Deutschlandrundfahrt "Schwabing ist kein Ort, sondern ein Zustand" Auf den Spuren der Münchner Bohème um 1900 Von Nana Brink Sendung: 07. Januar 2012, 15.05h Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Regie: Opener Deutschlandrundfahrt MUSIK ZUM UNTERLEGEN Sprecherin: Es gibt eine Welt, für die es gleichgültig ist, ob ein Schiff fliegt oder ob ein Tisch fliegt. ... Die Welt, in der Tische fliegen oder wenigstens fliegen würden - diese Welt ist unser Stadtteil, ist Wahnmoching. Nur ein Stadtteil; aber wer weiß, ob er nicht dereinst das tote Heute mit neuem Lebensgehalt durchdringen wird. Autor: Das schreibt Fanny Gräfin zu Reventlow in ihrem Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen". Er ist 1913 erschienen und - ist eine augenzwinkernde Hommage an den Stadtteil, der ihr Leben so sehr geprägt hat: Schwabing, von ihr auch liebevoll "Wahnmoching" genannt. Dort ist Platz für sie, die entlaufene höhere Tochter und allein erziehende Mutter - Platz für alle freien Geister und Künstler, - und Platz genug für alle, die aus der starren Bürgerlichkeit des Kaiserreiches ausbrechen wollen. München, die Hauptstadt des kleinen bayrischen Königreiches, ist die Kunstmetropole der Jahrhundertwende, die Paris und Moskau gerade den Rang abläuft. Regie: Musik hoch SpvD: "Schwabing ist kein Ort, sondern ein Zustand" - Auf den Spuren der Münchner Bohème um 1900. Eine Deutschlandrundfahrt von Nana Brink. 1. O-Ton: Marion Bösker, PR-Leiterin des Literaturhauses Wir starten unsere Rundreise am Salvatorplatz 1 am Literaturhaus München ....Wir gehen zu einer Gedenktafel, die die Räterepublik markiert, ja in der Kardinal-Faulhaberstraße ist Kurt Eisner ermordet worden, hinterrücks erschossen ... und das Kuriose ist ja, wenn man Fannys Lebensdaten anschaut, geboren 1871, gestorben 1918, also ein Jahr vor diesem Mord, aber mitten in dieser Aufbruchsstimmung, der Räterepublik, das sind ja gleichzeitig die Daten des Deutschen Kaiserreiches, 1871 gegründet, und mit der Räterepublik 1918 beendet. Und sie so gar nicht dem Bild dieser Menschen in diesem Kaiserreich entspricht. Sie hat sich ja gewehrt mit Händen und Füßen... Sie hat ja alles gemacht, was jetzt vielleicht sogar normal ist, also allein erziehende Mutter, sie hat sich selbst um die Lebensunterhalt gekümmert, sie hat nicht mal den Vater ihres Kindes verraten... Achtung hier san ma, hier ist er, der Kurt Eisner... jaja da geht man so leicht drüber...das ist wirklich ein historischer Ort, hier ist er erschossen worden, einer derjenigen, die hier wirklich Politik gemacht haben zu jener Zeit 1918/1919. Autor: In das Pflaster des Fußgängerweges sind die Umrisse eines Gestürzten eingelassen - das Ende eines Traums und das Ende der Bohème. Marion Bösker vom Literaturhaus hat einen Stadtplan in der Hand. Sehen Sie, wir nähern uns der Bohème vom Ende her, meint sie, und deutet dann auf den Anfang. Nur einen Steinwurf entfernt. 2. O-Ton: Marion Bösker So jetzt stehen wir hier vorm Cafe Luitpold, ein bisschen ist der alte Glanz, finde ich, noch zu sehen, schön renoviert....Und das war so ein, was heißt ein, das war der Treffpunkt um die Jahrhundertwende, am Anfang des 20. Jahrhunderts für die Künstler, für Maler, für Philosophen, für Autoren, für die, die man als Künstlerbohème bezeichnen könnte... hier waren legendäre Faschingsfeste, die Fanny war ja so eine Faschingsverrückte...(gehen rein)... Zuppa Romana, Dome Chocolate, Erdbeer-Charlotte, ein Harlekin- Törtchen... (Atmo Cafe)....ist halt alles jetzt postmodern, ein Konsumparadies, mit Make up-Studio, edelstem Schuhwerk, aber hier wurde gefeiert, bis zum Umfallen (stehen im Palmengarten)... ich gehe stark davon aus, dass sie dann in verschiedene Wohnhöhlen gefallen sind, wo auch immer... gestapelt, zu mehreren, Sodom und Gomorra.. (lacht)...und das in München, mein Gott, wenn das der König wüsste...aber dionysischer Rausch, ist ja eigentlich der Beginn jeder Kunst, der dionysische Rausch. Das ist vollkommen in Ordnung! Autor: Der Dichter Stefan George versammelt im Café Luitpold seine Jünger und der Skandalautor von "Frühlings Erwachen", Frank Wedekind, hat hier einen Tisch, der von der Sperrstunde befreit ist und an dem auch Franziska zu Reventlow bis in die frühen Morgenstunden sitzt. In ihrer Ausgabe vom 1. September 1888 schreibt die "Illustrierte Zeitung" über das Café Luitpold: Sprecher: "Im Verein mit einer Anzahl hervorragender Maler und Bildhauer wurde ein Raum geschaffen, wie ihn kein anderes öffentliches Etablissement besitzt. 38 Marmorsäulen und 42 Pilaster tragen den sich bis zu einer Höhe von neun Meter erhebenden reich gruppierten, dreischiffigen Hallenbau. Die Kunststadt München ist durch dieses Etablissement um eine Sehenswürdigkeit reicher geworden." Autor: Aus. Vorbei. Heute ist das Café Luitpold eine mondäne Shopping Mall. Von Fasching keine Spur. 3. O-Ton: Marion Bösker Das Oktoberfest, das ist ja ein internationaler Fasching- Supergau....Jetzt werde ich entlarvt als olle Spießerin, ich finde das scheußlich, ich wohne daneben, ich hatte 2 mal einen Platten, weil überall sind Scherben... ich würde sagen, wir gehen mal da lang, das ist gut, ich würde jetzt gerne Theresien- Ecke Amalienstraße, weil da die zweite Superkneipe, das Cafe Stefanie war, gibst nicht mehr, aber vielleicht spüren wir noch die Aura ... ja das Oktoberfest, furchtbar... Musik 1: Titel: "Tanzt!" Interpret: Axel Prahl und das Inselorchester Komponist/Text: Axel Prahl Verlag: Buschfunk , LC 06312 ISBN-Nr. 9783931925154 Atmo: Im Cafe vor dem Literaturhaus 4. O-Ton: Maria von Hartmann Von der Familiengeschichte her, habe ich eigentlich erst von ihr gehört, als ich Anfang der 70er Jahre zum Studium nach München kam, weil in meiner Familie über diese Tante nicht geredet wurde, weil auch meine Mutter, die eine direkte Nichte ist, eigentlich unter ihrer Tante indirekt zu leiden hatte, weil ihre Erziehung dann extrem streng ausfiel, also noch strenger, als in diesen Kreisen sonst üblich war...Ich weiß nicht, ob das so einen Stellenwert hatte, Totschweigen, das hört sich ja sehr aktiv an, es war einfach kein Thema... Autor: Kein Thema! Fanny Gräfin zu Reventlow - eine der berühmtesten Bewohnerinnen Münchens um die Jahrhundertwende - war kein Thema, zumindest lange Zeit nicht in der Familie. Ihre Großnichte, Maria von Hartmann, sitzt auf den Kirchentreppen am Salvatorplatz im Schwabinger Ortsteil Maxvorstadt. Eine südliche, sonnige Wärme umschmeichelt die Wintergesichter. Die Kirchenglocken läuten um 12 Uhr; und vom nahe gelegenen Bischofssitz fällt eine barocke Silhouette auf die enge Straße. München leuchtet. Und besonders leuchtet das Antlitz der "Fanny", der berühmten Tante, vom Plakat am Literaturhaus, das der "wilden Gräfin" derzeit eine Ausstellung widmet. Hier hat Maria von Hartmann ihren Großvater entdeckt, Karl zu Reventlow, liebevoll Catty genannt - vielleicht der einzige aus der großbürgerlichen Familie, der die trotzige, freiheitsliebende Schwester verstanden hat. 5. O-Ton: Maria von Hartmann Ja natürlich, ich habe ihn auf Jugendbildern gefunden, insbesondere auf einem Bild, wo er mit seiner Schwester so mit 12 ist, wo die beiden eigentlich recht durchtrieben aussehen, einfach frech, freche Gesichter... Musik 2: (unterlegen) Titel: Golliwogg's Cake-Walk Komponist: Claude Debussy Interpret: Arturo Benedetti Michelangeli Label: Deutsche Grammmophon, LC 00173 EAN-Nr. 02894590332 3 Autor: Die Freche, die Malerin werden will und sich später hemmungslos ins Münchner Bohème-Leben stürzt, wird am 18. Mai 1871 als Kind eines preußischen Landrates im Schloss von Husum geboren. Kinder, Küche, Kirche, - das ist der Lebensweg, der für höhere Töchter im Kaiserreich vorgesehen ist. Aber Fanny flieht, geht nach Lübeck, dann nach München. Ein Foto zeigt sie in der Ausstellung: Trotziger Mund, weißgetupfte Bluse, das Gesicht ein einziges Ausrufezeichen! Sagt der Chef des Literaturhauses Reinhard Wittmann und blickt verzückt auf die hübsche junge Frau. 6. O-Ton: Reinhard Wittmann, Leiter des Literaturhauses München ... hatte sie sich die Haare abgeschnitten, das muss man sich mal vorstellen, was das bedeutet, selbst in den 50er und 60er Jahren war der Bubikopf für Frauen noch ein Schimpfwort und jetzt muss man das noch mal zurückrechnen auf die Jahrhundertwende, und sie schnitt sich aus Protest gegen diese Konventionen mit der Nagelschere die Haare ab, so schauen sie auch aus, ein bisschen zerzaust, zerschnitten vorne der Pony, das bezeichnet am besten die Zeit in Lübeck, wo sie erste Liebschaften hatte....Zarathustra, Nietzsche war die Bibel...und diese beiden Kapitel Husum und Lübeck sind eben wichtig, um zu verstehen, wer dann nach München kam. Musik 3: s. Musik 2 (unterlegen) Sprecherin: Man wird als Mädchen immer nur als willenloses Möbel oder als Dekoration betrachtet, besonders von Eltern und Tanten... Ich bin doch schließlich ein Mensch und habe meinen Willen, mein Gewissen und meine Ziele, wie der andre ob er nun Mann oder Frau ist... Ich bin über meine Zukunft ganz im Klaren; ich glaube, dass ich ausreichendes Talent habe, um es auszubilden... Das Übrige wird sich schon finden. Autor: Schreibt Fanny zu Reventlow Anfang 1890 an eine Freundin. Und es findet sich: Franziska, wie sie sich in München nennen wird, will Malerin werden. Sie scheitert mit diesem Traum und wird dennoch berühmt als Fixstern der Münchner Bohème: Die "Schwabinger Gräfin". 7. O-Ton: Maria von Hartmann Also sie ist Schriftstellerin wider Willen geworden, weil sie eben nicht das Talent als Malerin hatte, und in den Tagebüchern heißt es, wann immer sie gemalt hat, war sie fast manisch glücklich, wenn sie geschrieben hat, hat sie gelitten, - das ist nicht die ideale Voraussetzung, - also sie war sicher keine große Literatur, dass kann man sagen... Ich habe mich weniger für ihre Frauenrolle interessiert, also eher für ihr Leben insgesamt, diese ganzen Verrücktheiten, dieser unglaublich nachlässige Umgang mit Geld, diese ganzen Männergeschichten, in der Sekundär-Literatur heißt sie "Hippies Großmutter". Autor: Uschi Obermaier, das legendäre Groupie, das Mitte der 60er Jahre von Schwabing aufbrach in die Betten der Welt, wäre eine passende Enkelin gewesen. 70 Jahre früher schon sprengt Fanny die Regeln und sucht sich ihre Liebhaber selbst aus. 8. O-Ton: Reinhard Wittmann, Leiter des Literaturhauses München (O-Ton auf Baustelle - einblenden) Natürlich hätte ich sie gerne kennen gelernt, welcher Mann hätte sie nicht gerne kennen gelernt, gerade in Gesellschaft muss sie ja sehr aufgedreht, dass sie alle mitgerissen hat, sie hat ja so ein positives Lebensgefühl ausgestrahlt... das hat die Männer alle begeistert. Autor: Reinhard Wittmann, der Direktor des Literaturhauses, das gerade von einer Baustelle umzingelt ist, schwärmt von Fanny. Und er ist nicht der einzige Mann, - heute. Auch Münchens Oberbürgermeister Christian Ude, lässt es sich nicht nehmen, bei der Ausstellungseröffnung das It-Girl der Bohème zu bewundern. 9. O-Ton: Christian Ude, OB von München Sie war nicht nur eine fleißige Übersetzerin, sie war auch eine studierte Malerin, aber natürlich vor allem eine Lebenskünstlerin, nicht in dem Sinn, dass sie sich das Leben leicht gemacht hat, was wir heute als Lebenskünstler bezeichnen, sondern dass die das Leben selber als Kunst begriff und wahrnehmen wollte, und keinen Tag der Routine opferte, sondern immer wieder neue Herausforderungen suchte, neue Beziehungen, die wechselten schlagartig, nicht nur die Männer, auch die Wohnungen.... Musik 4: s. Musik 2, Trenner Autor: Die Gräfin zieht derzeit viele in ihren Bann - als wachse die Sehnsucht nach einer Zeit, in der Aufbegehren noch etwas Unerhörtes war und kein Zeitvertreib gelangweilter Bürgerkinder. In Schwabing wird das "ewige Fest" inszeniert, wie Thomas Mann einst sagte. Es ist einer der wenigen Orte im aufstrebenden deutschen Kaiserreich, an dem fast anarchische Zustände herrschen. Über 1300 Künstler wohnen um die Jahrhundertwende in Schwabing: Kandinsky und Marc legen hier die Grundlagen für den "Blauen Reiter" und Stefan George versammelt seine Jünger im so genannten Kosmikerkreis - einer Art literarischer Sekte, die den Naturkult neu erfinden will. Schwabing ist der Nährboden für die Moderne oder wie Erich Mühsam es in seinem Tagebuch schreibt: Sprecher: Dies mag das eigentlich Charakteristikum des Begriffs Schwabing sein, die Unbekümmertheit um das Urteil anderer Leute. Jeder Mensch ist ein Eigener; aber wer es zeigt, heißt anderswo ein Sonderling. Schwabing war eine Massensiedlung von Sonderlingen, und darin liegt seine pädagogische Bedeutung. Ja ganz München gewöhnte sich an das Ungewöhnliche, lernte Toleranz und gönnte der Seltsamkeit ihr Lebensrecht. Autor: Auch jemand wie Fanny zu Reventlow, die sich in München Franziska nennt, kann hier ihrem Lebensstil frönen. Wäre da nicht die ewige Schattenseite des Bohème-Lebens: Die Geldknappheit. 10. O-Ton: Elisabeth Tworek, Leiterin der Monaciensa, Archiv Münchens Sie hat sich die Männer sehr zunutze gemacht - aber sie kann ja aus ihrer Zeit nicht raus springen, ich finde Franziska zu Reventlow ist eine Figur, die gerne gesprungen wäre, am liebsten in eine ganze andere Identität, in ganz andere Verhältnisse, an ihr lernt man, dass man eben nicht aus der eigenen Haut springen kann und natürlich hat sie sich die Männer zunutze gemacht, sie war hier im Hildebrandt-Haus war sie Gast, - sie hatte ja einen alten Adelstitel, während der Adolf Hildebrandt einen erworbenen Adelstitel hatte, sie war also mehr als adäquater Umgang, aber in dem Moment, wo Irene von Hildebrandt dann sie agieren hat sehen, wurde Irene eifersüchtig und so durfte Franziska zu Reventlow nicht mehr kommen. Autor: Kein Einzelfall in ihrem Leben. Die sinnliche, schöne Gräfin wusste ihre Reize sehr wohl einzusetzen und scheute sich auch nicht, einen Malerfürsten wie Adolf von Hildebrandt - anzuschnorren. In seinem Haus über dem Englischen Garten regiert jetzt Elisabeth Tworek. Die imposante Künstlervilla beherbergt das Münchner Literaturarchiv, auch Monacensia genannt. Das Büro der Chefin atmet noch den Geruch des letzten Jahrhunderts: Dunkle Holzvertäfelung, knarrendes Parkett, meterhohe Fenster hinaus in einen riesigen Garten. 11. O-Ton: Elisabeth Tworek Das Haus ist über 100 Jahre alt, ...ein großbürgerliches Haus, eine Künstlervilla im Stil wie auch Franz von Stuck, Franz von Lenbach und Kaulbach gebaut haben, dieses Haus ist in einem sehr italienisch anmutenden Stil gebaut und hat sehr viel Anklänge ans Mittelalter, gerade in der Gestaltung der Außenfassaden...(gehen)... und gleich dran: 12. O-Ton: Elisabeth Tworek (schließt Türen zur Terrasse auf)...auf dieser Terrasse hat Adolf von Hildebrandt immer Boccia gespielt, weil er wollte einfach dieses italienische Flair, was er von Florenz kannte, wollte er in die Stadt transportieren und das ganze Haus ist so angelegt, dass auf der Terrasse der windgeschützte Platz ist und das man hier schon im Februar, März sich gut aufhalten kann... wir hatten früher Zitronenbäumchen, hier ist ein Orangenbäumchen, sind Palmen da und andere südlichere Pflanzen...(Gehen auf Terrasse)....das ist ein Lesegarten, man kann spazieren gehen mit Büchern, es ist einem Kreuzgang der romanischen Klöster nachgestellt. Musik 5: (unterlegen) Titel: Duett-Concertino, AV 147 3. Satz Rondo: Presto Komponist: Richard Strauss Interpreten: RSO Berlin, Ltg. Vladimir Ashkenazy Label: Decca, LC 00171 Autor: Das Hildebrandt-Haus ist eine der bedeutendsten Künstlervillen in München. Schon architektonisch ein machtvolles Beispiel künstlerischer Selbstdarstellung in dieser Zeit. 13. O-Ton: Elisabeth Tworek Wir stehen jetzt auf der Nordseite des Hauses und wir sehen riesige Atelierfenster und einen Atelier-Anbau, beim Atelierbau innerhalb des Wohnhauses ist unten ganz rechts das Akt-Atelier, daneben das Zeichen-Atelier, und drüber im ersten Stock ist das Damen-Atelier und im Anbau kommt dann das Ausfertigungs-Atelier mit den großen Toren...der Aufbau richtet sich nach der Idee Kunst und Leben, die ja um die Jahrhundertwende um 1900 eine gängige Idee war, d.h. die Kunst ist in das Wohnhaus, in das Leben integriert, alles unter einem Dach und in dem Turmzimmer war die Bibliothek, also über allem schwebt der Geist. Musik 6: s. Musik 5 Autor: Heute lagern im Hildebrandt-Haus über 140.000 Bücher zum Thema München. Und - die Monacensia ist das eigentliche Gedächtnis der Bohème. Nirgends lagern mehr Original-Schriftstücke - Briefwechsel, Manuskripte, Fotos, Gemälde - als in den Kellern des Hildebrandt-Hauses. Hier finden sich der Nachlass von Franziska zu Reventlow und - Frank Wedekind, den beiden Protagonisten der Schwabinger Künstlerszene um 1900. Elisabeth Tworek, die Leiterin der Monacensia, hat viele der Autografen in den Händen gehabt. 14. O-Ton: Elisabeth Tworek (Tische rücken für Dokument, wegräumen von Gläsern)...Frank Wedekind hat er mitgebracht... ich ziehe jetzt gerade noch die weißen Handschuhe an, ganz wichtig, weil die das Exponat natürlich schützen müssen vor Fettfingern, jede Hand, auch wenn sie noch so gewaschen ist, sondert Fett ab... das ist der Brief von Frank Wedekind an seine Mama, vom 29.12.1890... dann haben wir noch einen von Thomas Mann an Frank Wedekind, das ist die Handschrift von Thomas Mann, ist ein Brief vom 7.12.1912. Autor: Winzig. Die Handschrift eines der großen deutschen Schriftsteller ist winzig, kaum zu entziffern für heutige Augen. Auch Frank Wedekinds Schriftzüge sind verschnörkelt. Selbstbewusst hingeworfen auf ein kleines - heute - schon fast gelbes Stück Papier. Schon vor der Jahrhundertwende taucht Wedekind tief in das Künstlerleben ein; der Tod seines Vaters erlaubt dem Jurastudenten, sich nur noch der Kunst zu widmen. Im legendären Café Luitpold hält der Mitbegründer der Satirezeitschrift "Simplizissimus" Hof. Ein "schöner Mann", so schwärmt Franziska zu Reventlow, die ihn leider nicht in die Reihe ihrer Liebhaber einreihen kann. Nach einem Faschingsfest im Februar 1903 schreibt sie in ihr Tagebuch: Musik 7: (unterlegen) Titel: Heinzelmännchens Wachtparade Komponist: Noack/Geißler Interpret: H.Schunk/U.Däunert/H.Meyer/H.-J.Scheitzbach/ R.Borchmann, Ch.-A.v.Kamptz/G.Gläßer Label: Musicando, LC 06653 Sprecherin: Auch wieder in Wedekind verliebt, er nimmt mich gegen Morgen an der Hand, führt mich um sich herum und schaut mich an. Frage ihn, ob ich mich jetzt endlich auch gefalle. Darauf "fabelhafter" Blick und ich reiße aus, damit dieser große Augenblick durch nichts zerstört wird. Autor: Eine vielleicht typische Szene zwischen den beiden Helden der Bohème. Die wilde Gräfin und der eitle Dichter. Aber auch der ungekrönte König von Wahnmoching leidet bisweilen an der Welt - wie der 26jährige Ende Dezember 1890 an seine "liebste Mama" schreibt. Sie schickt ihm ein Foto zu Weihnachten. 15. O-Ton: Elisabeth Tworek Es ist außerdem das einzige Geschenk, dass ich erhalten habe, abgesehen vielleicht von einem Lebkuchenherzen, das mir ein Bekannter mal zufällig ins Cafe mitgebracht hatte. Musik 8: s. Musik 7 Autor: Elisabeth Tworek steckt das kleine gelbe Briefchen behutsam zurück in die Archivmappe. Frank Wedekind - neben Franziska zu Reventlow einer der wenigen Namen, die von damals noch im Gedächtnis sind. 16. O-Ton: Elisabeth Tworek Er ... hat es geschafft, bis zum heutigen Tag auf den deutschsprachigen Bühnen präsent zu sein, wir werden 2014 zu seinem 150. Geburtstag ihn in der Stadt gebührend feiern, dass machen wir nicht mit allen Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Boheme, er war auch einer der Zuzügler, die die Stadt wirklich verändert haben, genauso wie Franziska Gräfin zu Reventlow oder Erich Mühsam, die Stadt München lebt eben davon, dass sie einen sehr guten Austausch zwischen Internationalem und Einheimischen pflegt.... Und natürlich waren so Orte wie Schwabing Projektionsfläche für Träume, Visionen und Verrücktheiten, Durchgeknalltes, aber auch ganz braves Bäuerliches. Musik 9: s. Musik 7 Sprecher: Mitternacht ist's. Längst im Bette / liegt der Spießer steif und tot. Ja dann winkt das traulich nette / Simpel-Glasglüh-Morgenrot / Und mich zieht's mit Geisterhänden / ob ich will, ob nicht, ich muss / nach den bildgeschmückten Wänden / In den Simplizissimus / Wo sich zum gemeinen Wohle, / Künstler und Bohème trifft, / Wo die Kathi still zur Bowle / mischt das tödlich scharfe Gift. / Wo mit Mandolinenklängen / sich verwebt der Weißwurst Dampf / lausch ich fröhlichen Gesängen / und dem Mords-Klaviergestampf. 17. O-Ton: Elisabeth Tworek Von der Schwabinger Boheme ist ganz wenig übrig geblieben, aber in der Schellingstraße herrscht zum Teil noch in so manchem Cafe, wenn man sehr genau hinschaut, schon noch so eine Art Boheme vor. (...) Musik 10: Titel: "Shut up and Dance" Interpret: beNuts Komponist/Text: Fabian & Konni Verlag: Impulso 2010, LC 16124 EAN-Nr. 4 014063500922 18. O-Ton: Oide Wiesn Rummel....Atmo vom Rundgang....Klingel... Hau den Lucas....(hört man)....Aufgepasst, bitte zurücktreten....(hört Schlag auf den Lucas)...Klingelt....Jawoll!! Autor: Ein sonniger Herbsttag im vergangen Jahr. So Satt, so blau - weiß- blau. Jenseits des Oktoberfestes hat die "Oidn Wiesn", also die Alte Wiesn, ihre Zelte aufgeschlagen. Für ein paar Euro gibt es eine Reise zurück. 19. O-Ton: Elisabeth Tworek, Leiterin der Monaciensa Die Franziska zu Reventlow war regelmäßig auf der Wiesn, die ist mit der Stufenbahn sehr gerne gefahren, wir haben hier auf der Alten Wiesn noch eine Stufenbahn von 1910 und sie hat auch geliebäugelt und offensichtlich war es damals auch schon völlig normal, dass diese Anbandelungen, die ja auf der Wiesn eine ganz große Rolle spielen, und sie hat dann auch einen schwarzen, glutäugigen gefunden und sie ist ihm auch gefolgt und bei Franziska zu Reventlow weiß man, dass das nicht ohne Amouren ausging. Autor: Die Leiterin der Monacensia, Elisabeth Tworek, ist auch ein Fan der Oidn Wiesn. Im Archiv der München-Bibliothek finden sich viele Bilder alter Karussellbetriebe, wie die Stufenbahn, die die wilde Gräfin am liebsten fuhr. Überhaupt liebte die Bohème aus Schwabing die Wiesn. 20. O-Ton: Elisabeth Tworek Die Bohème war ja ein Gemisch aus Freiheit, Unabhängigkeit, neue Lebensformen und natürlich auch dieser absolute Wille zur Selbstverwirklungen und nichts anderes ist so ein Wiesn-Tag. Atmo: Aus Volkssängerzelt Autor: Dazu gehört - heute wie damals - das Biertrinken. Man begibt sich also in schlecht gelüftete Zelte und drängt sich auf unbequemen Holzbänken zusammen. Damals - wie heute auch wieder - "derbleckt" der Stanzlsänger sein Publikum. 21. O-Ton: Stanzlsänger Kriegst glatt an Preiß' zum sehen, wundert sich, was der Bayer da für coole Sprüche drauf hat... und gleich dran: 22. O-Ton: Elisabeth Tworek Das Derblecken kommt natürlich aus der bayrischen Volkskultur, das ist dieser anarchische Geist, der ja was typisch bayrisches ist, dass die Leute, die Bayern in sehr charmanter Weise in Lyrik und in Sprechgesang der Obrigkeit klar machen, dass das ganz daneben ist, was die Obrigkeit zur Zeit macht. Atmo: Aus dem Zelt vom Stanzlsänger mit Beifall Autor: Vielleicht ist die Oidn Wiesn einer der wenigen Orte, an dem man noch etwas vom wilden Lebensgefühl der Bohème spüren kann. 23. O-Ton: Elisabeth Tworek Weil die Katholiken glauben ja seit dem Barock, seit der Pest und den schweren Katastrophen, hier in Bayern vor allem der 30jährige Krieg, dass "Carpe diem", die Tag genießen und dann, was dahinter kommt, das sieht man dann schon und der Fasching dient ja immer dazu, kombinierte sich Katholisches mit dem Heidnischen, dass man einmal im Jahr wirklich ausbrechen muss, dann kann man auch wieder fasten, aber einmal muss man es krachen lassen... Autor: Oder um es mit Franziska zu Reventlow zu sagen: Sprecherin: Man braucht doch auch Abwechslung vom Ernst des Lebens. Autor: Oder mit Frank Wedekind, einem der Anführer der Freigeister von Schwabing. Sprecher: Die Münchner Bevölkerung ist wohl die naivste in Deutschland. Das ist auch der Grund dafür, dass sich die Kunst in München so wohlfühlt und so üppig gedeiht. Die Naivität ist der Nährboden der Kunst. Ohne urwüchsiges Leben ist keine Kunst denkbar. Autor: Kunst. Künstler sein! Sich nur um die Kunst und das eigene Leben kümmern. Ich bin der Mittelpunkt der Welt! - Nicht wenige verfechten dieses radikal individualistische Prinzip. Und "Wahnmoching" scheint ein magischer Anziehungspunkt - wie ein Zeitgenosse, Erich Mühsam, in seinen "Unpolitischen Erinnerungen" anmerkt. Musik 11: s. Musik 7 Sprecher: Bald kennt er alle in Wahnmoching, die Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen, Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer, Sexualethiker, Psychoanalytiker, Musiker, Architekten, Kunstgewerblerinnen, entlaufenen höheren Töchter, ewigen Studenten, die Fleißigen und Faulen, Lebensgierigen und Lebensmüden, Wildgelockten und adrett Gescheitelten. Autor: Matthias Mühling würde Erich Mühsam sicherlich nicht widersprechen. Der Sammlungsleiter des Lenbachhauses sitzt in einem ganz und gar nüchternen Verwaltungsbau. Das Lenbachhaus - benannt nach dem Malerfürsten Franz von Lenbach, der die Kunstszene des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie kein anderer dominierte - wird zur Zeit generalsaniert. Mühling ist einer, der gern auch die Ansichten über die Bohème saniert. 24. O-Ton: Matthias Mühling, Sammlungsleiter des Lenbachhauses Das ist ja auch diese Vorstellung, die wir heute nicht mehr mit der Bohème teilen können, - wir halten die Bohème für ein überzogenes Konzept, in dem nur der Künstler denkt, er ist derjenige, in dem sich Kreativität verwirklichen kann. Wir wissen heute, dass Spitzenmanager oder auch eine Hausfrau, die einen komplizierten Haushalt managt mit drei Kinder und trotzdem noch berufstätig ist, das das auch eine enorme Form von Kreativität und nicht weniger wert, als ein Künstler zu sein. Auch wir glauben nicht mehr daran, dass ständiger Alkoholkonsum etwas ist, was uns grundsätzlich weiter bringt, aber man muss natürlich sagen, dass die antibürgerlichen Verhaltensweisen damals etwas anderes waren als heute. Autor: Wer in Franziska zu Reventlow zeitgenössischem Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen" blättert, merkt, dass fast alle Klischees stimmen. Ja, sie haben geraucht, gesoffen, gehurt, politisiert und - Kunst gemacht. Sie haben gelebt. Intensiv. Sprecherin: Das war in der Nacht vom Dienstag zu Mittwoch, als die letzten Lokale geschlossen wurden und es hieß, der Karneval sei nun zu Ende. Die meisten gingen nach Hause - wir nicht, wir standen im Schnee auf der Straße und wollten glücklich bleiben. Dann lud uns jemand, den wir nicht kannten, zum Frühstück ein, das Frühstück ging in ein Souper, das Souper in ein Gelage mit Tanz über, dann wurde alles undeutlich, immer undeutlicher. Man war nicht mehr im Kostüm. Musik 12: Titel: Le Tourbillion (Musik aus "Jules und Jim") Interpret: Jeanne Moreau Komponist/Text: Cyrus Bassiak Label: Philips, LC 00305 25. O-Ton: Marion Bösker, PR-Leiterin des Literaturhauses In der Fürstenstraße, noch die schönen Altbauten, die Fassaden, das ist alles noch ganz schön, man hat in Schwabing vor allem in der Max Vorstadt, Schellingstraße, Theresienstraße, da ist viel kaputt gegangen, sieht dann aus wie da vorne.... ich war mal Nachbarin von Fanny, wusste das natürlich nicht und wohnte das in einem fiesen 60er Jahre-Haus, also das war nicht wild romantisch....(Straßenarbeiten)... und dann noch ein Stückchen rauf zur Amalienstraße...jetzt suchen wir mal die Hausnummer...hier, also Theresienstraße 66, oder da müssen wir ein Stück weiter rauf... Autor: Die Schauspielerin Marion Bösker, die für das Literaturhaus arbeitet, steht mit einem Stadtplan in der Hand zwischen 2 Baustellen auf der Straße. Der Plan - eine Kopie aus der Zeit um 1900 - zeigt Dutzende rote Punkte. Die Theresienstraße 66 war einer von 23 Wohnorten der Fanny zu Reventlow. Einer von 23 - in 17 Jahren. Hier, zwischen Kunstakademie und Odeonsplatz fand die schöne, rebellische Gräfin ihre Heimat. Die Theresienstraße 66 ist heute ein unscheinbarer Bau, wie eingeklemmt zwischen die Jugendstilhäuser der Jahrhundertwende, die der Krieg übrig gelassen hat. Fast 90 Prozent der Münchner Altstadt wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. - Marion Bösker läuft weiter. Es ist gar nicht so einfach, die Spuren von gestern zu finden. "Aber Schwabing ist auch kein Ort, sondern ein Zustand" - so der legendäre Spruch der Gräfin. 26. O-Ton: Marion Bösker Das Cafe Stefanie, das es einfach nicht mehr gibt, das war neben dem Cafe Luitpold das Künstlercafe, die große Kneipe, wo sie alle sich geliebt und geschlagen und sonst was haben und wo sie ganzen großen Geister dieser Zeit waren, ich hab mir das mal mitgebracht. Da waren, Stammgäste waren: Neben Fanny zu Reventlow u.a Hans Bolz, Hans Carossa, Theodor Däubler, Hans Eisner, Hans Heinz Ewers, Leonard Franz, Otto Grosz, Emmy Hennings, Arthur Hulitzscher, Eduard Graf von Kayserling, Paul Klee, Alfred Kubin, Gustav Landauer, Heinrich Mann, Gustav Mann, Erich Mühsam, Erwin Piscator und so weiter und so weiter...Ernst Toller, auch ein großer Name der Revolution, Frank Wedekind natürlich, große Münchner und hier waren sie...Hier hat sie nicht gewohnt, sondern gesoffen... ich glaube, dass das wirklich eine andere Zeit war und dass man mit Drogen anders umging... schön fand ich, dass man das Cafe Stefanie Cafe Größenwahn nannte. Autor: Das "Größenwahn" ist ebenso verschwunden wie die großen Malschulen, die stickigen Ateliers oder feuchten Mansardenwohnungen. Geblieben ist eine typisch Münchnerische Mischung - die um 1900 hier ihren Ursprung fand. 27. O-Ton: Marion Bösker Aber das sind ja immer noch ganz lebendige Straße, die Amalienstraße, parallel die Türkenstraße, da tut sich immer noch was, da kann man, wenn man möchte, auch noch Fasching feiern, da vorne ist ja die Kunstakademie, rechts runter ist die Uni, in Schellingstraße sind viele Institute der Uni...legendäre Restaurants, kann man gar nicht mehr sagen, wird ja immer heruntergebetet hier, es gibt einen wunderbaren Italiener hier, in der Schellingstraße, mein Lieblingslokal, die Osteria Italiana, und da sagt man ja, dass sogar Hitler Stammgast war, was seltsam anmutet, weil er Vegetarier war und Anti-Alkoholiker, aber er saß dort immer in dieser Kneipe und flog dort auch mal raus wegen nicht erwünschter politischer Äußerungen.. aber das hat jetzt nichts mit Fanny zu tun. Autor: Marion Bösker, die seit 15 Jahren hier wohnt, wirbelt durch die sonnendurchfluteten Straßen. Sie ist schneller als die meisten hier. In München geht es langsamer zu. Die "Fanny", wie sie die Gräfin zu Reventlow nennt, ist ihr im Laufe der Zeit an die Seele gewachsen. Theresienstraße 83 - wieder ein Wohnort Fannys. Für ein paar Monate. Oder Wochen. Wenn es ein Kontinuum in Fannys Leben gibt, dann ihre notorische Geldknappheit. Sie übersetzt, versucht sich als Schauspielerin, verkauft Witze an die Satirezeitschrift "Simplizissimus" - und nimmt auch schon mal Geld für Liebesdienste. Mit erhobenem Haupt verschwindet sie dann aus der Wohnung - kurz bevor ihre Gläubiger kommen. 28. O-Ton: Marion Bösker Das finde ich natürlich auch wieder so eine mutige Sache... ist ne Arbeit, logisch, klar, aber trotzdem, aber es ist ja eine Arbeit, die einem im wahrsten Sinne des Wortes nahe geht, kann mir nicht vorstellen, das man das einfach so abstreifen kann, - aber sie hat es gemacht und sie hat darüber geredet. Dafür hat man sie auch gefeiert, die Hetäre, die Hure einerseits, die Mutter anderseits. Atmo: Leierkastenmann auf der Straße Autor: Türkenstraße 81. Eine trostlose 60er-Jahre-Fassade. Nur der Leierkastenmann mit seinem abgewetzten Jackett sieht vielleicht noch so aus wie früher. Und er spricht Russisch - so wie viele Künstler damals in München. Was Fanny hier wohl erlebt hat? Marion Böskers Phantasie läuft auf Hochtouren. Ein Partygirl war sie. Eine entlaufene höhere Tochter, die sich nimmt, was sie will - und dafür bezahlt. Mit 47 fiel sie vom Fahrrad und starb. Weil sie so raste. Ist so eine ein Vorbild? 29. O-Ton: Marion Bösker Nee, auf gar keinen Fall, nee, ich bin auch - Danke - dass man mich nicht verstoßen kann, bloß weil ich mich mit meinen 38 Lenzen immer noch weigere zu heiraten, also solche Themen, du musst standesgemäß dich verbinden, darfst als Frau nicht jeden Beruf ergreifen... also ich würde mal sagen, dass mein Leben bis jetzt nicht nicht rauschhaft war, also das bringt ja so das Theater und die Literatur...(pustet)...aber so einen Vergleich zu ziehen zur Fanny, das wäre jetzt ein wenig vermessen, ich bin kein Stubenhockermädchen... aber nein, nein, nein, das Leben hätte ich nicht haben wollen. Ich finde es ganz schön, dass ich meine Miete zahlen kann und ich kann auch mal ordentliche essen gehen und jemand dazu einladen, bin ich schon froh und es klingelt keiner und sagt, hey die Miete der letzten vier Monate ist fällig und dann muss ich mit meinem Nachbarn in Bett nehmen und Geld dafür nehmen, damit ich die Miete zahlen, im Leben nicht und - ich möchte auch keine allein erziehende Mutter sein, nicht mal jetzt. Atmo: Leierkastenmann auf der Straße Autor: Marion Bösker spendiert dem Leierkastenmann ein paar Münzen. Er sagt: Spasiba. Sie lacht und wirbelt weiter. 30. O-Ton: Marion Bösker Ja jetzt zeige ich Ihnen was ganz Schönes, das kennt keiner, das ist ein Antiquariat hier Schellingstraße 25, und ich würde sagen, das ist die einzige Schaufensterscheibe mit einer Schraube drinnen, ist der Wahnsinn oder, da ist eine Schraube in der Schaufensterscheibe, und die ist da, seit ich in München bin und ich bin schon seit 15 Jahren in München und ich meine, man könnte ja auch mal die Scheibe ersetzen...Wahnsinn, als hätten die das so geplant, Nietzsche war ja, ich würde sagen Ibsen und Nietzsche waren so die Initiations-Drogen für Fanny, dieser Ibsen-Club in Lübeck, - Nietzsche war natürlich die Bibel, diese Erfindung des neuen Menschen, was ist mit dem Glauben, toll, schöne Ausgaben....(gehen rein ins Antiquariat)...zu Zeit von der Gräfin von Reventlow, Raimund?... Wie bitte?... zu Zeit von der Reventlow, obs da den Kitzinger schon gab...gab...jaja seit 1900. Autor: Um genau zu sein: Das Antiquariat Kitzinger in der Schellingstraße gibt es seit 1892. Manche Dinge verändern sich in München doch nicht. Wie diese typische weiche Luft - man nennt sie auch Fön -, die über den weißen und zartgelben Jugendstilhäusern liegt. Kurz hält die Zeit an: "München leuchtet". Besser als Thomas Mann kann man es nicht beschreiben. Musik 13: Titel: Die diebische Elster - Ouvertüre Komponist: Gioacchino Rossini Interpret: Münchner Philharmoniker, Ltg. Sergiu Celibidache Label: Emi Classics, LC 06646 EAN-Nr. 724355785725 Atmo: Vor der Akademie 33. O-Ton: Max, Student an der Akademie der Künste München Das ist der Altbau der Akademie der Bildenden Künste München - und wir werden jetzt gleich das Foyer betreten.... Autor: Max Schmidtlein ist Mitte 20 und studiert an der Akademie der Bildenden Künste. Der mächtige Bau im Stil der Neorenaissance überragt die dreigeschossigen Häuser zwischen Türken- und Leopoldstraße. Ein Anziehungspunkt, schon optisch: Zum prächtigen Mittelbau führt eine imposante Freitreppe. 34. O-Ton: Max Hier im Altbau sind die Ateliers (gehen rein) und die ganzen Klassenräume untergebracht und da vorne sind die Werkstätten... also hier ist der Hauptstudienplatz.... (gehen durch Halle)...unterlegen unter Autor... Autor: Zwei lang gezogene Seitenflügel strecken sich von der riesigen Eingangshalle weg. Auf den schier endlosen Fluren könnte man Fußballspielen. Alles ist weiß. Sehr weiß. 35. O-Ton: Max Die letzten 7 Jahre wurde er komplett renoviert und erstrahlt in neuem Glanz, wobei das Problem dabei ist, dass sehr genau darauf geachtet wird, dass die Wände so schön weiß bleiben wie sie jetzt sind und sobald irgendwas auf die Wand geschmiert wir (gehen in Lift)...dann ist das auch am nächsten Tag weg... das hat schon so eine gewisse Sterilität...(lacht). Autor: Seit fünf Jahren studiert Max in München. 36. O-Ton: Max (gehen auf dem Flur)....hier ist das Büro von unserem Professor Dillemuth...(piepst)... seit neuestem gibt es auch elektronische Schlösser... (geht auf)....Atmo dran...(Zimmer betreten)... Autor: Das elektronische Schloss ist einsichtig und öffnet den Weg ins Reich von Professor Stefan Dillemuth und seiner Klasse mit dem Namen K2 AO. Wer dahinter Spektakuläres vermutet, täuscht sich: Klasse 2, Aufbauorganisation. Man liebt es nüchtern. Neben Max sitzen noch Lisa und Mirja auf dem schwarzen Sofa. In dem hohen Raum mit Ausblick auf die Bäume des Akademiegartens stehen ein paar Regale, an den Wänden kleben Plakate mit Tesafilm. Nüchtern eben. Es gibt Mineralwasser. Auf dem Tisch nur ein Aschenbecher und - ein Laptop. 37. O-Ton: Lisa und Mirja (lachen)...angefangen hat es eigentlich als der Professor Dillemuth an die Münchner Akademie gekommen ist, 2006 und das war der Jahrgang, wo der Max und ich angefangen haben und da hat er eben das so genannte Bohème Seminar gegründet...hat angefangen, sich mit der Münchner Bohème der Jahrhundertwende auseinander zu setzen und all die einzelnen Charaktere sich raus zunehmen und sich eher auf so einen lockere Art sich zu beschäftigen, zu schauen, wie hat das denn damals ausgeschaut.... Was natürlich taktisch klug war, dass man selbst als Kunststudent sich erstmal selbst verorten muss, in was für einer Stadt studiere ich eigentlich, ( ... ) und gleich dran: 38. O-Ton: Max Und als wir herausgefunden haben, dass es damals Ende des 19 JHD, Anfang des 20 JHD - dass München Paris quasi abgelöst hat als Kunstmetropole und unglaublich viele Leute nach München gekommen sind, weil die Stadt eben damals geboomt hat, sie war noch viel kleiner, aber es hatten sich viele Leute um die Akademie gesammelt, das ist ein wichtiger Punkt, wo so alte Malermeister wie Pilote und Lenbach lehrten, (...) Autor: Aber es bleibt nicht bei der theoretischen Auseinandersetzung, schließlich ist man ja Kunststudent! Max tippt auf die Tastatur des Laptops und auf dem Bildschirm bewegen sich Menschen mit seltsamen weißen Kostümen, antikenähnlich, manche mit Kränzen auf dem Haupt. 39. O-Ton: Filmausschnitt Rezitieren zu Trommelklängen Gedichte....Stefan George und das ist Maximilian der Göttliche, der die Muse von George war....da ist Kandinsky, Franziska zu Reventlow.... Und gleich dran: 40. O-Ton: Max und Lisa Unsere Herangehensweise war so, dass sich jeder einen Charakter raussucht, der ihn interessiert, also einer beschäftigt sich mit Stefan George... ich hatte mich mit Otto Grosz, so einem Psychoanalytiker beschäftigt, den ich ganz gut fand, so hatte jeder einen Figur, wo er recherchiert hat und sich das gegenseitig zu vermitteln, also einer erzählt dann von dem, den er auf einen historische Art und Weise kennen gelernt hat und man hat dann versucht, dieses trockenen Wissen dann lebendig zu machen ...Anita Augsburg... Aber was jetzt der Max vorher gemeint hat, ist vielleicht der springende Punkt, wie bringt man jetzt dieses trockene Wissen zu einer Lebendigkeit und da haben wir eben diesen Weg genommen, diese Münchner Bohème-Faschinge selber wieder zu spielen, wo eben jeder seinen Figur spielt und man in diesen Figuren einander begegnet aber in einer spielerischen Form, also einem Fest... und gleich dran: 41. O-Ton: Filmausschnitt (Hintergrund Filmausschnitt)...man hat sich halt einen Vorstellung davon gemacht, wie hätte das ausschauen können und dann hat man sich verkleidet...im Film: Sie haben wunderschön dekoriert, vielen Dank... Kandinsky... Sie kennen sich auch...das ist meine liebe Anita...Hallo!...Kandinsky... sagen Sie doch was für die Nachwelt.... Musik 14: s. Musik 2 Autor: Die Bohème-Feste! Legendär. Man trifft sich zu Feiern in privaten Salons oder zu Atelierfesten - wie jenes, das die Studenten 100 Jahre später nachspielen. Franziska zu Reventlow schildert in ihrem Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen" eines der Feste, bei denen die versammelte Künstler-Bohème in historische Gewänder schlüpfte. Musik 15: s. Musik 2 Sprecherin: Das Fest begann mit einem feierlichen Umzug: voran schritt einen Bacchantin, die ein ehernes Becken schlug, dann kam Dionysos mit seinem goldenen Stab, ihm folgten der Cäsar - er trug eine Art kugelförmigen, durchbrochenen Krug, in dem ein Licht brannte - und die in Schwarz gehüllte Matrone, daneben und dazwischen bekränzte Knaben mit Weinbechern. Wer in antikem Gewand war, folgte, die anderen blieben zur Seite stehen. Denn viele waren auch anders kostümiert - Renaissance, alte Germanen oder orientalisch...der Umzug ergab tatsächlich ein ungemein wirkungsvolles Bild, und durch den eigenartigen Gesang (da schon O-Ton drunter), der dabei angestimmt wurde, eine fast beklommen weihevolle Stimmung... dann löste sich alles in bewegtes Durcheinander und Tanz. 42. O-Ton: Film Trommelwirbel....Gesänge... da haben wir versucht so einen exstatischen Tanz darzustellen... Autor: Die drei Studenten sitzen kichernd vor dem Laptop und sehen sich dabei zu, wie sie als Franziska zu Reventlow, Stefan George oder Wassiliy Kandinsky durch das dekorierte Atelier geistern. 43. O-Ton: Mirja Natürlich schon ein Begehren nach einem alternativen Lebensentwurf... man ist ja auch Kunstproduzent, man studiert zwar Kunst, man macht das aber in München und nicht in Berlin, wo sonst alle anderen hingehen, man begibt sich hier in diese Stadt und die macht ja auch was mit einem... und gibt auch einem viel zu denken, wie die Lebensverhältnisse hier so sind... und das war was, was auch in der damaligen Zeit interessant war, eben dieses Zusammenkommen, sich treffen, sich austauschen und dann auch gemeinsam Sachen zu produzieren...zu beeinflussen. Musik 16: s. Musik 2 Autor: Eine alte Sehnsucht. Unausrottbar. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Und vielleicht auch ein wenig Erstaunen darüber, wie einfach es einmal war, sich abzugrenzen. 44. O-Ton: Max Also die Frage ist schon, ob es heute noch so ein Bürgertum gibt, wie es damals existiert hat, also damals war es ja wirklich das Leitbild einer Gesellschaft und heute ist es ja so, dass es eigentlich gar keine so klassischen Modell mehr gibt, nach denen man sich richtet. Und wo es damals relativ einfach war, sich gegen das Bürgertum zu stellen, ist es heute immer schwieriger, irgendwelche Nischen zu finden, wo eben noch so etwas Tatsächliches gibt wie eine Subversion, da stellt sich für mich auch die Frage, ob der Begriff der Boheme nicht auch ein historischer ist... ein Begriff, der von außen kommt, sobald sich jemand als Bohemiest oder als Bohème- Zirkel beschreibt, ist er es garantiert nicht. Musik 17: s. Musik 2 SpvD: "Schwabing ist kein Ort, sondern ein Zustand" - Auf den Spuren der Münchner Bohème um 1900. Deutschlandrundfahrt-Musik Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Nana Brink. Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 2