Eine Lange Nacht über das Moor Autor: Günter Beyer Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Jan Tengeler Sprecher: Sendetermin: 2019 Deutschlandfunk Kultur 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde MUSIK ZITATOR (DOYLE) „Dieses Moor ist eine wunderbare Gegend“, sagte er; er schaute über die Dünung der Hügel, lange grüne Wogen mit Kämmen von zerklüftetem Granit, die zu fantastischen Brandungen aufschäumten. „Man wird des Moors nie überdrüssig. Sie können sich nicht vorstellen, welche wunderbaren Geheimnisse es birgt. Es ist so weitläufig und so öde und so rätselhaft.“ [DOYLE, 92] TAKE XX (STUDIO: HEULEN DES HUNDES DER BASKERVILLES) SPRECHER Es klingt nach einer freundlichen, recht belanglosen Naturschwärmerei, mit der ein gewisser Mr Stapleton in Arthur Conan Doyles berühmtem Roman „Der Hund der Baskervilles“ über das südenglische Dartmoor redet. Wer allerdings Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichte weiter liest, wird am Ende darauf stoßen, dass ausgerechnet der freundliche Mr Stapleton über ein großes, verbrecherisches Talent verfügt, die Schauerlichkeiten des Moores für seine dunklen Machenschaften zu nutzen! In der ersten Stunde dieser Langen Nacht wollen wir zunächst das Moor als angeblichen Ort der Rückständigkeit und der Ödnis kennenlernen. In der zweiten Stunde geht es um das Moor als Bühne des Schaurigen. Und wir fragen uns: Ist da was dran? Die letzte Stunde schließlich spürt der sonderbaren Liaison zwischen dem Moor und der Kunst nach. MUSIK hoch (IM ZUSPIEL NICHT ENTHALTEN) SPRECHER Ein junger Mann wandert allein durchs nächtliche Moor. Wir schreiben das Jahr 1867, da ist er gerade 16 Jahre alt. August Freudenthal war Lehrer, Journalist, Lyriker und Reiseschriftsteller – ein Heimatschriftsteller Niederdeutschlands. Die folgende Reisebeschreibung beginnt in Tostedt, einem Flecken zwischen Hamburg und Bremen. Dort ist er mit Postkutsche angekommen. Das letzte Stück Wegs nach Hause liegt noch vor ihm. Eine Mitfahrmöglichkeit gibt es nicht. Freudenthal wird von Bekannten in Tostedt bedrängt, auf keinen Fall abends durchs Moor zu wandern. Aber der schlägt alle Warnungen aus. ZITATOR (FREUDENTHAL) „Schon als Kind war ich zu verschiedenen Malen über das Moor gekommen, und ich glaubte mir damals die Merkmale des öden Weges zur Genüge eingeprägt zu haben. (…) Vor mir lag die kahle Fläche, die ich durchwandern musste; der dunkle graue Streif am südlichen Horizonte, der mir vorhin noch das Ziel meiner Wanderung anzeigte, war verschwunden; die untergegangene Sonne hatte ihn meinen Blicken entzogen. Rüstig schritt ich vorwärts. Ob auch der Mond von Wolken verhüllt war, so konnte ich doch, nachdem sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt, recht eine Strecke des vor mir liegenden Weges erkennen. Ringsum herrschte eine Totenstille, die nur durch das Knistern des Heidegestrüpps unter meinen Füßen und dann und wann durch den melancholischen Ruf des Regenpfeifers unterbrochen wurde.“ [FREUDENTHAL,169f] Musik kurzer Trenner? ZITATOR (FREUDENTHAL) „Allmählich beschlich mich ein leises Gefühl der Ängstlichkeit und Besorgnis.Wie leicht konnte ich den wüsten, kaum sichtbaren Weg verfehlen! Ich schaute hinter mich; noch glaubte ich deutlich die Wümme mit ihrer Einfassung und die dahinter liegende Hügelkette zu erkennen; noch konnte ich umkehren. Doch nein! Unmutig über die Schwäche, die mich anwandelte, verfolgte ich den einmal gewählten Weg. Mancherlei selten benutzte und halbvernarbte Moor- und Heidewege kreuzten meine Straße, die sich kaum von ihnen unterschied. Dies beunruhigte mich jedoch kaum, da ich bestimmt wußte, daß ich stets die gerade Richtung innezuhalten und nach etwa halbstündigem Marsche bei einem am Wege stehenden Schafstall mich links zu wenden habe. Auch bekümmerte es mich nicht, daß mein Weg ein immer wüsteres und unwirtlicheres Aussehen annahm, ich wußte, daß er nur sehr selten von den Fuhrleuten benutzt wurde (…). Von ungefähr in die Tasche greifend, fand ich noch einige Hamburger Zigarren vor, die mir umso willkommener waren, als sich bereits eine mißmutige Stimmung meiner bemächtigt hatte, die an Langeweile grenzte. Ich zündete mir eine der wirklich guten Brasilzigarren an, und mein Geist gelangte alsbald in ein lebhaftes Fahrwasser. Ich gedachte der Eltern und des Bruders, die ich nach langer Trennung wiedersehen sollte, auch die ferne Geliebte spielte eine nicht unbedeutende Rolle in meinen wachen Träumen.“ [FREUDENTHAL, 170f] (MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) kurz SPRECHER August Freudenthal kennt sich aus in der Gegend und kommt gut voran. Auch im Moor. Bei anderen dagegen wurde das Moor ein Unort, zu dem nur die mutigsten Reisenden aufbrachen. Diese Männer hatten Vorurteile und eine in den Städten gewachsene Verachtung. Dieser düstere Blick ist zweifellos höchst ungerecht angesichts der Schilderungen von Menschen, die heute im Moor leben. Musik kurz hoch SPRECHER Um 1860 hatte der Bremer Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl Moore im benachbarten Königreich Hannover besucht und seinem Lesepublikum eindringlich beschrieben. Genauer gesagt: er hatte kein gutes Haar an den Feuchtgebieten gelassen. In seiner nüchternen Beurteilung stehen die Moore für nichts anderes als Ödnis und Rückständigkeit. Das Wallhöfer Moor, ein „fast völlig uncultiviertes und wildes Hochmoor“, nur wenige Kilometer von Bremen entfernt, beschreibt Kohl so: ZITATOR (KOHL) „Obgleich wir uns mitten in der schönsten Jahreszeit befanden, in welchem Alles umher, was nicht Moor war, grünte und blühte, und in der alle Gebüsche der Haide vom Gesange der Vögel erklangen, so war doch auf diesem Moor-Plateau Alles todt und öde, wie im tiefsten Winter. Vögel gab es da nicht, weil kein Gebüsch und keine Gelegenheit zum Nesterbau vorhanden ist. Keine Lerche jubelte in den Lüften. Kein Fisch bewegte sich in den im Moraste gebannten Gewässern. Selbst Fuchs und Hase können in diesem Sumpfe nicht wohnen und leben. Obgleich die Sonne lieblich strahlte, wanderten wir auf tiefen glitscherigen Morastwegen wie im trüben November. Die Oberfläche war überall mit verschiedenen Sorten schmieriger und schwammiger Moose bewachsen. Wir konnten uns einbilden, es wäre ein riesiger, verfaulter, auf der Erde hingestreckter Baumstamm, auf dessen abgestorbener Rinde wir wie kleine Käfer kröchen. (…) Solche Oede sah man nur an den Enden und Gipfeln der Erde, auf dem Rücken der Hochgebirge und dicht unter dem Wolkenschleier der Gletscher.“ [KOHL,1] SPRECHER Johann Georg Kohls Wahrnehmung der Moore ist durchaus kein Einzelfall für Reisende im 18. und 19. Jahrhundert. Als einer der frühesten Moor-Verächter gibt sich Johann Gottfried Hoche zu erkennen, ein Doktor der Philosophie und Prediger im ostwestfälischen Rödinghausen. Anno 1800 hatte der Gelehrte eine „Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Groningen“ unternommen. Er schrieb: ZITATOR (HOCHE) „Der ganze Strich Landes von Quackenbrück aus über Vechta, Kloppenburg, Frisoyta bis an die Soeste [spr: Sooste], von da über die Ems und wieder an der Hase hinauf, gehört nicht nur zu den schlechtesten in Westphalen, sondern in ganz Deutschland. Man glaubt in den Steppen von Sibirien zu seyn, wenn man die Haiden durchwatet (…)Alles ist öde und still, nicht ein Vogel singt sein Morgenlied und ergötzt das Ohr des Wanderers. Nicht ein Baum, nicht ein Busch bietet ihm Schatten dar, nicht ein Thal nimmt ihn auf, in welchem er lieblich träumte, was jenseits sey, nicht ein grüner Hügel gewährt ihm einen fröhlichen Ueberblick romantischer Scenen.“ [Berg/Hoffmann in: FANSA, 136A] SPRECHER Ob der Doktor der Philosophie jemals in Sibirien gewesen ist und von dort den Maßstab öder Steppen mitgebracht hat? Einstweilen reicht es Hoche festzustellen: die Moore im westlichen Niedersachsen sind so schlimm wie die Gegend am Ende der Welt! Über die Behausungen der Moorbewohner schreibt er: ZITATOR (HOCHE) „Das Dach ruhet beinahe auf der Haide, woraus es selbst gemacht ist. Tritt man hinein, so findet man eine Hütte, beinahe wie sie Tacitus schildert, die keine Bequemlichkeit nur kärglichen Schutz gegen die Witterung darbietet.“ [Berg/Hoffmann in FANSA, 141B] SPRECHER Da trifft er sich mit Johann Georg Kohl, der ebenfalls die Moorbewohner in schlechten Wohnverhältnisse antrifft: ZITATOR (KOHL) „Wege und Stege, Land und Wasser, die „Huttens“ und ihre torfberußten Bewohner, Alles ist mit der einen dunklen Tintenfarbe des Moores überzogen. Die Leute selbst scheinen für diese Naturfarbe ihres Landes eine patriotische Vorliebe gewonnen zu haben. Wenigstens ist schwarz bei ihnen in so hohem Grade die Feiertagsfarbe, daß ihre Weiber zum Beispiel für den Sonntag, und namentlich wenn sie zum Abendmahle gehen, ihre ganze Kleidung, alle ihre seidenen Bänder, ihre Schürzen, auch ihre Sommerstrohhüte, auch die Blumen auf diesen Hüten kohlrabenschwarz färben.“ [KOHL] SPRECHER Und noch ein dritter Moor-Kenner soll zu Wort kommen. Carl Julius Weber, ein Freimaurer, dem die Nachwelt das Etikett eines „bedeutenden Schriftstellers und Satirikers“ anheftete, war nach einer Deutschland-Reise Anfang des 19. Jahrunderts alles andere als eingenommen für die Moore: ZITATOR (WEBER) „In diesen von Gott verfluchten Moorgefilden zittert stets der Boden unter den Füßen; Erde, Wasser und Menschen sind fast von gleicher Farbe, und ganz rechts steht an einer Dorfkirche die Inschrift: Gloria in desertis Deo! - Ehre sei Gott in den Einöden!“ [SCHLENDER,319] SPRECHER Kein Wunder, dass in diesen Gegenden den Wanderer Schwermut heimsuchte: ZITATOR (WEBER) „Solche stundenlangen Einsamkeiten, nur durch den Trauerlaut des Moorhuhns unterbrochen, nichts als trostloses Heidekraut, bleiche, magere Binsen, ödes Moosgeflecht, weit und breit weder Häuser noch Menschen, ja nicht einmal Wege … können ganz melancholisch stimmen. So wie sich auf der Höhe des Meeres der Horizont zu verengen scheint, statt zu erweitern, so auf diesen unermesslichen Ebenen, wo nichts die Entfernungen bestimmt - alles trägt dazu bei, das Gemüt niederzudrücken.“ [SCHLENDER,321] SPRECHER Als der siegreiche Franzosen-Kaiser Napoléon Bonaparte Anfang des 19. Jahrhunderts Nordwestdeutschland überrannte und dort sein kurzlebiges „Département des Bouches de Weser“ abstecken ließ, prahlten seine Beamten: Mit den Franzosen kommen Fortschritt und Kultur! An Stelle der öden Moore versprachen sie blühende Landschaften dank Einsatz modernster Methoden der Landschaftsgestaltung: Alles Elend in den Moorgegenden des „Arrondissement Oldenbourg“ beispielsweise sollte sich zum Besseren wenden. Tout de suite! In einer Proklamation liess der neue Machthaber 1811 verkünden…: ZITATOR (NAPOLEON) „…daß unter der Aegide der Stärke, der Weisheit und des Genies des Kaisers den Oldenburgern eine neue Quelle von Wohlsein eröffnet werden würde. Jene öden Heiden und scheußlichen Wüsten, die noch die Hälfte ihres Landes bedecken, werden der Kultur anvertraut werden und bald mit Waldungen und zum Theil mit Aehren sich schmücken.“ [Berg/Hoffmann in: FANSA 136B] SPRECHER Aber nichts dergleichen geschah. Das napoleonische Reich war 1814 Makulatur, so dass der Botaniker und Geologe August Grisebach dieselben deprimierenden Verhältnisse vorfand wie der Prediger Hoche fünfzig Jahre vor ihm. Grisebach war 1846 im Bourtanger Moor [spr: Bu:rtange] an der deutsch-niederländischen Grenze unterwegs. Mit einer Ausdehnung von 2300 Quadratkilometern war das Gebiet einst die größte Moorfläche Mitteleuropas überhaupt. ZITATOR (GRISEBACH) „An der hannoverisch-holländischen Grenze habe ich das pfadlose Moor von Bourtange überschreitend einen Punct besucht, wo wie auf hohem Meere der ebene Horizont von einer runden Kreislinie umschlossen ward und kein Baum, kein Strauch, keine Hütte, kein Gegenstand von eines Kindes Höhe auf der scheinbar unendlichen Einöde sich abgrenzte. Auch die entlegenen Ansiedlungen, die in Birkengehölzen lange Zeit noch wie blaue Inseln in weiter Ferne erscheinen, sinken zuletzt unter diesen freien Horizont hinab.“ [FANSA,44b] SPRECHER Noch einen Schritt weiter in Richtung Moor-Verachtung geht 1867 die wöchentlich erscheinende, viel gelesene Zeitschrift „Die Gartenlaube“. Sie findet sogar einen Begriff für das angebliche Hinterwäldlertum und Elend der Moore: Die Moore bilden das Land Muffrika. ZITATOR (GARTENLAUBE) „Alle Leser kennen Afrika, wenn auch die meisten nur durch Lectüre, sehr wenige aber werden Muffrika kennen.“ SPRECHER Die einen, meint die „Gartenlaube“, bezeichnen mit Muffrika… ZITATOR (GARTENLAUBE) „…jeden Landstrich, der mehr oder weniger hinter der Entwicklung der übrigen Welt zurückgeblieben ist.“ SPRECHER Die anderen dagegen wissen: ZITATOR (GARTENLAUBE) „Muffrika … ist das Land, wo der Heerrauch oder Höhenrauch herkommt.“ SPRECHER Und … die Quelle des Rauches liegt … ZITATOR (GARTENLAUBE) „… in den großen Mooren der Westhälfte Hannovers.“ [Berg/Hoffmann bei FANSA, 141A] Musik SPRECHER Der beißende Rauch, der beim Abbrennen der Heiden über den Mooren entstand, um einen primitiven Dünger für die Buchweizen-Kultur zu erzeugen, war ein charakteristisches Merkmal der Moore und allemal wert, in Gedichten festgehalten zu werden. So dichtet zum Beispiel der Maler und Schriftsteller Fritz Stöber in den 1910 erschienenen „Stimmungsbildern aus dem Moor“: ZITATOR (STÖBER) „Der Moorrauch steigt und geistert bleich in qualmenden Wolken durchs Heidereich, und über die Halme und Sträucher schwer schleicht es mit weißer Bürde her. Was eben noch lebte im lichten Schein, erblindend hüllt es der Moorrauch ein: die Heide, wie eine Schale voll Schaum, kocht über in den Weltenraum. Inmitten ein Hügel, noch mondesklar, umflattert von dunkler Rabenschar; da stehen zwei Birken, vom Sturme entlaubt und schütteln ängstlich ihr müdes Haupt. Der Moorrauch steigt, die Insel erlischt, weiß überspült von züngelndem Gischt. Nun klettert der Nebel, und schwingt sich hinan und zieht den Birken Hemdlein an. Die stehen wie Geister, entstiegen dem Grab, und blicken weit übers Land hinab. Dem Wandrer, der zage vorübergeht, graust es, wenn er den Spuk erspäht.“ [WIECHMANN,12] SPRECHER Das also ist Muffrika, das Land, wo die Birken Hemdlein aus Nebel tragen. Johann Georg Kohl, der Reiseschriftsteller aus der Stadt, kann sich an den primitiven Hütten der Moorbewohner zu seiner Zeit gar nicht satt sehen. Er spricht von der kümmerlichen Ernährung der Moorleute mit Buttermilch und Schwarzbrot. Er schildert das enge Zusammenleben der Menschen mit Ziegen, Schafen, Kühen und Schweinen in den elenden, immer verrauchten Hütten. Er habe, schreibt Kohl, bisher nicht gewusst, dass es „in unserem Deutschland noch solche Zustände gäbe“. MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) SPRECHER Doch diese „Zustände“ spiegeln nur eine Momentaufnahme. Der Abbau des Moores, - damals auch oft nach dem oberflächlichen Bewuchs als „Heide“ bezeichnet, sein Verschwinden, - vollzog sich radikal und innerhalb weniger Jahrzehnte. Der Reiseschriftsteller Kohl hat den Wandel noch selbst erlebt: ZITATOR (KOHL) „Eine schönere, erfreulichere und nützlichere Eroberung hat die Zivilisation der Neuzeit wohl nirgend zustande gebracht, als in der Beseitigung der nordwestdeutschen Hochmoore und in ihrer zauberhaften Umwandlung von den unlieblichsten Wüsten zu lachenden Fluren.“ [Berg/Hoffmann in FANSA,136] SPRECHER Chefredakteur Wilhelm von Busch beobachtete im Jahre 1912 in der „Illustrierten Zeitung“: ZITATOR (BUSCH) „Die Heide ist im Aussterben. Nicht freiwillig. Der Mensch und seine Bedürfnisse verdrängen sie. Der Pflug frisst sie, und von der erbarmungslosen Kultur wird sie begraben. (…) Der Oldenburger liebt sein Land und seine schlichte Schönheit, die traulichen Bauernhäuser mit dem uralten Strohdache und dem flackernden Herdfeuer auf der dunklen Diele, vom wehmütigen Hauch des Vergehens umwittert (…) alles dem Vergehen geweiht, Opfer der neuen Zeit.“ MUSIK SPRECHER Doch die „neue Zeit“ braucht im Moor länger als anderswo. Noch nach dem zweiten Weltkrieg bedeutet eine Kindheit im Moor Entbehrungen und Plackerei. Egon Buss, Jahrgang 1947, ist im ostfriesischen Fehngebiet, Kreis Cloppenburg, aufgewachsen. TAKE 01 (O-TON BUSS 16) 1’20 „Ich war 14 Jahre alt, und wollte damals unbedingt ein neues Fahrrad haben, und dadurch, dass im Elternhaus nicht so viel Geld da war, haben meine Eltern gesagt: Wenn du so ein Fahrrad haben möchtest, musst du sehen, dass du Geld verdienst. Wir können dir das nicht geben. Und somit habe ich mich mitm Nachbarn zusammen getan, der im Moor arbeitet, der hat mich dann morgens um vier Uhr mitgenommen, und dann fuhren wir ins Moor, und dann mussten wir „Törv stuken“, das heißt, Torf auf Ringe stellen, der Torf war ja durch die Baggerarbeiten in langen Reihen am Boden gelegen, und dieser Torf musste auf Ringe gesetzt werden. Damit Sonne, Wind und Licht durch den Torf durchziehen konnte. Und das waren Felder von etwa 50 Metern Breite und hundert Metern Länge, und die konnte ich damals gerade in zwei Tagen fertig kriegen. Man fing morgens um vier an im Moor, und kurz nach Mittag war Feierabend, weil, im Sommer war es so eine Hitze im Moor, da konnte man sich fast nicht mehr retten, und es gab keinen Schatten, es gab keinen Baum, und es gab keinen Strauch. Und man saß auf dem heißen Moor, und ringte diesen Torf hoch.“ SPRECHER Kleine Bauern, wie die Eltern und Großeltern von Egon Buss, hatten kleine Felder. Sie stachen Torf nur für den Eigenbedarf. TAKE 02 (O-TON BUSS 18) 0’36 „Jedes Jahr wurde der Garten dadurch vergrößert um das Stück, wo man den Torf abgebaut hatte, und wir waren reine Selbstversorger in Bezug auf Lebensmittel, auf Gemüse, Kartoffeln. Da wurde auch nichts gekauft. Das hatte man selber im Garten. Es war auch so, wir mussten als Kinder da mithelfen. Da gab´s nicht: „Kinderarbeit ist verboten!“ Das war ne Selbstverständlichkeit. Man wurde auch nicht gefragt. Man war einfach mit dabei.“ SPRECHER Kurze Zeit, nachdem Egon Buss sich sein erstes Fahrrad verdient hatte, heuerte bei einem Schiffer an. Bis zur Rente blieb er „mit der Schiffahrt verheiratet“, wie er sagt In dieser Zeit wurden zu Hause die letzten Moore trocken gelegt. TAKE 03 (O-TON BUSS 20) 42“ „Es wurden Straßen gebaut, es wurde mehr abgebaut in den Jahren, und heute sieht man ja fast gar nicht mehr, dass man im Moor lebt. Wenn man da ein Auge für hat, kann man feststellen, wenn man hier übers Dorf fährt, dass irgendwo noch mal Hochmoorstücke sind. Das ist natürlich trockenes Hochmoor, aber man kann es an der Landschaft sehen. Wo auf einmal so ein hoher Hubbel ist, wo noch ein paar Birken drauf stehen, dass da noch Hochmoor sitzt, was nicht abgebaut worden ist. Aber ansonsten sieht man das nicht mehr, dass man im Moor ist.“ SPRECHER Heute sind die Moore in Deutschland zwar nicht komplett verschwunden. Aber sie sind auf 15.000 Quadratkilometer geschrumpft, drei Viertel davon liegen in Niedersachsen. MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Für Schriftsteller hat die Ödnis immerhin einen Vorteil hat, der im Zuge der aufkommenden Industrialisierung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann: Wer ins Moor geht, kann Ruhe und Entspannug finden. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert ist das Moor ein wegloses Terrain. Der Kahn ist das passende Verkehrsmittel – ein flaches Boot, in dessen schwarzes Segel bei günstigem Wetter der Wind hineinfährt. Bei Flaute und in den schmalen Stichgräben, wo ans Segeln nicht zu denken ist, muss es getreidelt bzw. gestakt werden. Solch eine Bootstour durchs Moor beschreibt 1928 der Schriftsteller Manfred Hausmann. Sein Ich-Erzähler stellt sich vor als Landstreicher, als Mordbube gar, der vielleicht auch schon einen Menschen umgebracht hat. Und er lässt offen, ob die frühmorgendliche Fahrt durchs Moor eine Spazierfahrt … oder eher eine Flucht ist. ZITATOR (HAUSMANN) „Hier unten liegt freilich noch allerhand Nacht auf den Wiesen, aber ich kann doch schon erkennen, dass dahinten zwei schwarze Segel langsam durch die Ebene ziehen. Das sind Torfschiffe auf der Hamme, die leer von Bremen zurückkommen und wieder ins Moor hinaufsegeln. Vielleicht nimmt mich eins mit. Dann aber los! Ich laufe und springe. Quatsch … patsch! Da biegt die Hamme schon herum. Das erste Schiff kriege ich nicht mehr, aber das zweite rufe ich an, ob ich nicht ein Stück mitfahren dürfte. Meine Stimme hallt übers Wasser: He! Ho! Jan! Der weißhaarige Bauer, der am Steuer sitzt, antwortet nicht, er drückt nur die Pinne ein bisschen zur Seite, da nähert sich das Schiff dem Ufer, ich laufe einige Schritte nebenher, dann kann ich mich hineinschwingen. Mojen! sage ich und lasse mich unter dem Mast nieder. Schönen Dank auch! Der Bauer tut seinen Mund auf und sagt: Jau! Und dann gleiten wir weiter. Der Wind drängt sich sachte in das geteerte Segel, das schwarze Wasser gluckert am Bug, wir gleiten dahin, wir schweben fast. Über uns dämmert der unendliche Himmel mit den Sternen, die jetzt so winzig wie Stecknadelspitzen aussehen. Unbeschreiblich leicht und silbern hängt die Mondsichel im grauen Dunst des Ostens. Ich sehe nur Wasser und einen schmalen, samtenen Strich Ufer und lauter Himmel.“ [STOCK,113f.] SPRECHER Das Moor gewährt allen Zuflucht, die sich auf seine trägen Wasserzüge und sumpfigen Pfade einlassen. ZITATOR (HAUSMANN) „Ich höre nur die Stille. Das Holz des Schiffes atmet Wärme aus, ich fühle mich so geborgen hier. Und das Wasser, das uns trägt, ist so weich, da unten hängt noch einmal, geschaukelt von den kleinen Wellen, die unser Schiff aussendet, die leichte und silberne Mondsichel. Ich bin unterwegs, ich reise und fliege so gelinge fort. Manchmal erlebe ich im Schlaf so etwas wie dies alles. Der Alte sitzt unbeweglich am Steuer. Das weiße Haar fällt in Fetzen über seine Stirn, über seine Ohren. Und unter den Ohren fängt gleich der Bart an, auch so zerfetzt. Ich möchte wissen, was er wohl bedenkt, wenn er so jahraus, jahrein auf der dunkelbraunen Hamme von seinem Moor her durch die Tage und Nächte segelt. Er macht die Stirn kraus und blickt übers Wasser und schweigt.“ [STOCK,114] MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) SPRECHER Der Schriftsteller Manfred Hausmann, der sich für seine Erzählung als Landstreicher verkleidet hat, ist auf einen nächtlich einsamen, auf der Hamme dahinsegelnden Torfkahn aufgesprungen und schwebt der Morgendämmerung entgegen. Mit Musik unterlegen ZITATOR HAUSMANN (KÜRZEN?) „Was sucht der Alte denn am Himmel in der grauen Nacht? Er späht und horcht. Die Sterne scheinen matt, der Wind zieht langsam darunterhin, es ist nicht mehr dunkel, aber auch noch lange nicht hell, Tiere und Menschen schlafen noch, das Wasser schläft noch, die Büsche am Ufer neigen sich schlaftrunken in den Fluß. Da höre ich es mit einem Male auch, da oben in der Dämmerung über mir. Es kommt schnell näher. Ein Piepen und Pfeifen und nun auch ein Rauschen und Flattern, dazwischen langgezogene Klagerufe. Immer mehr, immer mehr. Zugvögel, die nach Norden unterwegs sind. Ich mache meine Augen scharf, ich halte die Hand über die Augen, nein, man kann nichts unterscheiden. Nur das Schwirren und Klagen ist da, fern und mystisch unter den Sternen hin, vorbei an der blassen Mondscheibe dem nordischen Frühling zu.Was bleibt einem Wanderer da anders übrig, als seinen Hut abzunehmen, wenn er auch verschiedentlich eingebeult ist, und ein bisschen andächtig zu sein. Ich kenne die Vogellaute in allen Jahreszeiten, aber nie klingen sie so sehnsüchtig und ängstlich wie diese da. Sie wollen doch sagen: Weiter, weiter! Ach, wir können schon fast nicht mehr! Und sie schlagen mit den Flügeln und wehen klagend weiter über die ruhenden Länder. Der Bauer blickt noch immer empor. (…) Und dann kneift er das linke Auge zu und murmelt aus tiefstem Herzen: Mol ornlich twischen bollern, rums! Ne, lass man, sage ich. Aber er blickt empor und hört auf mich und denkt sich sein Teil in seinem Torfbauerngehirn. Ein langer, langer Vogelzug. Jetzt scheint er vorüber zu sein, ich vernehme das Flügelrauschen nicht mehr, aber das sehnsüchtige Rufen, das ermattete Piepen tönt noch immer herab, nun wird es leiser, nun lebt es noch einmal auf, und nun verklingt es gänzlich in der Dämmerung. Alles ist wieder wie es vorher war, nur der Himmel, der Raum da oben, ist so weit geworden. Der Bauer achtet wieder auf Segel und Steuer, wir schwimmen weiter. Einmal steht links ein kleines Haus am Ufer mit Pappeln und Birken drum herum, nachher rechts ein anderes. Wer da wohl wohnen mag sommers und winters? Dann tun sich Schilfwälder auf, dann müssen wir unter einer Eisenbahnbrücke durch. Der Alte muss das Segel fallen lassen und den Mast umlegen. Wir gleiten durch die Wölbung hindurch. Er richtet den Mast wieder auf, spannt das Segel wieder hoch, und es geht weiter. Nach einer halben Stunde haben wir uns dem Dorf Worpswede, das rechter Hand in Bäumen versteckt liegt, so weit genähert, dass ich die Windmühle und die Kirche mit dem Helmdach aus den Wipfeln aufragen sehe. Daneben zeichnet sich der Weyerberg ab, der hier weit und breit die Ebene beherrscht. Ich sage dem Alten, dass ich dort hinauf möchte. Er guckt unter dem Segel durch und nickt mit dem Kopf nach vorn. Da steht wieder ein Haus in der Pappelgruppe, und ein Weg führt, soweit ich´s im Zwielicht erkennen kann, an einem kleinen Kanal entlang, der sich dort abzweigt, auf Worpswede zu. Wie wir herangetrieben sind, bedanke ich mich und springe an Land. <> [STOCK,116f] Musik Ende SPRECHER Bei Manfred Hausmann lebt das Moor von seinem eigentümlichen Charme. Es ist eine fragile Schönheit. Ein Stück Natur, vor dem Menschen Angst haben, das sie aber auch missbrauchen. Der schlimmste Missbrauch fand unter der Herrschaft des Nationalsozialismus statt: das Moor im Emsland, im äußersten Nordwesten Deutschlands, wird zum Schauplatz des Programms „Vernichtung durch Arbeit“. Fünfzehn Konzentrations- und Arbeitslager wurden planvoll abgeschieden in kaum besiedeltem Land angelegt. Sie standen für Ödnis und Fluch der Moore. Das war ein tiefgreifender Perspektivwechsel. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hatten die Fremden, die Landvermesser, Reiseschriftsteller das Bild vom Moor bestimmt. Es waren von romantischen Ideen durchdrungene Männer. Im zwanzigsten Jahrhundert sind die Moore im Nordwesten hingegen Teil einer gigantischen Unterdrückungs- und Vernichtungsmaschine. Man nennt sie: „die Hölle im Moor“. TAKE 04 (LIED DER MOORSOLDATEN) „Wohin auch das Auge blicket/ Moor und Heide nur ringsum/ Vogelsang uns nicht erquicket/ Eichen stehen kahl und krumm/ (0:52) Wir sind die Moorsoldaten/ und ziehen mit dem Spaten/ ins Moor“ //REFRAIN 2x SPRECHER Im zwanzigsten Jahrhundert tragen die Schrecknisse des Moores Namen wie Börgermoor und Esterwegen. Zwei von fünfzehn Konzentrations- und Strafgefangenenlagern in den Weiten des Emslandes. Kurt Buck war Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager in der Kreisstadt Papenburg. Wie alles begann? Buck erzählte von einem Schreiben des Preußischen Innenministeriums an den Regierungspräsidenten in Osnabrück vom März 1933. Innenminister Hermann Göring suchte nach geeigneten Standorten für die neu zu errichtenden Konzentrationslager. ZITATOR (GÖRING) „An das Lager sind folgende Anforderungen zu stellen: Es muß sich um einen gut zu überwachenden Platz handeln, der nach Möglichkeit von Industriezentren abgelegen ist und auch eine Gelegenheit für eine Beschäftigung der Häftlinge bei gemeinnützigen Arbeiten bietet. Es ist hier an Arbeiten in Moorgegenden, an Rodungen von Waldgebieten und ähnl[iches] zu denken. Die Unterbringung muss sich unter verhältnismäßig geringen Unkosten bewerkstelligen lassen.“ SPRECHER Das weite, sumpfige und dünn besiedelte Emsland erfüllte diese Bedingungen. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff prophezeit: ZITATOR (LANGHOFF) „Hier kommt keiner lebendig heraus, das sag ich Euch. Hier im Moor können sie dich über den Haufen schießen und kein Hahn kräht nach Dir!“ (LANGHOFF,129) SPRECHER Schon vor 1933 hatte es immer wieder Pläne gegeben, die großen Moore diesseits der Grenze zu den Niederlanden trocken zu legen und Raum für Kolonisten zu schaffen. Aber die Planungen gingen nur halbherzig voran, es mangelte an Geld und geeigneten Arbeitskräften. Der Nationalsozialismus versprach Abhilfe - auf seine Weise. Man kann darüber streiten, wie ernst es den neuen Machthabern mit Torfgewinnung und Urbarmachung der Moore tatsächlich war. Rund 80.000 KZ-Häftlinge und bis zu 180.000 Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit ins Emsland abkommandiert, 30.000 verloren dabei ihr Leben. Zeitungsartikel bezeichneten das Emsland als Deutschlands wichtigsten neuen Siedlungsraum. 50.000 Hektar sollten trocken gelegt und darauf neue Höfe gegründet werden, heißt es in der zeitgenössischen Propaganda. Kurt Buck, der Leiter der Gedenkstätte, sah das anders. Es sei den Nationalsozialisten einzig darum gegangen, Menschen im Moor auszuschalten. An ferne unzugängliche Orte im Moor zu verbannen. Sie fertigzumachen. Die Moorkultivierung sei nur ein vorgeschobenes Motiv gewesen. ZITATOR (LANGHOFF) „Die haben gewußt, warum sie das Lager gerade in der Gegend errichtet haben!“ SPRECHER In wenigen Wochen wurden die Emslandlager aus dem Boden gestampft. Baracken für jeweils tausend oder zweitausend Häftlinge, rund um die Uhr bewacht, mit elektrisch geladenem Stacheldraht umzäunt. Der Schauspieler Wolfgang Langhoff, der selber im Lager Börgermoor einsaß, hat die Verhältnisse in seinem Buch „Die Moorsoldaten“ beschrieben. Es erschien 1935 im Schweizer Exil. ZITATOR (LANGHOFF) „Ich liege am hintersten Ende der Baracke in einem oberen Bett. Neben mir der kaufmännische Angestellte. Wir haben es verstanden, zusammen zu bleiben. Jetzt sitzen wir mit zwölf Mann am Tisch und unterhalten uns nur im Flüsterton. (…) „Hier kommt keiner lebendig heraus, das sag ich Euch.“ (…) „Hier im Moor können sie dich über den Haufen schießen und kein Hahn kräht nach Dir!“ „Ob man von hier aus abhauen kann? Muss doch gar nicht weit zur holländischen Grenze sein. Höchstens zehn Kilometer.“ „Mitten durchs Moor, was? Wenn du da nicht Bescheid weißt, sackst du ab! Unweigerlich. Immer tiefer. Dann lieber schon hier verrecken, und ein paar von denen noch mitnehmen!“ „Ja, die haben gewußt, warum sie das Lager gerade in der Gegend errichtet haben!“ (…) Der Nebel hat sich ein wenig gelichtet. Ich kann jetzt unsere Barackenstadt sehen. Eine breite Straße läuft durch das Lager. Rechts und links davon stehen die Baracken, Giebelfront nach der Straße. Ich zähle fünfzehn Stück. Zehn sind für die Gefangenen, die andern für Küche, Kammer, Lazarett, Baderaum und Arrestbaracke. Um das Ganze ein drei bis vier Meter hoher Stacheldrahtzaun. Vierfach, das heißt vier Stacheldrahwände, in der Mitte ein Patrouillengang für die Wachmannnschaft. (…) Und sonst nichts. - Endlose Heide, soweit das Auge reicht. Keine romantische Heide. Braun und schwarz, aufgerissen, von Gräben durchzogen. Eine Reihe Telegraphenstangen, die sich bis zum Horizont verlieren. Auf einer kleinen Erhöhung dicht vor dem Lager drei oder vier verkrüppelte kahle Eichenbäume. Vor der Kommandanturbaracke ein hoher weißer Mast mit Hakenkreuzfahne.“ [LANGHOFF,129f] SPRECHER In die Emslandlager werden anfangs vor allem politische Gegner der Nationalsozialisten gesperrt: Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter. Aber auch Intellektuelle wie der Journalist Carl von Ossietzky. Werner Finck, Günther Lüders und andere Schauspieler. „Schutzhaft“, hieß das im NS-Jargon. Viele Häftlinge wussten gar nicht, warum sie eingesperrt waren. Arbeitsbeginn war um sieben Uhr. Wolfgang Langhoff: ZITATOR (LANGHOFF) „Im Abstand von ungefähr dreißig bis fünfzig Meter stehen unsere Gruppen und beginnen das Heideland aufzureißen. Zuerst muss ein Graben ausgeworfen werden, 1,10 m breit, 80 cm bis 1,30 Meter tief. Der Vorarbeiter steckt den Graben ab und zeigt, wie „rigolt“ wird. Die Spaten sind neu und noch nicht geschliffen. Mit der stumpfen Schneide versuchen wir, durch das zähe Wurzelwerk des Heidekrauts zu stoßen. Der erste Stich ist der schwerste. Kaum durchzukommen. Mit beiden Händen packe ich den Spatengriff und haue ihn von oben mit voller Wucht ins Kraut. Die Handgelenke werden heiß und schwellen an. Sie sind wie verstaucht. „Verflucht schwer. Zeig mal, wie machst Du denn das?“ Die SS umsteht in langer Kette das ganze Feld. Sie schauen herüber und treiben ständig an. Wenn ein Graben ausgehoben ist, wird ein neuer abgesteckt. (…) Schicht auf Schicht müssen die abgestochenen Stücke aufeinandergelegt werden, die Rasenstücke mit der unteren Seite zuoberst. Wer seine Mauer nicht exakt aufbaut, dem stürzt sie wieder ein und verschüttet den Graben.“ [LANGHOFF,198] SPRECHER Das Lager Esterwegen wurde nicht mitten im Moor, sondern am Rande eines großen, unwegsamen Moorgebietes, der „Esterweger Dose“, auf festerem Grund errichtet. Jenseits des Küstenkanals begann ein unermessliches, trostloses Gelände, das nicht nur wegen der brutalen Aufseher lebensgefährlich war. Erschöpfend war die Zwangsarbeit im Moor zu jeder Jahreszeit. ZITATOR (LANGHOFF) „Wir schuften monatelang bei brennender Hitze, die Haut hängt in Fetzen von unserem verbrannten Oberkörper, im Regen, der bis auf die Haut geht, später bei eisiger Kälte, Hagel und Schnee, wenn der scharfe Wind, der vom Meer her kommt und auf dem flachen Land keinen Widerstand findet, wie mit Messern durch die Kleider schneidet und der Moorboden gefriert und hart wie Stein wird.[201] (…) Monatelang stehen wir im Moor, oft versacken wir bis zu den Knien im Sumpf, oft kommen unsere Spaten kaum durch die riesigen Wurzeln und Baumstümpfe der versunkenen Wälder, die es in diesem Moor gibt, oft treten wir auf Kreuzottern, die im heißen Heidekraut züngeln, oft bricht einer von uns zusammen und wird von zwei Kameraden und einem Posten ins Lazarett gebracht. Und ewig die Antreiberei, die demütigenden Beschimpfungen, das peinigende Gefühl, kein Mensch mehr - irgend ein Tier zu sein, das in Schaaren zusammengetrieben, in zehn langen Ställen untergebracht, mit Nummern versehen, gejagt und geprügelt, je nach Bedarf, den Launen seiner Viehtreiber ausgesetzt ist. Schmutzig und bedreckt, so wie unsere Hände und Kleider vom nassen Moorboden sind - so kommen wir uns innerlich vor.[201] (…) Der Arbeitstag im Moor nimmt kein Ende. Immer die gleichen Fragen, die wir uns im Graben zuflüstern: „Wieviel Uhr ist es?“ „Wann ist Mittag?“ „Wie lange gehts noch bis Feierabend?“[202]“ EINBLENDEN: Musik TAKE 05 instr. 1’53(MOORSOLDATEN „KLASSISCH“ - ERNST BUSCH n.0:23) SPRECHER Wohin auch das Auge heute blickt - Baracken? Stacheldraht? Wachttürme? Feldbahngleise? Nichts von alledem ist heute in Esterwegen und den übrigen Emslandlagern wieder zu finden. Die „Hölle im Moor“ ist wie vom Erdboden verwunden! TAKE 06 (O-TON KALTOFEN SD 003 T 016 S 02+01) „Aus der Lagerzeit war oberirdisch nichts mehr da. Das hohe repräsentative Tor in einer 2,50 Meter hohen weißen Mauer, die seinerzeit das gesamte Lagergelände umgeben hat, war bis sieben Meter hoch, trug über dem Tordurchlass im Giebelfeld erst die SS-Runen, dann später Hakenkreuz.“ SPRECHER Andrea Kaltofen ist Geschäftsführerin der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen. Heute sind Tor und Mauer verschwunden - wie auch sonst fast alle baulichen Spuren, die an das KZ im Moor hätten erinnern können. Die Bundeswehr, die ab 1963 auf dem Lagergelände ein Sanitäts- und Bekleidungsdepot unterbrachte, machte reinen Tisch mit der Nazi-Architektur und errichtete ihre eigenen Hallen und Büros. Nüchtern und praktisch. 2001 wurde der Standort aufgegeben. Nun endlich konnte das Land Niedersachsen hier eine Gedenkstätte planen. Nun endlich war der Weg frei für einen Denkort am authentischen Platz. Dafür machte sich auch der Landkreis Emsland stark. Die Historikerin Andrea Kaltofen hat das Konzept mitentwickelt. TAKE 07 (O-TON KALTOFEN) „Das war eine „Gunst der Stunde“ sozusagen, als die Bundeswehr signalisiert hat, sie zieht sich aus diesem Gelände hier zurück, in Esterwegen einen Gedenkort für alle 15 Emslandlager machen zu können. Und zwar Esterwegen: Es ist ein Lager von den 15, oder das Lager, das in Yad Vashem genannt ist, obwohl es kein Holocaust-Lager war. Es ist ein Lager, wo (…) ab August ´33 sehr viele damals bekannte Politiker inhaftiert waren, Intellektuelle, Künstler. < Ab 1939, also in den Kriegsjahren, dann wieder ne ganz besondere Situation hier insofern, als belgische insbesondere, Nacht- und Nebel-Gefangene hier inhaftiert waren im so genannten „Lager Süd“.> Dann waren hier Wehrmachtsgerichts-Verurteilte inhaftiert, naja, und insofern ist Esterwegen für alle 15 Lager eine Gedenkstätte.“ SPRECHER Wie aber kann die bedrückende Aura spürbar werden, wenn sämtliche Hinterlassenschaften fehlen? Wenn keine Baracken, Wachtürme, Stacheldrahtzäune mehr übrig sind? In Esterwegen kommen vor allem die Einfälle des Büros WES & Partner zum Zuge. Zunächst markierten die Hamburger Landschaftsarchitekten die Ausmaße des Lagers - durch einen Maschendrahtzaun. An markanten Stellen durchstoßen scherenschnittartig wuchtige Scheiben aus rostigen Baustahl das Geflecht. TAKE 08 (O-TON KALTOFEN) „Die Dimensionen des Geländes, die Punkte, die ganz besonders für Unterdrückung, Eingesperrtsein, ständig bewacht sein, nicht weg können, also für diese ganzen furchtbaren Haftbedingungen, die dafür stehen, die Tore, die Außenmauer, die Wachttürme, sind übersetzt worden in Cortenstahl-Zitate. Stahl als ganz hartes, scharfkantiges Material, gibt dann natürlich auch die Härte als solche wieder, nimmt Bezug auf das Material Stahl der früheren Torfspaten, die die Häftlinge hatten, die Moortransportbahnen, die Schienen und Torfloren aus diesem Metall, und dann ist es eben so, dass gestalterisch dieser Rost absichtlich eingesetzt worden ist, so ne dunkel braunrote Rostpatina auf diesen Elementen, die sich jetzt in die Landschaft entsprechend einfügen.“ SPRECHER Den Boden des Lagerareals bedeckt heute kieselgroßer, körniger brauner Lava-Schotter aus der Eifel. Kein ortstypisches Material also. Die braunen Kiesel stehen für das mächtige Moor, das von den Häftlingen trocken gelegt werden sollte. <„Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum...“, sangen einst die „Moorsoldaten“.> Die monotone Schotterfläche will die bedrohliche Vorstellung erschlagender allgegenwärtiger Ödnis sinnlich umsetzen. Eine andere Idee konnten die Gestalter am Ende der Lagerstrasse verwirklichen. Dort versperrt eine Wand aus rostbraunem Stahl den Blick ins Freie. Aber durch eine Art Sehschlitz kann man doch nach draußen gucken. Heute jedenfalls. TAKE 09 (KALTOFEN 03 18) „Die Idee dahinter geht auf Häftlingsbeschreibungen zurück, die gesagt haben: die haben sich in ihrer Haftzeit danach gesehnt, den Sonnenuntergang sehen zu können. Und hinter dieser Stahlwand, die ja für diese zweieinhalb Meter hohe Mauer steht, hinter dieser Wand ist Westen, also da kann man den Sonnenuntergang sehen. Wenn man jetzt an der richtigen Stelle hier steht und so ein bisschen sich reckt oder ein bisschen duckt, kann man durch diesen Sichtschlitz abends eben tatsächlich den Sonnenuntergang sehen. Das nimmt einfach nochmal diese Sehnsucht, einen Blick über den Horizont schweifen lassen zu können, die die Häftlinge immer wieder geäußert haben in ihren eigenen Lebenserinnerungen, auf und bezieht sich natürlich auch darauf, dass die Landschaft dahinter nicht, wie sie jetzt ist, eine sehr schöne Agrarlandschaft mit Bäumen und Häuschen und mit Gärtchen und allem ist, sondern dass es eben diese leere Moorlandschaft war, wo man bis zum Horizont gucken konnte und nichts sah außer dieser Moorlandschaft.“ SPRECHER Dort, wo einst die zehn Häftlingsbaracken standen, wachsen nun auf denselben Grundrissen kubenförmige, scharf abgegrenzte rechteckige Wäldchen. Die Landschaftsarchitekten konnten bei ihren so genannten „Baumpaketen“ auf einen Wald zurückgreifen, der in Bundeswehr-Zeiten als Sichtschutzstreifen gegen angeblich allgegenwärtige Spione angelegt worden war. Wilden, spontanen Bewuchs zwischen den ehemaligen Baracken ließen die Gedenkstätten-Gestalter roden. TAKE 10 (O-TON KALTOFEN) „Wo Baracken-Grundrisse waren, stehen heute die Bäume als „Baumpakete“. Und damit das noch deutlicher wird, haben sie mit neuen Bäumen unterpflanzt, so dass das jetzt in die Zukunft gedacht ein Ablöseprozeß zwischen alten Bäumen und jungen Bäumen sein wird. Am Ende werden pro 40 x 10 Meter langer Häftlingsunterkunft dicht an dicht Buchen stehen und diese Kubatur des Gebäudes augenscheinlich machen - ohne Rekonstruktion, das war uns sehr wichtig.“ SPRECHER Das mag für manche zunächst nach einem müden Designer-Gag für eine Gartenschau klingen. Aber auf dem weiten Lagergelände mit seinem lebensfeindlichen Lava-Schotter, eingefasst von Zäunen und rostigen Stahl-Ungetümen, wirken die Baracken-Körper aus lebendem Wald keineswegs deplaziert. Sie überzeugen als Symbole des Lebendigen. TAKE 11 (O-TON KALTOFEN) „Die ehemaligen Häftlinge, die hier waren, die haben das gesehen und haben das verstanden, : „Hier stand meine Baracke, und zwar genau hier, und davor war ein Platz, und den sieht man jetzt, und der Platz“ - das war jetzt speziell ein belgischer Nacht-und-Nebel-Gefangener - „der Platz hatte sogar einen Namen“, das hat er erzählt, der Platz hier: „Place Rouge“. Wegen des vielen Bluts, das dort geflossen ist.“ MUSIK SPRECHER Haben womöglich doch diejenigen recht, die das Moor für einen unrettbar lebensfeindlichen Unort halten? Wer selber aus dem Moor stammt, wer zwischen Torfmoosen und Biotopen aufgewachsen ist, sieht das anders. Vor allem: Moor und Moor sind nicht dasselbe. Ein artenarmes Hochmoor wie Esterwegen sollte nicht mit einem vielgestaltigen Niedermoor verwechselt werden. Der Biologe Michael Succow ist in einem brandenburgischen Niedermoor aufgewachsen. TAKE 12 (O-TON SUCCOW CD 01) „Ich bin ja auf einem Bauernhof groß geworden und hatte Schafe zu hüten, und wir hatten auch ein kleines Moor, eine Moorwiese, wo ich dann drei Orchideen fand, und das war ein wunderschöner kleiner Biotop, und dann eben Insekten, Vögel, Orchideen, und das alles hat mich so fasziniert, dass ich dann, eigentlich wollte ich Ornithologe werden, zunehmend doch begriff, die Vegetation, die Moore, diese Faszination Moore, die mich packte, und hab dann ein Teil meines Lebens weltweit dem Schutz der Moore, der Erforschung der Moore gewidmet.“ SPRECHER Michael Succow, Jahrgang 1941. Den Artenreichtum der heimatlichen Niedermoore hat er in den fünfziger und sechziger Jahren noch selber erlebt. Denn anders als in den artenarmen Regenmooren Nordwestdeutschlands, den Hochmooren, sorgte in den brandenburgischen Niedermooren das Grundwasser für genügend Nährstoffe. TAKE 13 (O-TON SUCCOW CD 08) „Wenn ich jetzt die Niedermoore sehe, die offen, licht waren, basenreich, durch Grundwasser gespeist, da ist eine ungeheure Lebensfülle, 20, 30 Moosarten, ich habe Vegetationsaufnahmen damals gemacht, auf einer Fläche von vielleicht vier Quadratmetern rund 50, 55 Pflanzenarten festgestellt. Dazu eine große Fülle an Insekten, dazu all die kleinen Wiesenvögel, die Braunkehlchen, die Neuntöter, die alle in diesem Ökosystem verwoben waren. Das war ein Lebensraum höchster Biodiversität und auch seltene Arten, die heute in Teilen schon ausgestorben, gibt es gar nicht mehr, so, das war, was ich damals erlebte.“ SPRECHER Moor ist also nicht gleich Moor - ein Moor im Peenetal in Mecklenburg ist eben nicht das niedersächsische Teufelsmoor. O-TON SUCCOW, CD 7) „Ein wachsendes Regenmoor, wie es in Norddeutschland oder auch im Alpenvorland das dominierende Moorsystem ist, das sind so extreme Lebensräume. Sie werden ja nur aus Regenwasser gespeist, da ist natürlich eine geringe Zahl von Arten adaptiert. Immer kalt, immer feucht, immer nass.“ ZITATOR (RINKE) „Schon wieder nasse, sumpfige Füße. Mein ganzes Leben nasse, sumpfige Füße.“ [RINKE,482] O-TON SUCCOW, CD 7) „Dann so gut wie keine Nährstoffe, und da haben sich dann auch diese so genannten fleischfressenden Pflanzen ausgebildet, die dann Insekten fangen, um ein wenig Sauerstoff und Phosphor zu bekommen. Das gilt aber nur für diese Extremräume der Regenmoore.“ SPRECHER Eigentlich wollte Michael Succow Ornithologe werden. Aber die artenreichen Niedermoore stimmte ihn um. MUSIK TAKE 14 (O-TON SUCCOW, CD2) „Und dann bin ich in Greifswald zum Studium gegangen und über Moore geforscht, und erlebte dann diese brutale Intensivierung der Landnutzung, das gleiche ist ja auch in Westdeutschland passiert, und die Moore wurden eben, diese Niedermoore, diese Blumenwiesen, umgebrochen, tief entwässert, Schöpfwerke, Saatgrasland, man wollte dort industriemäßig produzieren. Und dann wollte das das Schicksal, dass ich dann von dieser Universität, ich hatte eine Dissertation über die Moore angefangen, wegmusste, das war damals im Zusammenhang mit dem Prager Frühling, wo ich dann nicht brav war und nicht folgte, was die Partei wollte, und dann gab es vier Jahre „Bewährung in der Praxis“, und ich musste dann an ein VEB Meliorationskombinat in den Bezirk Frankfurt/Oder und hab dort vier Jahre als Standortkartierer gearbeitet, schwere Arbeit mit Moorbohrer, versucht, Standort zu erfassen, und hab da viel viel Moore natürlich bearbeiten müssen, und da immer die Frage der Entwicklung: Ja, darf man die Moore entwässern?“ SPRECHER Das war die Kernfrage. Der strafversetzte Student musste miterleben, wie die bis dahin intakten Moore im Norden der DDR dem sozialistischen Produktionsfetisch geopfert wurden. TAKE 15 (O-TON SUCCOW CD 06) „Meliorare heißt eigentlich verbessern, es sollte eben mehr produziert werden, und das bedeutete, die Moore mussten, der offizielle Name damals war, „für eine industriemäßige Produktion hergerichtet“ werden, sie mussten „ausbluten“, auch ein Begriff der Meliorationssprache, das Wasser musste raus, um die schwere Technik tragen zu können, zum Mähen, zum Pflügen, zum Beernten, und das alles war eben diese Phase, wo aus den Moorwiesen, aus dieser Landschaft der Schönheit und Vielfalt, eben eine reine Produktionslandschaft, eine Maximierung der Erträge, das Ziel war. Riesige Kombinate wurden aufgebaut mit zehntausend Rindern und Bullenmastanlagen, und das alles eben auf der Basis dieses Moorgrünlandes, und am Beginn, als die Moore noch wassergetränkt waren, hohe Produktivität, also Traumerträge, und das war für die Funktionäre natürlich eine Euphorie: „Jetzt können wir den Kapitalismus einholen und überholen!“, und es wurde ja enormer Fleischexport aus der DDR, auch Milch, insbesondere nach Westdeutschland geliefert, und Basis war diese Intensivierung der Grünlandnutzung auf den Mooren.“ SPRECHER So hatte die erzwungene Tätigkeit als Moor-Kartierer für Michael Succow auch ihr Gutes. TAKE 16 (O-TON SUCCOW) „ das war dann die Phase, wo ich einen recht schönen Überblick bekam über Moorlandschaften, die Verschiedenheit, da reifte dann auch das große Thema einer Typisierung der Moore für zunächst Ostdeutschland, dann Deutschland, und dann nachher eine Typisierung für die Welt.“ SPRECHER Mit der Wende sah Michael Succow eine Überlebens-Chance für „seine“ Moore gekommen. Er engagierte sich politisch und wurde stellvertretender Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit in der kurzlebigen Noch-DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. 1990, noch in den letzten Wochen, gelang ihm ein genialer Coup: Succow stellte große Flächen des untergehenden Landes unter Naturschutz. MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Ob in Ost oder West: die Moore waren lange Zeit immer die Verlierer des so genannten Fortschritts. Sie galten als wertloses Land, das durch Trockenlegung und intensive Bewirtschaftung nur gewinnen konnte. Für den „Moorprofessor“, der 1997 mit dem Right Livelihood Award, dem Alternativen Nobelpreis, ausgezeichnet wurde, war das Gegenteil richtig: Moore brauchen dringend das Wasser zurück, das Generationen von angeblichen Moor-„Verbesserern“ ihnen buchstäblich abgegraben hatten. TAKE 17 (O-TON SUCCOW CD 13f) „Wenn ich ein Moor nutze, war bisher immer die Entwässerung Voraussetzung. Ob ich Torfstich anlegte, um Torf zu gewinnen, ob ich eine Wiese haben wollte, ob ich eben Acker daraus machte, Kartoffeln anbaute, und heute muss einfach als höchste Priorität Wiederherstellen der Funktion des Ökosystems, das ist bei Mooren: Wasser geben, wachsen lassen.“ SPRECHER Gerade in der Klima-Krise kommt den Mooren eine herausragende Rolle zu: Als Kohlendioxid-Speicher können sie mit dazu beitragen, die Erde vor dem Treibhaus-Kollaps zu retten. TAKE 18 (O-TON SUCCOW CD04) „Moore haben die große Aufgabe, im Naturhaushalt Torf zu speichern, Kohlendioxid aus der Luft über die Pflanze aufzunehmen, und dann nicht vollständig zu mineralisieren, sondern einen Teil dann als Torf zu akkumulieren, aus dem Kreislauf zu bringen. Das ist das Herausragende der Moore, und diese Nutzungsformen zu finden, die das Moor weiter wachsen lassen bei Abschöpfung der Biomasse, das ist so ein Schwerpunkt der Forschungen in Greifswald dann geworden.“ SPRECHER Intakte Moore holen schädliches Kohlendioxid aus der Atmosphäre und speichern es im Torf. Umgekehrt wird bei landwirtschaftlicher Nutzung auf ehemaligen Moorflächen das in den Torfschichten gebundene Kohlendioxid in die Luft freigesetzt. Es gelangt als zusätzliches Klimagas in die Umwelt. Man schätzt, dass jeder Hektar Ackerland auf ehemaligem Moorboden pro Jahr 45 Tonnen Treibhausgase in die Luft ablässt. Müsste man also zwecks Klimaschutz den Anbau von Mais und Kartoffeln auf ehemaligem Moorboden eigentlich verbieten? Michael Succow ist durchaus für die wirtschaftliche Nutzung von Moorböden. Auf den wieder vernässten Flächen könnten Schilfröhricht und Erlen als Bio-Rohstoffe gedeihen. Im Winter könnte man sie mähen, beziehungsweise einschlagen, während die Torfmoose für Moorwachstum sorgen. In Mecklenburg wird damit schon experimentiert. Succow ist als Berater auch in Weißrusslands riesigen Mooren unterwegs. Mit der Fähigkeit, CO2 zu speichern, könnten moorreiche Länder - so die Überlegung - beim internationalen Emissionshandel punkten. TAKE 19 (O-TON SUCCOW CD12) „... und wenn nun in Weißrussland dort einige hunderttausend Hektar wieder wachsend sind, dann kriegt dieses Land mit diesem gewaltigen Senken-Potenzial, Carbon-senkend, natürlich entsprechende Einnahmen von den Verursachern. Und Deutschland wäre gut beraten, eben hier auch in diese Moorschutzprogramme, in diese alternativen Nutzungsprogramme, verstärkt einzusteigen, aber das ist ein schwieriger Weg hier.“ SPRECHER Können Moore die Erde retten? Oder wenigstens einen Beitrag dazu leisten? Michael Succow ist da vorsichtig optimistisch. TAKE 20 O-TON SUCCOW CD 13 22:50) „Also für mich höchste Priorität: Wenn ich ein Moor nutze, muss es ein System sein, was wächst, was akkumuliert. Unterirdisch Torf, oberirdisch kann ich es jährlich abschöpfen, , das geht alles, aber es muss wachsen. Das ist die Aufgabe der Moore. Und deshalb, mein Grundsatz: Von der Natur lernen, wie sie es macht. Dann werden wir vielleicht doch Teil dieser Welt noch ein Weilchen bleiben.“ WE: 51 MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) Sprecher: Das Moor ist ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere und ein Hoffnungsträger angesichts der Klimaerwährung. In der Literatur aber ist das Moor immer wieder Vorlage für Gruselgeschichten, um die es nach den Nachrichten in dieser Langen Nacht gehen wird. 2. Stunde Musik ZITATORIN: „Was? Sie sind im Moor gewesen? Tun Sie das ja nicht! Hier muß man sich auskennen. Hier muss man geboren sein. Das Moor ist tückisch. Ein falscher Schritt, und Sie sind weg.“ Karen Duve. SPRECHER: Karen Duve. Musik hoch ZITATOR: „Hier kommt keiner lebendig heraus, das sage ich euch!“ Wolfgang Langhoff: Musik hoch ZITATOR (DOYLE) „Je länger man hier ist, desto tiefer sinken der Geist des Moors, seine Weite, aber auch sein grimmer Zauber einem in die Seele.“ Arthur Conan DOYLE Musik hoch SPRECHER Um das Moor als Ort des Schaurigen und des Gefährlichen, als Todeszone und als Reich des Übersinnlichen: darum geht es in dieser zweiten Stunde der Langen Nacht. Annette von Droste-Hülshoff traf mit ihrem Gedicht „Knaben im Moor“ 1842 genau die Erwartungen an die Moor-Literatur ihrer Zeit. Musik ZITATORIN (DROSTE) „O schaurig ist´s, übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Haiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt - O, schaurig ist´s, übers Moor zu gehn, Wenn der Röhricht knistert im Hauche! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob man es jage; Hohl über die Fläche sauset der Wind - Was raschelt drüben am Hage? Das ist der gespenstige Gräberknecht, dem der Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind Hinducket das Knäblein zage. Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinnenlenor´, Die den Haspel dreht im Geröhre!“ Voran, voran, nur immer im Lauf, Voran, als woll´es ihn holen; Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespensige Melodei, Das ist der Geigenmann ungetreu, Das ist der diebische Fiedler Knauf, Der den Hochzeitsheller gestohlen! „Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimathlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief athmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre war´s fürchterlich, O schaurig war´s in der Haide!“? MUSIK hoch SPRECHER Wo es Moore gibt, gibt es eine Moor-Literatur. In ihr dienen die Eigenschaften des Moores zur Herbeizauberung stets ähnlicher Erwartungen. Meisterhaft gelingt das Spiel mit dem Gruseligen 1902 dem britischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle mit der viktorianischen Kriminalgeschichte „Der Hund der Baskervilles“. ZITATOR (DOYLE) „Das ist der große Grimpen-Sumpf“, sagte er. „Dort bedeutet ein falscher Tritt den Tod für Mensch und Tier. Erst gestern habe ich eines der Moorponys hineingeraten sehen. Es kam nicht mehr heraus. Ich sah seinen Kopf noch eine ganze Weile aus dem Sumpfloch ragen, aber dann ist es doch hinabgesogen worden. Sogar in den trockenen Jahreszeiten ist er gefährlich zu überqueren, aber nach diesen Herbstregen ist er ein schrecklicher Ort. (…) Herrgott, da ist wieder eines dieser unglücklichen Ponys!“ TAKE: XX UMHEIMLICHER SCHREI ZITATOR (DOYLE) „Etwas Braunes wälzte und warf sich im grünen Schilf hin und her. Dann reckte sich ein langer, verdrehter Hals in Todesqualen empor, und ein grauenhafter Schrei gellte.“ [DOYLE,XX] TAKE: XX UMHEIMLICHER SCHREI (WDH) SPRECHER Das abgelegene Dartmoor, wo Doyles Geschichte spielt, ist die irrationale Gegenwelt zum modernen rationalistischen London, in dem der Detektiv Sherlock Holmes und sein Adjutant Dr. Watson zu Hause sind. Der Fluch, der auf der Familie Baskerville lastet, führt zurück in ferne unbewältigte Vergangenheiten. Ein schrecklicher Bluthund, wohl ein Fossil aus dem Moor, spielt dabei eine Rolle. Wer sich aus der sicheren Gegenwart ins abgründige Moor hineinbegibt, landet zwangläufig in einer Welt, in der nichts mit rechten Dingen zugeht. In der ein längst überwunden geglaubter Aberglaube herrscht, über den sich der überhebliche Sherlock Holmes nur abfällig äußern kann: ZITATOR (DOYLE) „Ein Ermittler braucht Tatsachen, nicht Legenden oder Gerüchte.“[DOYLE,183] SPRECHER Sein Assistent Dr. Watson, der die Ermittlungen vor Ort betreibt, ist da schon leichter aus der Fassung zu bringen. Er berichtet aus seinem Basislager Baskerville Hall an Sherlock Holmes in London: ZITATOR (DOYLE) „Je länger man hier ist, desto tiefer sinken der Geist des Moors, seine Weite, aber auch sein grimmer Zauber einem in die Seele. Hat man sich einmal hinaus in den Schoß des Moors begeben, so hat man alle Spuren des modernen England hinter sich gelassen …“ (DOYLE,104] SPRECHER Was geschieht da im Moor? Der alte Besitzer von Baskerville Hall , Sir Charles Baskerville, ist eines ebenso schrecklichen wie plötzlichen Todes gestorben. ZITATOR (DOYLE) „Als der alte Mann dort stand, sah er etwas über das Moor kommen, etwas, das ihm ein solches Grausen einflößte, dass er die Fassung verlor und lief und lief, bis er vor lauter Entsetzen und Erschöpfung starb. Das war der lange, finstere Tunnel, durch den er floh. Und wovor? Vor einem Schäferhund auf dem Moor? Oder vor einem gespenstischen Bluthund, schwarz, stumm und ungeheuerlich? War Menschenhand dabei ihm Spiel?“ [DOYLE,109] SPRECHER Anders als die meisten Moore auf dem Kontinent ist das englische Dartmoor hügelig. Überall ragen Granitsteine empor. Dartmoor war seit prähistorischer Zeit immer wieder besiedelt, die Spuren der ehemaligen Bewohner finden sich überall. Mr Stapleton, der Schuft aus dem Roman von Doyle, ist ein furchtbares Ende beschieden: Er versinkt ausgerechnet an der unheimlichsten Stelle im Moor. Unrettbar und unauffindbar. Mit dem Motiv des „Versinkens im Moor“ ist ein Topos gesetzt, auf den auch jüngere Autoren zurückgreifen. Eine Variante des Verirrens und spurlosen Verschwindens, die bei keiner Geschichte im Moor fehlen darf. MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Bis heute werden Romane verfasst, die die bizarre Schönheit der Moore eher ausblenden und das Schaurige suchen. Zu ihnen gehört die 1961 in Hamburg geborene Karen Duve. In ihrem düsteren „Regenroman“ aus dem Jahre 1999 stimmt sie ihr Publikum mit drastischen Naturschilderungen Kommendes ein: ZITATORIN (DUVE) „Da war das Moor. Leon (...) ging am Zaun entlang um das Haus herum. Gleich dahinter begann ein verfilzter Teppich aus hellgrünen Pflanzenpolstern mit kreisrunden, dunkelbraunen Wasserlöchern. Eine Wiese aus hohem Sumpfgras schloss sich an. Weit, weit erstreckte sie sich bis zu einer Reihe Moorkiefern. Der verhangene Himmel hatte eine blaue Pastellfarbe angenommen. (...) Violetter Dunst lag über dem Moor und ließ die meisten Konturen in psychedelischen Lichteffekten verschwimmen. (...) [DUVE,36f] SPRECHER Eigentlich hatten Leon und seine Frau Martina, Duves Protagonisten, nur ein abgelegenes Haus gesucht, um darin ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben fern der Großstadt zu führen. Aber daraus wird nichts! Wochenlang gießt es wie aus Kübeln, und die Autorin zieht alle Register des Schauerlichen. ZITATORIN (DUVE) „Leon versank mit dem linken Bein bis zum Knie im Schlamm. Er lächelte erstaunt. Es gelang ihm nicht sofort, das Bein wieder herauszuziehen, und er versuchte nun, mit dem rechten näher an das Moorloch heranzukommen, wobei er so unvorsichtig war, das linke erneut zu belasten. Diesmal versank er bis zum Hüfte. Er begriff jetzt, dass es ernst war, und ließ sich auf den Bauch fallen, um sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen. Zitternd lag er mit Gesicht und Händen im Schlamm und flehte stumm, daß er nicht tiefer einsinken möge, daß er noch nicht sterben mußte, nicht jetzt und nicht aus einem so lächerlichen Grund.“ (ZITATORIN (DROSTE) „O schaurig ist´s, übers Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Haiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche…“) ZITATORIN (DUVE) „Wenn Leon sein Bein zu bewegen versuchte, spürte er, wie das kalte Gesumpf sich an ihn schmiegte und ihn nicht freigeben wollte. Er glaubte sogar zu spüren, daß es an ihm saugte. Leon tastete den Boden ab. Rund um seinen Kopf füllten sich die Abdrücke, die seine Hände im Morast hinterließen, sogleich mit dunklem Wasser, aber je weiter seine Hände sich seinen Hüften näherten, desto unnachgiebiger wurde die Unterlage. Und hinter der Stelle, in der sein linkes Bein steckte, schien der Boden überraschend sicher. Langsam wälzte Leon seinen Körper um die Achse seines versunkenen Beines und drehte sich dabei gleichzeitig auf den Rücken (…). Mit einem unterirdischen Schmatzen entließ das Moor Leons Bein und zog ihm dabei den Turnschuh vom Fuß.“ [DUVE,87f] SPRECHER Diesmal kommt Leon noch davon. Aber er entgeht dem schauerlichen Tod durch Versinken im Moor nicht. Versinken ist sein Verhängnis. Das Moor ist eine Landschaft mit eigenen Gesetzen und Geboten, in denen Fremde nur scheitern können. In Karen Duves „Regenroman“ wissen es die Einheimischen wie der sonderbare Krämer Kerbel besser als die Zuzügler aus der Stadt: Mit dem Moor ist nicht zu spaßen. ZITATORIN (DUVE) „Was?“ Kerbel legte seine Stirn in besorgte Doggenfalten. „Sie sind im Moor gewesen? Tun Sie das ja nicht! Hier muß man sich auskennen. Hier muß man geboren sein. Das Moor ist tückisch. Ein falscher Schritt, und Sie sind weg.“ (…) „Da ich hier wohne, werde ich auch hier spazieren gehen. Oder wollen Sie mir erzählen, daß ich praktisch auf einer Insel lebe und mein Grundstück nicht verlassen kann, ohne zu ertrinken.“ / „Ersticken“, sagte Kerbel. „In einem Moor erstickt man. Und das ist hundertmal grausamer, als zu ertrinken. (…)Im Moment ist das Moor noch unberechenbarer als sonst. Und nehmen Sie eine lange Stange mit, mit der Sie den Weg prüfen können. Soll ich Ihnen zwei Bambusstangen (…) mitbringen?“ [DUVE, 92f] SPRECHER Wenn kein Regen fällt, wabert Nebel. Wenn der Nebel nicht wabert, fällt Regen, nehmen eklige Armeen hungriger Schneckenhorden Haus und Garten in Besitz. Wochenlang. Schließlich singt das Haus, in seinen Grundfesten zerstört, in den nachgiebigen Untergrund. Und Leon, der Hausbesitzer? ZITATORIN (DUVE) „Noch einen Schritt tat er und noch einen. Er verlor den Grund unter den Füßen. Seine Hände griffen in feuchtwarmen Morast, glucksend schloß sich das Moor über seinem Schädel. Leon versank in eine Welt voller Dunkelheit und schwellender Weichheit. Er schmiegte sein Gesicht in die verrottenden Pflanzenfasern. Sie kamen ihm warm vor. Er wühlte sich mit Kopf und Händen hinein. Schlamm drang in seinen Mund und seine Nase, Schlamm füllte seine Gehörgänge und jede Falte seines Körpers. Leon schmatzte und schluckte, füllte seinen Magen mit Schlamm und Dunkelheit. Wie gut es war, Moder unter Moder zu sein.“ (ZITATOR (DOYLE) „Je länger man hier ist, desto tiefer sinken der Geist des Moors, seine Weite, aber auch sein grimmer Zauber einem in die Seele.“ (DOYLE)) ZITATORIN (DUVE) „Leon sank zurück in den Schoß seiner wahren Mutter. Irgendwann war er geboren worden, und jetzt starb er, und was sich dazwischen ereignet hatte, machte, wenn man es streng betrachtete, nicht viel Sinn. Seufzend ergab er sich in die feuchte Umarmung. Sofort brach der Morast mit grellem Schmerz in seine Lungen ein. Leon rang nach Luft und fraß bloß Sumpf. Nun war das Moor nicht mehr warm und sanft; es eroberte brutal seinen Brustraum, durchsickerte seine Bronchien (…) und füllte ihn wie ein verschlickendes Schiffswrack. Er krümmte sich im Todeskampf. Endlich schwand sein Bewusstsein, und Leon verließ diesen Körper, in dem er sich achtunddreißig Jahre lang nie richtig wohl gewühlt hatte.“ [Duve,297f] MUSIKMOTIV?? SPRECHER Kommen wir noch einmal zu August Freudenthal, dem Heimatdichter aus der Lüneburger Heide. Der unternahm als junger Mann zur Mitte des 19. Jh eine nächtliche Wanderung durch ein Moor zwischen Hamburg und Bremen. Er paffte eine gute Brasilzigarre, die ihn geistig „in ein lebhaftes Fahrwasser“ manövrieren sollte. Doch die Moorlandschaft wird ihm mehr und mehr unvertraut. Sie wird ihm unheimlich. ZITATOR (FREUDENTHAL) „Endlich wurde ich jedoch unruhig, da sich nirgends ein Gebäude zeigen wollte, nach welchem ich Richtung hätte nehmen können, und der Weg vor mir kaum noch diesen Namen verdiente. Ich führte die glimmende Cigarre an das Zifferblatt meiner Uhr und erschrak- ich mußte bereits über eine Stunde Weges von der Wümme entfernt sein. Es war zweifellos - ich hatte mich verirrt. Aber nein! Neue Hoffnung erfüllte mich; vor mir tauchte eine unförmige Masse aus dem Dunkel auf. Es war ein Schafstall, eines jener einfachen Behältnisse, denen man in der Heide häufig begegnet (…). Mit erleichtertem Herzen nahte ich mich, doch leider nur, um mich abermals zu täuschen. Vergebens spähte, ja, tastete ich mit den Füßen nach einem links abschwenkendem Pfade. Es war überhaupt kein anderer Weg vorhanden, als derjenige, welcher mich hierhergeführt hatte; ich hatte mich doch verirrt. Heftig pochte ich nun an die Thür des Gebäudes; vielleicht waren Schafe darinnen, und dann konnte möglicherweise der Hirt bei den Tieren übernachten - kein Laut antwortete mir, als das dumpfe Echo von den Schlägen meiner Hand. Ich versuchte hineinzudringen, um drinnen auf der Streu den Morgen zu erwarten, allein die Thür war mit einem Vorhängeschloß von überraschendem Umfange wohl verwahrt. An jedem Auswege verzweifelnd, lehnte ich mich an die Lehmwand des Gebäudes und versank in dumpfes Brüten.“ [FREUDENTHAL,171] Musik hoch ? SPRECHER Anheimelnd ist das Moor auch nicht bei Moritz Rinke. Der Schriftsteller und Dramatiker, 1967 geboren, kennt sich aus mit dem Moor. Er ist in Worpswede geboren. In seinem grotesken Roman „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ erscheint das Moor als ein unheimlicher, unberechenbarer, eigenen Gesetzen gehorchender Organismus. Es umschließt eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Paul Wendland, der Protagonist des Romans, ist ein Looser, der im Nachwende-Berlin erfolglos eine Galerie betreibt, die ausschließlich die Werke blinder Maler ausstellt. Im heimatlichen Worpswede versucht er das elterliche Haus vergeblich zu sanieren. ZITATOR (RINKE) „Der Westflügel, in dem er mit seiner Mutter und ihrer übermächtigen Liebe groß geworden war, mit seinem Großvater, dem Bildhauer, den man den Rodin des Nordens nannte, sowie seiner Großmutter, die jeden Tag norddeutschen Butterkuchen backte - dieser Westflügel des Hauses würde zuerst absacken und im Teufelsmoor untergehen. Dabei würde sich der Ostflügel, in dem der Rest der Familie gelebt hatte, gleichzeitig in die Höhe heben, bis das ganze Haus in der Mitte in zwei Stücke breche. Und dann würde der Ostflügel zurück in den Schlamm fallen … „Grundbruch“, flüsterte Paul vor sich hin.“ [RINKE,9] SPRECHER Eigentlich soll Pauls Großvater, ein Künstler, der als „Rodin des Nordens“ gilt, posthum als „Künstler des Jahrhunderts“ geehrt werden. Gleichauf mit Rainer Maria Rilke und Paula Modersohn-Becker. Aber aus der Feier wird nichts, denn während der Sanierung des Haues stößt man im moorigen Garten auf eine überlebensgroße Skulptur des NS-Bauernführers Darré. Der berühmte Großvater hat sie offensichtlich angefertigt - war er ein Nazi? ZITATOR (RINKE) „Na ja, Nazis gab es viele“, sagte Paul, „aber man denkt immer, nicht in der eigenen Familie.“ [RINKE,234] SPRECHER Als eine weitere Skulptur eines NS-Bauernführers aus der Tiefe im Garten auftaucht, überkommt Paul tiefe Resignation: ZITATOR (RINKE) „Träumte er wieder? Was stand da mitten im Garten? Wie lange lebten die Gespenster? Wie tief saß die Vergangenheit in diesem Land, dass die Gegenwart nicht beginnen konnte?“ [RINKE, 363] SPRECHER Das Moor ist beim Schriftsteller Moritz Rinke eine die Wechselfälle der Zeiten überdauernde Macht. Es hat ein gutes Gedächtnis und verfügt über einen unbestechlichen Naturverstand, es konserviert, es zerstört, es treibt in seinen Tiefen Verstecktes nach Jahrzehnten wieder an die Oberfläche. Niemand ist vor dem bösen Spiel des Moores gefeit. ZITATOR (RINKE) „Er zog mit einem Ruck seine Schuhe aus dem Moor, das gluckste und zischte, als würde man einem seltsamen gierigen Tier die Beute wegnehmen. Er notierte (…): Schon wieder nasse, sumpfige Füße. Mein ganzes Leben nasse, sumpfige Füße.“ [RINKE,482] MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) SPRECHER: Der Journalist und Schriftsteller August Freudenthal hat im späten 19. Jh nicht nur Reisebeschreibungen aus dem Moor verfasst, sondern auch Gedichte. Irrlicht heißt das folgende: Auf musik ZITATOR (FREUDENTHAL) „Irrlicht Es schreitet der Wandrer zur Nacht übers Moor, Da hört er es rauschen und rascheln im Rohr, Und leise verhallender Geistergesang Erfüllt ihm die Seele mit wonnigem Drang. Da taucht aus dem Röhricht ein Wesen so schön, So licht wie ein Traumbild aus himmlischen Höh´n, Ein goldener Gürtel umschließt das Gewand, Ein Goldreif blitzt an der schneeigen Hand. Nie schaute sein Auge so hehre Gestalt; Die Sehnsucht ergreift ihn mit wilder Gewalt, Er hascht nach der Holden, doch kaum erreich, Sie lächelnd dem Arm des Verfolgers entweicht. So geht es rastlos wohl über das Moor; Rings kichert und flüstert und höhnt es im Rohr, Ihm wallen die Pulse, ihm glüht das Gesicht, Und dennoch erreicht er die Fliehende nicht. Da, endlich, hat sie sich umgewandt, Sie lächelt und winkt ihm mit schneeiger Hand, Und höher schwillt in des Wanderers Brust Der glühenden Sehnsucht verzehrende Lust. Da strauchelt sein Fuß, er wankt - er fällt - Ein schauriges Lachen ins Ohr ihm gellt; Es schwindet das Trugbild, dem er vertraut, - Ohnmächtig sinkt er ins Heidekraut. - Die Sonne verscheuchte die Schatten der Nacht, Mit fieberndem Hirn ist der Wandrer erwacht: Er schaut die Gefahr, in der er geschwebt, Und dankbar den Blick er zum Himmel erhebt. Denn vor ihm auf schwellendem Rasengrün In üppiger Fülle die Blumen blühn, Doch unter der gleißenden Decke droht Dem arglosen Fremdling Verderben und Tod! Ein Schritt noch weiter, so wär´es geschehn, Er hätte die Heimat nicht wieder gesehn; Und strauchelte nicht sein Fuß in der Nacht; Ihm hätte wohl nimmer die Sonne gelacht.“ [SCHLENDER, 222f] MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) und Schluss SPRECHER Daniela Platz ist Gästeführerin. Sie führt Besucherinnen und Besucher durch das Teufelsmoor bei Bremen. Das Teufelsmoor ist berühmt - am Rande liegt Worpswede. Dort hatten Fritz Mackensen, Hans am Ende und Otto Modersohn 1889 eine Künstlerkolonie gegründet. Viele Besucher wollen die Landschaft sehen, die die Gründer sowie Paula Modersohn-Becker oder Heinrich Vogeler malten. Doch wer die angeblich „unberührte“ Landschaft der Jahrhundertwende sucht, wird zwangsläufig enttäuscht. So viel hat sich geändert! Dass ein Moor schädliche Kohlendioxidgase bindet, die ansonsten entweichen und unserem Klima schaden, finden manche Besucher längst nicht so spannend wie die Bilder von Fritz Mackensen, Otto Modersohn oder Paula Modersohn-Becker. Die Besucher sind auch mehr an den Geistergeschichten interessiert, als an naturwissenschaftlichen Fakten. Im Teufelsmoor muss man sich doch gruseln können! Das gehört einfach zu einem Moor. Zumindest nachts und auf schwankenden Pfaden. TAKE 21 (O-TON DANIELA PLATZ 37 74 43:00) „ Menschen haben unbedingt vor dem Moor Angst, und ich mache ihnen auch ordentlich Angst. Denn man soll ja tatsächlich auch nicht vom Wege abkommen. Und gerade diese überwachsenen alten Torfstiche sind tückisch! Darauf bilden sich Schwingrasen, die am Anfang vielleicht ein bisschen wackelig sind. Je mehr man in die Mitte dieses alten Torfstichs kommt, desto dünner dieser Schwingrasen, und dann kann man da auch wirklich einsinken. Und ich hab meistens irgendwo ´ne Stelle, wo ich das Gefühl ihnen mal vermitteln kann, wie das so ist.“ MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) ERZÄHLER Jeder, der mit dem Moor zu tun hat, kennt einschlägige Schauergeschichten. Dramen vom Verirren und „Einsinken“. Nachrichten von Lebensmüden, die sich ihren Abschieds-Platz im Moor gesucht haben. Erzählungen, in denen jemand im Moor einfach verschwindet. TAKE 22 (O-TON DANIELA PLATZ 37 74 44:00) „ wir haben einen Künstlerfreund hier mal zu Gast gehabt, dem wollten wir natürlich auch das Moor zeigen mit seiner Freundin. Und der hat aber nach kurzer Zeit beschlossen: Ach, so ne richtige Moorführung will er nicht. Er will lieber Abenteuer und er will alleine durchs Moor laufen!“ (ZITATORIN [DUVE] „„Was? Sie sind im Moor gewesen? Tun Sie das ja nicht! Hier muß man sich auskennen. Hier muß man geboren sein. Das Moor ist tückisch. Ein falscher Schritt, und Sie sind weg.“) TAKE 23 (O-TON DANIELA PLATZ 37 74 44:00) „Und tatsächlich hab ich dann gedacht: Gut, richtig einsinken kann er ja nicht, dass er irgendwie wirklich umkommt. Lass ihn man laufen! Und wir waren nach zwei Stunden wieder zurück an unserem Ausgangspunkt. Und wir warteten auf diese beiden, die nicht eintrafen. Und noch ne halbe Stunde, und dann haben wir gesagt: Gut, die haben ja ein eigenes Auto, lass die man … wahrscheinlich liegen die irgendwo, ist ein sonniger Tag, in irgend ner trockenen Ecke und schlummern! Also gut, wir lassen die jetzt mal und fahren wieder nach Hause. Auf dem Weg nach fünf Minuten trafen wir die beiden dann. Wir hatten die Fenster runtergekurbelt, und man hörte sie von weitem schon: Quietsch, quietsch, quietsch! Das waren die Gummistiefel. Die waren bis obenhin voll Wasser. Und er hatte genau das gemacht, was ich gehofft hatte: Er hat versucht, über so einen Schwingrasen zu gehen. War sofort beim ersten Schritt eingesunken. Und dadurch, dass seine Freundin aber dabei war, hat die ihn wieder rausgezogen. und das Teufelsmoor hat wirklich das gemacht, was es soll. Ordentlich gruselig sein.)“ MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) SPRECHER Auch zeitgenössische Autoren dramatisieren immer wieder die Vorstellung vom Versinken im Moor. Zum Beispiel Annelie Schlobohm. Mutter Stine muß nach dem Tod ihres Mannes die Kötner-Hütte beim Bauern verlassen. Sie ist obdachlos und hofft, bei ihren Eltern unterzukommen und etwas zu essen zu ergattern. Mit Sack und Pack ziehen Stine und ihre beiden kleinen Kinder durchs unwirtliche Moor. ZITATORIN (SCHLOBOHM) „Die Frau hob die Stimme. „Wenn man der Nebel nicht dichter wird und wenn wir man noch im Hellen ankommen bei Großvadder und Großmudder.“ Wieder seufzte sie. „Da können wir erstmal bleiben, sie haben ja selbst nicht viel, aber wir können im Heu schlafen, und ein Buchweizenpfannkuchen wird für uns wohl übrig sein. Was sind die Moorbauern bloß arm dran, immer so hart arbeiten, und dann können sie froh sein, wenn sie von dem kargen Moorboden so viel Buchweizen ernten können, dass sie über den Winter kommen.“ Der Nebel wurde ein wenig dichter. „Man gut, dass wir auf dem Moordamm sicher sind. Manch einer hat sich schon bei Nebel im Moor verirrt und ist in ein Sumpfloch gefallen. Da kommt keiner wieder raus, das Moor zieht einen langsam immer weiter nach unten, bis man schließlich erstickt.“ Sie setzte ihr schweres Bündel am Fuß einer Birke ab. „Mudder, ich bin bange“, jammerte Marga. „Erzähl nicht so was. Womöglich dass der Teufel noch kommt, heißt ja Teufelsmoor.“ „Nee, das nicht“, meinte Johann. „Entweder die Engel sind da oder die Teufel, ist doch so, Mudder?“ „Ja, ist wohl so. Sagt der Pastor jedenfalls.“ Dichter weißer Nebel lag nun über dem Wollgras und den Sumpflöchern. Die Birkenkronen ragten aus ihnen empor, ihre Blätter zitterten in dem leichten Wind, der aufgekommen war. „Der Wind vertreibt den Nebel wieder“, sagte die Mutter leise. „Denn sehen wir alles.“ Sie legte ihre Hände an den Birkenstamm und fühlte die Rinde, die viel glatter war als die anderer Bäume. Dann nahm sie ihr Bündel wieder auf, und sie zogen weiter, von Birke zu Birke. „Ich kann nicht mehr laufen“, sagte Marga nach einer Weile erschöpft. „Wenn du nicht mehr kannst, machst du trotzdem einfach weiter, das ist so“, meinte die Mutter. „Wie soll ich dich denn tragen?“ Plötzlich stockte ihr der Atem. Direkt vor ihnen war ein großes, mit dunkelbraunem Wasser gefülltes Sumpfloch. Sie wußte, das das bedeutete: Sie waren vom Moordamm abgekommen und irrten nun im Moor umher. Wahrscheinlich hatten einige Birken, an denen sie sich ausgerichtet hatte, nicht auf dem Moordamm gestanden, sondern im Moor. Sie schaute sich um. Doch der Nebel war inzwischen so dicht, dass sie den Baum, von dem sie gekommen waren, nicht mehr sah. Es gab kein Zurück.“ STOCK,242] SPRECHER Moore werden von alters her mit Unglück, mit Vom-Wege-Abkommen, mit Todesgefahr und Stillstand verbunden. Moore sind „schlechte Orte“, Distopien. Orte, wo niemand sich gern aufhält. (ZITATORIN (DUVE) „Was? Sie sind im Moor gewesen? Tun Sie das ja nicht! Hier muß man sich auskennen. Hier muß man geboren sein. Das Moor ist tückisch. Ein falscher Schritt, und Sie sind weg.“) SPRECHER Entsprechend sind Moore in der Literatur konnotiert, Moorleichen inklusive. Im Internet ist eine umfängliche „Liste von Moorleichen“ einzusehen. Sie heißen „Roter Franz“, „Himbeermädchen“ oder schlicht „Moora“, das Mädchen aus dem Moor. Im „Großen Moor“ bei Uchte im niedersächsischen Landkreis Nienburg regiert der industrielle Torfabbau! Lange Kanäle furchen das platte Land, dazwischen sind maschinell gestochene Torfsoden, die in schier endlosen Reihen in Sonne und Wind trocknen. Es ist ungewöhnlich hier eine von Hand gestochene Kuhle zu finden. Aber hier gibt es sie: groß wie ein Swimmingpool, ihre braunen, saftig-nass glänzenden Wände fallen senkrecht ab. Genau hier haben Moorarbeiter einen sensationellen Fund gemacht. Einer von ihnen, August Reckweg, erzählte später einer Zeitung: ZITATOR (RECKEWEG) „Es war an einem Mittwoch gegen 10.30 Uhr im Feld 22 des Abbaugebietes. Ich ging, wie ich es meistens machte, hinter meiner Torfstichmaschine her, als ich plötzlich auf dem Ablegetisch Knochenteile ausmachte“. Daraufhin habe er die Maschine, langsamer gestellt und „Stich für Stich“ weitergearbeitet. Immer mehr Knochen seien zu Tage gekommen. Und wenig später habe er „unten neben der Maschine“ auch den Kopf gefunden. „Als ich den Kopf umdrehte, konnte ich sehen, dass das Gehirn noch komplett im Schädel saß.“ SPRECHER Kann das stimmen? Grabungsleiter Andreas Bauerochse von der Niedersächsischen Bodendenkmalpflege machte dort weiter, wo Torfarbeiter Reckweg aufgehört hatte. TAKE 24 (O-TON BAUEROCHSE) „Polizei und Staatsanwaltschaft haben dann zunächst einmal in Richtung eines aktuellen Todesfalles, also eines modernen Falles, ermittelt. Es gab auch zwei ungeklärte Fälle, die eigentlich gut ins Bild passten. Das eine war ein abgeschossenes amerikanisches Kriegsflugzeugs zum Ende des zweiten Weltkriegs, wo noch nicht alle Besatzungsmitglieder wieder geborgen werden konnten. Das andere ein in den 1960er Jahren verschwundenes junges Mädchen, von dem man annimmt, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist, und deswegen konzentrierten sich die Ermittlungen auch zunächst mal in diese Richtung. Zunächst stellte man zwar fest seitens der Rechtsmediziner, dass es sich in der Tat um ein junges Mädchen handelte, das auch altersmäßig im Grunde genommen eine gute Übereinstimmung zeigte mit der Vermissten aus den 1960er Jahren. Eine DNA-Analyse, die dann allerdings durchgeführt werden konnte, erbrachte, dass es sich nicht um dieses Mädchen handelt.“ SPRECHER Wer ist die Tote aus dem Uchter Moor dann? Gerichtsmediziner wissen: Bei Moorleichen verfärbt sich die Haut schon nach wenigen Jahren braun oder schwarz. Die Haare bekommen einen Rotton. Weil das bei allen Moorleichen der Fall ist, weiß man noch nichts über das Alter des Fundes. (Die Torfstichmaschine des August Reckweg hatte ganze Arbeit geleistet: Sie zermetzelte das menschliche Skelett, zu einem hundertteiligen Puzzle aus Knochen, Wirbeln und Zähnen.) Aber wer war die Tote, wenn nicht die Ende 60er Jahren vermisste junge Frau? Das war ein tragischer Fall, der nie aufgeklärt wurde: Die 16-jährige war nach einem Disco-Besuch spurlos verschwunden. Der Torfabbau im Feld 22 geht weiter. Nun tritt Kommissar Zufall auf: fünf Jahre später wird an derselben Stelle eine mumifizierte komplette Hand gefunden. Diesmal schaltet man gleich die Denkmalpflege ein. Schnell stellt sich heraus, dass Hand und portioniertes Skelett zu einer weiblichen Moorleiche aus der vorrömischen Eisenzeit gehören. Sie muss etwa 2660 Jahre alt sein. Hatte sich also die Polizei beim ersten Fund buchstäblich bis auf die Knochen blamiert, als sie nach abgeschossenen Weltkriegspiloten und Gewaltopfern der Nachkriegszeit forschte? Macht es keinen Unterschied, ob eine Leiche 50 oder über zweieinhalbtausend Jahre im Moor liegt? Grabungsleiter Andreas Bauerochse. TAKE 25 (O-TON BAUEROCHSE) „Nein, es ist offenbar kein Unterschied. Man muss dazu sagen, dass die ermittelnden Beamten hier bereits vor einigen Jahren einen vergleichbaren Fall hier im Moor hatten. Dabei handelte es sich eben um eines der Besatzungsmitglieder dieses abgeschossenen amerikanischen Flugzeuges, das heißt also, die Kollegen, die hier gearbeitet haben, hatten durchaus Erfahrungen auf dem Gebiet, und die sagten, dass auch der Zustand der Leiche derselbe war, was also heißt, dass eine Leiche aus dem Moor nach 50, 60 Jahren in etwa so aussieht wie nach zwei- oder auch dreitausend Jahren. Das heißt also, die Abbau- und Umwandlungsprozesse, die an dem Körper im Moor stattfinden, müssen relativ schnell vonstatten gehen, und dann hat diese Konservierung im Moor im Grunde genommen die Funktion übernommen, das Ganze über lange Zeiträume zu erhalten.“ SPRECHER Das Skelett wurde zur weiteren Begutachtung in verschiedene Forschungseinrichtungen gebracht. Sorgfältig wurde der Fundort untersucht, wurden mit Hilfe von Bohrprofilen Pollen und Sporen examiniert. Danach war das Uchter Moor damals kleiner als heute. Es war besiedelt, und die Bauern betrieben Weidewirtschaft und Getreideanbau. Nach den Skelettfunden wurden ebenfalls Gesichtsrekonstruktionen angestellt. Danach sieht das Mädchen aus dem Moor fast aus wie eine junge Frau unserer Tage. Über die Todesursache kann einstweilen nur spekuliert werden. Für einen gewaltsamen Tod im Moor gibt es bislang keine Hinweise. Das dramatischste Ereignis fand womöglich erst nach ihrem Tode statt: die fatale Attacke der Torfstichmaschine. Der Norddeutsche Rundfunk berichtete über den Fund im Uchter Moor und forderte seine Hörer auf, der ältesten Moorleiche Niedersachsens aus der Anonymität zu verhelfen und ihr einen Namen zu geben. So, wie man es bei neu geborenen Eisbär-Babies macht. Die Hörer entschieden sich für Moora - das Mädchen aus dem Moor. Musik? SPRECHER In der Erzählung „Das Moorweib“ von Annelie Schlobohm hat sich eine Mutter mit ihren beiden Kindern im nebligen Moor verirrt. ZITATORIN (SCHLOBOHM) „Immer wieder schaute sie sich um. Plötzlich meinte sie, in der Ferne ein Licht zu sehen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, um besser zu erkennen, ob es eines der schwere Moorirrlichter war oder das beleuchtete Fenster eines Hauses. Vorsichtig stand sie auf. Sie konnte undeutlich einen hellen Baumstamm erkennen, der nicht weit von ihr entfernt war, und zu ihren Füßen schien der Moorboden fest. Mit winzigen Schritten näherte sie sich der Birke. Es war wohl tatsächlich ein Nebenweg des Moordamms, der zu einem Haus führte. Sie konnte sogar Abdrücke im Boden erkennen, die ein Pferdegespann hinterlassen hatte. „Kinder!“ rief sie. „Wir sind gerettet“ Rasch lief sie zurück zu ihrem Lagerplatz, weckte die Kinder, schnürte das Bündel, so schnell sie konnte, und zog mit den schlaftrunkenen Kleinen auf das Haus zu. Als auf ihr Klopfen niemand an die Seitentür kam, öffnete sie diese und rief ins Haus hinein: „Wir haben uns im Moor verirrt und bitten um Obdach für eine Nacht, bis der Nebel vorbei ist und wir den Weg wieder sehen können. Helft einer armen Mutter und ihren Kindern“. Von der Tür aus sahen sie ein Torffeuer in der Kochstelle brennen, darüber hing ein Topf, aus dem ein wunderbarer Duft nach Erbsensuppe kam. Sie gingen einen Schritt darauf zu. Plötzlich erschien ein Mann mit einer Mistforke vor ihnen, die er drohend durch die Luft wirbelte. „Pack! Gesindel!“, schrie er. „Wollt unser Essen klauen, wie die anderen, die neulich hier waren! Die haben wir im Heu schlafen lassen, und morgens, als die Magd die Kuh melken wollte, hat sie gesehen, dass die weg sind und mit ihnen alles, was sie tragen konnten an Würsten, Speck und Brot. Den ganzen Tag habe ich das Moor nach ihnen abgesucht, aber sie waren verschwunden. Haben die euch geschickt, damit ihr uns auch ncoh den Rest wegnehmt?!“ „Da haben wir nichts mit zu tun …“ Die Stimme der Mutter war leise. „Wir bitten doch nur …“ „Raus!“ „Ihr könnte uns doch nicht …“ „Hinaus, oder ich spieße euch mit der Mistforke auf!“ [STOCK, 244f.¨ SPRECHER Schauerliche Geschichten aus dem Moor enden zumeist ohne Happy-End. Eine freundliche Geschichte, die eigentlich jeder aus dem Märchenbuch kennt, erzählt Wilhelm Busch neu, der geistige Vater der bösen Buben Max und Moritz - und verlegt sie, warum auch immer, ins Moor. ZITATOR (WILHELM BUSCH) „Erlebnis im Moor Einst war dem Käthchen anbefohlen, im Walde dürres Holz zu holen. Da saß an einem Wasser, ein Frosch, ein grüner nasser; der quakte ganz unsäglich, gottsjämmerlich und kläglich: „Erbarme dich, erbarme dich, ach, küsse und umarme mich!“ Das Käthchen denkt: „Ich will´s nur tun, sonst kann der arme Frosch nicht ruhn!“ Der erste Kuß schmeckt recht abscheulich. Der grasiggrüne Frosch wird bläulich. Der zweite schmeckt schon etwas besser; der Frosch wird bunt und immer größer. Beim dritten gibt es ein Getöse, als ob man die Kanonen löse. Ein hohes Schloß steigt aus dem Moor, ein schöner Prinz steht vor dem Tor. „Lieb Käthchen, du allein sollst meine Herzprinzessin sein!“ Nun ist das Käthchen hochbeglückt, kriegt Kleider schön mit Gold gestickt und trinkt mit ihrem Prinzgemahl aus einem goldenen Pokal.“ [SCHLENDER,30f] Musik ? SPRECHER Kommen wir noch einmal zu August Freudenthal und seinem Reisebericht aus dem Moor. Der junge Mann ist eigentlich nicht schreckhaft oder abergläubisch. Im ersten Teil seiner Erzählung hatte er die verschiedenen Moore - Hochmoor, Unterwasser-, Grün- , Sumpfmoor und Niedermoor ebenso gelehrt wie pedantisch vor uns ausgebreitet. Er weiß, dass ein Moor aus Algen, Torfmoosen, Myriophillen, Schilfrohren und Sumpfgräsern besteht und kennt die norddeutschen Heidearten, die oft auf Moorgrund gedeihen, sogar mit ihren lateinischen Namen! Aber jetzt, mitten in der Nacht, ist ihm doch unheimlich zu Mute. Er steht vor einem verschlossenen Schafstall… (TAKE XX (STUDIO) HEULEN DES HUNDES DER BASKERVILLES) oder Musik ZITATOR (FREUDENTHAL) „Lange mochte ich so dort gestanden haben, als ein lauter Schrei mich aus meinen Träumereien aufschreckte. War es der Schrei eines Tieres oder eine Einbildung meiner erhitzten Phantasie - ich vermag es nicht zu sagen. (…) Eine unter einer abergläubischen Landbevölkerung verlebte Kindheit hat leider allzuoft eine große Empfänglichkeit des Geistes für Geister- und Schauergeschichten zur Folge, die selbst im reiferen Jünglingsalter noch nicht ganz verschwindet. Auch mich hatte die Furcht vor dem Übersinnlichen ergriffen. Die Angst (…) ergriff mich dermaßen, daß ich wie toll davonrannte, ohne mich umzusehen, ohne weiter auf Weg und Steg zu achten. Als ich einigermaßen wieder zu Besinnung gekommen war, hatte ich jeden Anhaltspunkt in der Wildnis verloren. Ein Stoicismus der Verzweiflung überkam mich; ohne noch irgendwie um Moor und Sumpf, um Weg und Richtung mich zu kümmern, schritt ich in die Nacht hinein. Kaum spürte ich, dass ich stellenweise bis über die Knie in den Morast einsank. Oft musste ich mit aller Anstrengung von einem Riedbüschel zum anderen springen, um nicht rettungslos in einer halbüberwachsenen Torfgrube zu verschwinden. Rasch und rascher schritt ich vorwärts, so dass mir der Schweiß von der Stirn tropfte. Unmöglich war es mir, den Weg aufzufinden, den ich seit dem Verlassen des unheimlichen Stalles genommen. Mein Geist war in der seltsamsten Verfassung; die barocksten und wunderlichsten Einfälle jagten sich in meinem Hirne. [FREUDENTHAL,172f.] MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) Sprecher: Ob August Freudenthal doch noch lebend aus dem Moor herausfindet, darüber informieren wir sie in der dritten Stunde dieser Lange Nacht. Nach den Nachrichten geht es dann auch um die Faszination, die das Moor auf bildende Künstler und Fotografen ausübt. WE: 53 3. Stunde MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL ENTHALTEN) SPRECHER In dieser dritten Stunde suchen wir das Moor auf der Leinwand, auf dem Fotopapier und auf digitalen Speicherkarten. Das Moor hat Landschaftsbummler und Schriftstellerinnen, Fotografen und Journalisten sowie andere Neugierige oft abgestoßen, weil es öde, rau und unheimlich war. Und es hat sie zugleich angezogen, weil man sich an ihm reiben konnte. Weil es das „Andere“ war. Das Wilde. Das Uneindeutige. Das Unvorhersehbare. Denn das Moor ist ein Zwitter zwischen Erde und Wasser, zwischen fest und flüssig, geschlagen mit rauer Schönheit für den, der sie zu erkennen vermag. Überhaupt: das Moor lebt. Es lässt sich nicht mehr alles gefallen, was die Menschen mit ihm anstellen, und begräbt die Erzeugnisse zeitgenössischer Ingenieurkunst, wie eine fast neue Autobahn, unter sich. ZITATOR (RILKE) „Woran unsere Väter in geschlossenem Reisewagen, ungeduldig und von Langeweile geprägt, vorüberfuhren, das brauchen wir. Wo sie den Mund auftaten, um zu gähnen, da tun wir die Augen auf, um zu schauen, denn wir leben im Zeichen der Ebene und des Himmels. Das sind zwei Worte, aber sie umfassen eigentlich ein einzige Erlebnis: die Ebene. Die Ebene ist das Gefühl, in dem wir wachsen.“ Rainer Maria Rilke [WORPSWEDE,28) SPRECHER Im Jahre 1903 hebt der Dichter Rainer Maria Rilke, der nach 1898 mehrfach das Künstlerdorf Worpswede besucht hat, die Moore in das Bewusstsein der Zeitgenossen. Der hohe, „festlich“ gestimmte Ton der Rilkeschen Darlegungen verkündet einen Padigmenwechsel: Schaut her, das Moor ist für uns Heutige nicht mehr farblos und öde. Es ist nicht mehr schauerlich, sondern großartig. Und es ist der ideale Gegenstand für die Malerei. Rilke „entdeckt“ und erobert für seine Leser das platte Land. Er feiert die „Ebene“ als das jüngste Motiv der Landschaftsmalerei. Realistische Maler des neunzehnten Jahrhunderts hatten dramatische Landschaften, sprudelnde Quellen, schroffe Felsschluchten, tödliche Seestücke gemalt. Die impressionistische Malerei stößt geradezu zwingend auf die Moore. Sagt Rilke. Und wieso schauen wir ausgerechnet auf ihn? Der Bremer Kunsthistoriker und Kurator Andreas Kreul erklärt. TAKE 26 (O-TON KREUL 37 111 11:00+13:00+20) „Er hat dazu beigetragen, dass es einen gewissen Mythos um Worpswede gibt. Er hat zu einer gewissen Verklärung beigetragen. Er hat sicherlich dazu beigetragen, dass man ernsthaft sich ernsthaft mit diesen Worpsweder Malern auseinandersetzt. Auf Haaresbreite ist mal etwas gesetzt worden, da er ein großartiger Dichter war, auch sprachlich so ansprechend, dass sich ein intellektuelles Publikum, breites Publikum dafür interessieren konnte, aber ich wage zu bezweifeln, dass dies von inhaltlichen Sachen kommt. Aber Rilke hat das so griffig formuliert, dass wir das alles heute noch benutzen. Und dafür ihm Dank!“ SPRECHER Auch anderswo gab es Künstlerkolonien, die die Zwänge des akademischen Malbetriebes hinter sich ließen. Dutzende von Künstlerkolonien hatten sich allein in Deutschland gebildet, etwa in Ahrenshoop an der Ostsee oder später in Murnau im Voralpenland. Warum aber ausgerechnet das neue Faible für die Moore? ZITATOR (RILKE) „In einer solchen Ebene leben jene Maler, von denen zu reden sein wird. Ihr danken sie, was sie geworden sind und noch viel mehr: Ihrer Unerschöpflichkeit und Größe danken sie, dass sie immer noch werden.“ [RILKE,29] SPRECHER Rainer Maria Rilke - der wahre Entdecker der Worpsweder Landschaftsmalerei? Zweifellos übte Rilke mit seiner Worpsweder Monografie, 1903 im populären Verlag Velhagen & Klasing als Auftragsarbeit erschienen, Einfluss aus. Aber aus der Nähe besehen saß Rilke, ein klassisch gebildeter junger Mann, einem Irrtum auf, stellt der Kunsthistoriker Andreas Kreul klar: TAKE 27 (O-TON KREUL 37 111 1:00) „Das, was dort als Landschaftsmalerei gemacht worden ist, hatte mit dem nichts zu tun, was er gesehen hatte. Und das muss man auch auf dem Hintergrund sehen, dass er einfach ein klassisches gebildetes Landschaftsbild hatte, wie wir das seit Goethes Zeiten haben und auch noch die Zeit vorher. Und diese Maler haben natürlich keine Naturlandschaft gemalt. Sondern sie haben eine Kulturlandschaft gemalt. Also niemand, der ne Birkenreihe sieht mit nem Kanal, kann davon ausgehen, dass es ein Naturerlebnis ist. Und er ist immer davon ausgegangen, dass die Maler ein Naturerlebnis ihrer „Seele“, die sie dort empfinden, zum Ausdruck bringen. Und genau das ist natürlich nicht passiert, weil die Maler, die er dort vorfand, die haben eine Kulturlandschaft gemalt, die eben nichts mit dem zu tun hatte, was man klassischerweise in der europäischen Malereigeschichte zu sehen bekam. Es war was Neues (2:00), aber es war nicht das, was ihm gefiel.“ SPRECHER Zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens von Rilkes Worpswede-Buch hatte Andreas Kreul eine große Ausstellung in der Bremer Kunsthalle kuratiert. Worpswede, so Kreul, sei für Rilke ein regelrechter Schock gewesen. TAKE 28 (OTON KREUL 37 111 23:00+24:00) „Mit der industriellen Revolution gibt es eigentlich kaum noch etwas, wo ich das als „unverdorbene Landschaft“ wahrnehmen kann. Diese Form von neuer Landschaftsmalerei hat eigentlich mit der klassischen Vorstellung von Landschaftsmalerei nichts zu tun und genau daran, denke ich, ist Rilke gescheitert. Denn er hatte als klassisches Erbe diese ganzen alten Vorstellungen von Landschaftsmalerei mit aufgenommen und dachte da jetzt eine neue Erfahrung zu machen. Und was er eigentlich gemacht hat, ist die Desillusionierung, dass es eine solche Landschaftsmalerei nicht mehr gibt. Aber er hat sie versucht zu retten. Er hat versucht zu retten, was gibt´s da noch, wie kann ich das Phänomen beschreiben?“ SPRECHER Birken gedeihen dort, wo das nasse Moor trocken fällt. Chausseen im Moor sind das Werk von Arbeitern. Und wo Wasser in einem ehemaligen Torfstich zusammenläuft, haben vorher Menschen gegraben. TAKE 29 (O-TON KREUL 37 111 25:00) „ Dass das alles Menschenhand ist und dass das nichts mit dem zu tun hat, was wir eigentlich klassischerweise unter „Natur“ zu verstehen haben, das muss man sich immer ganz klar vor Augen führen. MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Eine Ahnung vom baldigen Aufstieg der Moore in die Kunst des Impressionismus hatte sich schon vor Rilke angekündigt: Die Moore sollten ihre Schattenseite in der öffentlichen Wahrnehmung abstreifen - öde, schaurig - und zum Gegenstand einer empfindsamen Entdeckung werden. Schon der Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl schrieb 1860: ZITATOR (KOHL) „Ich begreife nicht, daß unsere Maler das Leben und Treiben an solchen merkwürdigen Hochmoorhäfen und Torffabrikstätten, die sich überall an den zerfressenen Rändern unserer Hochmoore darbieten, noch so wenig zum Gegenstande von Studien gemacht haben. Und doch [wurden] würden sie dort nicht nur höchst eigenthümliche Bilder gewinnen, sondern auch Scenen darstellen können, die tausend und tausend Mal in unserm nordwestlichen Deutschland vorkommen (…) und daher eine vaterländische Bedeutung besitzen. Viel Farbenpracht würde bei diesen Bildern freilich nicht entwickelt werden können. Denn Wege und Stege, Land und Wasser, die „Huttens“ und ihre torfberußten Bewohner, Alles ist mit der einen dunklen Tintenfarbe des Moores überzogen. Die Leute selbst scheinen für diese Naturfarbe ihres Landes eine patriotische Vorliebe gewonnen zu haben. Wenigstens ist schwarz bei ihnen in so hohem Grade die Feiertagsfarbe, daß ihre Weiber zum Beispiel für den Sonntag, und namentlich wenn sie zum Abendmahle gehen, ihre ganze Kleidung, alle ihre seidenen Bänder, ihre Schürzen, auch ihre Sommerstrohhüte, auch die Blumen auf diesen Hüten kohlrabenschwarz färben. Wenn man sie zur Kirche strömen sieht, glaubt man eine von einer allgemeinen Calamität betroffene Bevölkerung trauernder Pilger vor sich zu haben.“ SPRECHER Johann Georg Kohl sieht die Moore und den einsetzenden industriellen Torfabbau als potenzielle Lieferanten für Genreszenen, bestenfalls noch als Motive für einen späten Realismus der Kunst im Sinne Menzels oder Liebermanns. ZITATOR (KOHL) „Viel Farbenpracht würde bei diesen Bildern freilich nicht entwickelt werden können. Denn (…) Alles ist mit der einen dunklen Tintenfarbe des Moores überzogen.“ SPRECHER Doch die Moore eignen sich durchaus als Inspirationsquellen bisher ungesehener Farben. Die Maler ziehen aus ihnen eine ungeheure, vielfältige, freilich verhaltene Farbigkeit, gerade auch bei den dunklen erdigen „torfigen“ Tönen. Das mag verblüffen und widersprüchlich klingen - ist aber schon nach dem Höhepunkt der Moormalerei unter Kunstkritikern weithin bekannt. So schreibt der Literaturwissenschaftler Hellmut Trüper 1928: ZITATOR (TRÜPER) „Hier wie dort wird plötzlich die bisher farbenärmste Landschaft Deutschlands - die Moore - in einer Fülle leuchtender satter Farben gesehen, die alles hinter sich lassen, was je in der Kunst einer anderen deutschen Landschaft möglich gewesen war…. Sie haben das schwarze Grün der stehenden Gewässer, das Schwarzbraun des Torfes, die auf dem Moorboden so seltsam farbig wirkenden Schatten, das feurige Rot der Bauernhäuser, das dunkle Grün der Bäume, das schillernde Grün der wasserfeuchten Kräuter und die unzähligen Farben des Flachlandhimmels so gesehen und wiedergegeben, wie sie dort sind: nämlich stets irgendwie verändert, verschleiert oder unwirklich gesteigert durch eine alles gleichmäßig relativierende Lichthülle.“ [TRÜPER,226] ZAUBERHAFTE MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) LEISE UNTERLEGEN SPRECHER Die Maler selber wußten sehr wohl, was sie am Moor hatten. Einer der ersten, der die Moore um Worpswede für sich entdeckte, war Fritz Overbeck aus Bremen. 1895 schrieb er: ZITATOR (OVERBECK) „Bis an den Horizont, wo die blauen Hügel der Geest ansteigen, dehnt sich weithin das Moor, schnurgerade durchschnitten von Kanälen und Fahrdämmen, die wiederum rechtwinklig von anderen gekreuzt werden. In gleichen Abständen am Wege stehen bleiche Birken, deren Stämme, den herrschenden Nordostwinden nachgebend, schräg ansteigen. (Doch ob es gleich einsam ist im weiten Umkreise, so verlassen uns doch nicht die Spuren menschlicher Thätigkeit. Aber ein freundliches Bild bieten sie hier nicht. Wir treffen auf Bezirke, wo metertief der Boden ausgehoben ist, und der Torf, in langen Reihen zu regelmäßigen Pyramiden oder Kegel geschichtet, an Luft und Sonne trocknet. Dazwischen liegen verstreut weißschimmernd wie Todtengebeine, Baumstümpfe mit groteskem Wurzelgeflecht, die Reste vormaliger Wälder, jetzt nach tausenden von Jahren bestimmt, das Feuer des Torfbauern zu unterhalten.) Darüber spannt sich der Himmel aus, der Worpsweder Himmel, den zu schildern die Feder verzweifeln muss, denn ein allzu armseliger Behelf würden meine Worte sein, um höchste Schönheit würdig auszudrücken. Was hülfen uns unsere Strohhütten, Birkenwege und Moorkanäle, wenn wir diesen Himmel nicht hätten, welcher alles, selbst das Unbedeutendste adelt, ihm seinen unsagbar koloristischen Reiz verleiht, der Worpswede schließlich erst zu dem macht, was es ist.“ Musik hoch WEITER ZITATOR (OVERBECK) „Am gestrigen Abend ward ich dessen wieder einmal inne. Ich stand im Hofe meiner Wohnung (…), am Himmel aber stand in leuchtend blauem Äther, feierlich in erhabener Pracht, eine einzige ungeheure Wolke aufgebaut. Ein Wolkengebirge, dessen Gipfel funkelten, dessen Abhänge strahlten, wie mit flüssigem Golde übergossen. (…) Ohne Zweifel verdanken wir solche atmosphärischen Wunder der verhältnismäßigen Nähe der See, noch mehr vielleicht aber den meilenweit sich erstreckenden Mooren und Sümpfen, welche die Luft stets mit Feuchtigkeit gesättigt erhalten.“ SPRECHER Auch der zeitgenössische Schriftsteller Moritz Rinke ist vom Himmel über Worpswede angetan, in seinem Roman ‚Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel’, heißt es. ZITATOR (RINKE) „Am Himmel stand der volle Mond, vor den sich dahinjagende gelbe Wolken schoben, die auch die Sterne verhüllten. Die Heide lag kupferrot hinter Paul im Dämmerlicht. Jetzt bloß keine inneren Landschaftsbeschreibungen machen, dachte er, er musste an die Malschule denken, an die Unterrichtsstunden, in denen er sich mit seinen gemalten Landschaften und Himmeln vor den anderen Kindern blamierte und am Ende aufsagen sollte, warum der Himmel über Worpswede glänzte, schimmerte, brannte, kämpfte und trauerte.“ [RINKE,204f] SPRECHER Die Malerin Paula Modersohn-Becker schwärmt: ZITATORIN (MODERSOHN-BECKER) „Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland. Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. (...) Ja, wenn das Malen nicht wäre?!“ [Paula Modersohn-Becker BOHLMANN,50] SPRECHER „Ja, wenn das Malen nicht wäre!“ Wohl niemand hat die Verwandlung der Moore in ein subjektives, nährendes „Götterland“ für die Künstler gefühlvoller gefeiert als Paula Modersohn-Becker, die junge Malerin aus Worpswede. Als sie 1897 dort eintrifft, sind die Gründer der Malerkolonie schon eine Zeitlang da: Fritz Mackensen, Fritz Overbeck, Otto Modersohn, Hans am Ende und Heinrich Vogeler. Unter Paula Modersohn-Beckers schwärmerischem Blick wird die moortypische Flora, werden die Bäume vermenschlicht und zu Mitgliedern ihrer Familie: ZITATORIN (MODERSOHN-BECKER) „Worpswede, Worpswede, du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit den feinen Fühlfäden und Nerven drin. So denke ich mir eine Idealkünstlergestalt. Und Deine Birken, die zarten schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muß sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehen. Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm- Das sind meine „modernen Frauen“. Und ihr Weiden, ihr alten knorrigen Stämme, mit den silbrigen Blättern.Ihr rauscht so geheimnisvoll und erzählt von vergangener Zeit. Ihr seid meine alten Männer mit den silbrigen Bärten; ja, ich habe Gesellschaft genug, meine ganz eigene Gesellschaft, wir verstehen uns gegenseitig sehr gut und nicken uns oft liebe Antwort zu. Leben! Leben! Leben!“ [Paula Modersohn-Becker BOHLMANN, 51] Sprecher: Der Literaturwissenschaftler Hellmut Trüper ordnet diese Beschreibungen so ein: ZITATOR (TRÜPER) „Paula Becker bringt Farben, wie sie vor ihr noch kein Maler gemalt hat: stark und doch gebrochen, gluttief und doch matt überhellt, fest und doch weich getönt, von ungemeiner Eindringlichkeit und doch wie „verhangen“, schwer und ganz herb - aber doch seltsam luftumspielt; es sind Farben, die in ihrer eigenartig unwirklichen Fremdheit den Menschen schon auf den ersten Blick stark beanspruchen.“ [TRÜPER, 229] SPRECHER Paula Modersohn-Beckers Terrarium aus Kiefern und Birken, das sie an „alte Männer mit (…) silbrigen Bärten“ und „zarte schlanke Jungfrauen“ erinnert - ist das nicht alles eine geschickte Inszenierung, um gefällige Bilder vom Moor zu erzeugen? Um eine zauberische Gegenwelt zur sich rasch industrialisierenden Welt der Jahrhundertwende zu schaffen? Den Verdacht, dass bei diesem ganzen Natur-Überschwang nicht alles mit rechten Dingen zugeht, formuliert der 1951 geborene Schriftsteller Klaus Modick in seinem Roman „Konzert ohne Dichter“. Vordergründig geht es darum, warum in dem Gemälde „Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhof“, einem Hauptwerk des Worpsweder Malers Heinrich Vogeler, ausgerechnet der Dichter Rainer Maria Rilke … fehlt. Es geht aber auch um die Künstlerpersönlichkeit von Heinrich Vogeler: Wie er malte, was er malte, was er nicht malte. Und wie er das angeblich Typische der Moorlandschaft seinen Zwecken unterordnete. Männer mit silbrigen Bärten? Zarte schlanke Jungfrauen? ZITATOR (MODICK) „Womit hat es begonnen? Mit den Birken? Ach ja, natürlich - - - die Birken auf der verwahrlosten Wiese. Mit dem Spaten grub er Pflanzlöcher für noch mehr Birken, Birken, Birken. Von Birken konnte er gar nicht genug bekommen. Das waren mädchenhafte, tänzerische Bäume, hell und schlank im lindgrünen Laub und ihren silberweißen, im Morgenlicht manchmal wie Seidenpapier schimmernde Borken. Noch im windgebeugten Alter wirkten sie so, als blieben sie für immer jung. Und selbst, wenn ihre Zeit in Feuerstellen, Öfen und Kaminen gekommen war, brannten die Flammen heller und milder, und ihre Asche war lichtgrau. Hätte es noch keine Birken gegeben auf der Welt - der Jugendstil hätte sie erfunden. Vogeler persönlich hätte sie erfunden für seinen Barkenhoff.“ (MODICK,138) MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Die Worpsweder Klassiker malen, was sie sehen. Aber schaffen sie nicht Ikonen von ursprünglichem Landleben? Bauerntum? Eine dem Untergang geweihte ländliche Idylle? Ein Beispiel: Fritz Mackensen, ein Gründervater der Malerkolonie. Schwarzgekleidete Gestalten bestimmen die Szene. Der Pastor, gewandet in einen schwarzem Talar mit weißen Bäffchen, versammelt seine Gemeinde unter einer Moorbirke um sich. Eltern beklagen den Tod ihres Kindes. Die junge Bäuerin in weitem dunklen Rock und roter Bluse. Sie hat ihre schwere Arbeit in der Torfkuhle nur kurz unterbrochen, sitzt auf der Schiebkarre und stillt ihren Säugling. Moorleben? Pure Wirklichkeit? Für dieses Gemälde von Fritz Mackensen sind verschiedene Titel überliefert. „Der Säugling“ . Oder: „Madonna im Moor“. Mackensens Bild gilt als Moor- Ikone. Der Doyen der Moormaler stellt die junge Mutter 1892 ins große Format: 180 mal 240 Zentimeter. Mehr als 40 Jahre später wird das Gemälde von NS-Kuratoren für die „Große Deutsche Kunstschau“ in München ausgesucht. Solche Kunst gefällt der Partei! Da kann der Künstler noch mal nachlegen. Verdeutlichen. Denn Fritz Mackensen ist zu Lebzeiten nicht nur ein berühmter Maler, er versucht sich auch als Schriftsteller. ZITATOR (MACKENSEN) „Im Moor legte sie das Kissen mit dem Kindlein in die Heide, nahm es heraus, setzte sich auf einen Torfkarren und gab ihm die Brust. Ihre große Gestalt hob sich in schönen Linien und satten Farben vom Himmel ab, der Kopf neigte sich leicht zum Kinde. Es lag mit nackten Beinen hell in ihrem Schoß, mit rosigen Fingern kniff es in die weiße schimmernde Brust.“ [KLINDWORTH,50] SPRECHER Als betagter Mann verdoppelt Mackensen seine Schöpfung in ein Malmotiv und erfindet eine literarische Gestalt, die er Beta nennt. Sie ist Titelheldin seines einzigen Romans. Veröffentlicht wird er erst 1947 und heißt „Gerd Klingworth - Betas Sohn“. Das Romangeschehen ist im 19. Jahrhundert angesiedelt und propagiert unverhohlen völkische und franzosenfeindliche Tendenzen. Mackensen lädt so sein Gemälde von 1897 mit einem bis dahin unsichtbaren, verborgenen Kontext auf. Gerd ist darauf noch ein Baby, da werden ihm aus dem nahen Torfstich gefischte germanische Grabungsfunde beigegeben. Bronzeschwert und kupferner Armreif - so erzählt der Roman - werden ihn nun lebenslang als Talismane begleiten. Der als Kenner herbeigeeilte Lehrer will die Funde an ein Museum geben, aber Gerds Mutter Beta meldet eigene Ansprüche an: ZITATOR (MACKENSEN) „Das soll mein Junge haben, Herr Lehrer, das wird ihm noch mal Freude machen.“ Sie ließ den verdutzten Lehrer stehen, eilte mit ihrem Schatz zu ihrem Kinde, legte das Schwert zur Rechten neben das Lager, den Ring ihm zu Haupten.“ [KLINDWORTH,52] SPRECHER Im Roman reift das Baby zum deutschnationalen Pastor heran - eben Gerd Klindworth. Der Geistliche bleibt, so will es sein Autor, ehe- und kinderlos. Mit den sturen Moorbewohnern kommt er nicht klar und verlässt schließlich die Moorregion. Das Moor bietet Künstlern, die es malen oder darüber schreiben, offenbar nicht nur ein grandioses Landschaftserlebnis. Es dient vielen - wie Fritz Mackensen, später Direktor der „Nordischen Kunstschule“ in Bremen, 1937 Eintritt in die NSDAP - als völkisch interpretierbare Kulisse, als Gefühlslandschaft für kommende deutsche Größe. Für erbitterte Kämpfe. Die Waffen für Gerd und andere liegen schon in der Torfkuhle bereit. Als der Verlag 1947 das Buch in einer Auflage von 30.000 auf den Markt bringt, fehlt es nicht an kritischen Stimmen. Sie wollen wissen… ZITATOR „… wie es möglich wäre, dass „in der heutigen Zeit von dem Genannten - gemeint ist Mackensen - ein Buch erscheinen kann, der einer der tätigsten Aktivisten der NSDAP war“. [TEUMER, 9] SPRECHER Der Verleger erklärt … ZITATOR „…dass ihm von Verfehlungen Mackensens nichts bekannt wäre…“ SPRECHER … und verschanzt sich hinter einer angeblichen Auskunft der britischen Militärregierung… ZITATOR „… im übrigen käme es (…) nicht darauf an, wer das Buch geschrieben und welche politische Vergangenheit der Verfasser hatte, sondern darauf, „ob das zur Beurteilung stehende Buch politisch in Ordnung sei.““ [TEUMER, 9] MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER In schätzungsweise zehn Jahren wird es in Deutschland mit dem Torfbau vorbei sein. Die noch abbaubaren Flächen sind dann erschöpft, und schon seit einiger Zeit gilt: Wer Torf abbaut, muss die rasierten Flächen wieder renaturieren - das heißt: mit Erde auffüllen und wiedervernässen. Wer die oft versteckt liegenden Rest-Abbauflächen besuchen oder gar mit Pinsel oder Kamera festhalten will, muss sich sputen. Wie der Fotograf Jost Wischnewski aus Worpswede. Zunächst waren er und seine Lebensgefährtin Daniela Platz ohne professionelle Hintergedanken einfach nur immer wieder durch die Moore spaziert. TAKE 30 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 0:00) „Im Laufe der Zeit hat sich dann das so entwickelt, dass ich immer auch wieder fotografiert habe. Erstmal nur für das private Familienalbum sozusagen. Später dann aber auch hab ich so´n bisschen Blut geleckt und hab mal überlegt, was man da machen kann. Das Interessante ist für mich, dass es sich hierbei um eine Riesen-Baustelle handelt, die ja im Grunde genommen gar nicht so wahrgenommen wird. Aber wenn man so in die tieferen Schichten geht, man merkt: da ist ein alter Betriebshof, der funktioniert noch. Man hat das Gefühl, das ist noch aus den 50er Jahren, Es sind da alte Dieselloks unterwegs, immer noch, nach wie vor, die alten Loren. Und das war für mich interessant, nochmal dem Ganzen sozusagen fotografisch auf den Grund zu gehen.“ SPRECHER Jost Wischnewski wollte wissen, wie sich das Moor im Tages- und Jahresverlauf ändert. Und was die Eingriffe des Menschen mit dieser Landschaft gemacht haben. Wie aus dem Moor eine „Riesen-Baustelle“ wurde. TAKE 31 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74) „Ich bin halt über zehn Jahre in diesen Gebieten unterwegs gewesen. Ich bin zu allen Jahreszeiten dort gewesen. Ich bin zu allen Tageszeiten dort gewesen. Und auch in allen Wetterlagen. Das heißt also, ich hab diese Landschaft rundum kennen gelernt und hab viele Motive mehrmals fotografiert, in verschiedenen Stimmungen. Und dann eben auch geguckt: Was gibt diese Stimmung wieder? Oder wo nähert man sich am meisten an? Ich hab dann natürlich immer auch den Menschen im Hintergrund im Kopf, der auch dort gelebt hat vor hundert Jahren, der in diesen Gebieten gelebt hat in diesen Landschaften gearbeitet hat und wollte sozusagen dieses nachempfinden, ja.“ SPRECHER Die Leiterin eines Bremer Museums ließ sich von Jost Wischnewskis Arbeiten anregen und stellte jeweils eines seiner Fotos einem Gemälde des Worpsweder „Klassikers“ Fritz Overbeck - Jahrgang 1869 - gegenüber. So fanden zwei ganz verschiedene Moorenthusiasten im Dialog zueinander. TAKE 32 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 17:00) „Jetzt zeige ich zum Beispiel einen Torfstich mit einem modernen Bauwagen , ein Unterkunftshäuschen, in dem man sitzen kann, pausieren kann. Auch übernachten kann. Dem gegenüber steht ein Bild von Fritz Overbeck mit einer alten Moorkate. Beide Motive sind sehr ähnlich von der Bildauffassung. Wobei ich dieses Bild von Overbeck gar nicht kannte. So gibt es einige Motive in meinen Fotografien, die von Overbeck ähnlich dargestellt wurden. Und man spürt natürlich, man sieht eben den Zeitsprung von diesem modernen Bauwagen, von diesem Bauwagenhüttchen, zur alten Moorkate. “ SPRECHER Der Fotograf blättert in seinem Kunstband namens „Abbau“ und schlägt eine andere Abbildung auf. TAKE 33 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 5:00) „ Hier befinden wir uns in einem Abbaugebiet in Gnarrenburg. Das, was man sieht, sind ein Schienenstrang, der aus der Froschperspektive aufgenommen wurde. Im Hintergrund befindet sich ein kleines Arbeiterhäuschen. Dieses Arbeiterhäuschen habe ich seit etwa zehn Jahren fotografiert, auch diesen Verfall dieses Häuschens fotografiert und dokumentiert. Und die Stimmung ist so, im Hintergrund sieht man blauen Himmel, aber auch eine darüber liegende graue Wolke. Es hagelt gerade, es war also so ein ganz kalter Tag im Januar.“ ZITATOR (OVERBECK) „Darüber spannt sich der Himmel aus, der Worpsweder Himmel, den zu schildern die Feder verzweifeln muss (…) Was hülfen uns unsere Strohhütten, Birkenwege und Moorkanäle, wenn wir diesen Himmel nicht hätten!“ TAKE 34 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 5:00) „Und das hat für mich eine Stimmung, die zum Teil auch abstrakt sich darstellt. Dadurch, dass der Schienenstrang selbst gar nicht zu erkennen ist.“ SPRECHER Jost Wischnewskis Aufnahmen aus dem „Abbau“-Gebiet sind Farbfotos. Auf künstliches Licht oder Blitzeffekte verzichtet er. Seine Fotografien werden auch nicht am Computer nachbearbeitet. Fünf Jahre lang hat Wischnewski die Entstehung des neuen Tiefwasserhafens Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven fotografisch begleitet. Ein Projekt für eine nahe Zukunft, in der die Frachter immer größer und der Flächenfraß für die bewegten Container uferlos wird. Im Moor ist es anders. Das Moor hat seine Wirtschaftsgeschichte hinter sich. Der Betriebshof ist kein Hightech-Betrieb. Aber er ist auch kein Industrie-Museum. TAKE 35 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 12:00) „ Die Maschinen haben sich geändert, die Betriebsleitung hat sich geändert. Und auch hier ist ein Zeitsprung sichtbar, auch wenn nur minimal. Für mich ist es einfach wichtig, diese Kulturlandschaft im Norden Deutschlands, im Elbe-Weser-Dreieck, noch mal für mich einfach auch selber zu erkennen: Was passiert da überhaupt? Was ist über Jahrhunderte passiert? Wie sind die Menschen früher damit umgegangen? Heute ist es natürlich wesentlich schneller. Man sieht große Spuren von Raupenfahrzeugen, und, ja, trotzdem hat man das Gefühl: es ist immer noch recht langsam.“ MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) SPRECHER Das Moor zu durchstreifen heißt: Langsamkeit ertragen. Unwegsamkeit hinnehmen. Unwirtlichkeit billigen. Geduldig warten, bis der Nebel sich lichtet. Manche können das, andere nicht. Bloß einen Millimeter wachsen die Torfmoose im Jahr in die Höhe. Das Zeitlupentempo, mit dem es sich verändert - wenn man es in Ruhe lässt! - heißt nicht, dass es tot ist. TAKE 36 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 13:00) „Das Moor lebt ja auch. Also wenn im Frühling die Frösche und die LIbellen in diesen kleinen Tümpelchen sich ansiedeln - ja, das ist natürlich ein phantastisches Ereignis! Und es ist auch sehr laut, weil, da ist dann endlich mal Leben, was spürbar ist.“ SPRECHER Moorgänger kehren oft an Orte zurück, an denen sie schon einmal waren. Auch Daniela Platz und Jost Wischnewski haben ihre Lieblingsorte, zu denen sie immer wieder zurückfinden. TAKE 37 (O-TON WISCHNEWSKI 37 74 47:00) „Dort gibt es diese zweitausend Jahre alten Wurzelstümpfe, die wirklich sehr eindrucksvoll in der Landschaft stehen. Wie kleine Dinosaurier. Das ist eine Landschaft, die sehr ursprünglich ist. Und das sind so unsere Lieblinngsplätze. Da gehen wir oft hin, oder ich gehe da auch oft alleine hin. Und da fühle ich mich geborgen und wohl und das ist ein spannender Augenblick, dort zu sein.“ MUSIK (NICHT IM ZUSPIEL) kurz? SPRECHER Jost Wischnewski kann grenzenlos und frei durch seine Moore wandern. Die meisten sind zugänglich für alle. Aber es gibt Einschränkungen: Die sogenannte „Tinner Dose“ im Emsland ist Bundeswehrgelände: dort befindet sich die „Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition“, kurz: ‚WTD 91’. Es ist der größte Schieß- und Erprobungsplatz Mitteleuropas. In dem entwässerten Moorgelände feuerte am 3. September 2018 ein Kampfhubschrauber Raketen ab. Gleich an sechs Stellen fing es an zu brennen, über fünf Wochen. Zwölf Quadratkilometer Moor wurden vernichtet. Mit ihm starben bedrohte Vogelarten, seltene Schmetterlinge, Heuschrecken und Libellen. Der Landkreis erklärte den Katastrophenfall. Bis zu 1600 Männer und Frauen von Bundes- und Feuerwehr sowie dem Technischen Hilfswerk waren im Einsatz.  Das Moor ist empfindlich. Wenn es entwässert wurde, können Brände schnell entstehen und sich noch schneller ausbreiten. Das um so mehr, wenn es wochenlang nicht geregnet hat wie im Sommer 2018. Der Brand frisst sich auch nach unten, in den schwach zersetzten Niedermoortorf, durch. In den Hohlräumen findet er genug Sauerstoff, um weiterzuschwelen. Flammen sind unsichtbar, nur dicke ätzende Rauchschwaden steigen in die Atmosphäre. 500.000 Tonnen Kohlendioxid wurden in der „Tinner Dose“ in die Umwelt freigesetzt. Wenn das Feuer schließlich ausgeht, sind große Teile des Moors zerstört. Musik kurz hoch SPRECHER Den Schriftsteller August Freudenthal haben wir als jungen Wanderer schön öfter in dieser Lang Nacht auf seiner Wanderung durchs Moor begleitet. Zuletzt hatte er sich, der Verzweiflung nahe, im nächtlichen Moor verirrt. Der junge Mann ist zu Tode erschöpft, verschwitzt, er versinkt mit verdreckten Beinkleidern im Modder. Als die Sonne aufgeht, rappelt er sich auf. Von ferne bellt ein Hund. August hat festen Boden unter den Füßen! ZITATOR (FREUDENTHAL) „Kaum vermochte ich mich vom kalten Erdboden zu erheben; meine Glieder waren wie gelähmt und zerschlagen. Mühsam machte ich mich auf den Weg zu meiner kaum eine Stunde entfernten Heimat. Die Leute, welche mir begegneten und zur Arbeit wollten, starrten mich an, als sei ich ein dem Grabe Entstiegener. <> [FREUDENTHAL,173f.] Musik kurz hoch SPRECHER Am Ende findet August Freudenthal also doch noch lebend aus dem Moor, sonst hätte er seine Erlebnisse ja nicht aufschreiben können und sie zum Ende des 19. Jahrhunderts unter Titeln wie Ausflüge am Nordost- und Südwestrand der Lüneburger Heide oder ‚Heidefahrten’ veröffentlichen können. Heute gibt es lange nicht mehr so viele Moorgebiete, in denen sich einsame Wanderer verirren können. Die Moore in Deutschland verschwinden oder werden auf unterschiedliche Weise nutzbar gemacht. Aber das Moor lässt sich nicht alles gefallen, was die Menschen mit ihm anstellen. Zum Beispiel bei Tribsees in Mecklenburg-Vorpommern. EINBLENDEN: TAKE 38 (ATMO AUTOBAHN) (UNTERLEGEN BIS …) SPRECHER Die A 20 zwischen Lübeck und dem polnischen Stettin ist die längste Autobahn im Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“. Im Nordosten Deutschlands führt sie im Hinterland der Ostsee in weitem Bogen durch plattes, dünn besiedeltes Land. Als das letzte Teilstück, der Abschnitt Autobahnkreuz Rostock - Grimmen, mit einem Festakt auf der Trebelbrücke eingeweiht wurde, war die A20 fertig. Das war 2003. Die A20 gilt als „Hauptentwicklungsachse für den gesamten Ostseeraum“. Bei Tribsees quert die Autobahn das Trebelmoor. Das Trebelmoor ist ein Niedermoor, entstanden während und nach der letzten Eiszeit. Sein Torfkörper ist bis zu 20 Meter mächtig und besteht aus Schilf und Seggen. In den 1990er-Jahren war das Moor renaturiert worden. Die Austrocknung wurde gestoppt, Schöpfwerke pumpten Wasser nicht mehr aus dem Moor hinaus. Deiche wurden zurückverlegt. Über dieses wiedervernässte Moor hinweg wurde die A 20 verlegt. Von Westen kommend, rollen Fahrzeuge zunächst auf einem mehrere hundert Meter langen Damm, eine sanft ansteigende Rampe. Dann überspannt eine 500 Meter lange Brücke die offenen Wasserzüge Alte Trebel und Trebelkanal. Die Brücke ist nach wie vor unversehrt. Im Herbst 2017 brach auf dem Damm erst die eine, dann die andere Fahrbahnseite mehrere Meter tief ein. Auf hundert Metern Länge bot sich ein Bild der Verwüstung: verbogene Leitplanken, Betonbrocken der Fahrbahndecke, die schräg in die Höhe ragen, darunter tiefe Sandgruben. Wo früher der Verkehr brummte, ist es nun sehr still. Ein riesiges Loch in der Landschaft. Die A 20 ist an dieser Stelle unpassierbar und wurde gesperrt. Die Presse schrieb: ZITATOR „Auf Torf gebaut“ ZITATORIN „Leben am Abgrund“ ZITATOR „Die Ostseeautobahn versinkt im Torf“ SPRECHER Warum die Autobahn auf unsicherem Grund immerhin 15 Jahre stand hielt und erst jetzt einsank, ist umstritten. Es könnte an den meteorologischen Launen des Sommers 2017 liegen: Es fiel ungewöhnlich viel Regen. Und starke Stürme setzten das im Untergrund stauende Wasser von der Ostsee her unter Druck. Die langen, in den Untergrund gerammten Stützen, die den Damm tragen sollten, brachen. Das Trebelmoor, rund 1,7 km breit, ist ein so genanntes Durchströmungsmoor. Tief im Moorkörper fließt unterirdisch Wasser hindurch. Im Zuge von Meliorationen hatte man nach dem zweiten Weltkrieg das Moor zunächst trocken gelegt und damit die tiefen Strukturen stark verändert. Nach 1990 wurde der Prozess umgekekehrt und das Moor mit EU-Mitteln wiedervernässt. Auch heute noch werden tiefere Torfschichten von beträchtlichen Wassermengen langsam durchströmt. An der Oberfläche ist erneute Torfbildung aber noch kaum möglich. Die oberen Torfschichten schwimmen gewissermaßen auf - ein denkbar ungeeigneter Untergrund für eine schwere Last wie eine Autobahn. Ein Durchströmungsmoor ist wie ein langsam fließender Fluss, der mit Gras bedeckt und gefüllt ist, vergleicht Moorkundler und Paläoökologe Professor Hans Joosten vom Greifswalder Moor Centrum.