KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel : Die Gehilfen Clios. Schriftsteller erzählen Europa Eine literarische Reportage mit Aris Fioretos, Antonio Muñoz Molina, Goran Petrovic, Katja Petrowskaja u.a. AutorIn : Insa Wilke Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 10.8.2014 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Ilka Teichmüller, Meriam Abbas, Norbert Langer, Frank Arnold, Ulrich Lipka Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur/Literatur: 10.8.2014 Die Gehilfen Clios Schriftsteller erzählen Europa. Eine literarische Reportage mit Aris Fioretos, Antonio Muñoz Molina, Goran Petrovic, Katja Petrowskaja Von Insa Wilke Redaktion: Barbara Wahlster Musik 1 Eurovisionsmelodie "Präludium Te deum" Marc-Antoine Charpentier Atmo 1 Scratch (laut, quietschend, die Musik abbrechend) Lesung 1, Zitatorin 1 (schnell, rhythmisch, aber deutlich gelesen, "MC Doris" spricht) Penis und Vagina, gern würde sie vergessen, in welch einem schrecklichen Land sie lebt mit dem seltsamen Namen 'Polen', wo sich aus Versehen vergessene Kriege ständig wiederholen. Wie kommt man da weiter, überall liegt Er Sie Es im Weg, zertrümmertes Glas, hilflose Personen, Eiter, Pisse und übler Gestank, mach du jetzt den Seiltänzer, um wegen diesem Säufer nicht Mutterboden zu schmecken, dir nicht die Knochen zu brechen auf glattem Dezembereis und hier im Dreck zu verrecken neben dem Macker. (Dorota Maslowska: "Die Reiherkönigin. Ein Rap", aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Kiepenheuer & Witsch Paperback, Köln 2007.) Atmo 1 Scratch Autorin 1 So klingt er, der europäische Traum, wenn die polnische Autorin Dorota Maslowska ihn besingt, hier in der schnoddrig-rhythmischen Übersetzung von Olaf Kühl. Dorota Maslowska ging noch zur Schule, als sie 2002 mit ihrem Roman "Schneeweiß und Russenrot" in den europäischen Literaturhimmel katapultiert wurde. Schon damals hat sie mit Vulgär- und Gossensprache gearbeitet, die sie zu Kunstliedern über die polnische Realität verdichtete, mit denen sie dann - widerwillig - durch Europa tourte. Unter anderem auch auf Theaterbühnen. Maslowska schreibt nämlich auch Theaterstücke. Ihr absurdes Drama "Wir kommen gut klar mit uns" wurde 2009 parallel in Warschau und an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin uraufgeführt. Den Rap "Die Reiherkönigin", von dem Sie gerade eine Kostprobe gehört haben, führte das Gorki Theater schon 2008 in Berlin zum ersten Mal in Deutschland auf. Mit diesem rhythmischen Stück parodiert Maslowska ihre Erfahrungen mit dem europäischen Kulturbetrieb und: die zunehmende Bevormundung ihres Landes durch die Europäische Union. Atmo 1 Scratch Lesung 2, Zitatorin 1 Diese Information entstand aus Mitteln der Europäischen Union. Ihr Ziel ist die Anpassung des Liedes an die Bedürfnisse mehr oder weniger völlig unintelligenter Personen. (Dorota Maslowska: "Die Reiherkönigin. Ein Rap", aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Kiepenheuer & Witsch Paperback, Köln 2007.) Musik 1 kurz anspielen Atmo 1 Scratch Lesung 3, Zitatorin 1 Diese Derbheit und Obszönität soll junge Leser zur Lektüre bewegen, die Bücher sonst von vornherein beiseitelegen. Unintelligente sowie minderjährige Personen, Schulausflügler, Analphabeten - sie alle sollen spüren, wie lustig das ist. Jeder kommt bei unserem Lied auf seine Kosten, auch die aus dem Osten. Dieses Lied entstand aus Mitteln der EU. Lesen kannst du es mit Hilfe der Lettern des Alphabets. Die Seiten musst du umblättern. Muster der einzelnen Buchstaben lädst du dir runter unter www.jugendliest.de oder bestellst sie ohne Stress per SMS. (...) Dieses Lied entstand aus Mitteln der EU. Es soll die Zahl der Dummen in der Gesellschaft mehren. (Dorota Maslowska: "Die Reiherkönigin. Ein Rap", aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Kiepenheuer & Witsch Paperback, Köln 2007.) Musik 1 kurz anspielen Atmo 1 Scratch Lesung 4, Zitatorin 1 Dieses Lied entstand aus Mitteln der Europäischen Union. (Pause) Hat die übrigens mal jemand gesehen? Kannste vergessen, 'ne glatte Illusion. (Dorota Maslowska: "Die Reiherkönigin. Ein Rap", aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Kiepenheuer & Witsch Paperback, Köln 2007.) Autorin 2 Dorota Maslowska wurde 1983 geboren und hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Sowjetunion angefangen zu schreiben. Das erklärt vielleicht ihren unsentimentalen Blick auf ein Europa, das von ihrer Generation vor allem als moralisierender, überheblicher und autoritärer Gesetzgeber mit dicker Geldbörse erfahren wird. Ähnlich radikal formuliert die Moldauer Theaterautorin Nicoleta Esinencu, vier Jahre älter als Maslowska, in ihrem preisgekrönten Skandalstück "Fuck you Eu.Ro.Pa", dass auch für sie der europäische Traum ausgeträumt ist. Hier ein Auszug aus der Übersetzung von Helga Kopp: Lesung 5, Zitatorin 2 Fuck you, Europa! Fuck! Warum fuck! Nicht einmal fluchen kannst du mehr in deiner eigenen Sprache. In die Fotze deiner Mutter würde ich dich stecken, Amerika! In die Fotze deiner Mutter würde ich dich stecken, Europa! Fuck in die Fotze deiner Mutter! (...) Fuck you, Europa! Fuck! Du gehst durch die Straßen und es ist nichts da, wogegen du mit den Füßen treten könntest. So als würdest du durch Sand gehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Es kommt der Tag, an dem ich keinen Schatten mehr habe. Und jeder noch so große Blödsinn, nach dem ich frage, wird sofort beantwortet. (Nicoleta Esinencu:"Fuck You, Eu.ro.Pa! Monolog", aus dem Rumänischen von Helga Koop. Edition Solitude, Stuttgart 2005.) Autorin 3 So enttäuschte, so aggressive Töne kannte man Ende der 1980er Jahre nicht. Kurz vor dem Fall der Berliner Mauer taten sich Autoren aus Ost und West noch zusammen, um unter dem Motto "Ein Traum von Europa" im Literaturmagazin des Rowohlt Verlags für das Ende des Kalten Krieges zu kämpfen - für ein wirklich vereinigtes Europa. Einige unter ihnen hatten noch erlebt, wie sich die Europäer gegenseitig umbrachten, enteigneten und vertrieben. Und sie alle waren mit den Folgen, dem geteilten Europa konfrontiert, aber auch mit dem Wunder, dass sich europäische Staaten wieder zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen haben und sei es auch nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Der ungarische Autor György Konrad, geboren 1933 und ausgezeichnet u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Karlspreis und dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis schrieb damals, im Jahr 1988: Lesung 6 (Poolsprecher. Musik 2 "Santana: Europe" ab hier unterlegen) Ob Europa untergeht oder nicht, das hängt nicht zuletzt auch von der europäischen Literatur ab. Eine Gemeinschaft aber, die nicht auf ihre Schriftsteller hört, verdummt. Musik 2 kurz hoch, dann Ende Autorin 4 Während sich Göyrgy Konrads Satz in Dorota Maslowskas und Nicoleta Esinencus Ohren fremd, ja, lächerlich anhören muss, könnte er als Motto über vielen Projekten der europäischen Kulturindustrie stehen, in deren Namen aus dem schreibenden ein fahrendes Volk geworden ist. Autorinnen und Autoren aus Kroatien und Bulgarien, aus Frankreich, Schweden, Spanien und Deutschland, aus Ungarn und Luxemburg werden kreuz und quer über den Kontinent geschickt, um auf Festivals und Lesebühnen eben nicht nur über ihre Literatur zu sprechen. Sie sollen über die Lage der Nationen und die Funktion der Literatur in Zeiten der europäischen Krise diskutieren. Ihr Auftrag lautet: Europa erzählen, Europa erklären. Am Ende: Europa retten. Oder, wie es einer der Gründerväter der Europäischen Union, der französische Politiker Jaques Delors, formuliert hat: Europa endlich eine Seele geben und also Leben einhauchen. Davon hält der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos gar nichts. Fioretos ist der Sohn einer Österreicherin und eines Griechen. Sein Vater hatte Griechenland als junger Mann aus politischen Gründen verlassen müssen, als dort der Zweite Weltkrieg in einen Bürgerkrieg übergegangen war. Er studierte Medizin in Wien und ging Anfang der 1950er Jahren nach Schweden. Sein Sohn, Aris Fioretos, der seinem Vater 2012 mit dem Buch "Die halbe Sonne" eine Hommage schrieb, kam 1960 in Göteborg zur Welt und lebt heute in Berlin und Stockholm. O-Ton 1 Aris Fioretos Diese Vorstellung, dass man Europa von oben eine Seele geben könnte, ist wirklich verkehrt gedacht. Natürlich sind das mehrere Seelen und natürlich sollte das von unten nach oben kommen. Nur wie machst du das? Es kommt auf die Differenzen an, die vielen Differenzen auf diesem Kontinent, das ist eigentlich das, was uns eint. Genauso wie Sprachen gibt es Erzählungen nur im Plural. Das Master-Narrativ hat immer etwas Erdrückendes. Ich glaube, die Brüchigkeit gehört wirklich zum Wesen des Europäischen. Autorin 5 Aris Fioretos hat diese Brüchigkeit sowohl in "Die halbe Sonne" als auch in seinem monumentalen und trotzdem durchlässigen Roman "Der letzte Grieche" literarisch umgesetzt: Für die Rahmenerzählung der fiktiven Lebensgeschichte eines Exil-Griechen aus der Generation seines Vaters hat er die "Gehilfinnen Clios" erfunden. Eleni, die Gründerin dieses merkwürdigen Clubs, musste wie der Vater ihres Autors aus ihrer Heimat fliehen. Ihre Fluchtgeschichte beginnt allerdings schon ein Vierteljahrhundert früher, 1922, nach den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Türken, die sie aus ihrer Heimatstadt Smyrna, dem heutigen Izmir vertreiben. Was das für sie bedeutet, beschreibt Fioretos' Erzähler in der Übersetzung von Paul Berf so: Lesung 7, Zitator 1 Nach einigen Monaten in der Stadt, die von den Griechen Ammochostos und von anderen Famagusta genannt wurde, ging Eleni an Bord eines Frachters, der nach Thessaloniki auslief. In den folgenden Jahren fühlte sie sich wie eine Spinne ohne Beine. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um die Verlorenen, sie war krank vor Sehnsucht nach ihnen. Später sollte sie einen Witwer mit eigenen Kindern kennenlernen und erneut eine Familie gründen. In der ersten Zeit erschien ihr der bloße Gedanke an eine neue Existenz jedoch als Verrat. "Phantomschmerz", pflegte sie jedem zu sagen, der ihr zuhören wollte, "ich bestehe ganz und gar aus dieser jämmerlichen Sache." (Aris Fioretos: "Der letzte Grieche. Roman", aus dem Schwedischen von Paul Berf. Hanser, München 2011.) Autorin 6 "Menschen bestehen aus Menschen", heißt es bei Aris Fioretos. Gegen den Phantomschmerz, den der Verlust von Menschen und Heimat durch Krieg und Exil nach sich zieht, entwickelt Eleni eine Medizin: Sie erfindet die sogenannten "Gehilfinnen Clios". Clio ist die Muse der Geschichtsschreibung. Zu ihren Gehilfinnen ernennen sich in alle Welt verstreute Griechinnen, die fortan ihr Leben der "Enzyklopädie der Auslandsgriechen" widmen. Karteikarte um Karteikarte halten sie die Lebensgeschichte jeder einzelnen ihnen bekannten Person fest: eine Welt aus Bruchstücken, in die Aris Fioretos die Geschichte des "letzten Griechen" einsetzt, seiner im schwedischen Exil lebenden Hauptfigur. Die Gehilfinnen Clios sind im Prinzip eine Metapher für den ganzen Roman, der durch die Fiktion europäische Migrationsgeschichte aus dem Abstrakten in konkrete Lebenserfahrung übersetzt und so auch die Verlusterfahrung als schmerzhaften Teil der Identität ganzer Familien bewahrt. Bei aller Kritik schwingt da auch Sehnsucht mit. Solche Widersprüche interessierten Stefanie Stegmann, Leiterin des Literaturhauses Stuttgart, und ihre Berliner Kolleginnen Kateryna Stetsevych und Katarina Tojic vom Verein Kulturgenossenschaft, - deren Familien aus Deutschland, der Ukraine und aus Serbien stammen. Sie hatten 2013, ein Jahr vor der Europa-Wahl, ein Projekt auf die Beine gestellt, das nach dem Fundament fragte, auf dem das europäische Haus heute steht. Der Titel: "Lost Wor(l)ds" - mit eingeklammertem "L", also dem Doppelsinn von verlorenen "Worten" und verlorenen "Welten" spielend. Stefanie Stegmann erklärt: O-Ton 2 (ruhiger Innenraum) Stefanie Stegmann Als wir begonnen haben, über das Thema Europa und Identität nachzudenken, (...) stand nicht nur im Mittelpunkt der gegenwärtige Diskurs über die Vielfalt Europas und über den Reichtum und den Gewinn Europas, sondern auch die Frage nach Verlusten. (...) Und das ist in Europa eine spezielle Situation, weil es den Zusammenbruch der Sowjetunion gab (...), weil es den Zusammenbruch der DDR gab, weil aber auch in West- und Südeuropa die Länder von Krisen geschüttelt und gezeichnet sind, und weil Krisen und Zusammenbrüche immer etwas mit Gesellschaften und den Menschen machen, aber auch mit der Sprache und umgekehrt auch die Sprache in der Lage ist, solche Prozesse nicht nur zu begleiten, vorzubereiten, zu dokumentieren, sondern Gesellschaften auch eine Art von neuer Form zu geben. Musik 3 John Foxx: Europe after the rain 1981 (anspielen und leise unter den nächsten Text legen) Autorin 7 Aus diesem Gedanken, dass Europa auch und vor allem durch seine Verluste geprägt wurde und dass wir zugleich in einer Zeit leben, die ganz wesentlich von der Furcht bestimmt ist, nationale Autonomie, Kultur und Identität durch Einflüsse von außen und Bestimmungen aus Brüssel zu verlieren, entstanden vierzehn Essays von Autorinnen und Autoren aus zwölf Ländern, die über verlorene Worte und Welten schreiben und dabei über Europa nachdenken. Aris Fioretos ist einer von ihnen, aber auch die deutsch- japanische Autorin Yoko Tawada, der spanische Romancier Antonio Muñoz Molina und sein serbischer Kollege Goran Petrovic. Sie alle sprechen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen und Bedürfnisse. Yoko Tawada führt die ganze Fragerei nach Europa und nationalen Identitäten in ihrem Essay erst einmal ad absurdum: Lesung 8, Zitatorin 1 Ich möchte zuerst über die Kultur sprechen, und zwar über eine spezifische Form der Kultur, nämlich die Joghurtkultur. Oder sollte ich besser beim Thema Milch anfangen, denn ohne Milch gäbe es keinen Joghurt. (...) Der europäische Magen hat im Laufe der Zivilisation die Fähigkeit entwickelt, ein Leben lang Milch zu verdauen. Mit einem Wort: Europa trinkt Milch und erbricht nicht: Das war meine Definition von Europa bis vor kurzem. (Yoko Tawada: "Setzmilch", in : Lost Words/Lost Worlds. Eine europäische Sprachreise, hrsg. v. Kateryna Stetsevych, Katarina Tojic und Stefanie Stegmann, edition.fotoTAPETA, Berlin 2013.) Autorin 8 Yoko Tawada, 1960 in Tokyo geboren, lebt seit den 1980er Jahren in Deutschland und arbeitet vergnügt und beharrlich daran, die Gitter der Sprache, die unsere Weltsicht einschränken, durchlässig werden zu lassen. Für ihre poetischen Verfremdungen wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie gehört allerdings auch zu jenen Autorinnen, deren Schicksal es ist, auf den Bühnen des internationalen Literaturbetriebs immer wieder als Grenzgängerinnen zwischen zwei Kulturen und Sprachen befragt zu werden. Vielleicht hat sie deswegen 2014 einen Roman geschrieben, der von den Höhen und Tiefen des Künstlerlebens zwischen den Fronten politischer und ökonomischer Interessen handelt. "Etüden im Schnee" heißt das Buch und ist aus der Sicht des Eisbären Knut und seiner Mütter erzählt. Tawada überschreibt mit ihrer Bärengeschichte den sogenannten "Migrantenroman". So witzig das zunächst klingt, ist das Anliegen dabei ein ernstes. Es geht um die Projektion eigener Lebensträume und Lebensängste auf andere, zum Beispiel auf einen Eisbären. Das Konzept "Muttersprache", "Exil" und "Flüchtling" sei den Eisbären fremd, schreibt die welterfahrene Autorin Yoko Tawada in ihrer so übermütigen wie traurigen Parabel, in der sie als Erzählerin auf dem schmalen Grat zwischen Prosa und Poesie, Persiflage und Elegie tanzt. Lesung 9, Zitatorin 1 Die nationale Identität ist den Eisbären schon immer fremd gewesen. Es war bei ihnen üblich, in Grönland schwanger zu werden, die Kinder in Kanada zu gebären und sie in der Sowjetunion großzuziehen. Sie besaßen keine Staatsangehörigkeit, keinen Reisepass. Sie gingen nie ins Exil, überquerten die Grenzen, ohne sich irgendeine Genehmigung zu holen. (Yoko Tawada: "Etüden im Schnee. Roman". Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2014.) Autorin 9 Ein schöner Traum, den Yoko Tawada tatsächlich lebt. Für Aris Fioretos ist die Frage nach Europa hingegen ganz konkret mit den Verlusterfahrungen von Flüchtlingen, Migranten und in mehreren Kulturen lebenden Menschen verbunden: O-Ton 3 Aris Fioretos In den letzten beiden Büchern hatte ich den Wunsch, etwas mit Worten zu tun, was sonst sehr oft mit Gegenständen gemacht wird. Wir kennen das ja alle von Auslandsreisen, wenn wir irgendwo hinfahren, bringt man Souvenirs mit und die sind meistens ziemlich belanglos. Aber sie sollen einen daran erinnern, was erlebt worden ist. Wenn man das dann potenziert und sinnstiftend betrachtet, dann landet man früher oder später bei Migranten und Migrantenerfahrungen: die haben ja meistens ihre Länder, ihre Sprachen verlassen um anderswo hin zu gehen und bringen dann wenige Sachen mit, die sie an die verloren gegangene Kultur oder Sprache erinnern sollen. Das sind dann eben eine Spieldose oder eine Ansichtskarte oder ein Brief oder ein Foto, sehr wenige Sachen eigentlich. Autorin 10 Als Aris Fioretos nach einer Metapher sucht, um zu erklären, was diese verlorenen Worte und Erfahrungen, die eben nicht aus der Welt sind und uns Europäerinnen und Europäer prägen, für ihn bedeuten, wird es wirklich und auf sehr erstaunliche Weise poetisch: Er führt uns ins medizinhistorische Museum der Berliner Charité vor eine Wand, die wie ein großer Setzkasten über und über bedeckt ist mit unzähligen bunten Steinchen - Nierensteine! O-Ton 4 Aris Fioretos Sprache genauso wie Worte sind Schöpfungen von Menschen. (...) Sie sind eigentlich man-made und ich finde, diese Nierensteine, vor denen wir jetzt hier stehen, diese Sammlung aus sehr sehr schönen Nierensteinen, verschiedene Sorten, verschiedene Größen, verschiedene Farben, manche sind gestreift, andere sind gepunktet: lauter Einzigartigkeiten. Sie sind Produkte der Nieren und wurden dann vom Körper ausgespuckt, nicht mehr gewollt. Sie sind durch den Körper durchgegangen. (...) Für mich sind all diese kleinen Steine das, woran mich die Vorstellung, dass Worte verloren gehen können, am meisten erinnert. So würden vielleicht Worte, die verloren gegangen sind, aussehen. (...) Ich finde, diese Steinchen sind so was von schön, und in dem Moment aber, in dem man sich überlegt, welche unseligen Schmerzen sie erzeugt haben, da mischt sich so etwas wie Schrecken auch in die Schönheit ein. Schrecken und Schönheit gehören in der Literatur zusammen. Autorin 11 Ein Mosaik aus lauter Einzigartigkeiten, man-made und schmerzgeboren. - Vielleicht nicht das schlechteste Bild für eine Gemeinschaft, die nach den Idealen und Euphorien der Wirtschaftswunderzeit und den überwundenen Kriegen und Spaltungen inzwischen mit ihrer Realität ringt. Fioretos erzählt von eigenen Erfahrungen, die für ihn als Schriftsteller wichtig wurden. O-Ton 5 Aris Fioretos Wenn man mit Eltern aufwächst, die aus anderen Ländern kommen und dann in einer dritten Sprache, wie in meinem Falle, sich zu orientieren versucht, dann ist es sehr schwierig als Kind und später als Autor jemals zu der Überzeugung zu gelangen, dass Sprache und Worte vor allem etwas Natürliches seien. Alles ist bereits mit Fremdheit besetzt. Diese Erfahrung kann sehr erschütternd sein, aber sie kann auch dazu führen, (...) dass (...) man hellhörig auf eine ganz andere Art und Weise wird, wenn man in die Sprache erzogen worden ist. Autorin 12 Fast notwendigerweise ergibt sich vor diesem Hintergrund die Forderung: Wenn überhaupt "Europa erzählen", dann beweglich, fließend und offen für die Vielfalt und Brüchigkeit von Geschichten und Erfahrungen, eine vielgestaltige Geschichte der Vielen. So vielgestaltig wie übrigens auch die Musiktitel dieser Sendung, die von Lesern der Wochenzeitung DIE ZEIT auf eine Online-Umfrage hin als europäische Hymnen vorgeschlagen wurden und eine eigene Erzählung von Europas Wünschen, Ängsten, von Wut und Träumen bilden. Musik 4 John Lennon: Imagine - Übergang in Kaffeehausgeräusche. Autorin 13 Verlorene Visionen, auch sie gehören zur europäischen Erzählung. Dem spanischen Romancier Antonio Muñoz Molina kommt es anders als Aris Fioretos darauf an, den großen Zusammenhang zu zeigen. Wir treffen ihn in Madrid, im Café Comercial, dem alten Treffpunkt für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle mit seinen großen Fenstern und Spiegeln und dem Mobiliar der Jahrhundertwende. Antonio Muñoz Molina erklärt, warum ihm so wichtig ist, bei seinen Lesern das Bewusstsein für die großen Zusammenhänge der Geschichte zu wecken. Auch für sein Leben spielt die Erfahrung von Verlust eine fundamentale Rolle. Atmo 2 Kaffeehaus-Geräusche O-Ton 6 Antonio Muñoz Molina Übersetzung 1, Zitator 2 Besonders die Menschen meiner sozialen Klasse und meiner Generation wurden in eine Welt geboren, die es nicht mehr gibt. Das heutige Spanien ist ein anderes Land als dasjenige, in dem ich geboren wurde. Diese Erfahrung machen zwar die meisten Menschen auf der Welt, weil sich die Dinge so rasch verändern. Aber im Falle Spaniens und im Falle meiner Generation hat sich der Wandel besonders schnell und besonders grundlegend vollzogen. Wenn Sie darüber hinaus aus der Arbeiterschicht kommen, spüren Sie die Veränderungen noch schärfer. Man muss bedenken, dass ich 1956 geboren wurde, - in der finstersten Phase der Diktatur. Unser Land wurde rückwärtsgewandt regiert und war vollkommen abgeschottet vom Ausland. In meiner Heimatprovinz, dem ländlichen Teil von Andalusien, lebte man noch wie im 19. Jahrhundert. Es gab keine Maschinen, um das Land zu bearbeiten. Wie man das Land damals bewirtschaftete und zum Beispiel die Heuernte einbrachte, erinnerte an ein niederländisches Gemälde. Mit Sicheln! Zwei Dinge passierten in den frühen 1960er Jahren: Der Diktator entschied, das geschlossene Wirtschaftssystem zu öffnen. Das heißt, es durfte ausländisches Kapital ins Land fließen, und sie erlaubten den Leuten, das Land zu verlassen, um Arbeit zu suchen. Zum ersten Mal kamen auch ausländische Arbeiter nach Spanien, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Das Paradox meiner Generation ist, dass wir Erinnerungen haben, die älter zu sein scheinen als wir selbst. Ich erinnere mich an den ersten ausländischen Touristen den ich gesehen habe. Der erste Erwachsene in kurzen Hosen! Autorin 14 Antonio Muñoz Molina schildert, wie der Wandel erst Madrid und die Küstenstädte erreichte und schließlich auch sein Heimatdorf in Andalusien. Die Spanier gingen ins Ausland, um zu arbeiten und im Gegenzug kamen deutsche, französische und englische Touristen ins Land. Mit ihnen zog eine neue Zeit ein: O-Ton 7 Antonio Muñoz Molina Übersetzung 2, Zitator 2 Als ich klein war, kochte meine Mutter auf dem offenen Feuer: mit Holz! Die Ankunft des ersten Kühlschranks war ein Wunder. Die Leute haben ihren Kühlschrank nicht in die Küche, sondern ins Wohnzimmer gestellt, wo die Nachbarn ihn bewundern konnten. Autorin 15 Das Spanien seiner Kindheit verschwand quasi über Nacht. Antonio Muñoz Molina hat darüber 2006 in seinem Roman "El viento de la luna" geschrieben, in der deutschen Übersetzung von Willi Zurbrüggen heißt das Buch "Mondwind" und handelt davon, wie die Mondlandung 1969 in das Leben eines spanischen Teenagers einbricht. An solchen Schnittstellen von historischen und biographischen Ereignissen finde Literatur statt, meint Molina. Heute sagt er, dass er diese Erfahrung des plötzlichen Zeitenwandels zwar mit Millionen anderen Menschen teile, gerade aus Ost-Europa, aber merkwürdigerweise nicht mit seinen Kindern. Sie wurden anders als er in ein entwickeltes Land hineingeboren und in eine Demokratie, die selbstverständlich Teil von Europa ist. Molinas Lebenserfahrung hat sein Gespür für die Bedeutung historischer Verlusterfahrungen sensibilisiert. Vermutlich ermöglichten sie es erst, dass er seinem 2010 erschienenen Jahrhundertroman "La noche de los tiempos", in der Übersetzung von Willi Zurbrüggen: "Nacht der Erinnerungen", den tiefmelancholischen basso continuo geben konnte. Er resultiert aus dem Bewusstsein, dass mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der faschistischen Diktatur nicht nur Menschen ermordet wurden, sondern auch eine ganze, im Entstehen begriffene Welt verloren ging. Eine Ahnung davon schwingt mit, wenn seine Hauptfigur Ignazio Abel an die Amerikanerin Judith denkt, seine große Liebe kurz vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges in den 1930er Jahren: Lesung 10, Zitator 2 Und als er nun an jenen Tag vor etwas mehr als einem Jahr zurückdenkt, an dem er Judith Biely zum ersten Mal gesehen hat, kommt auch kaum ein Verlustempfinden auf, weil das Verlorene so vollständig aufgehört hat zu existieren wie der Mensch, der einen solchen Verlust empfinden könnte. Es ist eher die Sorge um eine illusorische Genauigkeit; der Wunsch, durch die Kraft der Einbildung die Existenz einer ganzen Welt zu bezeugen, die ausradiert worden ist und nur noch winzige materielle Spuren hinterlassen hat, so zart und zerbrechlich, dass sie bald ganz verschwunden sein werden. (Antonio Muñoz Molina: "Die Nacht der Erinnerungen. Roman", aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. DVA, München 2011.) Autorin 16 Um diese frühen Spuren Spaniens und Europas, die sich vor dem Durchbruch der faschistischen Regime abzeichneten, geht es Antonio Muñoz Molina. Sie gilt es zu bewahren und zu erinnern: die Idee einer gerechten, solidarischen Gemeinschaft. Um zu erklären, dass er nicht von Hirngespinsten redet, führt er mich an den Ort, an dem eine Schlüsselszene des Romans spielt: Molina bringt mich ins Zentrum des Wissens, die Residencia de Estudiantes. Auf einem Hügel, hoch über der Stadt liegt dieses Symbol republikanischer Utopien. Der Blick schweift von hier aus frei über die Dächer Madrids. Atmo 3 Vogelgezwitscher, Schritte O-Ton 8 Antonio Muñoz Molina Übersetzung 3, Zitator 2 Dieser Ort wurde von Visionären erfunden, vor allem von einem: Santiago Ramón y Cajal. Unter Neurowissenschaftlern ist er sehr bekannt. 1906 hat er den Nobel-Preis gewonnen, weil er als einer der Ersten herausgefunden hat, wie die Gehirnzellen arbeiten. (...) Sein Nobel-Preis war der erste für Spanien überhaupt. Er hatte genaue Vorstellungen davon, was ein Land für seine Entwicklung benötigt. Im selben Jahr, als er den Nobel-Preis gewann, trieb er die Gründung einer Organisation voran, die "Junta para Amplicacíon de Estudios" hieß und sich zur Aufgabe machte, Wissen zu verbreiten. Die Idee war, die besten Leute ins Ausland zu schicken, um ihnen eine bessere wissenschaftliche Ausbildung zu verschaffen. Es war eine enorme Leistung, (...) Santiago Ramón y Cajal und die Leute um ihn herum wussten, dass Spanien technologische, wissenschaftliche und historische Kenntnisse brauchte. Der Weg, Spanien zu entwickeln hieß, die Aufmerksamkeit auf das Wissen zu lenken. (...) Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie alle hier: der Dichter García Lorca, der Filmemacher Luis Buñuel. Sie lebten hier wie Studenten in einem College, und zugleich war dies hier ein intellektuelles Zentrum. Aus aller Welt kamen die prominentesten Persönlichkeiten her, um Vorträge zu halten. Wussten Sie, dass Einstein, ich glaube 1921, hier war? (...) Die Menschen sollten hier zusammenkommen. Professoren, Studenten. Madame Curie hielt Vorlesungen hier. (...) Es gab damals wirklich eine kosmopolitische Kultur. (...) Es ging immer um die Öffnung des Landes. Künstler und Wissenschaftler trafen hier zusammen! Hier war ein bedeutendes Labor. Die Leute neigen dazu, die Tatsache zu übersehen, dass die kulturelle Entwicklung ins Spanien Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine wissenschaftliche Dimension hatte. Dies war der Ort, an dem die Zukunft stattfand. Autorin 17 Im Bürgerkrieg standen auf dem Gelände Baracken für Soldaten, Erschießungen wurden durchgeführt, ein Krankenhaus eingerichtet und nach dem Krieg gab man die Gebäude der katholischen Sekte "Opus Dei". Erst mit der Rückkehr der Demokratie verwandelte sich die frühere Residencia de Estudiantes wieder in einen Ort des kulturellen Austauschs. Für Antonio Muñoz Molina symbolisieren die Gebäude auf dem stillen Hügel über Madrid nach wie vor den glühenden Kern des europäischen Traums. Von hier aus müsse gedacht werden, wolle man ein stabiles europäisches Haus errichten, erklärt Molina immer wieder. Die Fundamente heißen: Respekt, Solidarität und Bildung. Es ist ein Programm, das ganz im Zeichen der Vernunft steht, wie er in einem Essay schreibt: Lesung 11, Zitator 2 Der große Vorteil der Liebe zu Europa ist der, dass nichts daran natürlich ist. Niemand kann sagen, dass sie ihm im Blut liegt, dass er sie mit der Muttersprache in sich aufgesogen hat oder dass sie das Erbe einer glorreichen Vergangenheit ist. (...) Je mehr in meinem Heimatland Spanien die Fahne gedankenloser Unversöhnlichkeit hochgehalten wird (...), desto näher fühle ich mich der europäischen Flagge mit ihrem blauen Grund und den gelben Sternen darauf, die bei keinem Menschen Emotionen zu wecken scheint, und die in ihrer sachlichen Gestaltung einem politischen Entwurf entspricht, der auf Rationalität und gesundem Menschenverstand beruht, anstatt auf Leidenschaft und geschichtlich verbürgter Tradition. (Antonio Muñoz Molina: "Verlorene Worte - gefundene Welten", in : Lost Words/Lost Worlds. Eine europäische Sprachreise, hrsg. v. Kateryna Stetsevych, Katarina Tojic und Stefanie Stegmann, edition.fotoTAPETA, Berlin 2013.) Autorin 18 Antonio Muñoz Molina widerspricht deshalb vehement, als ich im Café Comercial den Vorschlag des italienischen Philosophen Giorgio Agamben erwähne, Europa wieder in verschiedene Kulturzonen zu teilen: O-Ton 9 Antonio Muñoz Molina Übersetzung 4, Zitator 2 Das ist die beste Art und Weise, gar nichts zu verstehen. (...) Denken Sie, in Spanien kam es zum Bürgerkrieg, weil wir gern kämpfen oder weil wir heißblütig sind und all dieser Mist, den man immer wieder hört? Wir hatten diesen Bürgerkrieg, weil ein militärischer Putsch fehlschlug. Mussolini mischte sich ein. Hitler entschied, Franco zu helfen. Wir hatten diesen dreijährigen Krieg nicht, weil wir Krieg lieben und weil wir den Stierkampf haben. Autorin 19 Antonio Muñoz Molina erzählt, wie es dazu kam, dass Hitler half, Francos Truppen von Nordafrika nach Spanien zu bringen. Eine wilde Geschichte, in der Bayreuth und Wagner eine Rolle spielen. O-Ton 10 Antonio Muñoz Molina Übersetzung 5, Zitator 2 Sie sehen, wie die Dinge miteinander verschränkt sind. Ohne die deutschen Flugzeuge und ohne Mussolinis Waffen wäre der Putsch niedergeschlagen worden und Spanien hätte keinen Bürgerkrieg gehabt. (....) Alles war schon immer so eng miteinander verbunden! Autorin 20 Europa sei nach dem Zweiten Weltkrieg ein wilder Kontinent gewesen und die Europäische Union gründe in dem Bestreben, eine Wiederholung der Desaster des 20. Jahrhunderts zu vermeiden, meint Molina. Antonio Muñoz Molina will vermitteln, dass man die eigene Geschichte nur im Rahmen der europäischen Geschichte verstehen kann und sie als Schriftsteller deswegen auch so erzählen muss. 2000 Kilometer weiter östlich und vier Breitengrade weiter nördlich treibt seinen serbischen Kollegen Goran Petrovic Ähnliches an. Wir reisen von Madrid nach Belgrad, in die scheinbare Peripherie des europäischen Kontinents. Hier, auf dem Balkan haben sich Europas Konflikte schon immer in nuce abgespielt. Atmo 4 Fluggeräusch: Abheben oder Landung O-Ton 11 Goran Petrovic Übersetzung 6, Zitator 1: Als Sie vorhin aus dem Flugzeug gestiegen sind und sich auf dem Flughafen "Nikola Tesla" befanden, waren Sie an dem Ort des größten Verlustes in der neueren Geschichte. "Abflug" hat hier eine besondere Bedeutung: In den letzten fünfzehn oder zwanzig Jahren haben ein paar hunderttausend junge Menschen das Land verlassen. Das ist sehr traurig. Autorin 21 In den 1990er Jahren flüchteten die Menschen vor dem Bürgerkrieg aus dem zerfallenden Jugoslawien. Heute verlassen viele junge Serbinnen und Serben das Land, weil sie sich in ihrer Heimat nicht mehr Zuhause fühlen und hier keine Zukunft für sich sehen. Sie studieren in Berlin, arbeiten in Wien oder schlagen sich in London durch. Goran Petrovic sieht diese Fluchtversuche mit Skepsis. In seinem Bestseller "Die Villa am Rande der Zeit" hat er dem Nachwuchs eine Figur gewidmet. Die surrealistische Geschichte um ein geheimnisvolles, betretbares Buch und eine unerfüllte Liebe wurde in Deutschland als Hommage auf die Literatur gelesen. Petrovics Roman ist aber auch ein melancholisches, sogar bitteres Buch und deutlich geprägt von den Erfahrungen der Kriege in den 1990er Jahren, was auch in der deutschen Übersetzung von Susanne Böhm unüberhörbar ist. Sprache spielt dabei eine große Rolle, wie Petrovics Figur Jelena weiß. Jelena ist eine junge Frau, die besessen Englisch lernt, um der serbischen Sprache und ihrem Land zu entkommen. Musik 5 Kraftwerk: Europa Endless Autorin 22 Willkommen also in Serbien! Einem der Länder Europas, in denen man sein Dorf im 20. Jahrhundert nicht verlassen musste, um in sechs oder sieben verschiedenen Staaten gelebt zu haben, so oft wechselten hier Herrscher, Grenzen und Regierungsformen. Petrovic erzählt davon in seinem Roman "Ein Sternenzelt aus Stuck", indirekt, durch die Lebensgeschichte des alten Platzanweisers Simonovic und die Geschichte eines alten Kinos in seinem Geburtsort Kraljevo, in dem die Deutschen 1941 ein Massaker an fast 2000 Zivilisten verübten. Hier ein Auszug aus der Übersetzung von Mirjana und Klaus Wittmann: Lesung 12, Zitator 1 Der Zweite Weltkrieg brach aus, die Regierung setzte sich ins Ausland ab, es kam zu Erschießungen durch die Deutschen als Vergeltung und zu sinnlosen Bombardements durch die Engländer und die Amerikaner, dann folgte die Befreiung und es gab wieder Erschießungen, nun durch die eigenen Leute als Vergeltung, das Uranija wurde zum Volkseigentum erklärt, genauer zum volkseigenen Betrieb zur Vorführung von Filmen mit dem Namen Sutjeska, aber Simonovic hauste weiter in seiner Rumpelkammer (...). (Goran Petrovic: "Ein Sternenzelt aus Stuck. Roman", aus dem Serbsichen von Mirjana und Klaus Wittmann. Dtv premium, München 2013.) Autorin 23 Im Grunde sei die Welt ein fürchterlicher Ort, meint Goran Petrovic. Umso heiterer erzählt er in "Ein Sternenzelt aus Stuck" von den Einwohnern Kraljevos, die an einem historischen Tag im Jahre 1980 zufällig gemeinsam in einem alten Kino sitzen, das zwar schon bessere Tage gesehen hat, aber wenigstens gibt es noch Platzanweiser und Filmvorführer, einen schweren blauen Samtvorhang und auch der Geruch nach Bohnerwachs hängt noch in der Luft. Durch Rückblenden und Zukunftsvisionen werden die Besucher zu Figuren der von Goran Petrovic als Märchen erzählten grausamen Geschichte des Balkans im 20. Jahrhundert. Die ist im Übrigen ebenfalls nicht zu verstehen, ohne die Geschichten seiner Besatzer, der Osmanen, Ungarn, Österreicher und der Deutschen. Als wir in einem typisch serbischen Restaurant sitzen, erklärt Goran Petrovic die Besonderheit der serbischen Geschichte so: O-Ton 12 Goran Petrovic Übersetzung 7, Zitator 1 Bei uns konzentriert sich die Geschichte. Hier passieren Dinge in ein paar Jahren, die sich in der Schweiz langsam in Jahrhunderten entwickelt haben. Es gibt keine Kontinuität hier. Nur wenige Menschen haben etwas von ihrem Großvater geerbt. Die Gesellschaft befindet sich auf einer geographisch-geschichtlichen Ebene, über die immer ein rauer Wind weht. Da kann nichts wurzeln. Autorin 24 Später ergänzt er an einem ruhigeren Ort: O-Ton 13 Goran Petrovic Übersetzung 8, Zitator 1 Ich habe manchmal große Angst, weil wir zu viel verlieren und vergessen. (...) Ein verlorenes Wort bedeutet auch den Verlust einer Welt. Für meine Poetik und mein Erleben ist wichtig, was unsere Zivilisation verliert oder immer weniger wichtig nimmt: die Details, zu denen auch die Worte zählen. Autorin 25 Diese Einstellung kommt nicht bei allen gut an, wenn er darüber in Serbien und auf Lesereisen im Ausland mit anderen Autoren oder auch Journalisten diskutiert. Goran Petrovic weiß, dass es in Europa einen Ruf nach Gegenwart gibt und danach, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Er sorgt sich, dass man denken könne, diese ganzen Geschichten über die Geschichte seien sinnlos. Dabei seien sie doch Beispiele dafür, wie in der "großen Geschichte" die "kleinen Menschen" verloren gehen. O-Ton 14 Goran Petrovic Übersetzung 9, Zitator 1 In einem durchschnittlichen Satz in einem Geschichtslehrbuch sind zigtausende Schicksale komprimiert. Autorin 26 Und erst recht in der Literatur! Bücher seien wie Schwämme, heißt es in Petrovics Roman "Die Villa am Rande der Zeit". Ihr löchriges, poröses Gewebe sei fähig, eine unendliche Menge an Schicksalen aufzusaugen, sogar ganze Völker in sich aufzunehmen. Auf die Frage, wie er denn dann von den Europäern und Europäerinnen erzählen würde, antwortet Goran Petrovic: O-Ton 15 Goran Petrovic Übersetzung 10, Zitator 1 Wir befinden uns in einem Vorraum zum Vorraum von Europa, deswegen wird hier viel über Europa geredet. Werden sie uns annehmen? Werden sie nicht? Sollen wir an die Tür klopfen oder klingeln? Die Idee der Europäischen Union ist eine sehr noble. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich würde sagen, das ehemalige Jugoslawien hatte auch manche Eigenschaften der Europäischen Union. Für mich ist die Idee, sich für einen guten Zweck zusammenzutun, grundsätzlich positiv. Aber im Moment geht es ständig um diese europäischen Zonen. Die einen gehören zur A-Zone, die anderen zur B-Zone. Wer kann garantieren, dass in zehn Jahren nicht noch eine C-Zone eingeführt wird? Das heißt, wir steuern wieder auf eine Atomisierung des Raums zu. (...) Wenn es eine europäische Erzählung gibt, dann ist jeder ihrer Teile in einer anderen Sprache erzählt. Die Helden und die Ereignisse in dieser Erzählung sind miteinander verbunden. Mit all diesen Einzelheiten würde Europas Erzählung einem riesigen Roman ähneln. Ein Roman, der hunderttausende von Fußnoten hätte und zigtausend Fußnoten der Fußnoten. Das ist megaloman, aber es gefällt mir. Es wäre nur gut, einen Leser zu haben, der alle Sprachen kennt und nicht auf Übersetzungen angewiesen ist. (...) Ich bin gegen den Einheitswahn in Bereichen wie der Kunst. Ein System für internationale Maßeinheiten ist hilfreich, damit der Meter hier das gleiche bedeutet wie zweitausend Kilometer weiter östlich oder westlich. Aber der Versuch, eine einheitliche europäische Erzählung zu schaffen und nicht diesen riesigen Roman, wäre falsch. Das würde uns dazu bringen, die gleiche Meinung zu verschiedenen Dinge zu haben. Autorin 27 "Das wichtigste ist die Montage!", heißt es in Goran Petrovics tragikomischen Roman "Ein Sternenzelt aus Stuck". Diese Montage bezieht sich nicht nur auf die Darstellung von Brüchen und darauf, die verschiedensten Leben für den großen, europäischen Roman zu berücksichtigen. Sie schneidet auch das Komische und die Schrecken hart aneinander, an die Antonio Munoz Molina so beharrlich erinnert. Eine Methode, die eine lange Tradition hat in der serbischen Literatur. Weil Goran Petrovic immer die Geschichten hinter den Dingen sieht, kann er wie Antonio Muñoz Molina auch das Europa erkennen, das vor dem Zweiten Weltkrieg hätte entstehen können. Symbolisch für diesen verlorenen Ort, der nie Wirklichkeit war, erzählt er in "Die Villa am Rande der Zeit" vom legendären Mitic-Loch am Slavija-Platz in Belgrad. Lesung 13, Zitator 1 Adam (...) ging zu Fuß zum sternförmigen Slavija-Platz, umrundete ihn aus unerfindlichen Gründen entgegen der Fahrtrichtung, passierte die Neonreklame von McDonald's und das Gedränge um die Haltestellen der Linien 59, 2, 19 und 22, er ging an den dicht an dicht stehenden Verkaufsbuden und den regennassen Kartons der fliegenden Händler vorüber, blieb kurz am berühmten Mitic-Loch stehen, wo einst das größte Warenhaus des Balkans geplant, doch nie erbaut worden war und deshalb auch nie abgerissen werden konnte (...). (Goran Petrovic: "Die Villa am Rande der Zeit. Roman", aus dem Serbischen von Susanne Böhm-Molisavljevic. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011.) Autorin 28 Die wunderliche, liebenswerte alte Dame, die in der "Villa am Rande der Zeit" die Gabe hat, sich in Bücher flüchten zu können und tragischerweise beginnt, Worte zu vergessen, also die Welt zu verlieren, kommentiert: Lesung 14, Zitatorin 2 Ein Loch, ein Loch... Diesen Schnickschnack höre ich nun schon seit ungefähr fünfzig Jahren! Wissen Sie eigentlich, dass Vlada Mitic alles geplant und schriftlich festgehalten hatte, angefangen von den zwanzig Millionen Dinar, die er bei der Serbischen Volksbank für die Einrichtung des Gebäudes deponiert hatte, bis hin zum künftigen Aussehen des unbedeutendsten Regalbretts? Er ist nur nicht dazu gekommen, es bauen zu lassen! Aber vielleicht ist es auch besser so, es wäre ohnehin während der Bombardierungen zerstört worden oder die neuen Machthaber hätten ihn enteignet. Aber auf diese Weise steht es immer noch genau so dort, wie es erdacht worden ist. (Goran Petrovic: "Die Villa am Rande der Zeit. Roman", aus dem Serbischen von Susanne Böhm-Molisavljevic. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011.) Autorin 29 Ein Mensch werde mehr durch seine Verluste geprägt als durch seinen Besitz. Oft wissen wir die Dinge, die wir haben, nicht zu würdigen, meint Goran Petrovic. Wir stehen am Slavija-Platz. O-Ton 16 Goran Petrovic Übersetzung 11, Zitator 1 Für mich ist der Slavija-Platz mit dem Mitic-Loch ein Symbol der Anfänge und nie erreichten Ideale. Ein Symbol auch für Europa. (...) Dieses große Loch, allein für das Fundament. Und dann kam der Krieg und das Projekt wurde nicht realisiert. Das scheint ein verfluchter Ort zu sein, weil seitdem niemand auf dem Grundstück etwas bauen konnte. Atmo 1 Scratch O-Ton 17 Jacques Delors Unsere Gemeinschaft ist die Konsequenz der leidvollen Geschichte Europas. Aber rechtfertigen müssen wir sie aus den Herausforderungen der Gegenwart. Die Umwälzungen im Osten eröffnen uns die Chance für ein geeintes Gesamteuropa und dauerhaften Frieden. Atmo 1 Scratch Autorin 30 Jacques Delors, ehemaliger EG-Kommissionspräsident und Gründervater der Europäischen Union, bezieht sich in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Karlspreises 1992 auf einen politischen Willen. Dieser Wille ähnelt heute auf unheimliche Weise dem Mitic-Loch von Goran Petrovic. Schaut man zum Beispiel in Richtung Krim, erscheinen Delors Worte völlig naiv. Noch einmal die Frage, ob eine gemeinsame Erzählung helfen würde, die Europäerinnen und Europäer zu einen, diesmal an die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja. O-Ton 18 Katja Petrowskaja Ich glaube, man kann die Geschichte überhaupt nicht generalisieren. Man muss zum Beispiel anschauen, wie Geschichtsbücher geschrieben werden. Es gibt dieses Beispiel, dass die Franzosen denken, dass sie bei Borodino gewonnen haben und die Russen sagen auch, dass sie bei Borodino gewonnen haben. Lehrbücher könnten doch gewisse Erleuchtungen über solche Ereignisse ermöglichen. - Das ist wirklich wichtig, dass wir bestimmte Daten in unseren Lehrbüchern haben in ganz Europa. Einerseits, andererseits: Ich glaube, es geht nicht ohne lokale Erzählungen. Ich glaube, diese Empörung gegen die EU (...) hat etwas damit zu tun, dass viele Leute spüren, dass die Geschichte (...), dass Einzelerzählungen nicht generalisiert werden können. Dass es Sachen gibt, die man nicht institutionalisieren kann. (...) Es gibt viele Projekte wie zum Beispiel das "Europäische Haus": Es sind sehr interessante Versuche, aber sie können nicht die europäische Geschichte erzählen. Die europäische Geschichte besteht aus Lehrbüchern, Diskursen verschiedener Nationen und natürlich Familiengeschichten. Das sind sehr widersprüchliche Sachen. (...) Was ganz wichtig ist: Man spricht immer von Europa. Europa aber ist (...) eine geraubte Frau. Dann soll man das vielleicht auch in Betracht ziehen, wenn man über Europa redet, was eigentlich Europa ist. Autorin 31 Am Anfang stand das nicht wieder gutzumachende Verbrechen. Es holt einen immer wieder ein. Auch davon handelt das Debüt der Journalistin und Schriftstellerin Katja Petrowskaja. "Vielleicht Esther" heißt ihr Buch und im Untertitel: "Geschichten". Beides deutet an, wie skeptisch Katja Petrowskaja Festschreibungen gegenüber ist. Deswegen erzählt ihr Buch eher von der Suche nach den Geschichten ihrer jüdischen Familie als von diesen Geschichten selbst, die immer wieder im Ungewissen verschwimmen und uns mit der Erzählerin trotzdem nach Wien, Warschau, Moskau, in die USA, nach Österreich und in die Ukraine führen. Die Erzählung beginnt aber in Berlin. Genauer: am Berliner Hauptbahnhof, wo die Ich-Erzählerin mit einem Reisenden ins Gespräch kommt, der wie sie auf den Spuren der Vergangenheit nach Osten fahren will. Auslöser ist die Erschütterung über den Werbeschriftzug einer der "größten Eisenbahn- und Flugzeugbaufirmen der Welt": "Bombardier. Willkommen in Berlin" steht da in monumentalen Lettern über der Einfahrt des Hauptbahnhofes der deutschen Hauptstadt. Lesung 15, Zitatorin 2 Es wäre mir lieber, ich müsste meine Reise nicht hier beginnen, in der Ödnis um den Bahnhof, die immer noch von der Verwüstung dieser Stadt zeugt (...). Der Bahnhof wurde vor kurzem in die Mitte dieser Stadt gebaut, und trotz des Friedens war der Bahnhof unwirtlich, es war, als verkörpere er all die Verluste, die mit keinem Zug einzuholen sind, einer der unwirtlichsten Orte in unserem kreuz und quer vereinigten und doch sehr begrenzten Europa, ein Ort, an dem es immer zieht (...). (Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther. Geschichten". Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.) O-Ton 19 Katja Petrowskaja Als ich darüber geschrieben habe, sah ich einen Menschen in dieser Klemme im Berliner Bahnhof, der für mich das Zentrum Europas ist, für viele liegt er beinahe in Polen. Man steht als jemand, der in Kiew geboren ist, im Berliner Bahnhof und sieht von der einen Seite "Bombardier" und von der anderen Seite "Vattenfall". Und das ist genau unsere zivilisatorische Klemme: Wir möchten immer schneller fahren, und wir möchten immer billiger Energie haben. Autorin 32 Mit Katja Petrowskaja ist man immer gleich in der Gegenwart, auch wenn es um die Vergangenheit geht. Fast prophetisch wirkt das erste Kapitel ihres Buches, bedenkt man, dass es kurz vor dem Ausbruch des Krim-Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland erschienen ist. O-Ton 20 Katja Petrowskaja Als ich das geschrieben habe, hatte ich keine Ahnung, was da zwischen Russland und der Ukraine passieren wird. Dieser russisch-ukrainische Konflikt ist ein Konflikt, der vorher nicht existierte. Das ist ein Konflikt, den Russland komplett produziert hat. Es gab vorher nicht mal eine separatistische Partei oder einen Verein, der Richtung Russland wollte auf der Krim. Wir müssen diese Dinge stark trennen. Was wir jetzt in Russland sehen, ist eigentlich eine Folge davon, dass Russland sich als Sieger sieht im Zweiten Weltkrieg (...). Was wir jetzt sehen, auch diese Verdrehung von allen möglichen heiligen und auch unheimlichen Worten wie zum Beispiel "Faschismus" (...) sind unglaubliche Umkehrungen, die eigentlich tatsächlich eine Folge davon sind, dass irgendwelche Aufarbeitung in der Sowjetunion nicht stattgefunden haben und im heutigen Russland. Autorin 33 Der Konflikt auf der Krim hat sich entzündet und während er brennt und sich Menschen aufgrund politischer Spaltungen und kriegerischer Handlungen voneinander entfernen, wird Geschichte umgeschrieben. Alte, gemeinsame Geschichten zersplittern oder geraten in Vergessenheit, und es entstehen neue Geschichten, die wiederum Gegenerzählungen herausfordern. Aber noch im Verschwinden verlangen die alten Aufmerksamkeit, denn nichts geht verloren "on the long run", wie Antonio Muñoz Molina sagt oder wie Yoko Tawada es ihren Eisbären in die Schnauze legt: Lesung 16, Zitatorin 1 Eine menschliche Seele war nicht so romantisch, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie bestand hauptsächlich aus Sprachen, nicht nur aus gewöhnlichen, verständlichen Sprachen, sondern aus vielen kaputten Sprachscherben, den Schatten der Sprachen und den Bildern, die nicht Wörter werden konnten. (Yoko Tawada: "Etüden im Schnee. Roman". Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2014.) Autorin 34 Die unerzählten Geschichten Europas, sie sind der eigentliche rote Faden, der sich durch die Gegenwart zieht. Unerzählt und ungewollt wie die Geschichten und Bilder von den Rändern Europas, den Küsten des Mittelmeers zum Beispiel. Europa erzählen heißt heute auch, den Blick nach außen zu richten, auf die Grenzen und auf die neuen Mauern. O-Ton 21 Katja Petrowskaja Europa ist sehr europazentristisch. (...) Aber die Welt ist groß und es gibt ganz andere Denkweisen und ganz andere Länder und ganz andere Probleme. Musik 6 Brockdorff Klang Labor: "Festung Europa" Atmo 1 Scratch Lesung 17, Zitatorin 1 Eh Leute, kommt aus'm Arsch, Marsch jetzt und aufgewacht, hört die Signale, spürt das Fieber der Nacht (...). Dieses Lied entstand aus Mitteln der Europäischen Union. (Pause) Hat die übrigens mal jemand gesehen? (Nachhall) (Dorota Maslowska: "Die Reiherkönigin. Ein Rap", aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Kiepenheuer & Witsch Paperback, Köln 2007.) Musik 7 Georg Kreisler: Der Euro Geht über in Musik 1 2