Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 17. Januar 2015 - 11.05 - 12.00 Uhr My home is a castle - Alltag auf Schloss Lullingstone mit Reportagen von Ruth Rach Moderation und Redaktion: Anne Raith Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Gesichter Europas "Lullingstone Castle ist zauberhaft, aber die Instandhaltung kostet ein Vermögen. Oft sagen die Besucher: Das ist ja ein Riesenanwesen, wo sind denn Ihre ganzen Diener? Und dann sage ich: Der eine steht direkt vor Ihnen und der andere ist meine Frau. Einen Butler kann sich heutzutage nur noch ein reicher Fußballer leisten..." "Der Turm ist uralt und im Winter wahnsinnig kalt. Aber hier bin ich aufgewachsen und hier will ich auch sterben. Wenn meine Freunde mich besuchen, staunen sie erst einmal über den langen Stammbaum. Für mich ist es selbstverständlich, dass hier 19 Generationen vor mir gelebt haben und dass ich der 20. bin, der sich um Lullingstone Castle kümmert." My home is a castle - Alltag auf Schloss Lullingstone Mit Reportagen von Ruth Rach Am Mikrophon ist Anne Raith. Intro - Welcome to Lullingstone Castle "Die britische Aristokratie ist tot". Mit diesem Ausruf hat der zwölfte Herzog von Devonshire vor einigen Jahren für Aufsehen gesorgt. "Der Sarg ist zugenagelt, in der Erde versenkt." präzisierte er seine Anschauung recht bildlich. Der Adel habe keinen Einfluss mehr, höchstens noch Titel. Tatsächlich ist die einstige Macht der britischen Aristokratie durch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen geschwunden - was nicht heißt, dass das Interesse nachgelassen hat. Hochzeiten, Geburten und Affären der Royal Family ziehen Millionen in den Bann und auch fiktive Adelsfamilien wie jene, die "Downton Abbey" bewohnt, faszinieren nicht nur die Briten. Doch so mondän wie die Windsors oder die Crawleys leben die meisten Adelsdynastien schon lange nicht mehr - denn neben Einfluss fehlt es ihnen heutzutage schlicht an Geld. Tot ist die britische Aristokratie also nicht - aber die Zeiten haben sich geändert... Ein verlassener Bahnhof. Eine Landstraße, ein einsamer Wald. Kein Schild, kein Wanderweg, ab und zu ein Auto. Eynsford in der Grafschaft Kent. Nur 20 Meilen von London entfernt, und doch in einer anderen Welt. Endlich eine Lichtung. Ein viktorianisches Pförtnerhäuschen. Ein schmiede-eisernes Portal. Fest verschlossen. Um Punkt elf kommt ein verrosteter roter Volvo angerast, Heck und Haube sind mit schwarzen Adlern verziert. Am Steuer, ein Mann mit einem zerfurchten Indianergesicht. Schwarz-rot kariertes Holzfällerhemd, türkisbesetzte Armreifen, klobige Silberringe. An seiner Brusttasche baumelt eine britische Kriegsmedaille. Im Mundwinkel hängt eine selbstgedrehte Zigarette. Das lange weiße Haar hat er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Reg, Pförtner, Gärtner, Aufseher von Lullingstone Castle. Sein Arbeitsplatz ist weiter unten, am Waldesrand, direkt neben dem Wasserfall. Reg verkauft Tickets, Schlossführer, und selbstgemachte Tabakdosen, die er mit bunten Glasperlen verziert hat. "Du solltest mich mal in voller Montur sehen", sagt er. Und beim Schlangentanz. Reg ist ein Indianer. Seine Vorfahren kommen aus Nordamerika. Aber wie kommt ein Indianer nach Lullingstone? "Ach, das ist eine lange Geschichte", sagt Reg. "Willkommen in Lullingstone. Das Schloss ist den ganzen Tag geöffnet". Von Seidenraupen und alten Zeiten - Schlossherr Guy Hart Dyke Lullingstone Castle ist eines der ältesten Familienanwesen in England. Schon im Grundbuch, der sogenannten Winchester Roll aus dem 11. Jahrhundert, findet sich ein entsprechender Eintrag. Damals ließ Wilhelm der Eroberer seine Abgesandten das ganze Land durchkämmen, um alle Grundbesitzverhältnisse zu notieren. "Domesday Book" wurde das Grundbuch später genannt, weil die einmal eingetragenen Grundbesitzverhältnisse als rechtlich "endgültig" galten. Im 15. Jahrhundert wurde dann das Herrenhaus gebaut, das man durch einen großen Torbogen erreicht. Als junger König kam Heinrich VIII. gern nach Lullingstone, um sich auf dem Turnierplatz zu amüsieren, auch andere Würdenträger waren gern gesehene Gäste. Dutzende Angestellte sorgten dafür, dass die Herrschaften angekleidet, die Speisen serviert und die Kamine befeuert wurden. Seit 19 Generationen gehört Lullingstone Castle nun der Familie Hart Dyke. Und viel hat sich verändert. Guy Hart Dyke musste einen Großteil der Ländereien verkaufen, das Schloss in kleinere Wohnungen unterteilen und verpachten - auch, um erst einmal die Erbschaftssteuer bezahlen zu können. Seitdem hat er sich an die Veränderungen gewöhnt, die das alles mit sich gebracht hat... Mit pragmatischem Stolz inspiziert Guy Hart Dyke, Hausherr von Lullingstone Castle, den Rasen zwischen der Pförtnerloge und seinem Schloss. Ganz schön abgetreten, sagt er, ein gutes Zeichen. Je mehr kahle Stellen, desto mehr Besucher. "Wir betrachten das Schloss schon lange nicht mehr als unser Eigentum, seit wir es vor fast 40 Jahren für Besucher geöffnet haben. Nur ihnen verdanken wir, dass wir überhaupt noch hier wohnen. Lullingstone Castle ist zauberhaft, aber die Instandhaltung kostet ein Vermögen." Auch die Tweed-Jacke des Schlossherren hat schon bessere Tage gesehen. Durchgescheuert und ausgebeult, und mit Lederflicken ausgebessert. Fast könnte man ihn für den Gärtner halten. Wenn da nicht sein feiner Akzent wäre. Das ist typisch für den alten englischen Adel. Nur Neureiche tragen neue Outfits. Guy Hart Dyke ist Mitte 80. Nachdenklich blickt auf den verträumten See, die gotische Pförtnerloge und das rund 500 Jahre alte Schloss, in dem früher Könige und Königinnen ein- und ausgingen. Unter ihnen Heinrich VIII. und Queen Anne, sie war praktisch ein Stammgast. Ihr zu Ehren wurde der ursprüngliche Tudor-Bau mit einer klassizistischen "Queen Anne"-Fassade ummantelt. Heute verkehren hier vor allem ungekrönte Häupter. Sie bezahlen acht Pfund Eintritt und können sich unter der Markise mit Tee und Sandwiches stärken. "Ich werde ständig gefragt, wie das so ist, wenn jeden Sommer tausende von Leuten durch mein Schloss trampeln. Und dann sage ich: entweder das, oder ich muss alles verkaufen." Eigentlich hatte Guy Hart Dyke nie damit gerechnet, Lullingstone Castle zu erben. Schließlich war sein Vater der Zweitgeborene. Erst nach dem Tod seines Onkels zog die Familie nach Lullingstone. Guy war gerade acht Jahre alt. "Das war für mich die schönste Zeit. Wir hatten das ganze Schloss für uns. Allerdings hatte meine Mutter eine Riesenpassion für Seidenraupen. Sie pflanzte überall im Garten Maulbeerbäume an, und verwandelte das Schloss in eine Seidenspinnerei. Die Raupen lebten hier in den Räumen. Den Geruch hab ich heute noch in der Nase. Aber die Seide war sehr gefragt. Die Leute kamen von nah und fern angeradelt, um die Seidenraupen zu bestaunen. Und der Stoff wurde sogar für die Krönungsrobe und die Geburtstagskleider von Queen Elisabeth II. verwendet." Während des Krieges musste die Familie allerdings ins Gartenhaus umziehen. Das Schloss wurde von der Armee requiriert, die den Park in einen Scheinflugplatz umfunktionierte, um die deutsche Luftwaffe zu täuschen. Und dem nicht genug. Als die Soldaten anfingen, mit Tränengas zu experimentieren, riss Guys Mutter der Geduldsfaden. Sie schrieb an Winston Churchill höchstpersönlich und schimpfte, dass ihre Hühner vor Schreck keine Eier mehr legen wollten. Churchill schrieb zurück: Sorry, aber so sei das nun mal im Krieg. Guy Hart Dyke hat feine, gleichmütige Züge, die wenig von seinem Innenleben preisgeben. Erst wenn er über seine Mutter spricht, lebt er auf: "Meine Mutter war eine große Persönlichkeit. Sie war unglaublich witzig und lebhaft. Aber für uns Kinder hatte sie keine Zeit. Sie war viel zu busy mit ihren Seidenraupen. Mein Vater war auch nicht da, er war Ingenieur und baute Eisenbahnen, zuerst in Südamerika und dann in Afrika. Im Grunde wurden wir von unseren Nannies aufgezogen, die bei uns im Kinder-Flügel wohnten. Der Familie wurden wir nur zu besonderen Anlässen vorgeführt. "Das reicht jetzt. Danke, Nanny", pflegte meine Mutter dann zu sagen: "Los ab in den Kinderflügel!" Ja, damals war alles ganz anders." Guy Hart Dyke überquert den Rasen, und steuert auf die Schlosskapelle zu, St. Botolph, 1362 erbaut, und damit noch älter als das Haus. Hier ruhen seine Vorfahren. Hinter gotischen Torbögen und in marmornen Sarkophagen aufgebahrt. Darauf in Stein gehauene Ritter und Rittersfrauen. An den Wänden Wappen und Ahnentafeln. Würdigungen, Gedenksprüche. "Hier ruht John Peachy, der Lullingstone Castle gebaut hat. Seine Familie kommt ursprünglich aus der Normandie. John Peachy war ein großer Freund von Heinrich VIII. und war so verrückt nach Turnierkämpfen, dass er nicht einmal Zeit hatte, für Nachkommen zu sorgen. Das Schloss ging an seine Schwester, die dann einen John Hart heiratete. Hier steht, dass er wegen seiner großen Tapferkeit zum Ritter geschlagen wurde. Ja, damals musste man für den Ritterorden noch andere Dienste leisten. Heute genügt es, wenn man ein Radrennen gewinnt oder gut Cricket spielen kann." Mit Gleichmut mustert Guy Hart Dyke seine versteinerten Ahnen. Die Asche seines Vaters hat er unter der alten Zeder im Schlosspark verstreut. Und überhaupt schaut er sich lieber die reichgeschnitzte Holzdecke an und das bunte Bleiglasfenster aus dem 14. Jahrhundert. Seit die Schlosskappelle in die Diözese Rochester aufgenommen wurde, ist er zumindest von diesen Unterhaltskosten befreit. Und muss auch dem Priester kein Salär mehr zahlen, der hier jeden Sonntag einen Gottesdienst für die umliegende Gemeinde abhält. Guy Hart Dyke schließt die Kirchentür und schlendert zurück zum "Haus", wie er das Schloss nennt. Seine Frau Sarah ist eine entfernte Cousine. Als junger Mann hat er ihr Foto auf dem Kaminsims stehen sehen und gefragt: "Ist sie verheiratet?". Dann arrangierte er ein Rendezvous und wenig später waren sie ein Paar. Da,als arbeitete der junge Guy Hart Dyke als Förster in Afrika. "Sarah hat die Kinder praktisch alleine großgezogen, während ich in Afrika war. Ohne Nannies, denn die kosten Geld und daran hat's uns immer schon gefehlt. Oft sagen die Besucher: Das ist ja ein Riesenanwesen, wo sind denn Ihre ganzen Diener? Und dann sage ich: Der eine steht direkt vor Ihnen und der andere ist meine Frau. Meine Großeltern hatten allein im Haus noch 18 Bedienstete. Wir machen alles alleine. Meine Frau kocht, und ich trage das Essen auf. Einen Butler kann sich heutzutage nur noch ein reicher Fußballer leisten..." Es beginnt zu nieseln. Mit einem Hauch von Nostalgie schaut Guy Hart Dyke in die Ferne: einmal im Jahr macht er mit seiner Frau Urlaub, in Südafrika "Ich habe immer schon gesagt: Mein Herz ist natürlich bei meiner Familie, aber meine Seele ist in Afrika." Literatur Früher konnten sich nicht nur reiche Fußballer einen Butler leisten, ein Butler gehörte schlicht zum Inventar. Diskrete, zuverlässige und loyale Männer wie Stevenson, der Protagonist in Kazuo Ishiguros Booker-Prize gekröntem Roman "Was vom Tage übrigblieb". Stevenson dient auf Darlington Hall und sorgt dort für einen tadellosen Tagesablauf. Ein gesellschaftskritischer Roman, erzählt von jemandem, der sich eine solche Kritik nie erlauben würde und der sich viele Gedanken gemacht hat, über seine Zunft: "Es wird bisweilen gesagt, Butler gebe es eigentlich nur in England. Andere Länder hätten, welche Bezeichnung man auch gebraucht, nur Diener. Ich neige dazu, mich dieser Ansicht anzuschließen. Kontinentaleuropäer können keine Butler sein, weil sie als Menschenschlag die emotionale Zurückhaltung nicht zu üben vermögen, zu der nur Engländer fähig sind. Kontinentaleuropäer und im Großen und Ganzen auch die Abkömmlinge keltischer Völkerschaften wie Waliser, Iren und andere, sind, darin wird man mir zweifellos zustimmen, in der Regel nicht in der Lage, sich in Augenblicken starker emotionaler Spannung zu beherrschen, und somit unfähig, außer in mehr oder weniger harmlosen Situationen eine professionelle Haltung zu be-wahren. Sie sind - man möge mir das grobe Bild verzeihen - wie ein Mann, der sich bei der geringsten Provokation Anzug und Hemd vom Leibe reißt und schreiend herumrennt. Mit einen Wort, "Würde" liegt jenseits ihres Vermögens. Wir Engländer sind in dieser Beziehung Ausländern gegenüber im Vorteil, und deshalb denkt man bei einem großen Butler fast definitionsgemäß an einen Engländer." Von illustren Gästen und hölzernen Löwenzungen - Schlossherrin Sarah Hart Dyke "Noblesse oblige" heißt jene Maxime, die der französische Politiker und Schriftsteller Pierre Marc Gaston Duc de Lévis Anfang des 19. Jahrhunderts formuliert hat. "Adel verpflichtet". Und zwar dazu, sich der Situation und dem Ruf angemessen zu verhalten. Bis heute hat diese Maxime nicht an Gültigkeit verloren - nur sind die adligen Pflichten weltlicher geworden. Sarah Hart Dyke, die Dame des Hauses, muss ebenso wie ihr Mann Guy mit anpacken, wenn es um das Putzen des Schlosses und die Pflege der prachtvollen Anlagen geht. Für die Öffentlichkeit zugänglich wurde das Schloss zum ersten Mal in dem Jahr, in dem Sohn Tom geboren wurde, vor bald 40 Jahren. Seitdem gilt: Erst die Besucher, dann die Familie. So sei das schon immer gewesen, sagt Sarah Hart Dyke... Sarah Hart Dyke, Mitte 60, Schlossfrau von Lullingstone Castle, ist außer Atem. Eben hat sie noch schnell den Küchentisch abgeräumt und die Blumenvase mit den verdorrten Sonnenblumen weggeschleppt. Ein Riesending, diese Vase, und fürchterlich kostbar. Sarah Hart Dyke eilt in die Große Halle, schnappt nach Luft, und lässt sich in einen alten Sessel beim Kamin sinken. Dort stehen ihre Lieblingsfotos. "Das ist Queen Mary, sie hat das Schloss im Jahr 1936 besucht, um unsere Seidenraupen zu besichtigen. Hier unser Hochzeitsbild: Wir sind in Nigeria getraut worden. Und hier die Kinder, Tom und Anya, noch ganz klein. Sie hatten eine schöne Kindheit. Der riesige Park, das Schloss... An den Wochenenden mussten sie sich allerdings einschränken, weil das Haus für die Besucher geöffnet war." Schwere Eichenmöbel, ein massives Sofa, ein zwei Meter hoher Kamin. Die Große Halle von Lullingstone Castle stammt aus der Tudor-Zeit. Der Raum ist hoch und hell, und nimmt den Großteil des unteren Stockwerks ein - wie ein zu groß geratenes Wohnzimmer. In erhabener Höhe ein Triptychon aus dem Jahr 1575: Sir Percyval Hart, Begründer der Dynastie, von zwei Söhnen flankiert. Seine linke Hand ruht auf einem Stundenglas und einem Totenkopf. In der Ecke alte Rüstungen aus dem englischen Bürgerkrieg. Und ein altertümlich wirkendes Tasteninstrument. "Das ist ein mechanisches Klavier, ein sogenanntes Chopin Pianola, Baujahr 1875. Leider ist der Mechanismus total kaputt. Es würde ein Vermögen kosten, das Instrument zu reparieren." Fast wäre Sarah Hart Dyke Pianistin geworden. Oder Schauspielerin. Ihre Eltern haben sie erst auf eine Waldorfschule geschickt, mit 17 ging sie dann an die "Guildhall School of Music and Drama" in London. "Ich habe alle möglichen Dinge ausprobiert. Eine Zeitlang habe ich auch beim Film gearbeitet. Mich haben einfach so viele Bereiche interessiert. Eine ideale Vorbereitung auf mein späteres Leben. Hier in Lullingstone muss ich ständig mit neuen Aufgaben fertigwerden." Sarah Hart Dyke ist eine jener Frauen, die immer elegant aussehen, ganz egal was sie anziehen. Heute trägt sie ein praktisches Twinset in taubengrau, das ihre hellen blauen Augen noch mehr leuchten lässt. Eine schöne Frau. Mit ebenmäßigen Zügen, einer sanften Stimme, einem sehr feinen Akzent. Und einer bewegten Kindheit. "Meine Mutter war Kunstmalerin, sie hat in Florenz studiert und hatte ein recht schweres Leben mit uns vier Kindern. Erst war mein Vater bei der Marine. Eine wunderbare Zeit. Wir waren finanziell abgesichert. Aber dann beschloss er, anglikanischer Pfarrer zu werden. Ein Riesenschock. Plötzlich waren wir bettelarm. Meine Mutter musste jeden Pfennig umdrehen." Sarah Hart Dyke geht vor, in den ersten Stock. Zart streicht sie über die Wappentiere, die auf dem Treppengeländer Wache halten: drei holzgeschnitzte Löwen mit zierlichen Kronen auf dem Haupt. Aus der Nähe sehen die Figuren allerdings eher wie zahme Möpse aus, trotz ihrer feuerroten Zungen... "Kuriose Tiere. Es kommt schon mal vor, dass ein Besucher eine Zunge herauszieht und abbricht, einfach so, aus Neugier, und dann muss ich eine neue schnitzen." Im Treppenhaus geistert bisweilen die Lavendel-Dame umher, eine edle Vorfahrin, die sich in den Schloss-Aufseher verliebte, und sich das Leben nahm, weil ihre Familie die Liaison nicht billigte. Sarah Hart Dyke fröstelt es: Aber nicht wegen des Gespenstes, die Schlossräume sind eiskalt und die Riesenkamine zu befeuern ist Schwerarbeit. Am Treppenabsatz macht Sarah Hart Dyke Halt und führt in ein Eckzimmer. Der Raum ist wie eine Wunderkammer, vollgestopft mit exotischen Teppichen, zerdellten Überseekoffern, alten Landkarten, einem Leopardenfell. "Meine Vorfahren waren Forscher. In Nigeria, Burma, der Antarktis. Vielleicht hat sich ihre Entdeckerlust auf meinen Sohn Tom vererbt. Sie haben die ganzen Trophäen mitgebracht." Glanzstück des Hauses: The Long Room, die Galerie. Die Tonnendeckte ist. Reich verziert und schon zu elisabethanischen Zeiten entstanden. Im Nebenraum das Allerheiligste: Königin Annes Schlafzimmer aus dem 18. Jahrhundert, überraschend klein und einfach gestaltet, an der Stirnseite ein zierliches Himmelbett. Hier hat die Monarchin bei ihren Besuchen in Lullingstone übernachtet. Auf dem Weg zur Bibliothek bekommt Sarah Hart Dyke einen Hustenanfall. Der viele Staub! Sie geht in die Küche und holt sich ein Glas Wasser. Die Küche ist schmal und dunkel. Das Mobiliar könnte aus den 50er Jahren stammen. Einmal in der Woche kommt jemand aus dem Dorf, um ihr beim Putzen und Abstauben zu helfen. Ansonsten besorgt sie den Haushalt selbst. "Viele Besucher kommen mit der Einstellung: so ein großes Haus, die Besitzer sind sicher stinkreich. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr wir uns ins Zeug legen. Aber wenn wir mit ihnen ins Gespräch kommen und wenn sie sehen, dass mein Mann den Rasen selber mäht, sind sie bereit, uns auf Augenhöhe begegnen, und das ist ein wirklich guter Moment." Von exotischen Pflanzen und kolumbianischen Rebellen - Sohn Tom Wie Guy Hart Dyke ächzen viele Adelige in der x-ten Generation unter der Last der Erbschaftssteuer, unter den Kosten für die Instandhaltung und Restaurierung der einst prächtigen Anwesen. Wer knapp bei Kasse ist, sein Erbe aber nicht verkaufen will, kann entweder den National Trust um Hilfe bitten, eine gemeinnützige Organisation zur Denkmalpflege historischer Bauten, die das Anwesen übernimmt, vermarktet und den Bewohnern zumindest das Wohnrecht in bestimmten Teilen des Schlosses gewährt. Oder er muss selbst findige Strategien entwickeln: Mittelalterliche Ritterspiele, Antiquitätenmessen, Oldtimer-Rennen - für viele Schlossbesitzer sind solche Veranstaltungen inzwischen eine notwendige Einkommensquelle. Manche vermieten sogar das ganze Schloss. Ausländische Milliardäre legen dem Vernehmen nach bis zu einhunderttausend Pfund pro Woche auf den Tisch, für ein echt britisches Schloss- und Jagderlebnis, inklusive Tweed-Outfit und Butler. Die Hart Dykes haben einen anderen Weg gewählt, mit dem sich Sohn Tom gleich einen großen Traum erfüllt hat... Der viktorianische Zylinder steht ihm gut. Und auch die geblümte Weste, der nachtblaue Frack und der schnörkelige Gehstock. Tom Hart Dyke, Mitte 30, steht unter einer 200 Jahre alten Zeder im Schlosspark und bittet zwei Dutzend Besucher, ihm zu folgen. In den World Garden, den er vor zehn Jahren angepflanzt hat und der seine Familie wahrscheinlich vor dem Bankrott gerettet hat. Als erstes fallen seine Augen auf. Jungenhaft und unbekümmert. Und sein Enthusiasmus: Die Besucher hängen an seinen Lippen. "Das Mond-Tor haben meine Ururgroßeltern schon zu viktorianischen Zeiten gebaut: Bei klarem Himmel kann man zweimal im Jahr sehen, wie der Vollmond genau hinter diesem Tor aufgeht. Ein magischer Anblick." Die Gruppe schlendert durch ein schmales Tor, passiert einen indianischen Totempfahl und steht plötzlich in Südafrika. Stachelige Aloe Vera, Zuckerbüsche, weiße Arum Lilien. Toms Weltgarten ist in der Form einer riesigen botanischen Landkarte angelegt, jeder Kontinent ist mit seiner heimischen Flora bepflanzt. Der Garten ist so groß wie zwei Fußballplätze und von einer hohen Mauer geschützt, deren Ziegelsteine noch aus der Tudor-Zeit stammen. "Wussten Sie, dass 80 Prozent unserer Gartenpflanzen gar nicht aus Großbritannien stammen? Hier in diesem Weltgarten können sie 8.000 verschiedene Gewächse finden. Die meisten verdanken wir Pflanzenjägern, die sie oft unter den verwegensten Umständen auf die Insel gebracht haben, und von ihren Abenteuern wollen wir Ihnen heute erzählen." Einmal im Jahr organisiert Tom Hart Dyke in Lullingstone Castle das "Plant Hunters Weekend", zusammen mit seinen Freunden. Einem knappen Dutzend junger Leute, die in historischen Kostümen verkleidet, hinter Büschen und Beeten hervorspringen und die Besucher mit abenteuerlichen Episoden aus dem Leben namhafter Botaniker und Botanikerinnen der letzten 300 Jahre überraschen. Tom hat sich auf David Douglas spezialisiert, eine schottischer Abenteurer, nach dem eine in Europa weitverbreitete Tanne benannt wurde. Die Douglas Fir. "Dieser Baum kam ursprünglich aus Nordamerika. Leider wurden sie von den Viktorianern gnadenlos abgeholzt, weil sie sich so gut für den Hausbau, für Eisenbahnschwellen und sogar für Telegraphenmasten eigneten. Ihren Samen hat David Douglas übrigens geklaut, von einem anderen schottischen Forscher. David Douglas wurde nicht alt. Er kam schon mit Mitte 30 zu einem gruseligen Ende. Aber welch eine fantastische Pflanze! Einfach fantastisch." Die Besucher sind mit Leib und Seele dabei. Sie schnuppern, fragen, machen Notizen. Und bitten Tom Hart Dyke zum Schluss auch gleich noch um ein Autogramm. Nicht nur, weil er sich so gut mit Pflanzen auskennt und etliche Bücher verfasst hat, sondern auch, weil ihn seine Leidenschaft für exotische Pflanzen fast Kopf und Kragen gekostet hätte. Eigentlich hat alles mit seiner Großmutter begonnen, erzählt Tom nach der Führung. Er hat sich unter einen Schmetterlingsstrauch, eine eher unscheinbare Buddleja niedergelassen, auf die er - weil sie gar so selten sei - besonders stolz ist. Mary Hart Dyke war eine passionierte Gärtnerin und botanische Malerin. Sie schenkte ihrem Enkel im Alter von drei Jahren ein Päckchen Karottensamen und eine kleine Schaufel. "Von da an hatte ich einen großen Traum: Pflanzenjäger werden, in fremde Länder reisen und eine seltene Orchidee finden, um sie nach meiner Oma zu benennen." Tom Hart Dyke wuchs im Schloss von Lullingstone auf. Eine privilegierte Kindheit. Ihm wurde vieles ermöglicht, das sich andere hätten hart erkämpfen müssen. Das gibt er freimütig zu. Aber seine Eltern haben ihn nie unter Druck gesetzt, sich geschäftlich, gesellschaftlich oder akademisch zu profilieren, sondern ermutigt, seinen eigenen Weg zu finden, ohne ihre finanzielle Unterstützung. "Meine Eltern hatten einen ausgesprochen entspannten Erziehungsstil. Ich habe praktisch jede freie Minute in der Natur verbracht. Hier im Schlosspark und in den Wäldern. Und als ich acht, neun, zehn Jahre alt war, und mich in der Schule eigentlich auf Mathematik und Englisch hätte konzentrieren sollen, habe ich meine ganze Energie darauf verwendet, alles über das Leben der Pflanzenjäger zu erfahren und hier im Schloss, mit Hilfe meiner Oma, exotische Pflanzen zu züchten. Mein schönstes Präsent war ein kleines Glashaus, das mir meine Mutter zum 14. Geburtstag geschenkt hat." Mit 17 ist Tom von der Schule abgegangen. Und während seine Freunde an der Uni studierten, machte er eine Lehre als Baumchirurg und sparte auf seine erste Reise: eine Tour mit dem Fahrrad durch halb Europa. Wenig später erkundete er die Pflanzenwelt in Australien und Indonesien, und schließlich auch in Südamerika. Mit Anfang 20 erhielt Tom von der angesehenen Königlichen Botanischen Gesellschaft ein kleines Reise-Stipendium. Eine beachtliche Leistung. Schließlich hatte er sich sein ganzes Spezialwissen - in der stolzen britischen Tradition der Amateurwissenschaftler - selbst angeeignet. Sein Credo ist einfach: "Du bist nur einmal jung. Und wenn du eine Leidenschaft hast, dann solltest du ihr auch folgen." Im Jahr 2000 reiste Tom mit einem Freund ins Grenzgebiet zwischen Kolumbien und Panama, das für seine seltenen Orchideen bekannt ist. Dort wurden die beiden von bewaffneten Rebellen entführt. "Nach drei Monaten haben sie gesagt: Wir werden euch töten, ihr habt noch genau fünf Stunden zu leben. Mein Freund Paul wollte sich lieber gleich umbringen. Auch ich hatte praktisch mit dem Leben abgeschlossen. Aber dann habe ich plötzlich mein Notizbuch herausgeholt und einen Garten gezeichnet, den World Garden. Und hab mir geschworen: Wenn wir überleben, lege ich diesen Garten in Lullingstone Castle an." Zehn Monate später haben die Rebellen Tom und Paul auf freien Fuß gesetzt. Ohne Lösegeld. Was sie wollten, ist bis heute nicht klar. Tom steht auf. Die nächste Führung beginnt in zehn Minuten. Davor will er seinen Freunden ein paar Sandwiches bringen. Ohne ihre Hilfe könnte er die Arbeit im Weltgarten nicht bewältigen. Und ohne den Weltgarten hätte Lullingstone Castle Garten sehr viel weniger Besucher - und sehr viel mehr Schwierigkeiten, finanziell zu überleben. Tom deutet auf das Gatehouse, eine der ältesten Pförtnerlogen in ganz England. "Dorthin hat mich mein Vater verbannt, weil er findet, dass ich zu viel rede. Der Turm ist uralt und im Winter wahnsinnig kalt. Aber hier bin ich aufgewachsen und hier will ich auch sterben. Wenn meine Freunde mich besuchen, staunen sie erst einmal über den langen Stammbaum. Für mich ist das normal. Für mich ist es selbstverständlich, dass hier 19 Generationen vor mir gelebt haben und dass ich der 20. bin, der sich um Lullingstone Castle kümmert. Ich hoffe nur, dass ich eine Frau finde, der es nichts ausmacht, dass ich über nichts anderes als Pflanzen rede." Literatur "Es handelte sich anscheinend um eine wahre Geschichte, die einen Butler betraf, der mit seinem Dienstherrn nach Indien gereist war und dort viele Jahre lang unter dem einheimischen Personal den gleichen hohen Standard aufrechterhielt, den er von England her gewohnt war. Eines Tages nun war dieser Butler in das Speisezimmer getreten, um sich zu vergewissern, dass für das Dinner alles vorbereitet war, als er unter dem Tisch einen Tiger liegen sah. Der Butler hatte den Raum leise wieder verlassen, darauf achtend, dass die Türen geschlossen waren, und war ganz ruhig in den Salon gegangen, wo sein Dienstherr mit einigen Gästen beim Tee saß. Dort machte er seinen Dienstherrn durch ein höfliches Hüsteln auf sich aufmerksam und flüsterte ihm dann ins Ohr: "Es tut mir sehr leid, Sir, aber im Speisezimmer scheint ein Tiger zu sein. Vielleicht gestatten Sie, dass die Büchse Kaliber zwölf benutzt wird?" Und der Legende zufolge hörten der Dienstherr und seine Gäste ein paar Minuten später drei Schüsse. Als der Butler nach einiger Zeit wieder im Salon erschien, um frischen Tee zu bringen, erkundigte sich der Dienstherr, ob alles in Ordnung sei. "O ja, vielen Dank, Sir", hatte die Antwort gelautet. " Das Dinner wird zur üblichen Zeit serviert, und ich kann die erfreuliche Mitteilung machen, dass bis dahin keine erkennbaren Spuren des jüngsten Vorfalls mehr vorhanden sein werden." Von Stippvisiten und grenzenloser Freiheit - Tochter Anya Beim britischen Adel gilt die strikte Primogenitur - das heißt, dass nur der erste Sohn Vermögen und Titel erbt und die anderen Nachkommen das Nachsehen haben. Traditionell gingen die anderen Söhne in den Kirchen- oder Staatsdienst. Was in gewisser Weise einen gesellschaftlichen Abstieg bedeutete, auf der anderen Seite aber auch zeigt, wie durchlässig der englische Adel im Gegensatz zum kontinentalen ist. Die männliche Primogenitur soll gewährleisten, dass Land und Vermögen nicht zerstückelt werden - erhöht aber gleichsam den Druck, einen männlichen Nachkommen zeugen zu müssen. Bei den Hart Dykes ist die Sache deswegen auch etwas komplizierter - Guy Hart Dyke, eigentlich der Zweitgeborene, konnte Lullingstone ja nur über-nehmen, weil sein nach Kanada ausgewandeter älterer Bruder gestorben ist. Nun steht der Sohn des Bruders als nächster in der Erbfolge - der allerdings un-verheiratet ist. Sollte er also "sohnlos" sterben, geht der Titel des "Baronet" an Tom. Dem liegt in erster Linie das Anwesen am Herzen. Titel, gesellschaftliche Privilegien und elitäre Zirkel sind dem Pflanzenjäger ebenso herzlich egal wie seiner jüngeren Schwester Anya, die bei der ganzen Sache erbrechtlich gesehen leer ausgeht: Anya sucht ihren Bruder Tom. Er soll auf ihr Baby Mairi aufpassen. Den Geheimruf haben sie schon in ihrer Kindheit ausgemacht. Entweder Tom ist im Garten oder in seiner Bude. Anya, Anfang dreißig, schleppt Mairi die steile Wendeltreppe hoch. Toms "Bude" ist ein verwinkeltes Turmzimmer im mittelalterlichen Burgtor. Koffer, Karten, alte Stiche, Pflanzenbilder, gelehrige Abhandlungen. An der Pinnwand Zeitungsartikel über seine Abenteuer im kolumbianischen Dschungel. Auf dem Schreibtisch Bücher, die er über seine Erlebnisse geschrieben hat. Ein Stapel Fanbriefe, Notizen, verschiedene Behälter mit Pflanzensamen. "Ich arbeite an seinem Computer, wenn ich in Lullingstone bin. Ich betreue die Webseite, schreibe den Newsletter, beantworte Presseanfragen. Mit dem Handy zu telefonieren ist allerdings ein Problem: Oft muss ich mich aus dem Fenster hängen, weil der Empfang so miserabel ist. Das Internet funktioniert viel besser, wahrscheinlich weil wir so nah an London wohnen." Jeans, Anorak, Gummistiefel. Anya wirkt offen und bodenständig. Sie ist für das Marketing von Lullingstone Castle zuständig. Ein Teilzeitjob. Denn eigentlich wohnt Anya mit ihrem Mann und ihrem Baby in Edinburgh, fährt aber häufig zu Besuch nach Lullingsstone. Ein Arrangement, das ihr gefällt. "Tom trägt die Hauptverantwortung für Lullingstone. Das hat sich irgendwie so ergeben. Mein Vater, meine Mutter und Tom machen die Hauptarbeit. Sie schmeißen den Laden. Viele Besucher kommen immer wieder. Weil es ihnen gefällt, dass sie von den Schlossinhabern höchstpersönlich begrüßt und herumgeführt werden. Und weil sie mit ihnen direkt reden können: über die Geschichte des Schlosses, über Toms neueste Pläne, seine Abenteuer und natürlich über die Pflanzenzucht." Zusätzliche Publicity brachte eine Dokumentation, die in der BBC ausgestrahlt wurde: "Save Lullingstone Castle". Die sechsteilige Serie zeigt, was die Familie alles unternimmt, um sich finanziell über Wasser zu halten. Gelegentlich werden auf dem Schlösschen auch Werbefilme gedreht, eine weitere willkommene Einnahmequelle. "Am witzigsten war ein Werbespot für eine Versicherung. Der Regisseur ließ jede Menge Rauch durch die Zimmer pumpen. Die Atmosphäre wirkte gleich sehr viel altertümlicher, als würde man sich im Nebel der Zeit verlieren." Tom. Er entschuldigt sich für sein unaufgeräumtes Zimmer und verschwindet mit seiner kleinen Nichte. Anyas Lieblingsplatz liegt am Fluss. Der Derwent schlängelt sich durch ein zugewuchertes Wäldchen und ergießt sich anschließend in den See. "Unsere Eltern haben uns nie unter Druck gesetzt, das Schloss zu übernehmen. Obwohl es seit 20 Generationen in der Familie ist. Wir gehören nicht zu den Leuten, die beim Lunch über ihre Vorfahren sprechen. Unsere Freunde und Bekannten kommen aus allen möglichen Schichten. Und meine Eltern haben Lullingstone auch nie als ein stately home betrachtet, in dem man auf Zehenspitzen herumschleicht, sondern als unser family home. Meine Mutter wurde nie sauer, selbst wenn manchmal beim Spielen ein Stück bestes Porzellan zu Bruch ging. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sich ein Yo-Yo durch ein Ölgemälde bohrte - nun ja, es hing ja auch in unserem Kinderzimmer..." Anya stapft zielstrebig durch Gräser und Nesseln und deutet durch das Dickicht. "Dort hinten ist das viktorianische Eishaus, wo man früher das Eis aufbewahrt hat. Und wo wir immer nach Schätzen gegraben haben. Der Fluss hat alle möglichen Dinge angeschwemmt, einmal haben wir eine alte Tür gefunden, die haben wir in ein Surfbrett umfunktioniert. Leider ist es ziemlich schnell gesunken." Tom und Anya haben die örtliche Volksschule besucht. Oft brachten sie ihre Freunde zum Spielen mit. Die waren begeistert, dass sie im Park und Garten herumtollen konnten. Gesellschaftliche Unterschiede hätten damals keine Rolle gespielt, erzählt Anya. Mit elf kam sie auf ein Internat außerhalb von Brighton. Erst da wurde die Frage nach der Herkunft zum Thema. "Wenn meine Internatsfreundinnen nach Lullingstone kamen, blieben sie meistens das ganze Wochenende, weil sie ja nicht mehr um die Ecke wohnten. Natürlich haben sie erst einmal große Augen gemacht, als sie das Schloss zu Gesicht bekamen. Aber in der Nacht hat sich die Begeisterung schnell gelegt. Da haben sie schreckliche Angst bekommen, vor der Dunkelheit, vor Gespenstern, und sie haben heftig gezittert, weil es überall so kalt war. Aber eigentlich bestand unsere Hauptattraktion nicht darin, dass wir in einem richtigen Schloss wohnten, sondern dass uns unsere Eltern so viele Freiheiten gelassen haben. Wir konnten Feuerchen machen, fischen, auf dem See herumrudern, die Erwachsenen waren immer weit weg. Das hat sie am meisten beeindruckt." Anya war gerne im Internat. Tom hingegen vermisste seinen Garten. Er ging schon mit 17 von der Schule ab, um einen praktischen Beruf zu ergreifen. Und lernte als Baumchirurg auch ganz andere Leute kennen. "Seine Freunde sind bodenständig, das sind Leute, die wirklich zupacken. Sie kommen aus allen möglichen Ecken. Und sind leidenschaftlich bei der Sache. Ohne Tom hätte ich bestimmt keinen Wassermolch- oder Fledermaus-Spezialisten kennengelernt." Anya setzt sich auf einen Baumstumpf am Fluss. Sie hat nach der Schule erst einmal fünf Monate gearbeitet: tagsüber als Verkäuferin, abends im Supermarkt. Mit dem Geld reiste sie anschließend um die halbe Welt und verbrachte fünf Monate in Afrika. "Eigentlich wollte ich danach Journalismus studieren, aber dann hab ich angefangen, als Freiwillige für Amnesty International zu arbeiten und wurde anschließend für ein UNO-Projekt nach Bosnien geschickt. Danach bin ich an die Uni gegangen, hab' den Magister gemacht - ebenfalls zum Thema Bosnien - und wurde schließlich von der BBC als Researcher engagiert." Anya träumt weiterhin davon, Journalistin werden. Aber vorerst konzentriert sie sich auf Mairie, ihre kleine Tochter. "Ich würde ihr so gern all die Freiheiten bieten, die wir als Kinder hatten, aber das ist schwer, wenn man in einer kleinen Wohnung im Zentrum von Edinburgh lebt. Ich hab auf keinen Fall vor, Mairie zu verhätscheln. Natürlich bin ich mir bewusst, dass wir privilegiert aufgewachsen sind. Aber das ist kein Grund zum Feiern. Mein Bruder Tom hat Prinz Charles und Königin Elisabeth getroffen. Ich nicht, dafür gäbe es auch keinen Grund. Manchmal werde ich gefragt, ob ich Royalistin bin. Dann sage ich: Mein Mann ist Republikaner, meine Eltern sind Monarchisten. Und ich, tja, ich stehe irgendwo in der Mitte." Literatur "Es ist in der Praxis einfach nicht möglich, einem Dienstherrn mit einer kritischen Einstellung gegenüberzutreten und gleichzeitig eine gute Dienstleistung zu erbringen. Es ist nicht nur unwahrscheinlich, dass man den vielen Anforderungen des Dienstes in höheren Positionen gerecht werden kann, wenn die Aufmerksamkeit durch solche Dinge in Anspruch genommen wird, sondern ein Butler, der ständig an seinen "klaren Meinungen" zu den Angelegenheiten seines Dienstherrn arbeitet, entbehrt zwangsläufig auch einer für alle qualifizierten Mitglieder unseres Berufsstandes wesentlichen Eigenschaft, nämlich der Loyalität. Man möge mich hier bitte nicht missverstehen; ich beziehe mich nicht auf die unbeseelte Art von "Loyalität", deren Fehlen zweitklassige Dienstherren beklagen, wenn sie feststellen, dass sie außerstande sind, hochklassige Kräfte auf Dauer an sich zu binden. Ich würde sogar zu den letzten zählen, die befürworteten, dass man seine Loyalität unbedacht jeder Dienstherrschaft schenkt, die einen gerade für eine gewisse Zeit beschäftigt. Wenn ein Butler jedoch im Leben für irgendetwas und für irgendjemanden von Wert sein soll, muss früher oder später der Zeitpunkt kommen, an dem er seine Suche einstellt, der Zeitpunkt, an dem er sich sagt: "Dieser Dienstherr verkörpert alles, was ich edel und bewundernswert finde. Hinfort werde ich mich ausschließlich seinem Dienst widmen." Das ist intelligent geübte Loyalität. Was ist daran "würdelos"? Man akzeptiert lediglich eine unausweichliche Tatsache: Dass gewöhnliche Menschen wie unsereiner nie imstande sein werden, die großen Angelegenheiten der heutigen Welt zu erfassen." Von Adlerköpfen und tiefer Freundschaft - Pförtner Reg vom Stamm der Sioux-Indianer Die Dienerschaft in einem englischen Haushalt war ebenso hierarchisch gegliedert wie die Gesellschaft. Ganz oben stand der Butler, im Idealfall also ein intelligent loyaler Mann wie ihn Stevenson geschildert hat. Die Valets und Lady's Maids würde man heute vermutlich persönliche Assistenten nennen. Sie standen den Herrschaften zum An- und Umkleiden oder für persönliche Besorgungen immer zur Verfügung, es musste nur ein Glöckchen geläutet werden. Die Footmen wiederum mussten optisch etwas hermachen, da sie das Essen servierten, Getränke ausschenkten und sich um die Gäste kümmerten. Bedienstete haben die Hart Dykes, wie wir gehört haben, schon lange nicht mehr, nur Helfer. Für den World Garden zum Beispiel. Oder für die Pforte. Mitunter sogar Helfer auf Lebenszeit. Auch wenn die auf den ersten Blick gar nicht in ein Schloss zu passen scheinen. Aber was heißt das heutzutage schon? Leicht konsterniert studiert die feine Dame im Ölgemälde die Gestalt, die direkt unter ihr am Kamin in der Great Hall sitzt. Reg Cannon, Aufseher von Lullingstone Castle. Reg Cannon trägt ein grelles T-Shirt mit einem Adlerkopf, eine zerdellte Schildmütze, ebenfalls mit Adlermotiv, und einen sehr bunten Schal. An seinen Handgelenken klappern schwere Silberreifen. Reg Cannon ist ein Lakota-Indianer vom Stamm der Sioux. Sarah Hart Dyke, die Schlossherrin, begrüßt ihn mit einem dicken Kuss und macht ihm erst einmal einen Kaffee. Reg lehnt sich zufrieden in den Sessel zurück. "Wie oft wirst du so nett von der Frau deines Bosses begrüßt? Ich weiß noch genau, wie sie mich ihren Bekannten einmal mit den Worten vorstellte: Das ist Reg, der gehört zur Familie. Das hab ich nie vergessen." Reg wandert zum Totempfahl im World Garden. Seinem höchstpersönlichen Beitrag zu Toms Garten. Die Familie Hart Dyke hat er vor über 20 Jahren kennengelernt. Durch reinen Zufall. Reg lebte im Südosten Londons, dort hatte er nach seiner Entlassung aus der Armee als Ingenieur gearbeitet. Kurz vor seinem Ruhestand entdeckte er eine Anzeige in der Zeitung: "Aufseher gesucht für Lullingstone Castle". Und damit hatte Reg seinen Traumjob gefunden. Inzwischen ist er 82 und lebt im nächsten Dorf, eine halbe Stunde vom Schloss entfernt. In Lullingstone arbeitet er nur noch an den Wochenenden. An den übrigen Tagen macht er indianische Schmuckgegenstände oder geht in umliegende Schulen, um die Kinder über die Kultur seiner Vorfahren aufzuklären. "Ich spreche mit den Schülern über die Geschichte der amerikanischen Indianer, über ihr Leben, ihre Bräuche. Und darüber, dass wir unsere Erde niemals ausbeuten dürfen. Wenn wir einen Baum abschlagen, sollten wir stets auch einen neuen pflanzen." Es beginnt zu regnen. Reg flüchtet sich ins Kakteenhaus "Hot and Spikey", am hinteren Ende des Gartens. Draußen prasselt der Regen auf das Dach. Er setzt sich auf einen Stein und erzählt seine Geschichte. "Ich bin in England geboren. Aber meine Vorfahren sind Indianer. Nach der Schule habe ich mich bei der britischen Armee gemeldet und dann ging's auch gleich los: Korea, Malaysia, Ägypten, Suez. Ich bin mit dem Fallschirm über Port Said abgesprungen. Und bin mit der Armee praktisch in der ganzen Welt herumgekommen. Libyen. Malta. Deutschland. Zypern. Norwegen. Und meine Heimat? Das war damals die Britische Armee." Reg steht auf. Mehr Informationen sind ihm nicht zu entlocken. Viel lieber spricht er über den Weltgarten, über die stacheligen Kakteen. Und über die Pinnwand in der Ecke. Dort hängt eine Collage aus Zeitungsartikeln und Fotos: Tom Hart Dyke mit seinen Freunden im Weltgarten. Toms Großmutter, die seine Leidenschaft für Pflanzen geweckt hat, und die Familie Hart Dyke, mit Reg Cannon direkt in der Mitte. "Sie sprechen mit mir auf Augenhöhe. Nicht wie die Neureichen, die Leute wie mich wie ein Stück Dreck behandeln. Wenn dich jemand mit Respekt behandelt, gibst du ihm auch 100% Respekt zurück." Unvermittelt fängt Reg an zu grinsen. Er deutet er auf ein Foto ganz oben auf der Pinnwand: Reg und die Familie Hart Dyke im World Garden, Seite an Seite mit dem britischen Thronfolger "Letztes Jahr kamen Prinz Charles und Camilla vorbei. Als Charles durch den Garten spazierte, sprang ich plötzlich in voller Indianermontur hinter einem Busch hervor. Charles fielen fast die Augen aus dem Kopf. Anschließend haben wir uns wirklich gut unterhalten. Da musste ich meine Meinung aber wirklich revidieren. Die beiden waren überhaupt nicht überheblich, wie es in der Presse immer heißt, sondern ganz normal. Die wirklich arroganten Leute sind die Emporkömmlinge. Weil sie meinen, dass sie besser sind als alle anderen." "My home is a castle - Alltag auf Schloss Lullingstone". Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Ruth Rach. Die Literaturauszüge stammten aus Kazuo Ishiguros Roman "Was vom Tage übrig blieb", übersetzt von Hermann Stiehl, erschienen im btb Verlag und gelesen von Bernt Hahn. Musikauswahl und Regie: Babette Michel Ton und Technik: Hendrik Manook und Beate Braun Am Mikrofon war Anne Raith. -------------------------------------- 1