COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden.Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage vom 3. Oktober 2011 Zurück auf Anfang Was ist aus der Dresdner Neustadt geworden? Von Svenja Pelzel Atmo 1 hoch Straßenatmo mit Fahrrädern, Kinderstimmen, 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 1 Meine Spurensuche beginnt in der Görlitzer Straße Nummer vier. Ich suche Neumanns Eisgrotte. Das Café ist bei meinem ersten Besuch vor 15 Jahren winzig klein, hat gerade Platz für eine Theke, drei Barhocker und vier Tische, die Wände sind in kühlem Türkis gestrichen. Es ist proppenvoll. Junge Leute - die einen in schrillen Klamotten, die anderen mit Birkenstocksandalen - sitzen am Nachmittag vor einem späten Frühstücksei oder einem Eisbecher Birne Helene. Mittendrin: Andrea Neumann, die Besitzerin, die von allen nur Mutter Neumann genannt wird. O-Ton 1 0'19 Mutter Neumann ist halt Mutter Neumann. Es ist halt sehr intim, sehr privat. - Es hat den Vorteil gegenüber den neuen Imbissständen, dass man sich überall hinsetzten kann, es ist halt immer warm und man trifft so ziemlich alles, was in der Neustadt Rang und Namen hat, es hat was - Kontaktbörse. - Ja, das Flair, was vielen wahrscheinlich fehlt. Autorin 2 Zum Flair der Eisgrotte gehört damals auch der Ausblick durch die Scheiben des Cafés: gegenüber ein graues Abbruchhaus, die Fenster im Erdgeschoss zugemauert oder eingeschlagen, an den bröckelnden Wänden Graffiti und Konzertplakate, links daneben ein bonbonfarben saniertes Gründerzeitprachtstück mit Stuckverzierungen, rechts ein Baugerüst. Dieses Nebeneinander von alt und neu ist 1996 typisch für die Dresdner Äußere Neustadt. Es war das erste Sanierungsgebiet der sächsischen Landeshauptstadt und vor 15 Jahren konnte man den Aufbruch förmlich riechen. Heute ist die Görlitzer Straße anders. Alle Häuser sind saniert, die Bonbonfarben von damals verblassen bereits wieder unter neuen Schmutzschichten. Eine Kneipe reiht sich an die andere und dort, wo früher Mutter Neumanns Eisgrotte war, ist jetzt ein langweiliger Imbiss, der Sandwiches verkauft. Atmo 1 hoch Straßenatmo 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 3 Atmo 2 Kneipengarten Doch ich habe Glück bei meiner Spurensuche. Wenige Meter weiter, an der Görlitzer Straße Nummer 29, hängt ein buntes Schild: Neumanns Tiki - das Eiscafé von Sohn Christoph. Bei einem Latte Macchiato im Hof erzählt Christoph Neumann mir, dass seine Mutter seit 1997 im nahen Radebeul wohnt, er seit 2000 den Laden alleine führt. Für den Neuanfang muss er allerdings richtig investieren. Improvisiertes, einfache Holzbänke oder nur drei Barhocker wie in der alten Eisgrotte, sind heute in den Neustadtkneipen selten. O-Ton 2 0'25 Christoph Neumann Vor 15 Jahren war es noch so, da konnte man sich das alles selber bauen oder konnte mal zu Ikea fahren oder in Baumarkt und heutzutage, das sieht man ja, das ist alles angepasst an Großdeutschland. Heheh. Autorin 4 Angepasst hat sich Christoph Neumann auch. Im Tiki gibt es dunkle Holzmöbel, Cocktails, eine riesige Kaffeemaschine, die üblichen Stühle aus geflochtenem Plastik im Hof. Seine Mutter aber, so erzählt Christoph Neumann, hat es anders gemacht. Sie steht mit ihren fast 60 Jahren in einem umgebauten Lieferwagen vor der Sächsischen Landesbühne in Radebeul und verkauft dort Eis und Crèpes. Meine Neugierde ist geweckt. Auch wenn Mutter Neumann genau genommen nicht mehr zur Neustadt gehört, will ich doch wissen, wie es ihr die letzten 15 Jahre ergangen ist. Ich trink meinen Kaffee aus und spring in die nächste Straßenbahn Richtung Radebeul. Atmo 3 hoch Straßenbahn, 2 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 5 30 Minuten später, Haltestelle Landesbühne Sachsen. Auf den ersten Blick erkenne ich Andrea Neumann. Sie sieht auch nach 15 Jahren immer noch aus wie Mutter Beimer aus der Lindenstraße: kanariengelbes T-Shirt, weiße Schürze, mollig, graue Strubbelfrisur, lachende Augen. Nur dass sie jetzt nicht mehr in der Eisgrotte, sondern in einem umgebauten 50erJahre Citroen-Lieferwagen aus silberfarbenem Wellblech steht. Vor ihr eine Traube aus 20 Schulmädchen, die alle eine Crèpe wollen. Atmo 4 hoch 3'40 Verkaufen,2.4.,2.2. Kommen noch mehr mit Nutella? - Nee. - Du bist die Außenseiterin von der Klasse. Geräusche Crèpes machen 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 6 Andrea Neumann ist Gastwirtin aus Leidenschaft. ,Mutter Neumann' nennt sie allerdings niemand mehr, erzählt sie und sieht dabei für einen kurzen Augenblick traurig aus. O-Ton 3 0'28 Andrea Neumann 2.3. Das lag an der Neustadt und an der Wende und an den vielen jungen Leuten, die das erste Mal alleine wohnten. Und die brauchten einen Bezugspunkt und das war ich eben. Für Liebeskummer oder für Haushalt, also alles wurde bei mir abgeladen. Es hat Spaß gemacht, klar. Autorin 7 Während sie für die wartenden Mädchen eine Crèpe nach dem anderen bäckt, kommen immer mehr der alten Neustadt-Erinnerungen zurück. O-Ton 4 Atmo 5 darunter 2.15 0'26 Andrea Neumann Am Anfang war es wirklich so, die jungen Leute, die es wollten, sind da hingekommen, haben in einer WG gewohnt, und Aufbruchstimmung, jetzt geht es los. Jetzt lassen wir den Osten hinter uns und jetzt machen wir. Wir sind ein Völkchen für sich. Jeder kennt jeden, es war fast familiär. Autorin 8 1996 ist Kohl Kanzler, in Russland regiert Boris Jelzin, man bezahlt hierzulande mit D-Mark, die T-Aktie kommt auf den Markt und in London werden die Deutschen Fußball-Europameister. Für die Neustädter ist es eine verrückte Zeit, weil sie nie so genau wissen, wie es weiter geht. Andrea Neumann zum Beispiel befürchtet damals vor allem eines: dass das Haus mitsamt Eisgrotte bald verkauft wird und sie irgendwo neu anfangen muss. O-Ton 5 0'17 Mutter Neumann Wenn man dann das Alter bedenkt, dann noch mal völlig neu anzufangen, das wird nicht gehen. Und ohne dem könnte ich mir das auch überhaupt nicht vorstellen. Und vor allen Dingen wir können auch nicht mit unserer Produktion noch mal neu umziehen, das ist absolut ein Ding der Unmöglichkeit. Autorin 9 Dieses "Ding der Unmöglichkeit", wie sie damals sagt, schafft Andrea Neumann gleich zwei Mal. Zuerst eröffnet sie ganz alleine eine Pension in Radebeul, baut diese zum Drei-Sterne-Hotel um, verliert zehn Jahre später alles, weil dieses Mal tatsächlich das Haus verkauft wird. Neuanfang Nummer zwei - ihr Eismobil - startet sie im Sommer 2010, mit 58 Jahren. Jetzt steht sie fünf Tage die Woche vor der Sächsischen Landesbühne und sonntags an der Elbe. O-Ton 6 0'14 Neumann, 2 Da kommen so viele, die uns von früher kennen. Hach und die Frau Neumann und hier und.. es ist nicht abgebrochen, zumal das Eis aus der Neustadt ist. So, wird's bei Dir auch zum Mitnehmen? - Ja bitte - Geräusch Autorin 10 Ich verlasse Andrea Neumann, fahre zurück in die Neustadt, zum Panama. Der Abenteuerspielplatz liegt ebenfalls in der Görlitzer Straße, drei Häuser neben der ehemaligen Eisgrotte. Mal sehen, ob Spielplatzchef Jens Kalanke, der Indianer, noch da ist? Atmo 6 hoch Ziegengemeckere 21. 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 11 Die Ziegen sind noch da, ebenso Schafe, Pferde, Meerschweinchen und Kaninchen. Dafür fehlen der Matschweg am Eingang des Panamas, der alte Bauwagen, der Pferdestall, - Jens Kalanke und seine vier Huskies. Indianer haben ihn die Kinder damals genannt, wegen seiner langen schwarzen Haare und weil er in einer Bretterbude über dem Pferdestall schlief, von den Kindern eigenhändig gezimmert. Ein Hüttendorf zum Selberhämmern gibt es heute noch. Aber der Matschweg ist jetzt ordentlich gepflastert, auf dem Gelände stehen stabile Ställe, ein professionell errichtetes Klettergerüst, ein Haus mit Büro, Teeküche, großem Raum für Schlechtwettertage und ein Werkstattschuppen. Atmo 7 hoch 1'30 Mädchen und Erzieher sägen, Atmo Panama. So das Ding ist, dass du immer drauf achtest, dass du einen leichten Druck von oben drauf hast. Geräusche Säge 0'8 frei stehen lassen, dann darüber: Die elfjährige Laura sägt dort gerade gemeinsam mit einem Erzieher und ihrer Freundin Sperrholzplatten zurecht. O-Ton 7 0'11 Laura, 1.19: Ich komm her, weil wir hier Freunde treffen können, reiten, Ziegen spazieren, Meerschweinchen füttern und viel mehr auf jeden Fall. Atmo 8 hoch 5'00 Atmo Panama, Laufschritte - Mädchen: hallo Janaaaa - Jana Erler: Hallihallo! - Jana, können wir zu den Ziegen - ihr zwei? ja könnt ihr. Atmo 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 12 Jana Erler ist die Nachfolgerin von Jens Kalanke, der irgendwann aufs Land gezogen ist. Die 46jährige Sozialarbeiterin leitet das Panama seit zwölf Jahren, vieles hat sich in dieser Zeit verändert: Der Abenteuerspielplatz gehört jetzt zur Dresdner Treberhilfe, beschäftigt elf Mitarbeiter und 15 ehrenamtliche Helfer. In den sanierten Häusern rundherum wohnen Menschen, die sich die Mieten leisten können und Kinder haben, denen es an nichts fehlt. O-Ton 8 0'26 Jana Erler, 14 Die behüteten Kinder sind nicht unser Stammklientel, die kommen auch, aber die kommen eher ein, zwei Tage in der Woche, weil die anderen Tage haben sie eh zu tun und diejenigen, die Tag täglich da sind, das sind die, für die wir sehr gerne da sind, und ich glaube, die brauchen uns auch sehr wie der Tom. Seit wann bist du jetzt da - Seit 2007 bin ich da - nur ganz wenige Tage, an denen Du nicht da warst und da hast'e uns gefehlt. Autorin 13 Tom ist 13, ein großer rundlicher Typ mit freundlichem Gesicht. Seine Eltern sind Alkoholiker, morgens steht er alleine auf, statt zu frühstücken macht Tom Hausaufgaben. Die Nachmittage verbringt er auf dem Panama Abenteuerspielplatz. O-Ton 9 0'14 Tom, 1.9. No ist in Ordnung. Besser als bei den anderen Spielplätzen. Es hat sich schon ziemlich viel verändern in letzter Zeit. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass es in der Neustadt so wenige Spielstraßen gibt. Autorin 14 Spielstraßen gibt es in der Neustadt tatsächlich keine einzige und auch kaum noch Baulücken und Brachflächen. O-Ton 10 0'17 Jana Erler, 1.6 Kinder leben in einer mehr und mehr verregelten Welt, in der festgeschrieben ist, wo dürfen Kinder sein und wo nicht. Und deshalb wächst der Bedarf nach Spielorten, wo Kinder ihr kindliches Spiel ohne ständige Aufsicht von Erwachsenen spielen dürfen. Autorin 15 Deshalb sind an diesem Nachmittag schätzungsweise fünfzig Kinder jeglichen Alters auf dem Panama. Aber nicht nur die fehlenden Baulücken sind ein Grund für die Beliebtheit des Abenteuerspielplatzes: In Dresden werden so viele Kinder geboren, wie in keiner anderen deutschen Stadt - 1,51 je Frau. Viele der jungen Familien wohnen in der Neustadt. Doch trotz dieses Booms ist das Panama bedroht. Wie schon vor 15 Jahren dreht die Stadt der Einrichtung auch jetzt wieder langsam den Geldhahn zu. O-Ton 11 0'29 Jana Erler 1.4. Wenn ich jetzt danach gehe, wie beliebt wir als Spielort für Kinder sind, dann gibt es keine Diskussion, dann soll das Panama weiter bestehen. Weil wir sind wichtiger Bestandteil im Stadtteil und wenn ich dann auf die Realität gucke, wie die Entwicklung in der Förderung war in den letzten Jahren, dann muss ich sagen, weiß ich nicht, ob wir in der gleichen Art und Weise in fünf Jahren immer noch an dieser Stelle sind. Autorin 16 Seit der letzten Sparrunde aus dem Jahr 2010 hat das Panama samstags zu. Das ist für die Behüteten kein Problem, trifft aber Kinder wie Tom. Statt Hüttenbau und Tierefüttern sind an diesem Tag Computer, Fernsehen und Playstation dran. Und auch für 2011 fehlen im Dresdner Haushalt eine Million Euro im Etat der Jugendhilfeeinrichtungen. Was das für das Panama konkret bedeutet, kann Jana Erler heute noch nicht sagen. Ich ziehe weiter, Richtung Stoffwechsel, einer anderen Einrichtung für Jugendliche. In dem Café habe ich 1996 die damals 70 jährige amerikanische Christin Sabine Ball getroffen. Sie stand in einem blauen Dirndlkleid mit weißer Rüschenschürze in der Küche und kochte einen riesigen Topf Nudel für Straßenkinder, Obdachlose und Punks. Atmo 9 hoch Treff: Stoffwechsel, Stimmen und Verkehr, 7 0*5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 17 Auch das Stoffwechsel gibt es noch. Vor dem kleinen Café Martin- Luther Ecke Böhmische Straße lungern ein paar junge Erwachsene herum. Wie Straßenkinder und Punks sehen sie allerdings nicht aus. Auch drinnen ist nichts mehr wie früher. Statt der Tische steht eine Sofagarnitur im Café, im Nebenraum, wo früher der Second-Hand-Laden war, ist ein Kickertisch, in der Küche schneidet Mathias Klotz einen Zitronenkuchen in Scheiben. "Sabine Ball ist vor drei Jahren gestorben, da war sie 82.", erzählt Mathias. Jetzt leitet er das Café, das hauptsächlich ein Treffpunkt für junge Erwachsene mit Problemen sein soll. O-Ton 12 0'28 Mathias Klotz, 1.5 Früher, wo Sabine hier angefangen hat, war es ein Stadtteil, der sehr trostlos war, hohe Arbeitslosigkeit, sehr viele Straßenkinder. Und theoretisch bin ich ein gutes Beispiel für die neue Gruppe, die hier in der Neustadt wohnt. Nämlich, sind eher junge Familien, Studenten, würd' mal sagen vor so acht, neun Jahren hat es angefangen, dass die immer mehr in diesen Stadtteil gezogen sind. Atmo 10 hoch 4'30 Stoffwechsel Mädchen: Matze ! - Mathias: Hey, Anka grüß Dich. Seid ihr wirklich alle pünktlich. Das erste Mal, dass das klappt. 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 18 Die jungen Männer und Frauen, die es sich an diesem Nachmittag auf dem bunten Sofa gemütlich machen, wohnen nicht im Viertel, die Gegend ist ihnen viel zu teuer. Sie kommen aus den umliegenden Stadtteilen ins Stoffwechsel, wollen hier mit Mathias über ihre Probleme sprechen. Viele erzählen von saufenden Eltern, einer abgebrochenen Ausbildung, Tagen im Gefängnis und drückenden Schulden. O-Ton 13 0'19 Mathias Klotz Das heißt, dass von den Jungs zumindest 90% viele Schulden haben, meist aus Handyverträgen oder tatsächlich Schwarzfahren, was sich summiert, wenn man da nicht drauf achtet. Das heißt, wir haben auch einige, die privatinsolvent sind und halt viele, die über 5000 Euro Schulden haben, bis zu 20.000,würd' ich sagen. Autorin 19 Knaffi, alias Ralph Knauthe, kommt rein, sieht genauso aus wie vor 15 Jahren, begrüßt alle mit Handschlag. Der 42jährige trägt immer noch Glatze, kurzes Bärtchen, lediglich die Lachfalten um seine braunen Augen sind mehr geworden. Gemeinsam mit Sabine Ball hat Knaffi den Verein vor 19 Jahren gegründet, seit ihrem Tod leitet er das Stoffwechsel als Geschäftsführer. Mittlerweile gehören 16 Projekte in fünf Stadtteilen dazu, 30 Mitarbeiter und 30 Praktikanten, finanziert ausschließlich aus Spenden. ,Diese neuen Projekte sind uns wichtig', erzählt Knaffi, ,mit dem Café alleine haben wir zu wenige Menschen erreicht.' O-Ton 14 0'22 Knaffi, 8.5 Das war das eine und das zweite war, dass wir gemerkt haben: wer kommt bei all dem zu kurz? Das sind die Kinder. Weil die Erwachsenen, die den ganzen Tag ihren Hintern breit gesessen haben, einen Kaffee nach dem anderen getrunken haben und noch zu faul waren, mal mit abzuwaschen, geschweige denn mal ne kleine Spende zu geben. Die haben am Ende gesagt, jaa, seid leise, ihr nervt uns nur, macht ne Flocke und so weiter. Autorin 20 Die Besucher im Café Stoffwechsel sind heute zwar älter, eines haben sie jedoch mit den Straßenkids und Punks von damals gemeinsam. (Atmo 11 darunter) Als Mathias und Knaffi die Hände zum Gebet falten, herrscht für einen Moment Schweigen. Atmo 11 hoch 0'44 Gemeinsames Beten, 4.5. Okay, ihr wisst wie es abläuft. Please Silence. Okay ich bet mal kurz und dann können wir los essen. Vater ich danke Dir, dass wir jetzt wieder gemeinsam hier starten können. Ich danke Dir für das leckere Essen, das jetzt vor uns liegt. Amen. - Amen. Okay, lasst es Euch schmecken. Atmo 0'17 frei stehen lassen, dann darüber: Atmo 12 hoch 3'07 Straßenatmo, 4, schnelle Schritte 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 21 Im Stoffwechsel verputzen nach dem Beten alle den Zitronenkuchen, ich ziehe weiter. Mein Weg führt zur Louisenstraße Nummer 48 - zum Wannenbad. Nach der Wende nutzen zwei- bis Dreitausend Menschen jeden Monat die öffentliche Wascheinrichtung, denn nur ein Drittel der Neustadt-Wohnungen hat damals überhaupt ein eigenes Bad. Jetzt ist in Haus Nummer 48 ein indisches Lokal. Sanierte Wohnungen haben eigene Wannenbäder. Enttäuscht gehe ich weiter Richtung Stadtteilhaus. Eigentlich suche ich die IG Äußere Neustadt, die 1996 im Sanierungsgebiet Mieter berät. Im Internet habe ich gelesen, dass die Interessensgemeinschaft nicht mehr existiert, es stattdessen gibt es jetzt das Stadtteilhaus. Atmo 13 hoch 3'40 Türe, Schritte, Büro 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 22 Ulla Wacker sitzt gemeinsam mit zwei Mitarbeitern in einem hellen Büro im Stadtteilhaus und ist die ideale Auskunftsstelle zum Thema Neustadt. Die 39- Jährige wohnt seit 20 Jahren im Viertel, ist Mutter von zwei Kindern, gelernte Bildhauerin und Kulturmanagerin und kennt sogar noch das verschwundene Wannenbad. Ihre Wohnung liegt direkt daneben, regelmäßig war sie zum Baden dort. Heute ist Ulla Wacker Geschäftsführerin des Stadtteilhauses, nachdem sie viele Jahre bei der Interessensgemeinschaft IG Äußere Neustadt mitgearbeitet hat. O-Ton 15 0'21 Wacker, 1.5. Würde sagen, die IG hat ihr Ziel insofern erreicht, als dass die Häuser nicht abgerissen wurden, das wurde alles gestoppt, das ist wahr, da hat die IG Ziele erreicht. Aber ansonsten muss man sagen, hat die IG es nicht erreicht, das bezahlbarer Wohnraum für alle bleibt. Autorin 23 Zwischen 5,50 Euro und 7,50 Euro pro Quadratmeter kalt kosten Wohnungen in der Neustadt heute. Tendenz steigend. "1996" erzählt Ulla Wacker mit Bedauern in der Stimme "war es bunter hier, da wohnte der Punker noch neben der Oma". Jetzt ist der Stadtteil homogener, gentrifiziert, wie man neuerdings sagt. Das Image der Neustadt hat sich erstaunlicherweise nicht geändert. O-Ton 16 0'34, Wacker, 1.8., 1.9. Ja ich glaube auch, dass der Rest von Dresden nach wie vor die Neustadt so als Schmuddelstadtteil betrachtet und man immer noch Ressentiments hat, wenn man hier rein kommt. Es gibt, glaube ich, immer noch Menschen im Hinterbrückenland, auf der anderen Seite der Elbe, die keinen Fuß in die Neustadt setzen würden, weil es da sehr viele Vorurteile gibt. Autorin 24 Zum Neustadtbild gehören und gehörten schon immer auch die Szenekaffees und Clubs. 1996 ist das Stahl-in gerade total angesagt, eine Kneipe im Heizkraftwerk der alten Sowjetischen Kasernen oberhalb des Alaunplatzes. ,Doch den Weg dorthin können Sie sich sparen', meint Ulla Wacker, ,die Kasernen sind abgerissen, stattdessen werden dort schicke Maisonette-Wohnungen und Townhouses gebaut'. ,Volvo-Ghetto' nennt sie der Volksmund. Louisenstraße Ecke Görlitzer könnte ich stattdessen Glück haben. Dort sitzen nachts oft noch ein paar vereinzelte Punker, die in der Nachwendezeit für die Neustadt so typisch und prägend waren. Atmo 14 hoch 1'00 zur Fabrik hinlaufen, 8 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 25 Mal sehen, ob ich die wenigen Neustadt-Punker, die es heute gibt, finde. Zuerst jedoch entdecke ich beim Rausgehen wenige Häuser neben dem Stadtteilhaus etwas anderes: Die Blaue Fabrik - ein Kulturzentrum in einer alten Wäscherei, das ich vor 15 Jahren übersehen habe. Der Eingang liegt versteckt hinter einem blauen Holztor. Wer sich durch traut, kommt an einer Töpferwerkstatt vorbei, einem Gitarrenbauer, leer stehenden Schuppen, einer KFZ Werkstatt, diversen Kleingärten und Grünflächen bis zum großen unsanierten Haupthaus. Musik dringt durch die alten Fenster. Atmo 15 hoch 0'13 Türe öffnen, Musik 8 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 26 Atmo 16 darunter, 7 Der große Saal im ersten Stock versprüht den Charme des Unfertigen - alter zerkratzter Dielenboden, bröckelnder Putz an den Wänden, ein schwarzer Flügel in einer Ecke - die ideale Kulisse für einen Flamenco- Kurs. Zehn Frauen in bunten Röcken, engen T-Shirts, die Haare hoch gebunden, stehen vor einer Spiegelwand, bewegen sich zur schnellen Musik. Neben den Tänzerinnen führt eine Holztreppe in den ersten Stock - zum Atelier von Jörg Sonntag. Während von unten das Stampfen und die Musik der Tänzerinnen dröhnen, sitzt der Maler und Medienkünstler am Schreibtisch, vor sich zwei Bildschirme, bergeweise Aufnahmetechnik, hinter sich auf einer Staffelei ein großes Bild, an den Wänden alte Holzschränke und Regale voller Aktenordner, Bücher und Malutensilien. Das sprichwörtliche kreative Chaos. Sonntag ist 56, trägt den dunklen Look der Künstler, dazu Dreitagebart, unterrichtet am Mediencollege Dresden das Fach Gamedesign. Die Künstlerszene in der Neustadt kennt er seit langem. O-Ton 17 0'36 Sonntag, 4.4. Na es ist immer noch irgendwo das Viertel, was lebt, was auch nachts lebt. Es ist natürlich nicht mehr das alternative Szeneviertel, wie es nach der Wendezeit war. Wo sich auch viele Hausbesetzer, Alternativgalerien, wo es einfach viele Möglichkeiten gab, so alternative Wege auszuprobieren. Das Ausprobieren ist ein bisschen weg, das ist natürlich auch schade, das ist vom Kommerz eingeholt, war aber eigentlich klar. Autorin 27 Atmo 17 darunter, 5 Der Flamencokurs unten macht Pause, Jörg öffnet das Fenster, genießt für einen Augenblick die Geräusche von Blauer Fabrik und Neustadt. Damit das Kulturzentrum möglichst lange erhalten bleibt, erzählt Jörg Sonntag, haben Nachbarn, Kunsthandwerker und Künstler vor kurzem das große Gelände gemeinsam gekauft. Eine Chance, dass die Blaue Fabrik auch in einigen Jahren nicht irgendwelchen Sanierungskonzepten und Investoren zum Opfer fällt, wie so manches in der Dresdner Neustadt. O-Ton 18 0'14 Jörg Sonntag 4.6. Na, wir haben ein bisschen drauf geachtet, dass die Blaue Fabrik, das ist auch das, was mich interessiert, ein bisschen frei schwimmt. Dass die Leute, die hier sind die Möglichkeit haben, möglichst frei arbeiten zu können. Atmo 18 hoch zurück zur Straße laufen, 8.2. 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 28 Zurück auf den nächtlichen Straßen denke über die Erzählungen des Tages nach. Mutter Neumann, die mal eine Institution in der Neustadt war und nun in Radebeul Eis verkauft, ihr Sohn, der den Kneipenkommerz im Viertel mitmacht, das Panama, dem der Geldhahn trotz Kinderboom zugedreht wird, das Stoffwechsel, dem die Problemkids in der Neustadt ausgehen, sanierte Bäder, steigende Mieten, wegziehende Künstler - und kein Punk weit und breit. Atmo 19 hoch Straßenatmo 3 durch nächtliche Straße ziehen, Stimmen in Kneipen, 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin 29 Eine Weile schlendere ich an diesem Abend noch durch die nächtlichen sehr belebten Straßen, vorbei an vollen Kneipen, entdecke endlich das ein oder andere unsanierte Haus, das aussieht wie damals: zugenagelte Fenster, das Erdgeschoss voll Graffiti und illegal angeklebten Plakaten. Ich bin jetzt schon darauf gespannt, wie die Dresdner Neustadt aussieht, wenn ich in 15 Jahren wieder her komme. Vielleicht schaffen es die Menschen von Stoffwechsel, Stattteilhaus und Co aber auch, dass die Dresdner Äußere Neustadt bleibt wie sie ist: bunt und lebendig. Atmo 19 hoch frei stehen lassen, dann weg: Abmoderation 4 1