, so heißt es im Stück, sei das teuerste serbische Wort We are selling history and foreign currency, heißt es in englischen Untertiteln. Und auch: Wir verkaufen Helden. Wir verkaufen alles. Einkaufswagen rollen scheppernd herein, dienen im Lauf des Abends mal als Waffen, mal als Lustobjekte. So wird das Trauma von Krieg und Gewalt, das tief steckt im Bewusstsein und auch in den Körpern, durchexerziert. Im Anschluss an die emotional aufwühlende Aufführung habe ich Gelegenheit mit der Autorin Milena Bogavac zu sprechen. 11. O Ton Milena Bogavac Sprecherin overvoice Das Stück basiert auf 40 Interviews mit Serben und Albanern, die im Kosovo leben. Daraus wird deutlich, dass die Zukunft für beide Nationen allein auf wirtschaftlichen Interessen beruht. Das war auch mein Eindruck als ich in Pristina diese unglaublich großen Shopping Malls, diese Hypermarkets gesehen habe, wie sonst nirgendwo in Europa oder sonst wo. Wir haben hier also diesen krassen Kontrast zwischen einer sehr armen Bevölkerung und diesen riesigen Konsumtempeln. Und so kam es zum Stücktitel „Patriotic hypermarket“ und dem Grundthema des Stücks. Autor: Nach Lösungsmöglichkeiten des Kosovo-Konfliktes befragt, antwortet die Autorin mit der Hoffnung, dass dieser Konflikt nachbarschaftlich friedlich gelöst werden möge, zugleich aber konstatiert sie: 12. O- Ton Milena Bogavac Sprecherin overvoice Im Kosovo sind derzeit Leute und auch Soldaten aus allen möglichen Nationalitäten vertreten, und in Serbien haben wir das Problem, dass wir nicht genau sagen können, wer denn nun unser wirklicher Gegner ist. Wir haben diesen Hass gegen die Albaner, weil sie unabhängig sein wollen von Serbien, und sie sind es ja auch, gleichzeitig ist Serbien nur ein kleiner Fleck auf der politischen Weltkarte. Und wir müssen feststellen, dass wir viel mehr Probleme mit den Vereinten Nationen und mit der Nato haben als jeder andere. Autor: Atmos unterlegen Der Weg zurück zum Ankerplatz an der Save führt durch die Skardalija, ein beliebtes Belgrader Ausgehviertel mit gehobener Gastronomie und Stehgeigerensembles. Das wirkt nach dem zeitgenössischen Theaterabend wie eine reiseführergetreue Gegenveranstaltung vor restaurierter Kulisse. Als ich aber später mit Thomas Brey, Leiter der dpa Balkan, im Straßencafé in der Mihailova Straße sitze, passt doch alles wieder zusammen. Er erzählt vom aktuellen Bericht des Amtes für Korruptionsbekämpfung. Dieser moniert: 13. O-Ton Dr. Thomas Brey die fehlende Transparenz der Besitzverhältnisse der Medien. Und dann der ökonomische Einfluss des Staates auf die Medien und das große Problem: der staatliche Rundfunk RTS. Hier heisst es wörtlich:Die Bürger haben keine volle Information über die Besitzverhältnisse in den Medien Serbiens. Das sind meistens Offshore-Gesellschaften, die völlig undurchschaubar sind. Autor: Den Bericht könne man als folgenloses Zugeständnis verstehen an die Forderungen der EU nach mehr Transparenz und Demokratie, so der dpa-Mann. 14. O-Ton Dr. Thomas Brey Die Sache ist natürlich die: Rekordarbeitslosigkeit, Rekord staatliches Defizit. Die Industrie ist durch eine verfehlte Privatisierung ruiniert. Die jungen Leute -immer schon, aber in den letzten Jahren verstärkt - verlassen das Land. Es gibt Umfragen unter Studenten in Belgrad. 80 % der Studenten geben an, wenn sie ein Examen haben, unbedingt ins Ausland abhauen zu wollen. Also dieser Aderlass, dieses brain drain ist natürlich für ein kleines Land eine absolute Katastrophe. Also die Gesamtsituation, vor allem im wirtschaftlichen Bereich, ist miserabel. Atmo _performance einfaden als Folie unterlegen Autor: Der serbische Autor Dejan ?an?arevi?, Jahrgang 1975 hat eine Zeit lang beim Belgrader Sender B92 moderiert, der international bekannt wurde vor allem durch seine dezidierte Stellungnahme gegen die Militarisierung Serbiens. B92, sagt ?an?arevi?, sei derzeit noch in griechischem Besitz, werde aber vom britischen Sender Fox gekauft. Vielleicht. In ?an?arevi?´s retyping- Literatur-Performance wird unter E-Gitarren-Gedröhn und mechanischer Schreibmaschine alles weggefegt, was sich in zeitgenössischen Worthülsen einfangen lässt. Text wird -auf eine Leinwand projiziert- als zittrige flatline gestaucht und wieder ausgedehnt, Buchstaben überrollen im Eisgrau Buchstaben; unter kreischendem Saxophon –verschwinden die Wortkaskaden ins Weiß des Vergessens oder so genannte Rasende Pixel tanzen auf der Leinwand. Gemischte Gefühle, ausgeteilte Erinnerungen: Dejan ?an?arevi? Sprecher overvoice oder nur 41. Atmo / time-code Atmo 4:00 JETZT KÖNNEN WIR UNS ALLE ERSTMAL MIT DEM GRAB ABFINDEN UND SPÄTER WERDEN WIR JA SEHEN WAS WIR MACHEN Autor: Atmo –Mischung sehr leise unterlegen Bei einer der Diskussionen zur Macht ethnozentristischer Nationalmythen spreche ich Todor Kulic, geboren 1949, Soziologie-Professor an der Philosophischen Fakultät Belgrad, auf sein Buch „Umkämpfte Vergangenheiten“ an und will wissen, ob die darin exponierte Idee eines „Museums der Schande“ als moralischer Appell zu verstehen sei für ein Land wie Serbien, in dem die jüngere Vergangenheit nicht nur in den Schulgeschichtsbüchern verschwiegen wird: 15. O-Ton Todor Kulic Sprecher overvoice Ich habe mich öffentlich einige dafür Male eingesetzt, ein Museum der Schande für den Westbalkan zu gründen, ein Museum, dass nicht nur die monumentalen Dinge der ruhmreichen Vergangenheit hütet, sondern auch das aufbewahren soll, wofür wir uns schämen müssten. Irgendwann in den 1980ern war ich in Amsterdam, wo ich ein Museum mit mittelalterlichen Folterwerkzeuge besucht hatte. Das hat mich ziemlich traumatisiert. Ich bin der Meinung, dass in allen Hauptstädten der Nachfolgestaaten so ein Museum der Schande existieren müsste, um zu zeigen, was jede der Nationen dazu beigetragen hat, in diesen absurden und sinnlosen Krieg zu geraten. Leider sind die Chancen dafür immer noch gering, weil der Nationalismus noch immer und überall Normalität ist. Atmos /Musikfolie (time-code ca. 49:45) Autor: Die MS Stadt Wien schiebt sich aus der Save-Mündung in die Donau, lässt Belgrad rasch hinter sich und steuert Novi Sad an, vielsprachiges Herz der Voijvodina. Atmo László Végel / Boris Isakovic Sprecher overvoice Ich sehe fassungslos, dass ich in einem von Worten und Begriffen entfremdeten, also vergänglichen Land gelebt habe, und nur die Vorstellung tröstet mich, wenn auch Staaten vergänglich sind, dann lässt sich alles stoisch und nüchtern ertragen, wie das Schwanken der Grashalme, leaves of grass. Stengel: stem, Wurzel: root, rhizome: Rhizom Autor: Der Schauspieler Boris Isakovic aus Novi Sad steht am Pult, spricht langsam, zwischenzeitlich unterbrochen von erschöpftem Atmen. In der Rolle des sichtlich überforderten Schülers eines Sprachkurses wischt er sich immer wieder angestrengt mit der Hand durchs Gesicht. „Was ist Jugoslawien?“ lautet der Titel dieses Monologs, der nicht nur reflektiert, wie sich sein Autor László Végel, geboren 1941, als Mitglied einer ungarischen Minderheit im alten Jugoslawien fühlt, sondern -ironisch poinitiert- alle möglichen Missverständnisse, Klischees und Folgen für die historischen Umwälzungen aufzeigt: lost in translation oder gefangen in Stereotypen. Atmo László Végel / Boris Isakovic Sprecher overvoice Vielleicht bin ich ein unschlüssiger, gedankenverlorener Grashalm, während sich alle irgendwo einreihen, sich das kommunistische Herz aus der Brust reißen, das ihnen nach Jalta eingesetzt wurde; glücklich, dass die Operation misslungen ist, zerstören wir alles um uns; nach dem eindeutigen Sozialismus sind wir in den Korridor eines eindeutigen wilden Kapitalismus gekrochen. Autor: László Végel über seinenMonolog: 16. O-Ton László Végel Ich habe diesen Text in den 90er Jahren geschrieben. Als ich Antigone von Sophokles gelesen habe, da habe ich gedacht: Ja, dieses Antigone-Motiv ist richtig: Die Toten müssen beerdigt werden. Ohne Hass und ohne Nostalgie. Weil die Toten bleiben. Dann kommt eine schlechte Stimmung. Und wir haben die Toten im ehemaligen Jugoslawien noch nicht auf ernsthafte Art beerdigt. Das habe ich vor fünfzehn Jahren geschrieben, aber ich denke, dass das auch heute noch so ist. Autor: Musikfolie (time-code ca. 59:00) und Atmo Mischung Nächste Etappe: Vukovar. Anlandung in einer Region im Osten Kroatiens an der Grenze zu Serbien, die während des jugoslawischen Bürgerkrieges am stärksten umkämpft war. Noch immer ist - trotz reger Bautätigkeit- die Stadt ein Trümmerfeld. Darüber können auch die Glocken am über der Stadt thronenden, restaurierten Franziskanerkloster nicht hinwegtäuschen. Es gibt ein Schweigen, eingebettet in eine „Das darf ich nicht sagen“ –Kritik an der Regierung, die daran Schuld sei, dass Vukovar immer noch wie eine bleckende Wunde aussieht; trotz Kübeln mit blühenden Blumen an der Brücke über der Vuka-Mündung. Nach Ihrer Lesung auf dem Literaturschiff spricht Ivana Šojat-Ku?i, geboren 1971 in Osijek, über Ihre Kriegserfahrungen: 17. O-Ton Ivana Šojat-Ku?i Sprecherin overvoice Es gibt Augenblicke, in denen du begreifst, dass du nicht Herr über dein Schicksal bist. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem Vukovar zerstört wurde. Ich war in einem Außenbezirk von Osijek, nicht weit von Vukovar und sah das orangefarbene Licht der Flammen über der Stadt, die an diesem Tag zugrunde ging. Das war schrecklich. Ich war damals 20 Jahre alt. Ich habe die Liebe meines Lebens verloren, den Jungen, mit dem ich heute höchstwahrscheinlich verheiratet wäre, wenn er nicht tot wäre. Autor: In ihrem Roman „Unterstadt“ erzählt Šojat-Ku?i vom Schicksal einer deutschstämmigen Osijeker Familie im 20. Jahrhundert, Frauen aus vier Generationen, die unter anderem auch mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs konfrontiert sind. Zitatorin Ivana Šojat-Ku?i „Unterstadt“ ev. sehr leise unterlegen mit Atmo Erinnerungen sind seltsame, unzuverlässige Dinge: manchmal erinnern wir uns bis kurz vor dem Tode an vertrocknete Rüben, vergessen aber die Gesichter und Stimmen der Verstorbenen nur ein Paar Jahre, nachdem sie uns verlassen haben. Genauso seltsam ist auch diese - dem Menschen wahrscheinlich angeborene- Unmöglichkeit, sich das Offensichtliche und Gewisse einzugestehen. Denn am 13. April war es gewiss und offensichtlich, dass alles vorbei ist, dass die Russen nach der Zerstörung des großen Dritten Reichs und des kleinen Kroatiens, das wie ein Blinddarm an diesem Reich hing, die Welt erobert hatten. Die Menschen flohen aus Sarvas? nach Osijek wie immer sie konnten: mit Wagen, zu Fuß, mit ihren Kühen, Hühnern, Enten, ja sogar Schweinen. Die meisten Bewohner von Osijek sahen ihnen zu, als sei das etwas völlig Normales und Alltägliches. Nur einige wenige wollten endgültig zugeben, dass alles vorbei ist, dass man sie nun endgültig vom Krieg „befreien“ wird, ob sie es wollen oder nicht. Vor allem, als sie sahen, dass sich die deutsche Wehrmacht und das kroatische Heer aus der Stadt in Richtung ?akovo zurückziehen. Plötzlich stand die Stadt leer, niedergeschlagen, still. (Übersetzung ins Deutsche: Boris Peric) 18. O-Ton Ivana Šojat-Ku?i Sprecherin overvoice Ich schreibe an einem neuen Roman über diesen letzten Krieg. Dieser Roman wird viele Leute erschüttern, denke ich. Ich konnte nicht früher damit beginnen. Ich musste erst mit meinen eigenen bösen Geistern fertig werden. Man muss Abstand haben zu dem, worüber man schreibt. Das ist keine Frage von Jahren, sondern eine des Bewusstseins. Wir haben hier noch die bösen Geister von 1941. Zuerst müssen wir mal mit denen fertig werden. Musikakzent Autor: Nikol Ljubi?, Jahrgang 1971, in Kroatien geboren, aber an vielen anderen Orten Europas aufgewachsen, lebt heute In Berlin. Sein Roman „Meeresstille“ kreist Aspekte von Verdrängen, Vergessen und Schuld ein vor dem Hintergrund einer Liebesgeschichte zwischen der Tochter eines Serben, der vor dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal angeklagt ist, und einem jungen Mann, der den Jugoslawien-Krieg nur im Fernsehen gesehen hat. Zitator Nikol Ljubi? „Meeresstille“ / Musikfolie (time-code ca. 1:00:00 - 1:01:10) Und er? Ist er als Zuschauer ein Teil dieser Welt, die sich gegen die ihre verschworen hat? Nein, das kann sie nicht gedacht haben, er hat sich doch nicht gegen sie verschworen, er hat sie geliebt, er liebte sie, er täte alles für sie. Ana, das kann nicht sein. 19. O-Ton Nikol Ljubi? In Vukovar, ich hab dort eine Bekannte, von der ich ihre Fluchtgeschichte weiß, die als kleines Kind wochenlang im Keller ausgeharrt hat und wenn man ihr begegnet: sie spricht nicht darüber. Und man merkt das dann nur in Ansätzen, wenn sie zum Beispiel sagt, dass sie mein Buch nicht lesen kann, dass sie es ein paar Mal versucht hat, aber schon am Anfang, wo das Verbrechen beschrieben wird, sie nicht weiterlesen kann. Autor: Ljubi?s Lesungen auf dem Literaturschiff -sowohl in Serbien als auch in Kroatien- bleiben vor kleinem Publikum bei mäßigem Applaus inhaltlich unerwidert. Zu nah vielleicht an den Verletzungen ist seine Geschichte, eventuell aber ist auch inakzeptabel, sich aus der Perspektive eines von Krieg und Vernichtung Unbelasteten vom eigenen Schmerz erzählen lassen zu müssen. Zitator Nikol Ljubi? „Meeresstille“ Wissen Sie, hatte der Professor gesagt, es ist tragisch und historisch. Serbien ist wahrscheinlich das einzige Land in Europa, das keine Katharsis erlebt hat. Es lebt seit fast zwanzig Jahren mit dem Schuldkomplex, von der Welt isoliert. Selbst nach dem Krieg wurde kein Neuanfang gemacht, derselbe Kriegstreiber im Amt, und selbst nach dessen Sturz gab es nur für einen Moment einen Hoffnungsschimmer, dann wurde Djindjic erschossen. Sie müssen sich mal vorstellen, was das für die jungen Menschen in Serbien bedeutet, die noch heute dafür büßen müssen. Sie ist vielleicht die einzige Generation dieses Alters in Europa, die nicht frei reisen darf, weil Europa sie nicht will. Einblendung leise Musik (time-code ca. 21:55) und Atmo Autor: Nächste Station: Budapest. Nach der Gleichschaltung der Medien 2011 hat die rechts- konservative ungarische Regierung unter Viktor Orbán mit der neuen Verfassung seit 1. Januar 2012 ihre Macht zementiert. Der offizielle Besuch im Rathaus bei Miklos Zsomos, Vizebürgermeister für Kultur, gibt zunächst wenig Aufschluss darüber, warum man den offenbar rechtsextremen István Czurka unlängst ins Direktorenamt des Budapester Neuen Theaters berufen hat. Nach der für den Nationalfeiertag geplanten Demonstration gegen die Regierung zu fragen, mündet in rhetorisches Lavieren: Erst weiß Zsomos nichts von einer bevorstehenden Demonstration, dann findet er die Vorwürfe der ausländischen Presse gegen angebliche Rechtsextreme in der Budapester Kultur wie stets völlig überzogen. Tatsächlich aber herrscht in Ungarn ein von der Politik geschaffenes Schweigen, das bedrückend ist. Jemand, der lieber anonym bleiben möchte, man bedenke, erklärt dazu: 20. O- Ton Ich weiß nicht, was du fragen möchtest, aber machen wir das ohne Namen, ja. Kann irgendwelche Folgen haben. – Die Freiheit ist natürlich da, aber andererseits an bestimmten Stellen, Arbeitsstellen, kann das bestimmte Folgen haben. Leute werden herausgeschmissen. Autor: Atmo einblenden und unterlegen Bei der abendlichen Eröffnung einer Ausstellung in der Budapester Akademie der Künste (61. Atmo einblenden) begegnet mir die gleiche Haltung auch unter sehr jungen Künstlern, die sich zwar mit Humor tarnen, indem sie alles als „ganz normal“ oder mit „Ich weiß nicht“ abtun oder aber verlangen, dass ich das Aufnahmegerät aussschalte, bevor sie auf Fragen antworten. Atmo-Mischung mündet in Musik, Jazz B. Agoston (time-code:28:44) Auf dem Weg die Andrássy út hinunter zurück zum Donau-Anleger des Literaturschiffs passiere ich den Erzsébet-Platz. Der Bildhauer Andras Bojti läßt hier neben einem breiten Holzsteg in einem rechteckigen weißen Steinbecken Wasser zirkulieren. Aus einem souterrain gelegenen Club wird durch den gläsernen Boden des Beckens ein klarer Strom mild beleuchtet. Die Anlage heisst Szabadság/Freiheit. Ich nutze die meine, um im Mika Jazzclub einer hervorragenden Jam Session des Belá Agoston Trios zu lauschen und versuche, alle sich nur scheinbar widersprechenden Wahrnehmungen zwischen Marzipantorte in Pest, sozialistischer Blocktristesse in Buda und der Literatur von Gábor Schein, Jahrgang 1969, Revue passieren zu lassen. Jazzmusik (ab time-code ca. 29:10 - 30:33) leise unterlegt lassen / auf Akzent 30:33 Gitarrenriff kreuzblenden mit Atmo als Folie für Zitator Gábor Schein Im Licht des Blitzes Manchmal rennst du wie Irrer durch die Straßen. Später sagst du, du möchtest dabei am liebsten aus der Welt rennen, was einfach bedeutet, du bist nicht dort, wo du sein müsstest, oder du bist irgendwo, wobei du nirgendwo sein dürftest… Musikakzent Es kommt der Augenblick, in dem sich die Straßen um dich herum schließen und du erstickst, wenn du nicht den Druck der Häuser von dir abschälst. Das Gefühl des Erstickens bricht über dich herein, Panik, mit einer Kraft, die keinen Zweifel zulässt, wenn du nicht sofort packst und den ersten Zug besteigst, musst du verrecken… Musikakzent Trenne deine Gefühle ab von denen der Anderen und trenne sie auch von dir. Nimm sie in deine Hände, als wären sie Gegenstände, von denen du dich jederzeit zu trennen vermagst, und wenn du das doch nicht kannst, wenn sie es nicht gestatten, biete sie deinen friedlosen Dämonen an, als Opfer…. Lebe blind, und im Licht des Blitzes, innen, als hättest du das Rad der Zeit schon durchschritten! Atmo Mischung und Musik (ab 31:25) als Folie für Autor: Wir verlassen Budapest, fahren vorbei an den zahllosen Kreuzfahrtschiffen vor der grandiosen Kulisse der geschichtsträchtigen Stadt und sind schon mittendrin im neuen Roman von Michal Hvorecký, dessen Heimatstadt Bratislava wir entgegen schippern, vor uns das berühmte Donauknie, eine Art Gustostück des internationalen Flußschifftourismus zwischen Schwarzem Meer und Wachau. Zitator Michal Hvorecký „Tod auf der Donau“ (Musik ab time-code 31:40 ) Schon in der allerersten Nacht auf Reisen, hatte er von der Donau geträumt. Das deutsche Städtchen Donaueschingen hatte er einmal besucht. Der Strom entspringt dort als dünnes Rinnsal im Schlosspark der Fürstenbergs, in einem Behältnis aus weißem Marmor, das einer Wiege ähnelt, umsäumt von allerlei Statuen. Das Wasser sprudelt aus einem der Westhänge des Schwarzwalds, stammt zugleich jedoch auch aus den Tiefen der europäischen Geschichte.( … ) In seinem Traum goss Martin Unmengen von Beton in die Quelle und drängte das Wasser in sein unterirdisches Becken zurück. Doch die Donau gab nicht auf, immer wieder durchstieß sie die Ummantelung. Er schüttete noch mehr Beton nach. Doch das Wasser fand immer wieder einen Fluchtweg, es blubberte in wiederkehrenden Geysiren auf, warf Steine hoch und zog Furchen und Gräben, bis es ihn selbst wegschwemmte. Er wälzte sich im Bett herum, verbarg sich unter der Decke und erwachte. Autor: Als der Autor Michal Hvorecký, geboren 1971 in Bratislava, den Job eines Reisebegleiters auf einem der zahhlosen Donaukreuzfahrtschiffe antritt, findet er schnell das Sujet für seinen Roman „Tod auf der Donau“, 21. O-TonMichal Hvorecký wo es um eine Kreuzfahrt geht, die in Regensburg beginnt und wirklich bis nach Sulina, also bis zum Donaudelta, bis zum Schwarzen Meer geht. Es dauert 20 Tage, es ist ein Schiff, ein Tour -Manager, der heisst Martin Roy, und 120 Passagiere: eine Kreuzfahrt. Zitator Michal Hvorecký „Tod auf der Donau“ / Atmos verfremden Er zog ein paar Plakate aus festem Karton und einige Holzplatten hervor und baute sich an dem ihm zugewiesenen Platz ein kleines Empfangspult mit dem Logo des Reiseveranstalters „American Danube Cruises“ auf, der lokalen Tochter der „American Global Cruises“. Auf den Bildern waren digital verjüngte Pensionisten zu sehen, und die Donau floss majästetisch durch Budapest, das voller glücklicher alter Menschen war. Die Gesichter auf den Plakaten wirkten ungefähr so natürlich und ungarisch wie ein Bison inmitten des Café Gerbeaud. Autor: (Musik ab time-code ca. 32:15 ) Vor dem Wiener Finale unserer Donau–Literatur-Kreuzfahrt ist Bratislava nur ein kurzer Zwischenstop. Am Donaukai eine exquisite, große, gläserne, mit wenigen Passanten und noch weniger Käufern seltsam leer wirkende Shopping Mall: Fassadenpendat zur sorgfältig restaurierten Barockkulisse der Altstadt. „Der Osten war zum Westen der Zukunft geworden“, hatte Autor Hvorecký diese nicht nur slowakische Verpackungskunst in seinem letzten Roman „Eskorta“ beschrieben. 22. O- Ton Michal Hvorecký Wir waren leider nicht fähig, eine richtige funktionierende Zivilgesellschaft zu kreieren innerhalb von 22 Jahren, weil zum Beispiel die Sozialdemokraten in der Slowakei keine richtigen Sozialdemokraten sind, wie man die aus Deutschland kennt. Das sind eher Postkommunisten, sehr populistisch orientiert, sehr nationalistisch und so könnte man das weiter auch erklären: mit den Liberalen ist das sehr ähnlich, mit den Christlich- Konservativen. Das Linke in der Slowakei ist nicht wirklich links, das Rechte nicht wirklich rechts. Jetzt gerade entstehen so neue Bewegungen, so neue Richtungen, es wird wieder heftig diskutiert, es wird viel gebloggt, es wird demonstriert, gestreikt. Was eine neue Phase ist. Meiner Meinung nach waren die Slowaken sehr lange ziemlich apathisch gegenüber Politik. Autor: Zielhafen der Literaturkreuzfahrt Wien, Stadt mit 1, 7 Mill. Einwohnern, ca. 300.000 davon sind - bereits in der dritten Generation - Zuwanderer aus Südosteuropa. Die kritische Wiener Wochenzeitschrift Falter berichtet von der jüngsten Enthülllung eines massiven Kindesmißbrauchsskandals im Internat Schloß Wilhelminenberg während der 1970er Jahre und auch davon, wie Wien der Vielzahl der mittlerweile weit in Wohngebiete hinein sich erstreckenden Strassenstrichszenen Herr zu werden gedenkt. Der Prater vor buntgefärbtem Laub schließt seine Pforten und wir unsere Augen, um im Literarischen Quartier „Alte Schmiede“ noch einmal dem Monolog László Végels zu lauschen: „What is Yugoslavia?“, hier gespielt von Schauspieler Karl Hoess: Atmo László Végel / Karl Hoess We watched TV last night. Wir sind in die Fiktion hineinspaziert und haben uns Einblick in eine reale Welt erwartet aber das ist nicht möglich. Ich glaube, das wir das ganze Jugoslawien im Kollektiv erfunden haben. Es hat in Wirklichkeit nicht existiert. Der Rest ist Schweigen. The rest is silence. Das Grab ist mit künstlichen Blumen geschmückt, damit nichts authentisch ist. Damit ich nicht fragen muss. What is Yugoslavia? Und warum niemand da ist, um das Grab zuzuschaufeln. Autor: Mit einem nicht nur selbstkritischen Resümee von Walter Famler, Generalsekretär der „Alten Schmiede“, Literarisches Quartier, Wien, geht diese Literatur-im-Fluss- Donauschifffahrt zu Ende. Schriftsteller und Kulturschaffende aus Mittel- und Südosteuropa, gemeinschaftlich zusammen und unterwegs im selben Boot? 23. O-Ton Walter Famler: Atmo unterlegen Man könnte auch sagen: Lügen Europas oder Europalügen. Weil Vieles, was hier- vor allem auf der Repräsentationsebene- dargestellt wird, ist reine Fassade. Das ist das Europa der Fassaden. Auch die Kultur soll eine kompatible Fassade sein, um diverse Wirtschafts- interessen zu camoulflieren. Das war natürlich immer so. Das ist auch in unserer Epoche nichts Neues, aber vielleicht ist die durchgängige Durchtriebenheit und Eleganz, in der das heute auf der Oberfläche betrieben wird, doch eine neue Qualität. Atmo László Végel / Karl Hoess Und wo ist die Musik? Das kann doch nicht das Ende sein. The End. Er möchte noch etwas sagen, aber er hat übersehen, dass die Sendezeit überschritten ist und der Bildschirm dunkel wird. Es ist dunkel. MUSIK 1