COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen ab- geschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 05. Dezember 2011, 19.30 Uhr Beruf: Tagesmutter Über den Ausbau der privaten Kinderbetreuung Von Barbara Leitner Atmo 1: Tagesmutter Krause mit Kindern Take: Mutter 2 Ich weiß, es gibt so Schnellkurse. Tagesmutter kann sich fast jeder nennen, wenn man so einen Schnellkurs durchlebt hat. Take: Tagesmutter Krause Eigentlich ist Tagesmutter genauso ein Beruf wie eine Erzieherin und eigentlich Berufung. Da muss man dahinter stehen, eben weil es so nah ist. Take: Löhrer Da verändert sich ein Feld völlig von einer Art freiwilligen Organisation, freiwilligen Übernahme gegen ein gewisses Entgelt hin zu einer Berufsorientierung dieses Feldes. Sprecherin vom Dienst: Beruf: Tagesmutter Über den Ausbau der privaten Kinderbetreuung Ein Feature von Barbara Leitner Atmo 2: Sagt ihr jetzt Tschüss zur Mama. Wir wollen zum Fenster gehen... Sprecherin: Morgens um neun in einem Zweifamilienhaus im sächsischen Radebeul. Tagesmutter Cornelia Winkler hilft Cassidy und Charly, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Take: Mutter Helbig Viele sind neidisch, dass ich das Glück hatte, so kurzfristig noch einen Platz zu bekommen. Sprecherin: Sonja Helbig bringt ihre einjährige Tochter und den zweieinhalbjähriger Sohn täglich für sechs Stunden zur Tagesmutter. In dieser Zeit macht die 33-Jährige eine Umschulung und arbeitet einige Stunden. Leichten Herzens, weil sie ihre Kinder gut aufgehoben weiß. Take: Mutter Helbig Das war ein Bauchgefühl. Wir haben uns ein paarmal getroffen und sie ist ganz anders als ich. Sie puffert n' bisschen ab, was ich nicht meinen Kindern so geben kann, gerade in der musischen, künstlerischen Richtung. Basteln, singen, liegt mir nicht so. Ich denke, da ergänzen wir uns gut. Und der gesamte Ansatz, gesunde Ernährung. Sie kocht jeden Tag selber. Sie kann sich ganz individuell auf die Kinder einstellen, was mögen sie, was mögen sie nicht so. Atmo 3: Kinder am Klavier... Sprecherin: Cornelia Winkler betreut zurzeit drei Kinder. In den nächsten Tagen wird ein viertes eingewöhnt. Für die kleine Gruppe hat sie im Haus ein Spiel- und Schlafzimmer eingerichtet. Dort verbringen sie den Tag, spielen und singen miteinander. Atmo: 3 Sprecherin : Die 45-Jährige ist seit Juli dieses Jahres Tagesmutter. Anfang des Jahres besuchte sie einen 30- stündigen Grundkurs und erhielt so die Pflegeerlaubnis. Demnächst beginnt sie eine berufsbegleitende Weiterbildung von insgesamt 160 Stunden. Auf diese Weise wird Cornelia Winkler die bundesweit anerkannte Mindestqualifizierung als Tagesmutter erwerben. Take: Tagesmutter Winkler Die Kinder, das ist für mich so eine Freude, wenn ich die früh ankommen sehe, auch wenn die erst mal kurz weinen durch die Trennung. Aber wenn ich die Kleinen sehe, dann können sie laufen und dann können sie schon dies und das. Das ist schön. Atmo: 4 bei Cornelia Winkler O-Ton von der Leyen Wir haben uns geeinigt, dass wir mindestens europäisches Niveau beim Ausbau der Kindertagesbetreuung für die Kinder, die jünger als drei Jahre sind erreichen wollen. Sprecherin: Krippengipfel im Frühjahr 2007. Die Regierung beschließt: Bis 2013 soll für jedes dritte Kleinkind in Deutschland ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen. Ein Drittel davon soll in der Kindertagespflege geschaffen werden. Ursula von der Leyen, damals Familienministerin: O-Ton von der Leyen Das geht vom Ausbau eines guten Netzes an Tagespflege, Tagesmüttern, über den Ausbau altersgemischter Gruppen bis hin zu dem Angebot an reinen Krippenplätzen. Das heißt in Zahlen rund 750 000 Plätze. Sprecherin: Der Bund verpflichtet sich, ein Drittel der Kosten für den Ausbau zu übernehmen und vier Milliarden Euro bereitzustellen - für Investitionen und Betriebskosten. Zwei Drittel der Aufwendungen müssen die Länder und Kommunen zahlen. Mit diesen Mitteln sollen Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege ausgebaut werden. Beide Angebote sind nach den gleichen Grundsätzen zu unterstützen, so schreibt es das Kinderförderungsgesetz vom Dezember 2009 vor. Im Gegenzug sollen die Tagesmütter und -väter, die unter Dreijährigen nun ebenso bilden, betreuen und erziehen, wie es das pädagogische Personal in den Kitas tut. Die einst ausschließlich private Betreuung erhielt damit einen öffentlichen Auftrag. Michael Löhrer, Vorstand und Geschäftsführer des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge sagt, den Verein haben die Ausbaupläne der Bundesregierung beunruhigt. Der Grund dafür: Take: Löhrer Das wir von vornherein das Gefühl hatten, dass man von falschen Zahlen ausgeht. Sprecherin: Die Politik unterschätzt zum einen den Bedarf der Eltern. Gerade in großen Städten geht man davon aus, dass nicht nur für jedes dritte, sondern mindestens für jedes zweite Kind ein Angebot gebraucht wird. Zum anderen hält Michael Löhrer die Zahlen für die Tagespflege für völlig aus der Luft gegriffen. Take: Löhrer Ich weiß nicht, was die politisch Handelnden im Ergebnis auch bewegt hat. Ich glaube aber schon, dass man frühzeitig auch gesehen hat, einmal um konservative Kreise zu besänftigen, dass man nicht nur die stationären Kindereinrichtungen propagieren kann, sondern auch etwas Familienähnliches braucht. Zum zweiten hat man, glaube ich, frühzeitig gesehen, dass man gerade in ländlichen Bereichen und Gebieten es nicht so schnell sein wird. Und man von daher ein Ersatz, ein Surrogat braucht. Und dann hat man auch gesehen, dass es bestimmte Situationen gibt, was Zeiten oder Öffnungszeiten angeht, wo man einfach ergänzendes zur stationären Einrichtung braucht. Und so ist die Diskussion um die Kindertagespflege weiter in Gang gekommen. Atmo: 5 Familienzentrum Radebeul Sprecherin: In den neuen Bundesländern griffen Vereine und Verbände die Idee einer alternativen Kindertagesbetreuung zur Krippe vielerorts dankbar auf. Offiziell gab es bis 1990 die Tagespflege gar nicht, dennoch werden heute im Osten im Durchschnitt fünf Prozent der Kinder unter drei Jahren von Tagesmütter und -vätern betreut, im Westen sind es knapp drei Prozent. Atmo kurz hoch In Radebeul wird die Tagespflege gut gefördert. Der Landkreis zahlt - wie es das Land Sachsen empfiehlt - monatlich 400 Euro pro Platz für ein Kind an die Tagesmutter und bekommt jeweils 160 Euro aus der Landeskasse dazu. Barbara Plänitz ist froh über diese Entscheidung der Kommunalpolitiker. Take: Plänitz Dass sie sagen, wir möchten das unseren Eltern beides anbieten und das ist die Entscheidung der Eltern, wo gebe ich mein Kind hin, selbst auf die Gefahr hin, dass in der Kita mal freie Plätze wären. Sprecherin: Barbara Plänitz arbeitet im Familienzentrum Radebeul. Das erhielt vom Jugendamt den Auftrag, sich um die Entwicklung der Tagespflege in der Kommune zu kümmern. Gleichzeitig gehört das Zentrum zu den 160 Modellstandorten, die durch das Programm "Kindertagespflege" der Bundesregierung finanziell gefördert werden. Sie sollen dafür sorgen, mehr Personal für die Tagespflege zu gewinnen und die Qualität der Angebote zu verbessern. Radebeul hat 33.000 Einwohner, 38 arbeiten offiziell als Tagesmütter. Take: Plänitz Wir gehen nicht offensiv in die Werbung, weil wir einfach der Meinung sind, das ist auch wie eine Berufung, ich muss das auch selber wollen. Das ist ein ziemlich langer Prozess der Eignungsfeststellung der vorausgeht, ehe man wirklich auch beginnt. Der damit beginnt, dass man klärt, passt das überhaupt in meine derzeitige Lebens- lage, mein ganzes Konzept. Wir sind eher daran interessiert, dass Leute diese Arbeit länger tun und nicht nur so kurz die Idee jetzt mal haben. Dann stellt man nach einem Jahr fest, es war doch noch nicht das Richtige. Sprecherin: Radebeul kann sich diese Gelassenheit leisten. Wie im Durchschnitt der neuen Bundesländer wird in der sächsischen Stadt etwa die Hälfte der Kinder unter drei Jahren bereits öffentlich betreut. Der Bedarf ist damit gegenwärtig weitgehend gedeckt. Deshalb geht es nicht um Quantität, sondern vor allem um Qualität und Flexibilität. Die Frage ist, wo und wie werden die Jüngsten gut gebildet und erzogen. Im Vergleich zur Kita haftet der Tagespflege da noch manches Klischee an. Take: Tagesmutter Krause Tagesmutter war so, naja. Die Tagesmutter kocht Essen und passt auf, dass es den Kinder gut geht und spielt mal mit denen am Sandkasten und sing mal ein Lied. Und es ist viel viel mehr. Sprecherin: Evi Krause ist Kindergärtnerin von Beruf und seit der Wende Tagesmutter. 1990 waren ihre eigenen beiden Söhne klein. Das gut ausgebaute Kinderbetreuungssystem der DDR begann zu bröckeln und sie rechnete mit der Entlassung. Wie auch andere von Arbeitslosigkeit bedrohte, gut ausgebildete Frauen, begann sie selbständig Kinder zu betreuen. Das ist der Grund dafür, dass Tageseltern in den neuen Bundesländern im Durchschnitt höher qualifiziert sind als in den alten. Keinen Moment hat 53-Jährige ihren "Seitenwechsel" bereut. Take: Tagesmutter Krause Heute ist das viel entspannter. Die Beziehung ist viel intensiver. Das ist ein Unterschied 3-4 Kinder oder 22. Ich nehme die Bedürfnisse der Kinder live wahr. Drei, vier Kinder hat man mehr im Auge, als die von 22 und die wachsen einen mehr an Herz, weil man die genauer kennt. Die Bedürfnisse. Oder jede Regung. Dieses intensive, fast wie eine Mama. Das man das spürt und sieht, bei vier eher als bei 22. Atmo 6: Spaziergang zu den Schafen Sprecherin: Mit vier Kindern, alle etwa im Alter von zwei Jahren, spaziert Evi Krause durch Radebeul. Sie wollen Schafe auf einer nahe gelegenen Wiese füttern. Die Kinder fühlen sich sichtbar wohl bei ihrer "Tagesmutti". Viele Eltern, die mit der Kita unzufrieden sind, schätzen eine solche kleine Gemeinschaft. In dieser Intimität sehen sie die Kinder besser aufgehoben als in der Kita mit übervollen Gruppen und wechselnden Erzieherinnen. Dabei macht das Land Sachsen - ebenso wie das Land Berlin - es den Eltern leicht, diese private, familiärere Obhut für ihr Kind zu wählen. Für die öffentlich geförderte Tagespflege entrichten sie den gleichen Elternbeitrag, wie sie ihn für die Kita zahlen würden. Take: Plänitz Es ist im Gesetz so festgehalten und in Radebeul und in allen Gemeinden, mit denen wir zusammenarbeiten, es ist ein Angebot in der Betreuungslandschaft, gleichwertige Alternative zur Krippe, also ich zahle nicht mehr für einen Tagesmutterplatz, was vielen Eltern nicht klar ist. Sprecherin: Viele Eltern wissen nur eines: Bei der Tagespflege müssen sie einer einzigen fremden Person vertrauen und sich auf sie verlassen können. Die Beziehung zwischen den Eltern und den Betreuungspersonen - davon ist Barbara Plänitz überzeugt - darf man nicht dem Selbstlauf überlassen. Wenn man Tagespflege wirklich als ein gleichrangiges öffentliches Betreuungsangebot im Lande ausbauen will, braucht es öffentlich geförderte Unterstützung, wie sie zum Beispiel das Familienzentrum in Radebeul bietet. Atmo 5: Familienzentrum Sprecherin: In dem liebevoll restaurierten Fachwerkbau auf dem alten Dorfanger treffen sich junge Mütter, um sich auszutauschen, um mit anderen Müttern und Kindern gemeinsam Zeit zu verbringen. Suchen sie eine Betreuung für ihr Kind, nehmen etliche von ihnen auf dem roten Beratungssofa von Barbara Plänitz Platz. Dann redet die Sozialpädagogin mit ihnen darüber, wie Kinder sich binden und bilden und was sie brauchen. Längst nicht alle entscheiden sich danach für die Tagespflege. Take: Plänitz Die Klippe ist, dass sich zwei Familien begegnen und man sich doch sehr nahe kommt und in dieser Nähe entsteht auch Reibung und manchmal Konflikte. Das hat man nicht sofort gelernt. Und das ist auch etwas, was Erfahrung braucht und Zeit und die Möglichkeit, die auch ne Tagesmutter hat und die wir ganz ernst nehmen, ne, mit dieser Familie, das kann ich mir nicht vorstellen, wir haben so unterschiedliche Wertvorstellungen, da muss es krachen. Das sind die Klippen, die entstehen. Wenn sich zwei Familien begegnen, die dem Leben sehr unterschiedlich gegenüberstehen, wird es nicht funktionieren. Deshalb legen wir in der Beratungsstelle auch sehr viel Wert darauf auf eine passgenaue Vermittlung. Sprecherin: Das zahlt sich aus. Nach Analysen des Deutschen Jugendinstitutes verweilen bundesweit viele Kinder höchstens sechs Monate in der Kindertagespflege. Die Eltern nutzen das Angebot oft nur als Notnagel, ehe sie einen Kita-Platz finden. Die Radebeuler Tageseltern allerdings begleiten die Mädchen und Jungen in der Regel bis zum dritten Lebensjahr - bis sie in den Kindergarten wechseln. Um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und um die Anforderungen des Sächsischen Bildungsplans für Kinder unter drei Jahren erfüllen zu können, haben sich die 38 Tagesmütter vernetzt. Wenigstens einmal monatlich treffen sie sich zum Austausch, hören Vorträge, bilden sich weiter. Tagesmutter Evi Krause betrachtet deshalb das Familienzentrum "Fami" als einen wichtigen Anlaufpunkt. Take: Tagesmutter Krause Manchmal gibt es Probleme, die man in Nullkommanichts lösen kann, wo man sagen kann, es ist mir genauso gegangen vor einem Jahr, ich habe es so und so gemacht, probiere es doch mal. Und dieser rege Austausch hilft mir viel und allen anderen auch, dass man sich unter Berufskollegen mal austauschen kann, jeder macht den gleichen Tagesablauf durch, jede hat ähnliche Probleme und das man professionelle Unterstützung in der Fami hat von Psychologen...wirklich nicht weiter. Sprecherin: Nach dem Vorbild von Radebeul könnte bundesweit die Tagespflege zu einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung ausgebaut werden. Allerdings: Tagesmutter zu sein, muss man sich leisten können. Denn gleichzeitig mit der politischen Aufwertung des Berufes veränderte sich die Sozialgesetzgebung. Take: Tagesmutter Krause Steuern wurden erhöht. Früher war ich familienversichert in der Krankenkasse meines Mannes. Das muss ich selber tragen. Ich habe früher in die private Rente gezahlt. Ich muss jetzt unbedingt auch in die staatliche. Es sind auch finanzielle Nachteile geworden, die jetzt einfach entstanden sind, leider. Sprecherin: Mindestens 150 Euro im Monat hat Evi Krause jetzt weniger in der Tasche. Dabei war ihr Einkommen bereits zuvor ungleich geringer als das einer Erzieherin in der Kita, die auch schlecht bezahlt wird. Atmo : Tagesmutter mit Kindern drinnen Sprecherin: Anfang November veröffentlichte das Statistische Bundesamt neue Zahlen über den Ausbau der Kindertagesbetreuung für die unter Dreijährigen. Der Anstieg erwies sich geringer als geplant. Die Betreuungsquote für die Jüngsten liegt heute gerade bei einem Viertel. Um die vereinbarten 750 000 Plätze zu erreichen, müssten in den kommenden anderthalb Jahren mehr als 230 000 Angebote für Kleinkinder geschaffen werden. Bisher aber kamen pro Jahr nur etwa 50 000 neue Plätze hinzu. Auch die Kindertagespflege sorgt nicht für den notwendigen Zuwachs. Mindestens 24 000 neue Pflegepersonen müssten gewonnen werden, um die vom Krippengipfel gesetzten Ziele zu erreichen. Das ist gerade auch angesichts der Bezahlung von Tagesmüttern utopisch, findet Michael Löhrer. Take: Löhrer Es muss auch so sein, wenn man es als Beruf entwickelt, es auch auskömmlich genug ist, um seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen und das ist im Moment, noch etwas fraglich und wenn man das summiert, wird es schwierig es als voll- ständigen, sich selbst ernährenden Beruf zu betrachten. Sprecherin: Durchschnittlich 600 Euro im Monat verdienen Tagesmütter oder Tagesväter, geht aus einer Veröffentlichung des Familienministeriums hervor. Kaum jemand hat mehr als 1000 Euro Netto am Ende des Monats, unabhängig davon, wie lange und wie viele Kinder betreut werden. Take: Löhrer Es ist in der Tat der Situation vor Ort geschuldet, was da ausgehandelt wird und wie die Rahmenbedingungen sind. Sprecherin: Jede Kommune legt für sich selbst fest, wie viel ihr die Arbeit der Tagesmütter wert ist und was sie aus der eigenen Kasse zum Elternanteil dazugibt. Gerade in den alten Bundesländern warten Eltern aber nicht nur auf mehr Plätze und qualitative Verbesserungen. Sie brauchen Plätze, die ihrem Bedarf entsprechen. Die Frage, ob Kita oder Tagespflege wird da zweitrangig. Take: Mutter 1 Das stellt sich nicht für uns die Frage, in dem Ort, wo wir wohnen, gibt es gar kein Angebot. Sprecherin: Stephanie Rau ist Mutter eines anderthalbjährigen Jungen und wohnt in der Schwäbischen Alp. Seit einem halben Jahr bringt die Kinderärztin ihren Sohn 15 Kilometer übers Land zu einer Tagesmutter und weiß, dort wird er verlässlich bis zum Nachmittag betreut. Nur für jedes fünfte Kind unter drei Jahren gibt es gegenwärtig in Baden Württemberg einen Betreuungsplatz. Selbst für Kinder über drei sind in ländlichen Gegenden noch Halbtagskitas üblich. Take: Mutter 1 Das bringt mir nichts, dass der Kindergarten bis um 12 geöffnet hat, ich arbeite bis eins, zwei. Da muss ich schon wieder eine doppelte Lösung finden und das ist unbefriedigend. Sprecherin: Diese Nöte der Eltern kennt Robert Hahn. Er ist Sozialbürgermeister der Stadt Reutlingen. Leere Kassen sind für ihn kein Grund für den schleppenden Ausbau der Kinderbetreuung. Seiner Meinung nach geht es um Familienbilder, um Ideologie. Das wohlhabende Reutlingen selbst sieht er als liberal. Die Politik akzeptiere, dass Familien unterschiedliche Lebensentscheidungen treffen. Deshalb investiert die Stadt in den Ausbau von Kitas wie in die Kindertagespflege. Take: Hahn Im Moment sind wir so, dass wir dem Bedarf hinterherrennen. Wir haben in den letzten acht Jahren die Versorgungsquote, die wir der Bevölkerung anbieten können, von 10 Prozent eines Jahrgangs auf 30 Prozent der Kinder zwischen null und drei gesteigert, stellen aber fest, dass wir trotz aller Anstrengungen und Bemühungen dem Bedarf trotzdem hinterher rennen. Das heißt, wir sind darauf angewiesen, dass wir institutionelle Tagesbetreuung fördern, dass wir Tagespflege fördern. Ich sag's mal sportlich und verkürzt, wir nehmen derzeit alles was wir kriegen können, um den Wünschen der Eltern Rechnung zu tragen. Sprecherin: Davon profitiert der Tagesmütter e.V. Reutlingen. Der Verein hat eine fast 40-jährige Geschichte. Er gehört zu den ersten überhaupt, die in der Bundesrepublik Tagespflege anboten. Damals waren das vor allem Frauen, die mit ihren Töchtern und Söhnen zu Hause blieben und für einen geringen Nebenverdienst die Kinder anderer Leute dazunahmen. Take: Mack Früher war das sehr beliebig. Die Tagesmütter waren registriert, aber kaum überprüft. Es konnte jede Kinder betreuen. Dadurch, dass es die Pflegeerlaubnis erst ab dem vierten Kind gab, gab es einen grauen Markt. Tagesmütter haben auch ihre Preise selber festgelegt. Manche haben sich hier gemeldet, andere nicht. Sprecherin: Darin sieht die Geschäftsführerin Anne Mack auch das eher negative Image der Tagespflege begründet. Gerade in den alten Bundesländern hat die Mehrzahl der Tageseltern keine Ausbildung - und das obwohl in der Kita für eine vergleichbare Tätigkeit mehr und mehr eine akademische Ausbildung gefordert wird. Die Statistik verrät: Bundesweit weisen nur 22 Prozent der Tagesmütter und -väter die gewünschte Grundqualifizierung von 160 Stunden vor. Doch es werden zunehmend mehr. Take: Spiegel Ich finde schon, dass wir eine Veränderung haben, dass die Anforderungen gestiegen sind, dass aber auch andere Frauen sich melden und andere Männer, Männer da gab's damals keine. Das ist auch eine andere Generation von Tagesmüttern. Sie sind auch selbstbewusster. Sprecherin: Ergänzt Sozialarbeiterin Sabine Spiegel. Durch die politische Weichenstellung bekam der Tagesmütterverein Rückenwind für etwas, was er bereits seit einigen Jahren gegen erheblichen Widerstand betreibt: die Kindertagespflege zu professionalisieren. Der Verein konnte 120 Tagesmütter neu gewinnen. In der Bilanz allerdings arbeiten in der Kommune gerade mal zwei Tagesmütter mehr als bisher. Denn gleichzeitig meldeten sich 118 Personen von der Tätigkeit ab. Die meisten Tageseltern betreuen nicht mehr als zwei bis drei Kinder im Alter von null bis vierzehn Jahren, oft nur wenige Stunden am Tag. Viele halten nicht länger als drei Jahre durch. Sie steigen aus, weil sich die Arbeit finanziell nicht lohnt. Diese Fluktuation muss die Kommune verunsichern. Sie braucht eine hohe Zuverlässigkeit, wenn ab August 2013 bereits Eltern von einjährigen Kindern einen Rechtsanspruch auf einen öffentlichen Betreuungsplatz haben. Genau in dem Punkt macht sich der Tagesmütterverein stark und argumentiert: Das ist nicht zum Nulltarif zu haben! Anne Mack. Take: Mack In Reutlingen ist uns das dadurch gelungen, dass die Kommunen jetzt mit eingestiegen sind eine Platzpauschale für jeden belegten Platz bei der Tagesmutter zu zahlen und das schafft einfach so eine Basis für die Tagesmütter, dass sie einfach mehr Kinder aufnehmen, die wir auch brauchen. Sprecherin: Dabei unterstützt die Kommune vor allem jene Tagesmütter, die Kinder unter drei Jahren aufnehmen und dabei auch bereit sind, flexible und längere Betreuungszeiten zu ermöglichen. Die brauchen die Eltern besonders dringlich, fand das Jugendamt Reutlingen heraus. Eltern, die bei einer Kita auf der Warteliste standen, wurden gefragt, warum sie sich nicht um einen Platz in der Tagespflege bemühen. Robert Hahn. Take: Hahn Und da war die Frage der Gruppengröße wichtig. Ist mein Kind unter vielen Kindern, also in Gemeinschaft. Wie sieht die Krankheitsvertretung aus. Ist der Betrieb stabil. Kann ich mich darauf verlassen. Der finanzielle Aspekt, dass die Tagespflege etwas teurer ist als die institutionelle war bei den Antworten Rang vier oder fünf. Also die ersten genannten Punkte waren für die Eltern die entscheidenden Punkte. Sprecherin: Auf diese Umfrageergebnisse stützen sich auch die Mitarbeiterinnen des Tagesmüttervereins Reutlingen, wenn sie ihre Angebote weiterentwickeln. Ein Punkt ist die Verlässlichkeit der Betreuung. Etliche Tagespflegepersonen haben heute einen Tandempartner. Gemeinsam unternehmen sie etwas mit den Kindern, lernen sich kennen und können sich so auch im Krankheitsfall vertreten. Zugleich geht der Tagesmütter e.V. auch auf andere Partner zu, um Tagespflege nicht nur im familiären Rahmen, sondern auch in anderer Umgebung anzubieten. Händeringend suchen das Krankenhaus, die Hochschule und Unternehmen in Reutlingen nach Lösungen, die ihren Mitarbeiterinnen den Wiedereinstieg in den Beruf ermöglichen. Deshalb sind sie bereit, Räume zur Verfügung zu stellen und Miet- und Sachkostenzuschüsse zu zahlen. Damit werden Tagesgroßpflegestellen geschaffen, die in Reutlingen abgekürzt TIGER heißen. Atmo 7 : Tiger Kinder draußen Sprecherin: Vier TIGER-Gruppen gibt es inzwischen im Landkreis. Eine entstand in Metzingen in der ehemaligen Werkswohnung des mittelständischen Unternehmens Wepuko. Bis zu neun Kinder werden hier von zwei Tagesmüttern zwischen 7 und 17 Uhr betreut. Stundenweise haben sie noch eine dritte Frau an ihrer Seite, die auch im Notfall einspringt. Die Eltern sind zufrieden. Atmo 8: Take: Vater Wir haben paar Tagesmütter angeschaut, die in Privaträumen zu Hause waren. Es war zu wenig Kontrolle, wenn man das so sagen kann. Wir haben gute Freunde oder Freundinnen, die sind Tagesmütter, wo wir Vertrauen haben. Aber wenn es dann um das eigene Kind geht in einer fremden Stadt, wo man die Menschen nicht kennt, da war es uns zu wenig Kontrolle der Personen. Take: Mutter 1 Wir sagen, wir sind sehr zufrieden hier. Das familiäre Umfeld einerseits gibt den Kindern viel Halt und andererseits habe ich schon den Eindruck, dass mein Sohn hier große Entwicklungsfortschritte macht. Take: Mutter 2 Wir wollten eigentlich eine städtische Einrichtung haben. Die war voll mit einer langen Warteliste und die städtischen Einrichtungen sind so was von unflexibel. Mittlerweile würde ich nichts anderes mehr wollen. Wenn ich es mit städtischen Einrichtungen vergleiche, ist es viel viel besser, viel viel schöner mit den Tagesmüttern. Man kann jeder Zeit sagen, ich kann heute nicht, kann ich sie nicht an einen anderen Tag bringen. Atmo 8: TIGER Kinder draussen Sprecherin: Die Betreuung hier hat wenig mit einer betulichen, privaten Tagesmutter von einst zu tun. Sie ist eher einer Krippe ähnlich, nur viel kleiner, intimer, geschützter. Take: Münch Gerade mit Blick auf Bindung, finde ich derzeitig die Kindertagespflege das bessere Angebot im Vergleich zu Kitas, zu Kinderkrippen, wenn die Rahmenbedingungen ideal sind, das ist natürlich die Voraussetzung. Sprecherin: Maria Münch ist beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge Referentin für Familienfragen. Sie verfolgt, wie sich die Kindertagespflege seit dem Krippengipfel mancherorts klar mit einem neuen Profil positioniert. In Friesland beispielsweise nutzt das Jugendamt die Kindertagespflege als eine frühe Hilfe zum Kinderschutz, gibt jungen Müttern kompetente Helfer an die Seite und bezahlt dafür auch gut. Beim Modell TAKKT in Hessen arbeiten Kindertagespflege und Kita eng zusammen, um ein abgestimmtes Angebot für die Eltern zu entwickeln. Take: Münch Wenn man das will, muss man sich auch darüber im Klaren sein, dass sich der Charakter der Kindertagespflege verändert. Wenn eine Tagespflegeperson höher qualifiziert ist, hat sie auch den Anspruch und das Recht, mehr Geld zu fordern, verlässlichere Strukturen zu fordern. Und die Frage ist sozusagen, woran es sich scheiden wird, was sich aus der Kindertagespflege perspektivisch sich mal entwickelt. Sprecherin: So wie die Kindertagespflege bis heute organisiert und vor allem bezahlt wird, findet der Ausbau dieses Berufsfeldes auf dem Rücken der Tagesmütter und -väter, auch zu Lasten der Kinder und Eltern statt. Engagierte Tagesmütter zahlen mit ihrer Kraft und ihrem Einsatz das, was das Land nicht bereit ist für ein gutes Aufwachsen der Jüngsten zu investieren. Zwar erkennen einige Kommunen, dass Tagespflege für sie eine kostengünstige Alternative zur Kita sein kann, die auch Wahlfreiheit der Eltern ermöglicht, insgesamt aber fehlen gute, verlässliche Rahmenbedingungen und eine Wertschätzung für den Beruf, meint Anne Mack. Take Mack Ich hoffe sehr, dass sich die Kindertagespflege so stabilisieren kann, dass es für die Tagemütter Planungssicherheit und Verlässlichkeit gibt und das die Politik erkennt, sie muss da noch etwas tun, da muss unbedingt etwas draufgelegt werden, damit wir die Tagesmütter auch halten können. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass so wie wir jetzt angefangen habe, dass es weiter geht, dass die Kommunen Vertrauen in die Kindertagespflege noch mehr gewinnen können und wir noch mehr Plätze schaffen können und wir unseren Beitrag dazu leisten. Sprecherin : Dann wird die Tagespflege noch einmal neu auf dem Prüfstand stehen. Und es werden sich Fragen nach dem besonderen Profil dieses Angebotes stellen, die heute angesichts des Drucks beim Ausbau von Betreuungsplätzen und der schwierigen finanziellen Situation eher unter den Tisch fallen. Take: Münch Wie viel Institutionalisierung verträgt die Tagespflege, ohne ihren familienähnlichen und nicht institutionalisierten Charakter zu verlieren. Also wird es wirklich eine Kindertagespflege sein in einem kleinen Raum, mit wenig Kindern, sehr überschaubar. Oder wird es mehr in Richtung Großtagespflege gehen. Also daran werden sich die Geister scheiden. Und man muss sich bewusst sein, wenn man Qualität für die Kindertagespflege will, kostet das Geld und erfordert auch Strukturen. Atmo: Tiger Sprecherin vom Dienst: Beruf: Tagesmutter Über den Ausbau der privaten Kinderbetreuung Ein Feature von Barbara Leitner Es sprach: Eva Kryll Ton: Ralf Perz Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 1