Das geplagte Genie Die Lange Nacht über den Dirigenten Carlos Kleiber Autorin Julia Spinola Regie: Heike Tauch Redaktion: Dr. Monika Künzel Erzählerin Bettina Kurth Sendetermine: 4. Juli 2020 Deutschlandfunk Kultur 4./5. Juli 2020 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde MUSIK 1 Johann Strauss „Die Fledermaus“ Hermann Prey, Julia Varady, Lucia Popp, Ivan Rebroff, René Kollo, Bernd Weikl, Bayerisches Staatsorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper. In: Carlos Kleiber. Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 4, Track 1: Ouvertüre. Anfang – von ca 0.56 an unter Text O-TON 1 Brigitte Fassbaender Ja also Kleiber ist nicht zu fassen im wahrsten Sinne des Wortes. Kleiber ist in den Träumen sehr oft dabei. Das ist nicht zu ersetzen und er ist unvergesslich. MUSIK 1 hochziehen für ca 10 sec O-TON 2 Peter Mirring Er war so ein Genie, er hatte eine fantastische Schlagtechnik und er war immer unter Höchstspannung und seine Bewegungen, seine Arme, die schienen unendlich lang zu sein, und sein Gesicht und sein ganzer Körper waren pure Musik immer. MUSIK 1 hochziehen für ca 10 Sek O-TON 3 Christian Thielemann Ich glaube, er ist ein Paradebeispiel für das Rätsel des Dirigierens. MUSIK 1 hochziehen ca 10 Sek O-TON 4 Michael Gielen Ich war mit Carlos sehr befreundet. Er war meschugge -- als Dirigent genial MUSIK 1 hochziehen für ca 10 Sek O-TON 5 Jens Malte Fischer Also so ein dirigentisches Phänomen wie Kleiber habe ich seither nicht mehr erlebt. MUSIK 1 hochziehen für ca 10 Sek O-TON 6 Klaus König Es gibt vielleicht ne Handvoll Dirigenten, die diese Magie herstellen können. MUSIK 1 hochziehen 10 Sek O-TON 7 Yoel Gamzou Und es ist natürlich für einen jungen Dirigenten, wenn er das zum ersten Mal sieht, eine Offenbarung, wahnsinnig beeindruckend und wahnsinnig neu. Diese ganze Sinnlichkeit und dieses unglaubliche Charisma ist erstmal hypnotisierend. Ich war vollkommen begeistert natürlich. MUSIK 1 hochziehen und ab ca 3.39 langsam unter Text ausblenden Erzählerin Am 3. Juli 1930 wurde in Berlin einer der größten und schillerndsten Dirigenten des Jahrhunderts geboren: Karl Ludwig Bonifacius Kleiber, bekannt unter seinem späteren Namen Carlos Kleiber. Seine Mutter war die jüdische Amerikanerin Ruth Goodrich, sein Vater der damalige Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Erich Kleiber. Die Lange Nacht über Carlos Kleiber lässt Wegbegleiter zu Wort kommen wie die Sängerin Brigitte Fassbaender, die Orchestermusiker Rudolf Watzel, Peter Mirring und Klaus König. Als Kollegen äußern sich die Dirigenten Christian Thielemann und Yoel Gamzou, aus Sicht der Biografen die Autoren Jens Malte Fischer und Alexander Werner. MUSIK 1 unter Text noch einmal einblenden ab ca 6.58 bis Ende (= 7.38) Erzählerin Als Carlos Kleiber 1974 an der Bayerischen Staatsoper Johann Strauss‘ berühmte Operette „Die Fledermaus“ dirigierte, war er bereits ein lebender Mythos. „Kleiber sorgt für den Super-Schwips“ titelte der Münchner Merkur nach der Premiere. Ganz München schwelgte im Fledermaus-Rausch. Aber Kleiber, die skrupulös-genialische Jahrhundertbegabung, war auch ein Weltmeister der Verweigerung. Er war als Künstler hyperempfindlich und dirigierte, nach einem Bonmot von Herbert von Karajan, nur „wenn der Kühlschrank leer“ war. Schon auf dem Zenit seiner Laufbahn, von den Achtziger Jahren an, begann er sich rar zu machen, und zog sich, zunehmend enttäuscht vom Musikbetrieb, in den Neunziger Jahren ganz von den Podien zurück. Was machte Carlos Kleiber so einzigartig, dass Kritiker in Superlativen über ihn schrieben und Konzertbesucher sich vor Begeisterung weinend in den Armen lagen? Wie verliefen Kleibers Proben, die von jüngeren Kollegen oft imitiert, doch nie erreicht wurden? Wie war sein Verhältnis zu seinem berühmten Vater, dem legendären Dirigenten Erich Kleiber? Und woher rührten die großen Selbstzweifel, die er zeitlebens hegte? Diesen Fragen wird diese Lange Nacht nachgehen. MUSIK 2 Georg Friedrich Telemann, Suite in B-Dur TWV 55:B1: 3. Satz: Allegresse vite. Hamburger Rundfunkorchester, Carlos Kleiber. Hänssler Profil PH11031. Track 3, unter Text langsam ausblenden ab 1.45 O-TON 8: Rundfunkinterview mit Carlos Kleiber - Das Hamburger Rundfunkorchester wird geleitet vom Sohn eines großen Vaters, ich darf das sagen Herr Kleiber. Wo sind Sie geboren? - In Berlin - Und 30 Jahre alt? - Jawohl -Wo arbeiten Sie jetzt? - In Düsseldorf an der Oper, an der Rheinoper Erzählerin 1960 dirigiert der dreißigjährige Carlos Kleiber beim Hamburger Rundfunkorchester ein für ihn sehr untypisches barockes Programm, bei dem auch Georg Friedrich Telemanns Suite in B-Dur erklingt. Zu diesem Anlass wird ein kurzes Rundfunkinterview gesendet. Es ist das einzige Interview, das von Carlos Kleiber überliefert ist. O-TON 9 Rundfunkinterview mit Carlos Kleiber – Dirigent des heutigen Konzertes, ich sagte es bereits, ist Carlos Kleiber. Und Herr Kleiber, die Frage liegt nun nahe. Haben Sie unter den Augen Ihres Herrn Vaters nun, äh, lernen können? - Ja, das ging nicht, denn er war so viel auf Reisen und ich musste in der Schule bleiben, in einem Ort, leider musste ich oft wechseln, ungefähr sieben verschiedene Male, aber er war immer auf Reisen und es war mehr so ein Kontinentwechsel. Erst einmal in Genf und dann in Nordamerika, Südamerika, und dann wieder in Europa. Erzählerin Carlos Kleibers Weg zum mythenumrankten Jahrhundertdirigent ist kompliziert. Sein Vater Erich Kleiber leitet die Berliner Staatsoper Unter den Linden als engagierter Verfechter der modernen Musik. Er ist ein dezidierter Gegner der Nationalsozialisten. Unter dem Druck des Hitler-Regimes emigriert er 1935 nach Argentinien. Die Familie folgt ihm fünf Jahre später. MUSIK 3: Ca 2.00 Georg Friedrich Telemann, Suite in B-Dur TWV 55:B1: 6. Satz: Conclusion. Hamburger Rundfunkorchester, Carlos Kleiber. Hänssler Profil. PH11031. Track 6. Ganz, Ende unter O-Ton 10 ausblenden O-TON 10 Rundinterview Carlos Kleiber: - Hat Ihr Vater Ihnen die Anregung gegeben, Dirigent zu werden? - Nein, im Gegenteil, er war etwas dagegen. Er sagte, ich solle einen vernünftigen Beruf wählen, und das tat ich dann auch, ich wollte Chemiker werden und bin in die Schweiz gefahren und hab am polytechnischen Institut in Zürich einundhalb Semester gemacht. Erst musste ich die Aufnahmeprüfung machen, was sehr schwierig war, weil mein Deutsch damals schon ziemlich gebrochen war. – Wie alt waren Sie, als Sie das Chemiestudium aufgaben, um Dirigent zu werden? - Da war ich zwanzig. Und musste eigentlich das Musikstudium ziemlich von vorne beginnen und bin dazu nach Argentinien gefahren, wo mein Vater gerade war, und habe mit zwei Privatlehrern Kontrapunkt und Klavier gemacht. Ich wollte so früh als möglich in ein Theater kommen und die Praxis erlernen. Ich wollte keinen Dirigentenunterricht haben, sondern, wie mein Vater mir riet, sofort in eine Theater kommen, möglichst eine Schmiere, und von der Pike auf das Geschäft lernen. Erzählerin Von der Pike auf an einem Theater zu lernen, das bedeutet nach den ersten Dirigierversuchen in Südamerika zunächst einmal, das Joch des Korrepetierens auf sich zu nehmen: ein mühsamer Weg - noch dazu, wenn man, wie der junge Carlos, nicht wirklich gut Klavier spielt. Kleiber korrepetiert am Theater in La Plata, müht sich am Münchner Gärntnerplatztheater und an der Wiener Volksoper und landet schließlich am Hans-Otto-Theater in Potsdam, wo er 1955 endlich sein erstes Bühnenwerk dirigieren darf. O-TON 11 Rundfunkinterview mit Carlos Kleiber – Ja, und wann sind Sie nun zum ersten Mal zum Dirigieren gekommen? - In Montevideo war das. Da war ein kleines Orchester vom Rundfunk und da hab ich ein paar Orchesterwerke dirigiert. Und dann, als ich später im Theater etwas fester war, dann habe ich in Potsdam Operette dirigiert. Mein Vater meinte, Operette sei das, wo man am meisten Dirigieren lernt. - würden Sie das auch sagen, ja? - Ich würde sagen, das ist ungefähr das Schwerste, was es gibt. MUSIK 4: Millöcker „Gasparone“, Franz Lehar Orchester, Marius Burkert, Lehar Festival Bad Ischl. Cpo. 777 815-2. Track 1: Einleitung. Letzte 30 Sekunden unter Text ausblenden Erzählerin Mit Millöckers „Gasparone“, hier geleitet von Marius Burkert in einer Aufnahme vom Lehar Festival Bad Ischl 2013, gibt der fünfundzwanzigjährige Carlos Kleiber sein Debüt auf der Operettenbühne des Hans-Otto-Theaters in Potsdam. Das Orchester sträubt sich während der Proben zunächst, dem unerfahrenen Kapellmeister zu folgen. Niemand ahnt zu dieser Zeit, dass es sich bei dem schüchternen Mann am Pult um den Sohn des großen Erich Kleibers handelt, denn Carlos Kleiber tritt unter dem Pseudonym Karl Keller auf. O-TON 12: Rundfunkinterview mit Carlos Kleiber – Hat Ihnen Ihr Vater denn sehr viele Positionen vermitteln können? - Nein, er wollte sich da gar nicht einschalten, und er riet mir auch, den Namen zu wechseln, was ich auch tat, in meinen ersten Theaterjahren habe ich den Namen nicht gebraucht. Aber als ich dann draufkam, dass die Leute sowieso früher oder später das herausbekamen, dachte ich, es ist ein bisschen ein Unsinn die Maskerade und habe mich so genannt wie ich heiße. – Herr Kleiber, Sie sind jetzt in Düsseldorf tätig und was für eine Position haben Sie im Moment dort? - Jetzt bin ich gerade im Übergang vom Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung zum reinen Kapellmeister. Dieser Übergang ist sehr schwer, besonders an einem so großen Haus, aber jetzt glaube ich, dass ich es geschafft habe, und man muss sehr viel Repertoire lernen, das Opernrepertoire ist sehr groß. – Ja und es ist so üblich am Ende unserer kleinen Unterhaltung, dass wir auch kurz auf Ihre weiteren Pläne eingehen wollen, soweit sie festliegen und Sie darüber reden möchten und können, Herr Kleiber? - Ja, ich möchte das Opernrepertoire soweit es mir möglich ist bewältigen und das ist so viel, dass damit alles gesagt ist. Erzählerin Auf die erste Kapellmeisterstelle in Düsseldorf, wo Kleiber sich von 1960 an ein reiches Repertoire erarbeitet, folgt ein zweijähriges Engagement am Opernhaus in Zürich. Doch erst mit seiner Verpflichtung an die Württembergische Staatsoper in Stuttgart im Jahr 1966 gelingt ihm der Durchbruch. Hier feiert er seine ersten Sensationserfolge mit Alban Bergs „Wozzeck“ in der Regie von Günther Rennert und mit Carl Maria von Webers „Freischütz“ in der Inszenierung von Walter Felsenstein. Mit Bergs „Wozzeck“ ist Kleiber vertraut wie kaum ein zweiter. Sein Vater Erich Kleiber hatte das Werk 1925 an der Berliner Staatsoper aus der Taufe gehoben, mit einer Uraufführung, die sich, nach den anerkennenden Worten Alban Bergs, „gewaschen“ hatte. Carlos Kleiber lässt für die Stuttgarter Produktion das Orchestermaterial nach der Partitur seines Vaters einrichten. Er pendelt zu dieser Zeit noch zwischen Zürich und Stuttgart. Kurz vor der Premiere rast er mit dem Auto gegen einen Baum und muss die umjubelte erste Aufführung mit einem Kopfverband dirigieren. Die Produktion wird als Gastspiel beim Edinburgh Festival wiederholt, wo es zum ersten handfesten Kleiber-Eklat kommt. Kleiber sagt in letzter Minute die zweite Vorstellung aus Gesundheitsgründen ab, während das Publikum bereits im Saal wartet. Auslöser für seinen Rückzug sind jedoch wohl auch die im Saal ohne sein Wissen aufgestellten Mikrofone für einen Mitschnitt durch die BBC – der auf diese Weise leider nicht zustande kommt. Trotz vieler Verwerfungen wird Kleibers Vertrag in Stuttgart 1968 noch einmal erneuert. Es bleibt das letzte feste Engagement, auf das Kleiber sich einlässt. Während seiner im gleichen Jahr eingeläuteten Glanzzeit an der Bayerischen Staatsoper bindet er sich lediglich als Gast ans Haus. MUSIK 5 Richard Strauss: Der Rosenkavalier Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. Track 1, Vorspiel (3.32). (Ab ca 3.15 unter Text) Erzählerin (Text auf Ende Musik 5): 1968 gibt Kleiber mit dem „Rosenkavalier“ von Richard Strauss sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper. Und wird umjubelt. 1972 folgt unter seiner Leitung die legendäre Neuproduktion in der Regie von Otto Schenk, die in zwei verschiedenen Live-Mitschnitten auf CD und auf DVD dokumentiert ist. Brigitte Fassbaender ist Kleibers Octavian. MUSIK 6 Richard Strauss „Der Rosenkavalier“ Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. Track 2: „Wie Du warst“, (schließt nahtlos an Musik 5 an) (Ab ca 0.34 unter Text) O-TON 13 Brigitte Fassbaender Er verausgabte sich einfach, und das muss man ja auch, das muss man ja. Das war ja das Vorbildliche bei ihm, dass er brannte, man muss brennen in dem Beruf und zwar an beiden Seiten, wie eine Kerze von zwei Seiten, dann lohnt sich das. Und das hat er immer vorgelebt. Und wer ihm folgen konnte und wollte, der lebte auch so und wusste, dass man so leben muss. MUSIK 6 wieder hochziehen, ab ca 2.27 langsam ausblenden. O-TON 14 Brigitte Fassbaender Der erste, prägende Eindruck war erstmal auch schon seine Erscheinung, die ja sehr interessant war. Er sah ja eigentlich toll aus: dieser herrliche Kopf. Er war ja groß und eigentlich sehr elegant. Aber er war irgendwie verschroben, er lief so komisch. Also er lief ein bisschen ungelenk. Das fiel mir auf. Und dann, beim Dirigieren, wenn er am Pult stand, fielen mir natürlich besonders seine unglaublichen sprechenden Hände und Arme auf. Erzählerin Kleiber strahlte am Pult ein unglaubliches Charisma aus. An seine geschmeidig-perfekte Schlagtechnik erinnert sich auch der Gustav-Mahler-Biograf und Autor der ersten kleinen Kleiber-Monografie Jens Malte Fischer. O-TON 15 Jens Malte Fischer Zunächst einmal, selbst wenn man ihn nur von hinten sah, war das einfach ein Genuss, diesen Mann zu sehen. Das ist der Dirigent, von denen, die ich erlebt habe, der die eleganteste, die ästhetischste Körpersprache hatte, die ich überhaupt bei einem Dirigenten je erlebt habe. Das was ich bei Kleiber erlebt habe, war eine Virtuosität, die nicht einstudiert war, das war garantiert kein Dirigent, der vor dem Spiegel Posen einstudiert hat, er war eine Naturbegabung. Mit welcher Eleganz und Geschmeidigkeit, geradezu die Musik in die Spitze des Dirigentenstabs verlängert durch den Arm legend, also das ist unglaublich. Und so hab‘ ich ihn erlebt. Erzählerin Mit seinem Perfektionismus, einer akribischen Genauigkeit und seinem untrüglichen Gehör hielt Kleiber seine Musiker unter Hochspannung. O-TON 16 Brigitte Fassbaender Er hatte ja auch unglaubliche Ohren. Er hörte alles, das war unwahrscheinlich. Erzählerin Mit seinem Charme und seinem Humor verführte er seine Musiker dazu, alles zu geben. O-TON 17 Brigitte Fassbaender Privat konnte er wahnsinnig lustig sein und zu Späßen und Albernheiten aufgelegt, aber immer irgendwie ein bisschen irgendwie gehemmt, dem Alltag gegenüber gehemmt. Und da rettete er sich auch mit Albernheiten und ständigem Gekicher und Gelache. Das war ein merkwürdiger Eindruck. In der Arbeit war er unglaublich autoritär und klar und akribisch. Und im Alltag war er wie ein großer Junge. Das war so ein Zwiespalt, das war so ne Diskrepanz in ihm. Zu uns war er immer auch zum Späße machen auch in der Arbeit aufgelegt, aber dahinter lauerte immer das Erreichen der tausendprozentigen Präzision. Es waren also keine entspannten Scherze, hab‘ ich immer das Gefühl gehabt, sondern es war auch immer ne gewisse Herausforderung, dass wir es für ihn also besonders gut machen sollten. Also es war eigentlich immer ein tausendprozentiges Fordern für ein Ergebnis. Mit dem Orchester war er wahnsinnig umgänglich und charmant. Aber es war, das Wort Berechnung ist nicht richtig, aber ein gewisses Kalkül war dahinter, ne Verführung, sich ihm ganz auszuliefern – was man ja auch ohne nachzudenken tat, weil er eben überrumpelnd war in seiner Leistung und in dem, was dabei rauskam. Ich meine, das war schon atemberaubend, mit welcher Leichtigkeit und Spontaneität und Emotionalität er musizierte. MUSIK 7 „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung”, Joh. Strauß (Sohn): Die Fledermaus (Ouvertüre), Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Carlos Kleiber, DVD 2008, Euroarts 2060868. Track 6/Part 1 Ca 1.01.30 bis ca 1.02.20: Stichwort: „Dieser Übergang ist gut, aber es muss etwas gefährlich sein“ Bis: „…Wir wollen nicht unseren Führer sehen. Wir wollen das tastend haben…“ (langsam ausblenden) Erzählerin 1970 nimmt Kleiber für die SDR-Fernsehreihe „Bei der Arbeit beobachtet“ in der Stuttgarter Villa Berg mit dem Südfunk-Sinfonieorchester die Ouvertüren zur „Fledermaus“ und „Freischütz“ auf. Diese auf DVD erhältlichen Probenmitschnitte erhalten später Kultstatus, weil sie auf einzigartige Weise erlebbar machen, wie es Kleiber mit scharfem Witz, jungenhaftem Charme und unbändiger Fantasie gelingt, die anfangs stocksteif wirkenden Musiker schließlich ungeahnt über ihre eigenen Fähigkeiten hinauswachsen zu lassen. MUSIK 8 „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung«, Joh. Strauß (Sohn): Die Fledermaus (Ouvertüre), Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, DVD 2008, Euroarts 2060868. Ca bei 1.04.14 ausblenden ab ca 1.08.30. Stichwort: „Drei bitte….“ bis „Sie kitzeln sie ein bisschen zu fest…trjaptrjap dija…“ Erzählerin Bis heute versuchen angehende Dirigenten immer wieder, Kleibers ungewöhnlichen Probenstil zu imitieren. Der junge israelische Chefdirigent des Theaters Bremen Yoel Gamzou ist davon irritiert: O-TON 18Yoel Gamzou Ich habe irgendwann während meiner Studienzeit nur so als Spaß mal gezählt, bei wie vielen Meisterkursen wie viele Schüler haben Zitate von diesen Kleiber-Proben erwähnt, und ich glaube, dass ich irgendwann bei 14 war. Weil es wirklich jeder zweite Dirigent bei Kleiber abgeguckt hat und es einfach wiederholt hat. Ich fand das so absurd. Es war damals so ein Gag, ich fragte mich, wer kommt jetzt als nächstes und redet über die schöne Frau, die läuft auf hohen Schuhen oder irgendwelche Bilder, die er damals so benutzt hat. Es war damals wirklich in jedem Dirigier-Meisterkurs irgendjemand, der hat bei Kleiber abgeguckt und nachgemacht. Erzählerin Die Probenarbeit von Carlos Kleiber ist Legende. Rudolf Watzel, der ehemalige Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker erinnert sich: O-TON 19 Rudolf Watzel Ich habe wirklich keinen einzigen Dirigenten erlebt, der so viele Bilder erfinden konnte in der Probenarbeit. Der hatte zu jedem Takt Musik ein Bild. Und das macht die Arbeit natürlich unglaublich leicht, weil man so über das Anschauliche – es ist natürlich Quatsch, weil das kann man nicht in Bilder fassen, Musik ist Musik – aber eine Krücke braucht man ja, und das sind die Emotionen. Und mit den Bildern hat er uns natürlich genau dahin gebracht, wo er uns haben wollte. Erzählerin Üblicherweise beginnen Orchestermusiker zu streiken, wenn ein Dirigent während der Proben viel redet. Bei Kleiber war das anders, erzählt auch der ehemalige Solo-Oboist des Bayerischen Staatsorchesters Klaus König. Er hat unter Kleibers Leitung in mehr als 230 Vorstellungen mitgespielt. O-TON 20 Klaus König Es kommt darauf an, wie einer redet. Nach Minuten weiß man, das ist so ein Schwätzer oder der versucht über Metaphorik, also mit Beispielen, etwas zu erreichen, was man sonst so im Schlag nicht erreichen kann. Da war der Kleiber geradezu unnachahmlich. Der konnte wirklich Dinge erklären, die mit dem Eigentlichen nichts zu tun hatten. Natürlich, alle lachen schallend und hinterher funktioniert‘s. Da lacht dann keiner mehr. Erzählerin Ohne seine Gabe, dem Orchester auch durch gestische Präzision eine musikalische Vorstellung sehr plastisch zu vermitteln, hätte sich indes wohl selbst Carlos Kleiber bildreich den Mund fusselig reden können - und das entsprechende Klangergebnis doch nicht erzielt. Alle Nachahmungsversuche seiner Fans sind daher von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Christian Thielemann, Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatskapelle Dresden, beschreibt die Technik des von ihm bewunderten Kollegen so: O-TON 21 Christian Thielemann Es gibt Dirigenten, bei denen man aus den Gesten gar nicht so viel ablesen kann und das Orchester spielt trotzdem wunderbar. Bei ihm war es so, dass man auch aus den Gesten eigentlich alles ablesen konnte. Was er vorhatte, also eine Linie oder das Rhythmische oder so, hat er mit den Händen gemalt. Er war einer der Maler. MUSIK 9: Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 54984. CD 2, Satz: Allegro energico e passionato – Piu Allegro CD 2, Track 4: von Anfang, ab 2.16 sehr langsam ausblenden unter Text, (Musik weg ab 2.24 bei „Zum Beispiel“) O-TON 22 Rudolf Watzel: Und er hat eben über Musik und den Ausdruck in der Musik wirklich Exemplarisches gesagt. kurz unterbrechen für: Erzählerin … erinnert sich Rudolf Watzel an Kleibers Proben zu Brahms‘ 4. Symphonie. In unserer Aufnahme spielen die Wiener Philharmoniker. O-TON 22 Rudolf Watzel (weiter): Zum Beispiel: In der Flötenkadenz der 4. Brahms im letzten Satz (singt), die ganze Stelle, hat er gesagt: Ah, ich habe da so eine Regie. Die ganze Szene ist so: Da sitzt eine Frau und der Mann liegt zu ihren Füßen, getötet von der Mafia. Er wollte einfach Trauer ausdrücken, tiefe Trauer. Und dann später sagt er, wenn dann die Klarinetten und die Bratschen kommen, die dann das kommentieren: Das sind dann die Nachbarn, die kommen und sagen: War ein guter Mann, schade! Die kondolieren. MUSIK 9 wieder rauskommen mit 2.58 (Flötensolo) bis 3.35 (ausblenden) (0.37) O-TON 23 Rudolf Watzel: Und dann, wenn der große Aufschwung kommt der Geigen, das Fortissimo (singt): Jetzt kommt die Rache. MUSIK 9 wieder rauskommen mit 5.21 und unter Text sehr langsam wegblenden ab 7.13 O-TON 24 Yoel Gamzou Aber was ich von ihm gelernt habe, war wirklich das Hören. Man merkt, dass er unglaublich gut und genau gehört hat und eine große Transparenz gesucht hat und eine Form von musikalischer Rhetorik: dass jeder Ton eine Botschaft hat, die klar ist, dass jeder Ton eine Geschichte erzählt. Ich glaube, dass Kleiber den Großteil der Zeit keine großen Bilder gegeben hat, sondern einfach nach einer rhetorischen Klarheit gesucht hat. Und davon habe ich sehr, sehr viel gelernt. Ich finde eine musikalische Syntax muss immer einer Geschichte erzählen. Erzählerin Yoel Gamzou beurteilt Kleiber weniger von den Fähigkeiten der Orchesterführung her, als vom rein musikalischen Resultat. Von Kindheit an haben ihn Kleibers hoch expressive, intensiv sprechende Interpretationen tief beeindruckt. O-TON 25 Yoel Gamzou Was ich an ihm unglaublich liebe, ist das Elastische und das unberechenbare Spiel mit der Zeit als wichtigstes Element in der Musik. Für mich beginnt Musik in dem Moment, wo Taktstriche fließend werden, wie ein Puls sich verändert in einem menschlichen Körper. Kleiber ist jemand, der unglaublich grundsätzlich mit Zeit arbeitet, das ist sein Material, die Elastizität der Zeit. Und er geht mit Musikern in ganz viele Situationen, wo sie nicht wissen wie es weitergeht und dieser Moment der Ungewissheit ist der Moment, wo Musik entsteht. MUSIK 10 Richard Strauss: Der Rosenkavalier Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. CD 1 Track 19: „Die Zeit im Grunde, Quinquin“. Ab ca 2.04 unter Text allmählich ausblenden. Erzählerin In welchem Werk würde die Zeit, das ureigene Medium der Musik, wohl stärker zum Thema gemacht, als im „Rosenkavalier“, der kongenialen Oper von Richard Strauss und seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal? Handelt nicht das gesamte Werk vom Verrinnen der Zeit, vom sehnlichen Wunsch, sie anzuhalten, und schließlich, im berühmten Monolog der Marschallin, von der Kunst loszulassen? Drei Akte lang jagt diese walzerselige Musik der Utopie hinterher, ein Glück einzufangen, das es womöglich nie gab und nie geben wird, weil es nur in unseren Träumen existiert. Niemand aber ist dem Glücksversprechen des „Rosenkavaliers“ musikalisch je so nahegekommen wie Carlos Kleiber, mit seiner Gabe, die Taktgrenzen im süßen Fluidum des Walzers vollständig vergessen zu machen. Unzählige Male hat er seinen geliebten „Rosenkavalier“ dirigiert. Seine schönste Aufnahme ist der Live-Mitschnitt aus dem Bayerischen Staatstheater vom 13. Juli 1973, der erst nach seinem Tod auf CD veröffentlicht wurde. Ebenfalls 1973 sorgte Kleibers erste Schallplattenaufnahme bei der Deutschen Grammophon für eine Sensation. Der ehemalige Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Peter Mirring, erinnert sich: O-TON 26 Peter Mirring Wir hatten ja den „Freischütz“ immer auf dem Spielplan. Das Orchester kannte den „Freischütz“ perfekt. Und jetzt kam plötzlich Carlos Kleiber zu der Aufnahme und wir waren alle sehr gespannt. Und er konnte wahrhaft durch sein geniale Schlagtechnik, durch seine Energie, die er ausstrahlte, er konnte also eine völlig neue Dimension hinzufügen zu dem, was uns so bekannt war mit dem „Freischütz“. Das war fantastisch, muss ich wirklich sagen. MUSIK 11 „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung«, Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, Ouvertüre. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, DVD 2008, Euroarts 2060868. Track 2, Ca. bei 0.16.27 -0.16.50: Stichwort: „Glauben sie an Gespenster? Das ist sehr gut. Es ist für die Ouvertüre wichtig. Für die Länge der Ouvertüre glauben Sie bitte an Gespenster“ plus zwei Takte Musik. Ausblenden unter MUSIK 12. nahtlos darüber einblenden: MUSIK 12 Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, „Bernd Weikl, Siegfried Vogel, Gundula Janowitz, Edith Mathis, Theo Adam, Peter Schreier, Franz Crass, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498 CD 11, Track 1 Ouvertüre: einblenden ab 6.20 (Flötenton). Ab ca 8.02 unter Text ausblenden. Erzählerin Mit ihrer luxuriösen Sängerbesetzung und der Präzision, Transparenz und zugespitzten Rhetorik, die Kleiber dem Orchester entlockte, vibriert Kleibers „Freischütz“-Aufnahme vor Intensität und ist bis heute eine Referenzaufnahme geblieben. Selten hat man so drastisch wahrgenommen, wie doppelbödig und finster dieses Werk komponiert ist. Noch in den vermeintlichen Idyllen sickert hier allerorten das Grauen durch. Aus der genretypischen Schauerromantik macht Kleiber bitteren Ernst. Die schier expressionistische Zerrissenheit der „Wolfsschlucht“-Szene lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. So kann das nur einer dirigieren, der selber weiß, was ein innerer Abgrund ist. O-TON 27 Peter Mirring Ihm ging ja schon ein gewisser Ruf voraus - Carlos Kleiber: ein Genie und ein hochsensibler Musiker und empfindlich. Ja, ja, da war alles so. Ja, aber es war eine wunderbare Zusammenarbeit. Erzählerin Vor Carlos Kleibers berüchtigter Empfindlichkeit zittern Orchestermusiker, Manager, Aufnahmeleiter, Produzenten und sogar Intendanten. Zahllos sind die Eklats, die er verursacht, wenn er überraschend hinschmeißt, um sich in sein Haus nach Grünwald, bei München, zurückzuziehen. 1961 hat er die Tänzerin Stanislava Brezovar, genannt Stanka, geheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Auch Stankas slowenischer Heimatort Konjsica wird ein bevorzugter Zufluchtsort, wenn er eine Pause vom Musikbetrieb braucht. Woher rühren die tiefen Selbstzweifel, die ein Leben lang an Kleiber nagen? Welche Rolle spielt der berühmte Vater Erich Kleiber, der zeitlebens ein übermächtiges Vorbild für Carlos bleibt? Erfahren Sie mehr in der zweiten Stunde dieser Langen Nacht. Textende: 51.00 MUSIK 13 Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, „Bernd Weikl, Siegfried Vogel, Gundula Janowitz, Edith Mathis, Theo Adam, Peter Schreier, Franz Crass, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 11, Track 18: 2. Akt: „Wie? Was? Entsetzen!“ ENDE 1. STUNDE 2. Stunde MUSIK 14 Giuseppe Verdi „La traviata“. Ileana Cotrubas, Plácido Domingo, Sherrill Milnes, Stefania Malagú, Helene Jungwirth, Bayerisches Staatsorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 6, Track 2 Erzählerin Carlos Kleiber ist auf dem Gipfel seiner Karriere. Die siebziger Jahre machen ihn zu einer heiß umworbenen Rätselfigur am Pult. München schätzt sich glücklich, den als Sensation gefeierten Dirigenten für einige Jahre, wenn schon nicht mit einer festen Position, so doch immerhin als regelmäßigen Gast an sein Haus binden zu können. Auch wenn Carlos Kleiber schon bald beginnt, sich rar zu machen, steht er doch bis 1988 insgesamt mehr als 250 Male am Pult des Bayerischen Staatsorchesters - Akademiekonzerte und Tourneen mitgerechnet. An der Bayerischen Staatsoper versetzt Kleiber Publikum und Kritiker in diesen Jahren nicht nur mit seinen Lieblingsstücken „Rosenkavalier“ und „Fledermaus“ in enthusiastischen Taumel. Zu Sensationserfolgen geraten auch die Premieren von Bergs „Wozzeck“, Verdis „Otello“ und der „Traviata“. Ein Tondokument des „Otello“ ist bis heute bedauerlicherweise nur als sogenannter „bootleg“, als unautorisierte Plattenaufnahme auf dem Graumarkt erhältlich. Die Münchner „Traviata“ aber, von der auch der ehemalige Solo-Oboist des Staatsorchesters Klaus König schwärmt, wurde zwei Jahre nach der Premiere für die Platte aufgenommen. O-TON 28 Klaus König Traviata: wie der die Brüche dieser Frau dargestellt hat, das habe ich nie vorher und auch nie nachher auch nur annähernd gehört. So weit auseinanderliegende menschliche Gefühle! Diese Momente, wo die Kunstfigur plötzlich zum realen Menschen aus Fleisch und Blut wird, das ist für mich so der Höhepunkt jeder Oper. Erzählerin In der Aufnahme der „Traviata“ mit dem Bayerischen Staatsorchester singen Ileana Cotrubas und Plácido Domingo die Hauptpartien. MUSIK 15 Giuseppe Verdi „La traviata“. Ileana Cotrubas, Plácido Domingo, Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 6, Track 9: „Follie…Sempre libera!”. Ab ca 3.18 langsam ausblenden unter Text. Erzählerin Sempre libero, immer frei, das möchte auch Carlos Kleiber bleiben. All die hochkarätigen Angebote für hochdotierte Posten, die ihn erreichen, lehnt er ab. Auch die Salzburger Festspiele bemühen sich vergeblich um ihn. Der Starrummel des internationalen Dirigenten-Karussells schreckt den hypersensiblen Kleiber ab, obwohl er sich privat gerne in Salzburg aufhält und dort sogar eine Wohnung besitzt. Wichtige Debüts fallen in diese Münchner Zeit. Kleiber erobert Wien, die Heimatstadt seines Vaters: An der dortigen Staatsoper dirigiert er 1973 Wagners „Tristan und Isolde“ und gibt mit den Wiener Philharmonikern im Jahr darauf auch Konzerte in Bratislava und Göteborg. Das Royal Opera House Covent Garden kommt in den Genuss seines „Rosenkavaliers“. Auch an der Mailänder Scala debütiert Kleiber 1976 mit einem „Rosenkavalier“ sowie mit einem sensationellen „Otello“. In Mailand freundet er sich mit Plácido Domingo, Claudio Abbado und Mauricio Pollini an. Nachdem sich die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth schon 1969 vergeblich um ihn bemüht hatten, übernimmt Kleiber in den Festspielsommern 1974, 1975 und 1976 den Bayreuther „Tristan“. Drei Mitschnitte dieser Aufführungen schlummern bis heute in den Archiven und sind mit etwas Glück wiederum nur als bootlegs zu ergattern. Denn die vertraglich bereits vereinbarte Radio-Übertragung hat Kleiber untersagt. Im dritten Festspielsommer kommt es zum Bruch mit Wolfgang Wagner und Kleiber wird nie wieder nach Bayreuth zurückkehren. Eine spektakuläre Aufnahme von seiner letzter Tristan-Vorstellung in Bayreuth lässt sich im Netz auftreiben. Trotz aller akustischen Abstriche, die man in Kauf nehmen muss, vermittelt sie eine der betörendsten und intensivsten Wagner-Erfahrungen, die man überhaupt machen kann. Das empfindet auch Jens Malte Fischer so: O-Ton 29 Jens Malte Fischer: Es gibt ein Dokument, das ich einmal sehen konnte, das möchte ich hier gerne erwähnen, das eine absolute Rarität ist, bis heute nie veröffentlicht wurde, das ist der komplette Tristan aus Bayreuth, 1976, die letzte der Aufführungen, die er da dirigiert hat, sein letzter Tristan überhaupt, aufgenommen mit der Dirigentenkamera. Das ist die Kamera, die im Bühnenboden eingelassen ist meistens, und dann direkt auf den Dirigenten geht, um dessen Signale in den Hinterraum der Bühne zu transportieren auf Monitoren, oder links und rechts, damit die Sänger, wenn sie ihn sehen wollen, nicht immer zu ihm hingucken müssen. Und das ist dreieinhalb Stunden Tristan, ohne Bühne, nur die Musik und man sieht nur Carlos Kleiber. Und das ist ein so unglaubliches Dokument, atemberaubend, ich kann‘s gar nicht anders beschreiben, wie hier dieser Mann in seinen besten Jahren mit einem Werk, das er besonders geliebt, aber leider nicht so besonders häufig dirigiert hat, umgeht. Erzählerin Glücklicherweise gibt es jedoch auch eine legal veröffentlichte „Tristan“-Aufnahme, die Kleiber einige Jahre später (1982) mit der Dresdner Staatskapelle eingespielt hat. Auch sie vermittelt etwas von jenem unwiderstehlichen Sog, den Kleiber kongenial mit Wagners süchtelndem „Tristan“ zu erzeugen wusste. Sein untrügliches Gespür für Tempoverhältnisse, seine Kunst des Rubatos und der dramatischen Zuspitzung; Transparenz und Klangsensualismus der Dresdner Kapelle, die hier tatsächlich ihren „Wunderharfen“-Zauber entfaltet – all dies lässt Wagners delirierende Nachtmusik zugleich vehement brennen und freiflutend der Auflösung entgegenfiebern. MUSIK 16 Richard Wagner: „Tristan und Isolde“. René Kollo, Kurt Moll, Werner Götz, Margaret Price, Dietrich Fischer-Dieskau, Brigitte Fassbaender, Wolfgang Hellmich, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. // CD 10, Track 11: „Mild und leise, wie er lächelt“. Erzählerin Seit Wilhelm Furtwänglers legendärer „Tristan“-Aufnahme von 1952 hat kein auf Schallplatte gebannter Liebestod die Wagner-Fans so in Ekstasen versetzt, wie Carlos Kleibers Einspielung mit der jungen Margaret Price als Isolde. Price hat sich von Kleiber zu ihrem Wagner-Debüt überreden lassen, wird die Partie aber mit Rücksicht auf ihre Sopranstimme, die eigentlich im lyrischen und im Belcanto-Fach beheimatet ist, nie auf der Bühne singen. Künstlerisch noch aufregender als diese Studioproduktion des „Tristan“ sind allerdings die nicht autorisierten Bayreuther Mitschnitte. Und es zählt zu den Paradoxien von Kleibers Schallplattengeschichte, dass ausgerechnet jene Aufnahme regulär auf dem Markt kommt, die Kleiber selber zunächst wenig glücklich macht. Denn um die Freigabe des Dresdner „Tristan“ gibt es solche Verwerfungen, dass Kleiber anschließend verkündet, nie wieder in ein zu Studio gehen. - Was war passiert? Der Autor Alexander Werner erklärt in seiner akribisch recherchierten Biografie über Carlos Kleiber, dieser habe nach einem Streit mit dem Tristan-Sänger René Kollo die laufende Produktion kurz vor dem Abschluss fluchtartig verlassen. Als das Tonmaterial dann ohne Kleiber im Studio synchronisiert worden sei, habe es heftige Kontroversen um die Veröffentlichung gegeben. So erinnert es auch der ehemalige Konzertmeister der Staatskapelle Peter Mirring: O-TON 30 Peter Mirring Er hatte wohl mit Rene Kollo irgendwelche Diskrepanzen, ich weiß nicht, worum es da im Einzelnen ging. Und er hat sich dann lange, lange Zeit geweigert, diese Aufnahme anzuhören, bis man ihn dann doch dazu gebracht hat, und dann hat er sie doch freigegeben, diese wunderbare Aufnahme. Erzählerin (Der Wissenschaftler) Jens Malte Fischer hat es so gehört: O-TON 31 Jens Malte Fischer: Angeblich war es zu einem Konflikt mit dem Tenor Rene Kollo, gekommen. Rene Kollo hat mir mal gesagt, das war also so nicht, wie es kolportiert wird. Jedenfalls hat er die Aufnahmen im Prinzip nicht hundertprozentig beendet, aber man konnte die Aufnahmen fertigstellen mit Probenstücken, die verwendet wurden. Und er hat letztlich, offensichtlich sehr zähneknirschend oder sich überreden lassend von Mitarbeitern, hat er die Zustimmung gegeben, dass das Ganze veröffentlicht wird. Erzählerin Die Schwierigkeiten um die Freigabe dieser Aufnahme sind wieder einmal ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse und zementieren Kleibers Ruf, eine wankelmütige Mimose mit Starallüren zu sein. Um Kleibers Reaktion zu verstehen, muss man sich jedoch klar machen, mit welcher ausgewöhnlichen Sorgfalt und Nervenanspannung er gerade auch seine „Tristan“-Interpretationen vorbereitet. Schon für seinen ersten „Tristan“ in Stuttgart, lässt er sich Wagners Autograph vergrößern, um jeden Takt der Oper genau studieren zu können. In Wien setzt er unglaubliche vierzehn Orchesterproben an, statt der üblichen drei bis vier, was die stolzen Philharmoniker sehr irritiert, wenn nicht gar beleidigt. Vor dem Bayreuth-Debüt brütet er wiederum monatelang über Wagners Handschrift und korrigiert unzählige Fehler in späteren Partiturausgaben. Und für die Dresdner Einspielung verlangt Kleiber maßlose dreißig Orchestertermine und zwanzig Aufnahmetermine mit dem gesamten Ensemble. Außerdem besteht er darauf, die Aufnahmen streng nach der Abfolge der Szenen zu machen, was mit Rücksicht auf den Terminkalender der Sänger üblicherweise als utopische Forderung gilt. Immer sind Kleibers minutiös vorbereiteten Proben eine Sache um Leben und Tod. Er habe sich stets mit einer solchen Intensität in die Musik hineingefühlt, drückte es einer seiner Musiker einmal aus, dass manch einer gemeint habe, er bewege sich am Rande des Wahnsinns. (weiter) Brigitte Fassbaender, Kleibers wunderbare Brangäne im Dresdner „Tristan“, hat dagegen die Aufnahmephase sehr positiv in Erinnerung. O-TON 32 Brigitte Fassbaender Ja, da kann ich mich auch nur an diese unglaublich akribische Vorarbeit erinnern bei den Proben. Während der Aufnahmen hat er nicht seine Unzufriedenheit gezeigt. Das muss alles hinterher beim Abhören passiert sein. Ich habe daran keine negativen Erinnerungen. Ich weiß nur, dass ich auch was nachsingen musste, weil ich krank wurde, aber das Ganze ging da mit den Solisten in der Kirche bei den Aufnahmen, soweit ich mich erinnere, ganz normal zu. Erzählerin 1974 spielt Kleiber Beethovens 5. Symphonie mit den Wiener Philharmonikern ein. Seine vorwärtsdrängende, explosive und energetische Interpretation lässt die widerstreitenden Kräfte in dieser Musik beinahe brachial aufeinanderstoßen. MUSIK 17 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Deutsche Grammophon. Track 1, 1. Satz: Allegro con brio. Ab 2.54 ohne Blende anspielen bis Ende Erzählerin (nach längerem Musikzitat) Kleibers Aufnahme der 5. Symphonie von Beethoven mit den Wiener Philharmonikern wird einhellig als Sensation gefeiert und weckt bei der Plattenfirma Begehrlichkeiten nach einem kompletten Beethoven-Zyklus. In den folgenden Jahren lässt sich Kleiber dazu überreden, mit den Wienern auch die 7. Symphonie einzuspielen. Er dirigiert auch immer mal wieder die 4. und ein einziges Mal die Pastoral-Symphonie, die später als Konzertmitschnitte des Bayerischen Staatsorchesters erscheinen. Mehr interessiert ihn nicht. 1978 nimmt er zwei weitere Werke mit den Wiener Philharmonikern auf: Schuberts 3. Symphonie und seine „Unvollendete“. Die Deutsche Grammophon umgarnt Kleiber bereits seit 1970 und möchte ihn als Exklusivkünstler binden – Kleiber lehnt ab. Er lässt sich nicht festnageln. Sein Credo lautet: „Nur eine nicht produzierte Platte ist eine gute Platte“. Entsprechend lang ist die Liste der geplatzten Aufnahmen und der Absagen, bis er nach dem Dresdner „Tristan“ wahr macht mit seiner Drohung, nie wieder ein Plattenstudio zu betreten. Einige Jahre zuvor sollte es 1975 mit dem Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli und dem Berliner Rias-Orchester zu einer Einspielung des 5. Klavierkonzerts von Beethoven kommen. Die Orchesterproben laufen sehr gut. Die Probleme beginnen, als Michelangeli dazukommt. Er ist selber ein hyperempfindlicher Perfektionist, der immer mit eigenem Flügel reist. In Berlin macht er, wie einer der RIAS-Musiker sich erinnert, „viel Theater“ wegen seines Klaviers. Es kommt zum Eklat und zum Abbruch der Aufnahmen. (Der ehemalige Solo-Oboist) Klaus König hat sich die Geschichte der geplatzten Aufnahme von Kleiber so erzählen lassen: O-TON 33 Klaus König Beethoven Klavierkonzert. Mit einer ganz langen Orchestereinleitung. Dieser blasierte Michelangeli, der saß da so am Flügel. Und Kleiber beobachtete Menschen auch sehr gern und hat den immer so angeschaut, und hat mir erzählt: Wissen Sie, allein dieses Gesicht! Das geht einem so auf die Nerven, der braucht noch gar nichts machen, immer diese Fleppe da. Dann hat er also diese lange Einleitung und da hat der Michelangeli zu ihm gesagt auf Italienisch: „Das war jetzt sehr deutsch“. Dann hat der Kleiber gesagt: „Beethoven war auch ein deutscher Komponist“, hat seinen Stecken hingelegt und ist gegangen. Der fand den grauenhaft. Erzählerin Glücklicher als mit Michelangeli verlaufen Carlos Kleibers je einmalige Zusammenarbeiten mit den Pianisten Alfred Brendel und Swjatoslaw Richter. Das Beethoven-Programm, das Kleiber mit dem Bayerischen Staatsorchester und Alfred Brendel 1970 im Deutschen Museum in München gibt, wird nicht auf Schallplatte veröffentlicht. Mit Swjatoslaw Richter gelingt jedoch eine gemeinsame Einspielung des Klavierkonzerts von Antonin Dvořák. MUSIK 18 Antonin Dvořák: Klavierkonzert g-Moll op. 33, Swjatoslaw Richter, Bayerisches Staatsorchester, EMI 7243 5 66895 2 7. Track 7. 3. Satz, Allegro con fuoco. Anfang bis ca 5.00 (unter Text ausblenden) Erzählerin Swjatoslaw Richter hält Carlos Kleiber für den „größten lebenden Dirigenten“. Mit seiner eigenen Interpretation des Dvořák-Klavierkonzerts in dieser Aufnahme ist Richter jedoch nicht zufrieden, wie er in seinen Tagebüchern festhält. Dennoch ist er an weiteren Aufnahmen interessiert und schlägt Kleiber vor, auch das 1. Klavierkonzert von Peter Tschaikowski einzuspielen. Doch wie so oft: Kleiber lehnt ab. Einer der am häufigsten zitierten Kleiber-Skandale ereignet sich 1982 bei einer Probe mit den Wiener Philharmonikern. Beethovens vierte und sechste Symphonie stehen auf dem Programm eines Abonnementkonzerts, das begleitend für Schallplatte und Fernsehen produziert werden soll. Unter anderem geht es also um viel Geld. Das Orchester ist euphorisch und steht noch ganz unter dem glücklichen Eindruck einer gemeinsamen Konzertreise nach Mexiko. Sechs Jahre lang hatte es sich zuvor vergeblich um eine Auslandstournee mit Kleiber bemüht. Nun glaubt es sich am Beginn einer gemeinsamen Blütezeit - nicht ohne einen leicht triumphierenden Seitenblick zur großen philharmonischen Konkurrenz in Berlin. Denn dort hat Kleiber gerade das Handtuch geschmissen. Nachdem sich die Philharmoniker, ja sogar Herbert von Karajan persönlich, jahrelang vergeblich um Kleiber bemüht hatten, war das endlich fixierte Berlin-Debüt Kleibers mit Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ noch vor Probenbeginn geplatzt. Ob die Unerfahrenheit einer jungen Mitarbeiterin schuld daran war oder die Berlinische Schnodderigkeit – feststeht: Kleiber ließ die Berliner Philharmoniker sitzen und reiste ab, als er sah, dass das Notenmaterial nicht so eingerichtet worden war, wie er es ausdrücklich gefordert hatte. Noch größer ist die Enttäuschung nun in Wien, wo Kleiber den perplexen Musikern während einer Probe wütend davonläuft und nur noch eine seiner berühmten Karten hinterlässt. „Bin ins Blaue gefahren“ steht darauf zu lesen. Was passiert ist, spricht sich schnell, auch bis nach Berlin herum: O-TON 34 Rudolf Watzel Wir kennen ja alle die eine Probe bei den Wiener Philharmonikern mit der 4. Beethoven, mit Theres. Er wollte halt keinen punktierten Rhythmus, er wollte irgendwie was Gesprochenes. Und als die dann anfingen, über Striche zu reden, hat‘s bei ihm ausgehakt und ist er weggelaufen. Erzählerin … erklärt der ehemalige Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker Rudolf Watzel. Kleiber war mit der einleitenden Streicherfigur am Anfang des zweiten Satzes in Beethovens 4. Symphonie unzufrieden. Er griff zu einem seiner (Sprach-)Bilder und bat die Musiker, sich zu der rhythmischen Figur den Namen Theres vorzustellen, als habe Beethoven hier zärtlich an Therese Brunsvik gedacht, die möglicherweise seine rätselhafte „Unsterbliche Geliebte“ war. Clemens Hellsberg von den Wiener Philharmonikern berichtet, Kleiber sei schließlich geplatzt mit dem Aufschrei: Sie spielen nicht Theres, sondern immer nur Marie! MUSIK 19 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 4, Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Orfeo C 100 841 B. Track 2: 2. Satz: Adagio. ausblenden unter Text Erzählerin Mit dem Bayerischen Staatsorchester hatte Kleiber Beethovens 4. Symphonie einige Monate vor dem Wiener Proben-Abbruch im Konzert aufgeführt. Wir hörten einen Ausschnitt. Dem Münchner Solo-Oboisten Klaus König erzählte er später über seine schlagartige Flucht aus der Probe ins Hotel Imperial in Wien: O-TON 35 Klaus König „Ja“, sagt er, „mein Gott, es hat halt nicht gepasst. Aber wissen Sie, ich dachte mir, wenn ich jetzt im Hotel in die Lobby runterkomme und da sind die alle und bitten mich und fallen vielleicht auf die Knie – ich hätt‘s gemacht. Aber kein Mensch war da, aber nicht einer. Ich bin allerdings auch durch den Hinterausgang rausgegangen.“ Und das ist sein Humor. Das meint der ganz ernst. Ein grandios schwieriger, zerbrechlicher Mensch auch. Wer sagt, der kennt den durch und durch, würde ich sagen: glaub i ned. Erzählerin Schon 1973 in Dresden sorgten sich die Musiker während der Proben zur „Freischütz“-Aufnahme, ob es ihnen gelingen würde, Kleiber bis zum Ende zu halten, erinnert sich der ehemalige Orchestervorstand Peter Mirring: O-TON 36 Peter Mirring Wir hatten natürlich ein bisschen Sorge, dass irgendwas passieren könnte, was so bekannt war von ihm. Er war ja immer ein schwieriger Mensch auch. Wie die Genies das halt oft sind. Und da gab es natürlich Vorkommnisse bei anderen Orchestern, die uns zu Ohren gekommen sind. Und da dachten wir, um Gottes willen, hoffentlich läuft alles gut bei uns. Es ist auch im Grunde alles sehr, sehr gut gelaufen. Es gab so Kleinigkeiten. Wenn irgendetwas störend für ihn war, das muss gar nicht mit der Musik zusammengehangen haben, dann hat er schon mal die Partitur genommen und auf das Pult geknallt und ist einmal um die Lukaskirche gerannt, wo die Aufnahme stattfand, und dann hat er sich wieder beruhigt und dann ging es weiter. Erzählerin Kleiber hielt sich immer einen Fluchtweg bereit. O-TON 37 Jens Malte Fischer Anekdotisch ist überliefert, dass, wenn er zu einem neuen Orchester kam, oder wo er lange nicht mehr war, wo er dann sagte, bei der ersten Probe: Meine Damen und Herren ich habe für jeden Tag einen Rückflug gebucht. Erzählerin Dahinter standen keine Allüren, sondern tiefsitzende Zweifel und Unsicherheit, wenn nicht gar die blanke Angst. O-TON 38 Klaus König Die Art einen Konflikt zu lösen, war halt bei ihm, davonzulaufen. Der hat mir in nem Brief geschrieben, wie es das erste Mal nach Berlin ging – das ging ja schief -, dass er eine unglaubliche Angst hatte, da hinzufahren. Das schreibt der mir! Erzählerin Jahre nach Kleibers brüsker Abreise aus Berlin sollte es dann doch noch klappen mit dem Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Auf Initiative des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker gibt Kleiber 1989 und 1994 seine beiden einzigen Konzerte in der Philharmonie. Wie gelingt es dem selbstbewussten Spitzenorchester, Kleiber vom Wegrennen abzuhalten? O-TON 39 Rudolf Watzel: Hätte bei uns auch passieren können. Da hat er auch gesagt: Ich sitz hier wie im Rolls Royce und weiß nicht, wo die Knöpfe sind. Erzählerin … sagt der damalige Orchestervorstand Rudolf Watzel und erklärt: O-TON 40 Rudolf Watzel So war der sicher auch gepolt, der Carlos Kleiber, dass er auch die Freiheit gebraucht hat. Und das Vertrauen in die Musiker. In der sehr kurzen Zeit ist das natürlich sehr schwierig. So ein Mensch, der so selbstkritisch ist, wenn man da nur einen Tropfen Bitterkeit hineinbringt, dann bricht alles zusammen. Er ist da schon sehr, sehr empfindlich gewesen. Aber auf der anderen Seite mit einer wunderbaren Euphorie und einer Selbstverständlichkeit, das hat mich da immer sehr, sehr beeindruckt. Erzählerin Die Konzerte werden nicht offiziell mitgeschnitten. Im Netz kursiert jedoch ein unautorisierter Live-Mitschnitt des zweiten Philharmonikerkonzerts mit Kleibers atemberaubender Interpretation der „Coriolan-Ouvertüre“ von Beethoven. Mit dem Bayerischen Staatsorchester hat Kleiber das Werk zwei Jahre später auch aufgeführt. Von diesem Konzert existiert ein auf DVD erhältlicher Mitschnitt. MUSIK 20 Ludwig van Beethoven: Ouvertüre „Coriolan“, op. 62. Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Mitschnitt, DVD. In: Carlos Kleiber The Legend. Decca, Deutsche Grammophon 074 3080 UCH5 Erzählerin Beethovens „Coriolan“-Ouverture erklingt 1994 in Kleibers zweitem und letztem Konzert mit den Berliner Philharmonikern. Rudolf Watzel steht als Orchestervorstand auch anschließend noch jahrelang in regem Briefwechsel mit Carlos Kleiber, immer hoffend, er möge eines Tages ans Pult der Philharmoniker zurückkehren. O-TON 41 Rudolf Watzel Und danach hab ich‘s unablässig versucht, aber ist mir nicht geglückt. Es war immer wieder so weit, dass er eine Idee hatte, aber dann wieder doch von der Idee selbst Abstand genommen hat. Und alles, was von uns gekommen ist, respektive von mir, fand er immer erst mal gut, aber dann sagt er, er kann nicht. Er kann einfach nicht, er ist zu schlecht drauf und er will sowieso nicht dirigieren und er hat das alles satt. Er war in der Beziehung ja fast selbstzerstörerisch, nein überkritisch sich selbst gegenüber. Erzählerin Woher rühren die tiefen Selbstzweifel, die Carlos Kleiber ein Leben lang begleiten? Fast reflexartig wird als Erklärung stets sein Verhältnis zum berühmten Vater bemüht - so sieht es etwa Peter Mirring von der Dresdner Staatskapelle. O-TON 42 Peter Mirring Er hatte ja auch einen Übervater, den Erich Kleiber, der ihn ja am Anfang gar nicht als Dirigent gesehen hat, das war schon ein Problem. Und es war wahrscheinlich auch ein kleines Problem, als er nach Dresden kam. Er wusste ja, in den fünfziger Jahren müssen hier in Dresden mit Erich Kleiber so eine Serie Freischütz-Aufführungen gewesen sein. Und aus dieser Zeit sind auch in unseren Noten noch Bogenstriche, die er vorgeschlagen hat. Die werden immer noch ausgeführt, weil sie einfach so gut waren. Er hatte großen Respekt vor der Kapelle und wusste, dass sein Vater hier gearbeitet hat. Erzählerin Ohne Zweifel hat Carlos Kleiber seinen Vater als Dirigenten über die Maßen bewundert und sich zum Maßstab seines eigenen Musizierens genommen. Entsprechend groß war die Empfindlichkeit. O-TON 43 Peter Mirring Ein Kollege, das weiß ich noch, der Rudolf Ulbricht, der verehrte Kollege, der sagte einmal während der Proben zu ihm: Das hat aber Ihr Vater so gemacht. Oh, das hätte er lieber nicht sagen sollen. Er hat es natürlich gut gemeint, aber da ging so ein bisschen das Rollo runter bei ihm. Das wollte er nicht so gerne hören. Erzählerin Wo immer es möglich war, studierte und probte Kleiber, der Sohn, nach den Partituren seines berühmten Vaters. Seine grenzenlose Bewunderung für Erich Kleiber lässt sich bis in die Repertoireauswahl hinein nachverfolgen. MUSIK 21 Alexander Borodin: Symphonie Nr. 2, b-Moll, op.5. NBC Symphony Orchestra, Erich Kleiber. SWRmusic 19406. Track 5, 1. Satz: Anfang - ab ca 1.26 unter Text ausblenden Erzählerin Erich Kleiber hatte 1947 in einem Live-Mitschnitt mit dem NBC Symphony Orchestra Alexander Borodins selten gespielte 2. Symphonie aufgenommen. Carlos wird ihm im Dezember 1972 mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart folgen. In der letzten Stunde der Langen Nacht beleuchten wir das komplizierte Verhältnis zu seinem Vater genauer. Ist es wahr, dass Erich Kleiber die Dirigentenlaufbahn seines Sohnes verhindern wollte? Carlos Kleiber wird schon in seinen letzten Lebensjahren zu einem lebenden Mythos stilisiert. Je stärker er sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, desto heftiger heizt er unwillentlich jene Tendenz zur Glorifizierung an, die bis heute anhält. Was ist Kleibers Vermächtnis? Welche Schuld trägt der Musikbetrieb daran, dass der genialische Stardirigent schließlich lange Jahre musikalisch verstummte, bevor er 2004 frei, aber einsam starb? - Darüber mehr in der 3. Stunde. MUSIK 22 Alexander Borodin: Symphonie Nr. 2, b-Moll, op.5. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Carlos Kleiber. SWRmusic 19406. Track 1 (6.52) ENDE 2. STUNDE 3. Stunde MUSIK 23 Neujahrskonzert 1989. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 2 Track 7: Josef Strauss, Jockey-Polka, op. 278. unmittelbar anschließen: MUSIK 24 Neujahrskonzert 1989. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 1, Track 1: Johann Strauss II: Accelerationen. O-Töne 44 und 45 hintereinander auf Musik 24 (Einleitung) legen: O-TON 44 Jens Malte Fischer Diese beiden Neujahrskonzerte von Carlos Kleiber in Wien mit den Philharmonikern, da können alle anderen nachhause gehen, vorher und nachher. O-TON 45 Christian Thielemann Wie er mit dem Orchester kommuniziert und wie die eine einzige Person werden, das Orchester und er: Das ist schon eine Meisterleistung und eine, wie schon gesagt, auf seine Persönlichkeit zurückgehende Leistung. Das ist die Ausstrahlung, die er dann eben hat. MUSIK 24 rauskommen mit ca 0.37 – unter Text ausblenden ab ca 2.37 Erzählerin Die beiden Neujahrskonzerte, die Carlos Kleiber 1989 und 1992 bei den Wiener Philharmonikern dirigiert, und die nicht nur auf CD, sondern auch als Filmmitschnitt festgehalten werden, sind bis heute Legende. Der Weg zur Aussöhnung mit Carlos Kleiber ist für die Wiener Philharmoniker allerdings eine Zitterpartie. Jahrelang hat Kleiber die Philharmoniker nicht dirigiert seit dem spektakulären Proben-Krach mit seiner anschließenden ´Flucht ins Blaue´. 1985 kehrt er zum ersten Mal für eine „Bohème“ nach Wien zurück. Um ein Haar kommt es auch hier zum Eklat, als Kleiber, in der Pause der 3. Vorstellung Mikrofone im Saal entdeckt, die man ohne sein Wissen für eine Rundfunkübertragung aufgestellt hat. Die Mikrofone werden entfernt, und die Vorstellung kann fortgesetzt werden. 1986 sagt Kleiber vier bereits fest vereinbarte „Traviata“-Vorstellungen in Wien ab und dirigiert stattdessen Verdis „Otello“ in London und Mailand. Und auf den euphorischen Walzertaumel der gelungenen Neujahrskonzerte folgt sogleich die nächste Enttäuschung. Kleiber verweigert den Wiener Philharmonikern die bereits fest geplante Jubiläums-Tournee nach Paris und Japan im Februar 1992. Das Konzert, das diese Tournee vorbereiten soll, findet jedoch noch statt und wird sogar als Filmdokument mitgeschnitten. Auf dem Programm stehen mit Brahms‘ 2. Symphonie und Mozarts Symphonie Nummer 36 Werke, die Kleiber 1989 auch bei seinem Debüt mit den Berliner Philharmonikern dirigiert hat. Am 16. Juli 1989 stirbt der langjährige Berliner Chef Herbert von Karajan - und das Berliner Starorchester setzt sich in den Kopf, Carlos Kleiber als neuen Chefdirigenten zu gewinnen – vergeblich, wie Rudolf Watzel erzählt: O-TON 46 Rudolf Watzel Die wollten unbedingt den Kleiber haben. Und dann ist unser Orchestervorstand nach Grünwald gefahren und hat ihn gefragt. Und er hat gesagt, tun Sie sich das nicht an. Das ist für ihn gar nichts. Der falsche Job. Erzählerin Herbert von Karajan hielt Carlos Kleiber für ein Genie – auch wenn er einmal bissig bemerkte, es sei doch bedauerlich, dass diesem großen Künstler die Musik offenbar so wenig Spaß mache. Die Hochschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit: Kleiber wird später gelegentlich in Gedanken versunken am Grab des großen Meisters im nahe Salzburg gelegenen Anif gesichtet. Rudolf Watzel hat jedoch keine Sekunde lang ernsthaft daran geglaubt, dass es seinen Orchesterkollegen gelingen könnte, Kleiber für das ruhmvolle, aber heikle und zermürbende Chefdirigentenamt zu begeistern. Immerhin kommt es, wiederum auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, 1994 zu einem zweiten Berliner Konzert mit Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre, Mozarts Symphonie Nummer 33 und Brahms 4. Sinfonie. In den Folgejahren bemüht sich Watzel in seinem Briefaustausch mit Kleiber um ein weiteres Gastdirigat am Pult der Philharmoniker. O-TON 47 Rudolf Watzel Ich hab mich immer gefreut, wenn er geschrieben hat, weil das ist einfach ein Genuss. Man hört ihn förmlich reden, diese Selbstironie, das ist einfach wirklich eine Freude. Erzählerin Kleibers Antworten auf Watzels zahlreiche Versuche, Kleiber nach Berlin zu locken klingen zum Beispiel so: O-TON 48 Rudolf Watzel „Wegen Januar 2000: Was hätten Sie denn gern? Eine Antwort eilt nicht, bedenken Sie aber ich werde siebzig sein, circa, und empfinde mich jetzt schon als total hundert Prozent unbrauchbar wenn‘s um musikalische Leistung geht. Physisch und psychisch. And I’m not joking. I hope von Herzen, that you are gesund und froh. Stets Ihr ergebener und dankbarer Carlos Kleiber.” Erzählerin In einem anderen Brief an Rudolf Watzel berichtet Kleiber von einer Konzertreise auf die kanarischen Inseln, die er 1999 mit dem Bayerischen Staatsorchester unternehmen wird. Die Hoffnung auf eine Rückkehr ans Pult der Berliner Philharmoniker rückt dagegen in zunehmend ungewissere Ferne. - Kleibers Briefstil gibt ein anschauliches Bild von seiner zwischen Selbstironie, Vorfreude, Zweifel und Unentschlossenheit oszillierenden inneren Verfassung in diesen Jahren: O-TON 49 Rudolf Watzel „Heute, übrigens ist Vollmond, hab ich ohne Programm zwei Konzerte auf den kanarischen Inseln – winzige Säle – zugesagt. Bin ich deppert? Nur ein Programm auszudenken, beziehungsweise lernen, zwei Orte, angeblich viel Knete – Euro? – Privatjet hin und zurück, Haus am Meer auch für lange Tage danach, Bajaderen zur Auswahl, alle garantiert unmusikalisch, nicht einmal Brahms könnte widerstehen, oder? Klammer auf: üb nur fleißig derweil, liebe Clara, bin ja bald zurück, Bussi. Aber ganz im Ernst: Wenn ich ein Programm für diese Lustpartien mir zugemutet haben werde – oh, das kann aber dauern – und wenn ich einen oder zwei Fräcke, die nicht auseinanderfallen, finde - meine gingen vielleicht gerade noch für zwei Kanarien, aber Berlin ist eine Großstadt- oder kaufe, werde ich möglicherweise mich erdreisten, Herr Professor Watzel, mich zum halben Preis oder gar gratis, no problem, anzubieten. Maybe, peut-etre, quizas. Natürlich wäre der Unterschied: Berlin wäre vorher, dann qualvoll, if you know what I mean, perhaps better not, ja? Jedenfalls melde ich mich so oder so, okay? Ihnen alles erdenklich Gute und so weiter, Ihr stets ergebener alter Halbleiter, Semi-Kontaktor, Carlos Kleiber“. MUSIK 25 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 7, Bayerisches Staatsorchester. Orfeo C 700 051 B. Track 4: 4. Satz, Allegro con brio. Von Anfang, ab ca 2.56 unter Text Erzählerin Beethovens funkensprühende 7. Symphonie. Kleiber dirigiert tatsächlich das Bayerische Staatsorchester beim kanarischen Festival de Música 1999. Diese Live-Aufnahme stammt aus der Münchner Staatsoper aus dem Jahr 1982. Wie lässt es sich erklären, dass ein Künstler, der so für die Musik brennt, sich zunehmend vom Dirigieren zurückzieht? Für viele seiner großen Kollegen ist die Musik ein solches Lebenselixier, wenn nicht gar Suchtmittel, dass sie sich überhaupt nur dann im emphatischen Sinne lebendig fühlen, wenn sie gestaltend eintauchen können in den Strom musikalischer Prozesse. Nicht wenige berühmte Dirigenten wie Joseph Keilberth, Giuseppe Sinopoli oder Dimitri Mitropoulos haben dirigiert, bis sie buchstäblich vom Pult gefallen sind. Herbert von Karajan soll sich einen solchen Tod sogar gewünscht haben. Verspürt Carlos Kleiber in den neunziger Jahren denn gar kein Verlangen mehr danach, Musik zu machen? O-TON 50 Rudolf Watzel: Ich glaube schon, nur im Widerstreit. Er wollte immer dirigieren, aber dann wiederum nicht. Diese beiden Dinge, die zugleich da sind, das könnte bei ihm stärker gewesen sein und das hat ihm letztlich auch diese Energie besorgt, dass wenn er dirigiert und sich durchgerungen hat, war es immer wieder ein wirklich großes Erlebnis. Erzählerin Woher rührt dieser innere Widerstreit? Soll man sich wirklich in Kleibers Kindheit vertiefen, um seinem rätselhaften Wesen näherzukommen? O-TON 51 Brigitte Fassbaender Ja, das hat er mir mal erzählt, dass er da doch in seiner Jugend ziemlich gelitten hat. Seine Kindheit, da gab‘s schon einige Erlebnisse, die irgendwie so kleine Traumata waren. Weiter weiß ich darüber nichts, nur dass eben der Vater wohl gar nichts erstmal von seinen Dirigierplänen hielt. Erzählerin …erzählt Brigitte Fassbaender. Und Rudolf Watzel ergänzt: O-TON 52 Rudolf Watzel Da sind einfach Abgründe vorhanden. Und es hat sicher mit seinem Vater zu tun. Der wollte ja nicht, dass er Musiker wird. Mit Sicherheit hat der immer gezweifelt, dass er eigentlich was kann. Erzählerin Darauf, dass Erich Kleiber die Dirigentenkarriere seines Sohnes nachhaltig verhindern wollte, gebe es allerdings keine Hinweise, meint Jens Malte Fischer. O-TON 53 Jens Malte Fischer Die ganzen Anekdoten, die darauf hinauslaufen, dass der Vater mit allen Mitteln bis zuletzt verhindern wollte, dass der Sohn Dirigent wird – aus welchen Gründen auch immer, weil er ihm die schwierige Karriere nicht zumuten wollte, oder weil er‘s ihm nicht zutraute, das sind nach meinen Erkenntnissen und Gesprächen und Recherchen, die sind mit Vorsicht zu genießen. Es ist sicher so, dass Erich Kleiber die Interessen des Sohnes nicht von Anfang an gefördert hat und groß dafür gesorgt hat, dass dieser Sohn unbedingt Dirigent werden muss. Aber es sieht für mich so aus, dass er erkannte, dass da hier doch eine gewaltige Begabung zugrunde liegt. Wahrscheinlich zur Verblüffung des Vaters, denn große Dirigenten haben meistens keine Söhne, die große Dirigenten werden. Aber als er das erkannte, dass da die Begabung da war, da hat er offensichtlich gar nichts dagegen gehabt und hat auch dafür was getan. Erzählerin Das bestätigt auch Alexander Werner, der sich für seine umfangreiche Biografie über Carlos Kleiber tief ins Material hineingearbeitet hat. Der junge Kleiber studiert zunächst auf Anraten seines Vaters ein Semester Chemie in Zürich … O-TON 54 Alexander Werner: … und hat dann, dem Vater kundgetan, er will nicht mehr. Und was der Vater gemacht hat, der hat sich nicht aufgeregt, der hat ihm sofort die besten Musiker besorgt in Buenos Aires für ein Musikstudium. Da gab’s keinen Streit, keine Auseinandersetzung. Ich hab Originalbriefe aus der Zeit, familiäre. Das Verhältnis war sehr gut, da liest sich ein wunderbares Verhältnis zum Vater heraus. Und der Vater hat ihn dann bis zu seinem Tod intensiv unterstützt bei allem. Allerdings war’s eben der große Vater. Und Carlos Kleiber wurde in der frühen Zeit in der Presse, die ganze Düsseldorfer Zeit über, in fast jedem Artikel als der Sohn des großen Vaters bezeichnet. MUSIK 26: Richard Strauss, „Der Rosenkavalier“. Hilde Güden, Ludwig Weber, Sena Jurinac, Maria Reining, Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Erich Kleiber. Naxos 8.111011-13 CD 3, Track 14: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ Langsam unter Text ausblenden ab ca 2.50 Erzählerin Tatsächlich wandelt Carlos Kleiber auch mit seiner Repertoireauswahl konsequent auf den Spuren seines Vaters, den wir hier mit einem Ausschnitt aus seinem „Rosenkavalier“ an der Wiener Staatsoper hörten. Nicht nur mit diesem Herzensstück von Carlos Kleiber, sondern auch mit dessen Lieblingsopern „Wozzeck“, „Fledermaus“, „Tristan“ und „Freischütz“ hatte Erich Kleiber bereits seine gewaltigen Abdrücke in der Interpretationsgeschichte hinterlassen. Vielen jedoch gilt Carlos Kleiber heute als der wesentlich größere Künstler. MUSIK 27 Richard Strauss „Der Rosenkavalier“. Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. CD 3, Track 20: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ Erzählerin Wer wollte Vater und Sohn anhand dieser beiden hinreißenden Aufnahmen gegeneinander ausspielen? Zumal der unmittelbare Vergleich auch durch die technisch unzureichendere Aufnahmequalität von Erich Kleibers „Rosenkavalier“ aus dem Jahr 1954 erschwert wird. Und mit welchem Recht beginnt man überhaupt, in der Psyche eines großen Künstlers nach einem Trauma zu graben? Der Dirigent Yoel Gamzou findet die unentwegte Betonung der Rolle des mächtigen Vaters problematisch. O-TON 55 Yoel Gamzou Man wird nicht Künstler, wenn man nicht auf irgendeine Art ein bisschen kaputt ist. Kein Mensch, der perfekte Eltern hatte oder eine perfekte Kindheit - wenn es das überhaupt gibt – wird dann Dirigent oder Künstler oder wenigstens meistens kein guter. Man findet immer irgendwie eine jüdische Mutter oder einen strengen Vater, irgendein Drama oder ein Trauma, auf jeden Fall bei sehr sensiblen, sehr verletzbaren Menschen, die ihre Sensibilität sublimieren konnten in künstlerisches Schaffen. Warum ist das bei Kleiber dann entscheidender? Weil sein Vater Dirigent war und nicht Tischlermeister? Bestimmt hat das ne Riesenrolle gespielt. Wie genau werden wir nie wissen. Letztendlich ist heute der Sohn Kleiber viel bedeutender, obwohl der Vater ein großer Dirigent war, aber für heute, für viele junge Dirigenten ist der Sohn Kleiber ein viel bedeutenderer Einfluss als der Vater. Erzählerin Rudolf Watzel sieht es ähnlich: O-TON 56 Rudolf Watzel Ich bin ja gegen diese Psycho-Huberei. Man kriegt das eine nicht ohne das andere. Das kann‘s nicht sein, dass einer genialisch ist und eine unglaubliche Sensibilität hat, und auf der anderen Seite ist er ganz normal und alles - das kann‘s einfach nicht sein. Erzählerin Yoel Gamzou erklärt sich Kleibers zunehmenden Rückzug von den Podien mit einer hochgradigen Verletzlichkeit, die er im Metier selber begründet sieht. Denn das Musizieren auf einem solchen Niveau fordere immer auch eine extreme Entblößung. O-TON 57 Yoel Gamzou Wenn man Musik macht auf dieser Ebene, wenn man sich wirklich auf diese Intensität und die Intimität einlässt des Musizierens, dann kann es extrem wehtun, wenn es nicht gelingt, oder wenn man das Gefühl hat, dass jemand nicht mitmacht. Eine Ablehnung kann extrem schmerzvoll und existentiell sein. Und vielleicht reicht es, wenn man zwei, drei solcher Erfahrungen hat, dass man sich zurückzieht und sagt, lieber mache ich keine Musik, bevor ich mich wieder so fühle. Ich glaube es war eine Mischung von einem sehr hohen Anspruch, aber auch einer sehr großen Ängstlichkeit. Dieser ganze Prozess braucht so viel Mut, und es reicht, dass ein Element nicht stimmt, und dann zieht man sich schnell zurück und will dem Schmerz aus dem Weg gehen. Erzählerin Obwohl Kleiber die Öffentlichkeit scheut und sich konsequent Interviews verweigert, kann er nicht verhindern, immer wieder in den Schlagzeilen zu kommen. Je stärker er sich entzieht, desto begehrter wird er und desto wilder werden in Ermangelung seriöser Grundlagen auch die Gerüchte um ihm. Ein Teufelskreis. Da man sich in der Öffentlichkeit ohnehin schon auf die Vaterproblematik eingeschossen hat, erstaunt es kaum, dass irgendwann auch deren Legitimität in Frage gestellt wird. Bis heute taucht immer mal wieder das Gerücht auf, Carlos Kleiber sei in Wahrheit der uneheliche Sohn des Komponisten Alban Berg. So reizvoll der Gedanke, das Genie des Schönberg-Schülers habe sich im genialischen Talent eines leibhaftigen Sohnes fortgesetzt, gerade auch für die Alban Berg-Fans sein mag: Es scheint nichts dran zu sein. Abgesehen davon, dass Carlos Kleibers Schwester Veronika diese Vermutung vom Tisch gewiesen hat, gibt es auch in der Berg-Biografik keinerlei Hinweise für eine Affaire des Komponisten mit Ruth Kleiber. Deshalb stürzt sich die Presse mit Vorliebe auch auf andere Themen wie die immer horrenderen Gagen zum Beispiel, die Carlos Kleiber mit seiner hohen Kunst der Verweigerung einfordert. O-TON 58A Brigitte Fassbaender Er hat natürlich dann auch Riesensummen gefordert, die er dann nur von einigen bekommen hat, besonders von diesem Audiwerk da. MUSIK 28: Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4, op. 98. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Deutsche Grammophon. Track 1: Allegro non troppo. Ab ca 4.41 unter Text ausblenden Erzählerin Brahms 4. Symphonie steht 1996 auf dem Programm eines Gastspiels mit dem Bayerischen Staatsorchester in Ingolstadt, dass ein heftiges Presseecho auslöst. Mehr als acht Jahre hat Kleiber bis dahin nicht mehr am Pult des Münchner Orchesters gestanden. Nun hatte er ein Angebot des Audi-Kulturprogramms angenommen. Unter Lampenfieber leidet er sein Leben lang. In der letzten Viertelstunde vor diesem Auftritt aber, so berichtet es Gerd Uecker, der damalige Operndirektor in München, erwischt es ihn mit solcher Heftigkeit, dass er das ganze Metier in Frage stellt und ernsthaft erwägt, einfach abzuhauen. Mit der Aufführung ist Kleiber hinterher nicht zufrieden. Die Zeitungen interessieren sich allerdings mehr für Kleibers Gage, als für das tatsächliche Konzert. O-TON 58 Klaus König Er hatte ja den neuesten A8 gekriegt mit irrsinnigen Sonderwünschen und eins weiß ich noch: beheiztes Lenkrad. Ich find das so herrlich kindisch, man könnte sich ja einen Handschuh anziehen, wenn man kalte Hände hat, aber nein, er brauchte ein beheiztes Lenkrad. Das haben die dem erfüllt. Erzählerin Kleibers Faible für Autos war bekannt. Tatsächlich hat ihn das Kultursponsoring der Firma Audi mit einer Luxuslimousine geködert, auf die er schon längere Zeit ein Auge geworfen hatte. Seine Liste mit zwanzig Sonderwünschen für die Ausstattung des Wagens wird im „Spiegel“ abgedruckt. Kleiber willigt in den Deal jedoch auch deshalb ein, weil das Konzert im ländlichen Ingolstadt stattfindet und nicht in der Musikmetropole München. Die Vergötterung, die ihm dort seit Jahren entgegenschlägt, stößt Kleiber zunehmend ab. O-TON 59 Klaus König Im Prinzip hat den Geld eigentlich nur interessiert, wenn er‘s ausgibt. Der hat schon warm essen können, so ist es nicht. Aber das war nie ein Grund, da zu bleiben, wenn er sich nicht wohlgefühlt hat. Erzählerin An seinen Philharmoniker-Brieffreund Rudolf Watzel schreibt Kleiber über das Konzert: O-TON 60 Rudolf Watzel „Ich dirigiere hier in Ingolstadt vor ein paar Leutchen krieg eine tolle Gage und ein Riesen-Auto. Bin ich jetzt eine Hure? Nein, ich bin ein Profi.“ MUSIK 29 Georges Bizet: „Carmen“. Elena Obraztsova, Isobel Buchanan, Plácido Domingo, Yuri Mazurok, Chor und Orchester der Wiener Staatsoper. Arthaus Music 109097. Ab Anfang, Beginn Ouvertüre, bis ca 3.20 (= Zäsur, ohne Blende) Erzählerin Nicht nur Kleibers ungewöhnliche Gagenforderung, auch sein Repertoire wird von Skeptikern immer wieder zum Anlass für Diskussionen genommen. Bizets “Carmen”, hier in einer fürs Fernsehen mitgeschnittenen Aufnahme der Wiener Staatsoper aus dem Jahr 1978, zählt zu Kleibers Lieblingswerken. Das Repertoire, auf das er sich kapriziert, wird im Laufe der Jahre immer kleiner: zwei knappe Handvoll Opern, vier Symphonien von Beethoven, zwei von Mozart, zwei von Brahms, ein bisschen Dvorak, ein bisschen Borodin und das Neujahrskonzert-Programm – das ist es beinahe schon, so sehr man es bedauern mag. Brigitte Fassbaender hätte sehr gern einmal einen Bruckner von ihm gehört. Der Mahler-Biograf Jens Malte Fischer wiederum erklärt, warum er glaubt, dass Kleiber ein großer Mahler-Dirigent hätte werden können. O-TON 61 Jens Malte Fischer Ich denke, dass er mit seinem Temperament, mit seiner Intensität, mit der er sich in alles hineingekniet hat, was er gemacht hat, mit seiner Fähigkeit auch zur kontrollierten Exaltation, wie ich das nennen möchte, er wäre ein ganz großer Mahlerdirigent geworden. Es ist mir nicht bekannt, warum er mit Mahler nichts anfangen konnte offensichtlich. Darüber sagt auch die Biografie nichts von Alexander Werner. Ich bedauere das. Erzählerin Ein einziges Mal hat Kleiber sich mit Mahler beschäftigt. 1961 dirigierte er in Wien Mahlers „Lied von der Erde“. Solisten waren die junge Christa Ludwig und Waldemar Kmentt. Die Probenbedingungen waren für den noch jungen, unbekannten Dirigenten nicht ideal und die Orchester waren zu dieser Zeit noch nicht sehr vertraut mit Mahler. MUSIK 30 Gustav Mahler: Das Lied von der Erde. Christa Ludwig, Waldemar Kmentt. Wiener Symphoniker, Carlos Kleiber. WS (Wiener Symphoniker) 007. Track 1: Das Trinklied vom Jammer der Erde. Anfang bis ca 2.27, dann unter Text Erzählerin Soll man einen Dirigenten überhaupt an der Größe seines Repertoires oder der Anzahl seiner Auftritte messen? Es geht in der Kunst ja nicht um einen Sportwettbewerb. Vielleicht bietet der Blick auf Carlos Kleiber auch Anlass, einmal zu fragen, welchen unmöglichen Spagat unser Musikbetrieb den Künstlern eigentlich abfordert. Auf der einen Seite sollen sie sich jeden Abend am Pult das Herz aufreißen, auf der anderen Seite aber Nerven wie Drahtseile besitzen, weil sich nur so der immense Druck des sich immer schneller drehenden internationalen Star-Karussells überhaupt aushalten lässt. Ein so tiefes Durchdringen der Werke, wie es Carlos Kleiber gelingt, fordert nicht nur eine außergewöhnliche Sensibilität, sondern auch ausreichend Zeit für das Partiturstudium, für intensive Proben und, nicht zuletzt, für Inspiration und Muße. Bei einem Künstler, der bereits zu Lebzeiten zum Mythos stilisiert wird, wächst dazu noch der Druck, mit jedem Konzert gleichsam gegen sich selbst antreten zu müssen. Groß und verletzend kann die Häme sein, wenn Publikum und Kritiker sich vom Stardirigenten um eine teuer bezahlte Sternstunde betrogen fühlen. Christian Thielemann kann Kleibers Haltung sehr gut nachvollziehen: O-TON 63 Christian Thielemann Vielleicht hat er das auch nicht gewollt, was ich durchaus verstehen kann, sein Leben nicht im Hotel verbringen, nicht auf Flughäfen, nicht in Wartesälen. Das ist ja eine sehr prosaische Angelegenheit eigentlich. Das ist egal, ob sich das in Gießen oder an der Met abspielt, oder in Bayreuth oder in Novosibirsk. Du musst um 10 Uhr zur Probe, musst studiert sein, musst irgendwie fit sein und dich nochmal hinlegen am Abend und dann Konzert. Ich denk mir sogar, der hat darüber sehr nachgedacht und gesagt, wenn ich das machen würde, dann wäre ich in dieser Irrsinns-Tretmühle mit: ja, jetzt musst Du noch die Tourneekonzerte machen und soundso viele Abokonzerte. So, und dann der Druck, dass man jedes Mal diese enorme Meisterleistung erwartet. Dann wird letzten Endes dieser Segen zum Fluch. Ich glaube, es gibt diesen wahren Satz von Ronald Wilford, er hat über Kleiber gesagt „he doesn’t function“. Das ist wirklich die Überschrift. Übrigens es ist ja auch interessant, dass man von einem Künstler erwartet: He has to function. Ich kann mir vorstellen, dass er gesagt hat, ich hab schlichtweg darauf keine Lust. Und das finde ich als Grundhaltung grundsympathisch. MUSIK 31 Franz Schubert: 3. Symphonie. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. 00289 483 5498. CD 3 Track 4: 4. Satz, Presto. Anfang unter O-TON 63 O-TON 64 Christian Thielemann Ich finde ihn letzten Endes als Beispiel jetzt, lustigerweise weil das gerade jetzt zusammenfällt mit Corona, irgendwie doppelt einen Grund, über die ganze Sache mal so nachzudenken, über den ganzen Betrieb, die ganz Aufgeblähtheit etc. und auch mal Qualitätsmaßstäbe anzulegen. Gerade auch, weil wir über Kleiber reden, eben zu sehen, wie hoch die Qualität war. MUSIK 31 wieder rauskommen, ab ca 1.38 langsam unter Text ausblenden Erzählerin Am 6. Juni 1997 dirigiert Carlos Kleiber in Ljubljana seiner Frau Stanka zuliebe ein Konzert der Slowenischen Philharmonie. Nach seinen Konzerten auf den kanarischen Inseln 1999 kursieren bis ins Jahr 2004 immer wieder Gerüchte über mögliche Auftritte, die sich jedoch als haltlos erweisen. Kleiber lebt so zurückgezogen in seinem Haus in Grünwald, dass 2002 eine Falschmeldung die zynische Nachricht verbreitet, er sei bereits gestorben. Der Tod seiner Frau Stanka im Jahr 2003 trifft ihn schwer. Zu der Zeit ist er selbst bereits ernsthaft erkrankt. - Brigitte Fassbaender erinnert sich an eine letzte Begegnung mit ihm: O-TON 65 Brigitte Fassbaender Ich bin ihm noch mal begegnet, Jahre später, in München auf der Straße, da war er sehr verändert. Da war er dicker geworden und ganz weißhaarig und ganz rot im Gesicht. Da sah er schon sehr mitgenommen aus und man hatte schon das Gefühl, dass er irgendwie mit Cortison oder mit Mitteln vollgepumpt war. Da war er nicht mehr er selber. MUSIK 32 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 4, Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Orfeo C 100 841 B. Track 1: 1. Satz: Adagio. Unter O-Ton Fassbaender/letzter Satz einblenden, ab ca 1.05 unter Text/Autorin legen und ca bei 1.50 langsam ausblenden Erzählerin Am 11. Juli 2004 fährt Carlos Kleiber mit seinem Audi ins slowenische Konjsica, begleitet von den Klängen seiner eigenen Aufnahme der 4. Symphonie von Beethoven mit den Wiener Philharmonikern, die man später im CD-Spieler seines Autos findet. Zwei Tage danach wird er tot in seinem Ferienhaus aufgefunden. Die Nachricht seines Todes dringt erst sechs Tage später an die Öffentlichkeit. 2007 bringt der Schott-Verlag eine aufwendig recherchierte Kleiber-Biografie von Alexander Werner heraus. Werner bringt auch manch einen musikalischen Schatz posthum ans Licht, wie einen Mitschnitt jener drei Offenbach-Einakter, die der junge Carlos Kleiber als erste eigene Musiktheaterpremiere 1962 in Düsseldorf dirigierte. Auch zwei Filmdokumentationen über Carlos Kleiber entstehen und der Schwarzmarkt unautorisierter Mitschnitte beginnt zu florieren. Kleibers Kinder und Familienangehörige aber hüten seine Privatsphäre bis heute. Carlos Kleiber bleibt die Sphinx unter den großen Dirigenten, eine begnadete Jahrhundertbegabung, so rätselhaft, voller Widersprüche, Abgründe und Verheißungen, wie die Musik selbst. Aus seinen Aufnahmen spricht er bis heute zu uns. MUSIK 33 Johann Strauss II: Künstlerleben, op. 316. In: Neujahrskonzert 1989, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 1 Track 6: Anfang unter Text einblenden, ab ca 1.10 unter folgenden O-Tönen O-TON 66 Brigitte Fassbaender Mir fallen immer nicht die richtigen Worte ein, wenn ich an ihn denke, und ich denke furchtbar viel an ihn, das ist ganz merkwürdig. Er hat nicht aufgehört, mich zu prägen. Kleiber ist immer gegenwärtig. MUSIK wieder hochziehen für ca 10 sek O-TON 67 Klaus König Die ganz großen Dirigenten sind irgendwie auch Philosophen. Und das war der Kleiber auch. MUSIK hochziehen für ca 10 sek O-TON 68 Rudolf Watzel Aber ich denke, vieles, was man an ihm erlebt hat, war eigentlich nur eine Maske, um sich zu schützen. Alle Freundlichkeit. Ja, er spielt damit, hab‘ ich immer so empfunden. Das ist die Krux schlechthin. MUSIK hochziehen für ca 10 sek O-TON 69 Brigitte Fassbaender Er war nicht zu ergründen. Man wusste nie genau, woran man ist. Es waren ganz viele Facetten in ihm und man kam ihm nicht auf den Grund. Aber: einen Dirigenten, der ähnlich faszinierend, charismatisch und vom Können her so gewaltig ist wie Kleiber, kann ich jetzt ad hoc nicht nennen. Wenn mir einer einfällt, schreib ich‘ s Ihnen. MUSIK hochziehen für ca 10 Sek. Erzählerin Sie hörten: Das geplagte Genie - Die Lange Nacht über den Dirigenten Carlos Kleiber von Julia Spinola Es sprach: Bettina Kurth Regie: Heike Tauch Ton und Technik: Michael Kube Redaktion: Monika Künzel. MUSIK 33 bis Ende (8.53) MUSIKLISTE 1. Stunde: MUSIK 1 – 4´18 Johann Strauss „Die Fledermaus“ Hermann Prey, Julia Varady, Lucia Popp, Ivan Rebroff, René Kollo, Bernd Weikl, Bayerisches Staatsorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper. In: Carlos Kleiber. Complete Recordings on Deutsche Grammophon. 00289 483 5498. CD 4 Track 1: Ouvertüre. Ca 4.20 MUSIK 2 – 57“ Georg Friedrich Telemann, Suite in B-Dur TWV 55:B1. Hamburger Rundfunkorchester, Carlos Kleiber. Hänssler Profil. PH11031. Track 3: 3. Satz: Allegresse vite. Ca 1.45 MUSIK 3: - 1´49 Georg Friedrich Telemann, Suite in B-Dur TWV 55:B1. Hamburger Rundfunkorchester, Carlos Kleiber. Hänssler Profil. PH11031. Track 6: 6. Satz: Conclusion. Ca 2.00 MUSIK 4: -1´51 Millöcker „Gasparone“, Franz Lehar Orchester, Marius Burkert, Lehar Festival Bad Ischl. Cpo. 777 815-2. Track 1: Einleitung. ca 1.52 MUSIK 5 – 3´23 Richard Strauss: Der Rosenkavalier Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. Track 1, Vorspiel. Ca 3.32 MUSIK 6 – 2´30 Richard Strauss „Der Rosenkavalier“ Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. Track 2: „Wie Du warst“, ca 2.27. MUSIK 7 – 53” „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung«, Joh. Strauß (Sohn): Die Fledermaus (Ouvertüre), Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, DVD 2008, Euroarts 2060868. Ca 1 min MUSIK 8 – 3´30 „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung«, Joh. Strauß (Sohn): Die Fledermaus (Ouvertüre), Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, DVD 2008, Euroarts 2060868. Ca 4 min MUSIK 9: - 2´23 + 52“ + 2´01 Johannes Brahms: Symphonie Nr. 4, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon. 00289 483 5498. CD 2 Track 4. 4. Satz: Allegro energico e passionato – Piu Allegro. ca 5.00 MUSIK 10 – 2´28 Richard Strauss: Der Rosenkavalier Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. CD 1 Track 19: „Die Zeit im Grunde, Quinquin“. ca 1.44 MUSIK 11 – 37“ „Great Conductors in Rehearsal – Probe und Aufführung«, Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, Ouvertüre. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, DVD 2008, Euroarts 2060868. Ca 0.17 MUSIK 12 – 1´44 Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, „Bernd Weikl, Siegfried Vogel, Gundula Janowitz, Edith Mathis, Theo Adam, Peter Schreier, Franz Crass, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 11 Track 1: Ouvertüre. Ca 1.40 MUSIK 13 – 6´37 (Blendmaterial) Carl Maria von Weber „Der Freischütz“, „Bernd Weikl, Siegfried Vogel, Gundula Janowitz, Edith Mathis, Theo Adam, Peter Schreier, Franz Crass, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 11 Track 18: „Wie? Was? Entsetzen!“ – (4.30 – je nach Länge) 2. Stunde: MUSIK 14 – 1´42 Giuseppe Verdi „La traviata“. Ileana Cotrubas, Plácido Domingo, Sherrill Milnes, Stefania Malagú, Helene Jungwirth, Bayerisches Staatsorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498 / CD 6 Track 2: ca 1.20 MUSIK 15 – 3´31 Giuseppe Verdi „La traviata“. Ileana Cotrubas, Plácido Domingo, Sherrill Milnes, Stefania Malagú, Helene Jungwirth, Bayerisches Staatsorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498 / CD 6 Track 9: „Follie…Sempre libera!”. ca 3.20 MUSIK 16 – 5´21 Richard Wagner: „Tristan und Isolde“. René Kollo, Kurt Moll, Werner Götz, Margaret Price, Dietrich Fischer-Dieskau, Brigitte Fassbaender, Wolfgang Hellmich, Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 10 Track 11: „Mild und leise, wie er lächelt“. 7.26 MUSIK 17 – 4´27 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 5, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498. CD 1 Track 1, 1. Satz: Allegro con brio. 7.24 MUSIK 18 – 4´54 Antonin Dvořák: Klavierkonzert g-Moll op. 33, Swjatoslaw Richter, Bayerisches Staatsorchester, EMI 7243 5 66895 2 7 . Track 7. 3. Satz, Allegro con fuoco. ca 5.00 MUSIK 19 – 3´35 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 4, Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Orfeo C 100 841 B. Track 2: 2. Satz: Adagio. ca 3.38 MUSIK 20 – 4´48 Ludwig van Beethoven: Ouvertüre „Coriolan“, op. 62. Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Mitschnitt, DVD. In: Carlos Kleiber The Legend. Decca, Deutsche Grammophon 074 3080 UCH5. Anfang – ca 5.05 MUSIK 21 – 4´41 Alexander Borodin: Symphonie Nr. 2, b-Moll, op.5. NBC Symphony Orchestra, Erich Kleiber. SWRmusic 19406. Track 5, 1. Satz: Anfang - ab ca 1.26 MUSIK 22 – 6´47 (Blendmaterial) Alexander Borodin: Symphonie Nr. 2, b-Moll, op.5. Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Carlos Kleiber. SWRmusic 19406. Track 1, mind. 2.30 - je nach Länge Text 3. Stunde: MUSIK 23 – 1´24 Neujahrskonzert 1989. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 2 Track 7: Josef Strauss, Jockey-Polka, op. 278. 1.25 MUSIK 24 – 2´53 Neujahrskonzert 1989. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 1 Track 1: Johann Strauss II: Accelerationen, op. 234. 2.40 MUSIK 25 – 6´58 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 7, Bayerisches Staatsorchester. Orfeo. C 700 051 B. Track 4: 4. Satz, Allegro con brio. 6.26 MUSIK 26: - 3´00 Richard Strauss, „Der Rosenkavalier“. Hilde Güden, Ludwig Weber, Sena Jurinac, Maria Reining, Chor der Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Erich Kleiber. Naxos 8.111011-13 CD 3, Track 14: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ ca 2.50 MUSIK 27: - 2´12 Richard Strauss „Der Rosenkavalier“. Claire Watson, Karl Ridderbusch, Brigitte Fassbaender, Benno Kusche, Hilda de Groote; Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Live-Aufnahme vom 13. Juli 1973, München, Orfeo. C 581 083 D. CD 3, Track 20: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“ –ca 2.49 MUSIK 28 – 2´30 Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4, op. 98. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon. CD 2, Track 1: Allegro non troppo. ca 4.41 MUSIK 29 – 3´20 Georges Bizet: „Carmen“. Elena Obraztsova, Isobel Buchanan, Plácido Domingo, Yuri Mazurok, Chor und Orchester der Wiener Staatsoper. Arthaus Music 109097. Ouvertüre. ca 3.20 MUSIK 30 – 3´12 Gustav Mahler: Das Lied von der Erde. Christa Ludwig, Waldemar Kmentt. Wiener Symphoniker, Carlos Kleiber. WS (WienerSymphoniker) 007. Track 1: Das Trinklied vom Jammer der Erde. Ca 2.40 MUSIK 31 – 1´47 Franz Schubert: 3. Symphonie. Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. In: Complete Recordings on Deutsche Grammophon. Deutsche Grammophon 00289 483 5498 CD 3 Track 4: 4. Satz, Presto. ca 1.45 MUSIK 32 – 1´39 Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 4, Bayerisches Staatsorchester, Carlos Kleiber. Orfeo C 100 841. Track 1: 1. Satz: Adagio. ca 2.00 MUSIK 33 – 8´50 (Blendmaterial) Johann Strauss II: Künstlerleben, op. 316. In: Neujahrskonzert 1989, Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber. Sony 01 -0455464-10. CD 1 Track 6 (8.53): mind 5.10 Literatur und Quellen Jens Malte Fischer, Carlos Kleiber – der skrupulöse Exzentriker. Götttingen 2007. Michael Gielen, Unbedingt Musik. Frankfurt a.M. 2005. Bruno Monsaingeon, Swjatoslaw Richter - Mein Leben, meine Musik, Düsseldorf 2006 „Traces to Nowhere - Spuren ins Nichts", Film von Eric Schulz. DVD Arthaus 101553 Alexander Werner: Carlos Kleiber - Eine Biografie. Schott, Mainz 2007; 2. bearbeitete Auflage 2009. „Lost to the World - Ich bin der Welt abhanden gekommen“, Film von Georg Wübbolt, ZDF/3SAT2011