DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 14.12.2010 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 ? 20.00 Uhr Roter Holunder Sängerwettbewerb in russischen Haftanstalten von Suzanne Bontemps und Tom Schimmeck Co-Produktion Deutschlandfunk/Norddeutscher Rundfunk URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Gesang Atmo Schlafsaal O-Ton Jana Sprecherin 1 Hier lebe ich. Das ist mein Bett. Ich stehe um 4.20 Uhr auf. Ich bin es gewohnt, früh aufzustehen. Das hab ich auch in der Freiheit so gehalten. Die hier sind mein Trost und meine Rettung. Ich bin von Ikonen umgeben. Die sind immer bei mir. Auch die Heilige Ksénija Blazhénaja. Ich verehre sie. (sprich: Blagénaja ? weiches G wie in Garage)Dort ist ein Nachtschränkchen, vollgestopft mit Büchern, Heften, Manuskripten, Gedichten. Ganz viel von allem. Musik weiter, dann Atmo collagiert Lagertüren, -tore, Klingel O-Ton Marina Sprecherin 3 Das Schwierigste für mich war das frühe Aufstehen. Um 6 Uhr morgens schrillt das Signal und du musst sofort raus und sorgfältig dein Bett machen. Wenn die Wärterin kommt, muss alles ganz akurat aussehen ? weißes Laken, weißer Bettbezug. Musik Hymne Kalina Krasnaja instr Ansage Roter HolunderSängerwettbewerb in russischen HaftanstaltenEin Feature von Suzanne Bontemps und Tom Schimmeck Aufstehen Atmo Klingel, Lager Erzählerin Strafkolonie KP-7, Mcensk, Bezirk Ariól. Etwa 350 Kilometer südlich von Moskau. O-Ton Jana Sprecherin 1 Drónnikova, Jana Valérjewna, 42 Jahre, geboren in der Stadt Kertsch, auf der Krim. Meine Eltern sind einfache Leute. Meine Mutter ist Lehrerin, meinen leiblichen Vater kenne ich nicht. Überall habe ich nach ihm gesucht. Bislang vergeblich. Ich habe zwei jüngere Schwestern. Und eine 25-jährige Tochter. Und ein fünfjähriges Enkelkind. Ich bin Krankenschwester. Ich wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, nach Artikel 226, wegen Waffendiebstahls. Ich bin schon seit drei Jahren und zehn Monaten in diesem Lager. In zehn Monaten ? minus ein paar Tage ? komme ich frei. O-Ton Jana, Sascha Sprecherin 1 Ja, wegen Waffenraub und -handel. Sprecher 3 Sie hat mit Waffen gehandelt. Sprecherin 1 Geklaut und verkauft. Sprecher 3 Bomben, Raketen! Sprecherin 1 Geklaut und dann verkauft. Erzählerin Jana Valérjewna ist klein. Sie trägt ihr rotes Haar schulterlang. Ihre Stimmung pendelt zwischen Trauer und Zorn. Atmo Gruppe Erzählerin Jana, Christina und Sascha haben eine Band gegründet. Mit dem großen Ziel bei Kalina Krasnaja aufzutreten ? einem Musikwettbewerb für russische Häftlinge. Ein Jahr lang haben sie sich auf das Großereignis vorbereitet, voller Hoffnung, in die letzte Runde zu kommen. Die Auserwählten dürfen auf einem Galakonzert auftreten, jedes Jahr in einer anderen Stadt. Und werden ? vielleicht ? freigelassen. O-Ton Christina Sprecherin 2 Ich habe schon gesungen, als ich noch ganz klein war. Meine Mutter hat mir erzählt: "Töchterchen, du hast Lieder über Zicklein verfasst." Sie war Zugbegleiterin und hat mich immer mitgenommen. Und wenn die Leute aussteigen mussten, rief ich: "Mama, ich habe doch mein Konzert noch gar nicht beendet!" (Lachen) Erzählerin Christina ist 25 und so schmal, zart wie ein kleiner Vogel. Sie sitzt wegen Drogenhandels, verurteilt zu fünf Jahren und drei Monaten Lagerhaft. Sie hat noch zwei Jahre vor sich. O-Ton Sascha Sprecher 3 Die Gitarre ist mein ständiger Begleiter. Aber hier im Lager ist der Anreiz zu spielen noch viel größer. Ich habe hier Gleichgesinnte kennengelernt, die Lieder komponieren, Texte schreiben. Für mich war das total interessant. Ich habe hier zum ersten Mal einen Menschen getroffen, der für mich ein Lied komponiert hat. Erzählerin Sascha ist 29, verheiratet, hat zwei Kinder. Ein ungebrochener Typ mit offenem Blick und raspelkurzem Haar. Das Urteil: Zwei Jahre. Die Hälfte hat er hinter sich. O-Ton Sascha Erzählerin Sascha hat einen schweren Unfall verursacht, bei dem ein Mensch gestorben ist. Musik Duo Jana-Christina Sprecherin 1 (Mutter:) Ich schreibe Dir, Tochter,Briefe, Zettel reiße ich ab.Der freie Wind dreht sie im KreiseUnd trägt sie fort in die Ferne...Nein, es gibt keine Vergebungfür meine ganz schrecklichen Fehler.Der Kummer wird mir für immerdas Herz zerreißen. Sprecherin 2 (Tochter:) Ich habe auf dich gewartet, Mama.Habe ewig allen Lauten gelauscht.Ich hab so gehofft,dass du zu mir zurückkehrst. Ich höre deine Stimme, sehe Dein Lächeln, Deine Hände. ... Viel zu oft erscheint mirall das im Traum. Im Studio Atmos Metro Moskau, Hymne, Einspielung Studio O-Ton Klimenkow Sprecher 1 Die Idee zu diesem Wettbewerb hatten wir schon im Jahr 2000. Wir sind eine ganz normale, professionelle Plattenfirma, produzieren Songs aus der Sparte russisches Chanson. Bei uns gibt es ja viele, sehr viele sogenannte Knastlieder. Diese Lieder wurden immer von allen möglichen Sängern gesungen ? nur nicht von den Häftlingen selbst. Da sangen Künstler, die null Beziehung zum Lager hatten. Wir fanden das nicht richtig, nicht gerecht, dass diese Lieder, die ja einen großen Teil unserer Liedkultur ausmachen, so interpretiert wurden. Es ist ja kein Geheimnis, dass Russland zur Hälfte ein Lager ist. Atmo Klimenkow im Studio Erzählerin Moskau, Innenstadt. Ein Studio unweit des Kreml. Wjátschislav Klimenków, ein kräftiger Typ mit Halbglatze, sitzt entspannt auf seiner Ledercouch. Er ist der Begründer, der Veranstalter und der Kopf von Kalína Krásnaja, zu Deutsch: Roter Holunder. Dieser "allrussische Liederwettbewerb unter Gefangenen" ? so der offizielle Titel, hat eine Menge potentieller Teilnehmer. An die 1000 Straflager und Gefängnisse gibt es in Russland. In denen etwa 860 000 Menschen einsitzen. O-Ton Klimenkow Sprecher 1 Eine Aufgabe dieses Wettbewerbs ist es, diesen Menschen eine Chance zu geben, sich darzustellen, ein anderes Leben anzufangen. Anders gesagt: Rehabilitation der Gefangenen durch Kreativität. Sie nämlich drängt den Menschen zur Erkenntnis, dass es kein Zurück auf den falschen Lebensweg gibt. Dass das klappt, hat der Gesangswettbewerb mehrfach bewiesen. Erzählerin 2003 fand in Moskau die erste Häftlings-Gala statt. Seither wird sie jedes Jahr in einer anderen Stadt ausgerichtet, in Archàngelsk und Ufá, in Samára und Tscheljábinsk. O-Ton Klimenkow Sprecher 1 Kalina Krasnaja ist wohl der einzige aufrichtige Gesangswettbewerb. Hier gibt es keine Zensur, und deshalb vertrauen die Gefangenen darauf. Sie hören die Lieder, werden durch sie zu Buße und Reue angeregt, in viel stärkerem Maße als durch körperliche Strafen oder moralische Ermahnungen. Sie merken einfach, dass das ehrlich ist, dass die Menschen wirklich nur singen, was sie singen wollen. Und das ist sehr wichtig. Musik Hymne (gesungen von Klimenkow) Erzählerin Ob Mörderin oder Verkehrsrowdy, ob Drogenkurier oder gewalttätiger Erpresser ? jeder Gefangene kann sich für die Gala bewerben. Eine echte Chance aber haben nur Häftlinge, die sich in der Strafkolonie engagieren ? Plakate malen, Theaterstücke inszenieren, Fußballturniere organisieren, einen Chor leiten. Nur jenen wird ein Anstaltsleiter erlauben, sich auf diesen Wettstreit vorzubereiten. Schon weil Extra-Wachpersonal freigestellt werden muss, um die Musiker bei den Proben zu bewachen. Erzählerin Finanziert wird der 'Rote Holunder' ausschließlich aus privaten Quellen. Instrumente und Equipment werden oft von Angehörigen gestiftet, von Firmen oder Hilfsorganisationen. Die Jury verlangt von jedem Teilnehmer einen Videoclip. Trotzdem schicken Jahr für Jahr Hunderte Lagerinsassen ihre Aufnahmen zu Sojus Production (sprich: Prodaktschin) nach Moskau. Etwa 50 Songs kommen in die engere Wahl. Eine Jury aus Radiomachern, Musikern und Beamten aus dem Strafvollzug entscheidet, unter der Leitung von Klimenkow, nach einem Hör-Marathon wer an der Endauswahl bei der Gala teilnehmen darf. Steht die Auswahl fest, wird die Liste der rund 20 glücklichen Gewinner in alle Strafkolonien geschickt. Atmo/Musik Auftritt Jana mit Ansage Natalja O-Ton Jana Sprecherin 1 Also, ich bin ja auf dem Galakonzert aufgetreten. Sicher, Klimenkow und die Besitzerin von Sojus Production sind Leute aus dem Show-Business. Sie machen damit viel Schotter. Mit Kalina Krasnaja aber wollten sie damals kein Geld verdienen. Vielleicht hat sich das heute geändert. Zu Beginn war dieses Konzert wirklich als Chance für die Häftlinge gedacht. Appell Atmo Lager Zählappell Erzählerin Zweimal am Tag treten die Häftlinge der Strafkolonie KP-7 in Mcensk (sprich: Mzensk) auf dem Hof an, zum Zählappell. Ein Lager mit gelockertem Reglement: Die Häftlinge tragen ihre eigenen Sachen, sie dürfen selbst kochen. Es gibt einige Freigänger. Ein kleines, gemischtes Lager, für derzeit 325 Männer und 51 Frauen, streng getrennt. Gespräche sind verboten. Atmo Klingeln Erzählerin Alle Frauen schlafen in einem Saal. Die grauen Metallbetten stehen in drei langen Reihen. Jana hat Bett Nr. 16, Christina Bett Nr. 30. Atmo Schlafsaal O-Ton Christina Sprecherin 2 Hier wachen wir auf, hier beginnt unser Tag. Naja, ich bin ein Mensch, der sich an alles gewöhnt. Erzählerin In einer Ecke einige Tische, wie Schulbänke aufgereiht. Grünpflanzen, zwei Aquarien, ein Fernseher, Bücher, Zeitschriften. An den Lampen hängen klebrige Fliegenfänger. O-Ton Jana Sprecherin 1 Die Wärterinnen dürfen unseren Spind jederzeit durchsuchen. Das ist in Ordnung, legal, das ist normal. Atmo Dusche, Wasser läuft, Jana spricht Erzählerin Im Waschraum sechs Waschbecken, eine Dusche für alle. Die Klos ohne Sichtschutz, in einer Reihe. Atmo Hof O-Ton Jana Sprecherin 1 Und das ist unser Hof, sehr begrenzt; unser Auslauf sozusagen. Weiter dürfen wir nicht gehen: Überall Zäune und Gitter. Dahinten ist die Quarantäne, und dort trocknen wir unsere Wäsche. Hier wieder Gitter. Ein Hof für 51 Menschen. Arbeit Atmo Weg zur Fabrik Gewitter, Schritte auf Treppe, Schneiderei O-Ton Jana Sprecherin 1 Und dann gehen wir zur Arbeit in die Produktionszone, in unsere Schneiderei. Erzählerin Um 6 Uhr 50 tritt die erste Schicht an. 25 Frauen trotten an langen Mauern vorbei, stapfen eine Stahltreppe hinauf. Dicht gedrängt sitzen sie an den Nähmaschinen. O-Ton Christina Sprecherin 2 Im Moment nähen wir Jacken, warme Winterjacken. Jedes Mädchen hier hat eine spezielle Aufgabe. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wohin die Jacken gehen. Ich nähe einfach. Klub Atmo Zugsound, dazu Soundcollage Türen, Tore, Gitter Erzählerin Die Besserungsanstalt IK-6, liegt etwa 60 Kilometer weiter südlich. In Schachowo (sprich: Scháchawo), einem Ort, der nur aus Lagern zu bestehen scheint. Überall Mauern, Stacheldraht, Türme, Wachposten. IK-6 ist fünffach umzäunt. "Verbotene Zone" steht auf einem Schild am Maschendraht. 1200 Frauen leben hier. Atmo Hofszene, Tore Erzählerin Es herrscht ein strenges Regime. Die Unterkunft der Frauen: Zwei Reihen Häuser, dreistöckig, aufgeteilt in 18 Abteilungen, jede von einem hohen Zaun umgeben. Die Höfe wirken wie Gehege. In der Mitte ein Wachturm.Auf einer Wand im Hof, in großen braunen Lettern, die Parole: "Arbeit nährt, Faulheit verdirbt den Menschen."Es ist Sonntag. Ein heißer Sommertag. Frauen hocken untätig vor ihren Abteilungen, suchen im spärlichen Schatten der Bäume Schutz vor der Sonne. Sie tragen blass-gemusterte Kittelschürzen. Aus Lautsprechern plärrt Musik. Atmo Hof Erzählerin Hinter den Wohnblöcken der Klub. Neben dem Eingang ein mannshohes Denkmal des größten russischen Barden, Wladímir Wyssótski. Mit Gitarre. Atmo Klub O-Ton Marina Sprecherin 3 Ich heiße Marina, bin in Moskau geboren. Ich wurde nach Paragraph 228 verurteilt, wegen Drogen. Ich habe zehn Jahre bekommen. Eineinhalb Jahre sind noch drauf gekommen. Gesang Marina mit Begleitung Erzählerin Marina, 46, klein, hellblond, blitzeblaue Augen, probt ihren Song. Sie leitet den Musikklub der Strafkolonie. O-Ton Marina Sprecherin 3 Hier war ein Mädchen, dem hat es sehr gefallen, wie ich singe. Sie hat extra für mich Songs geschrieben. Sie kam zu mir: "Marina, sing meine Lieder." Naja, ein bisschen singen kann ich ja, nur texten und komponieren nicht. Wir ergänzen uns: Die eine schreibt den Text, die andere die Melodie, die dritte singt. So arbeiten wir. Erzählerin Seit 2005 versucht sie, in die Endauswahl von Kalina Krasnaja zu kommen. Bislang vergeblich. O-Ton Marina Sprecherin 3 Jede, die hier für das Konzert geprobt hat, hat natürlich von ganzem Herzen gehofft, gerade sie würde ausgewählt. Aber irgendwie hat es nicht geklappt. Ich fand unsere Mädchen große Klasse. Und die Texte ? zum Weinen! Und Stimmen hatten diese Mädchen! Musik O-Ton Marina Erzählerin Bis März muss das Video in Moskau sein.Wer es schafft, beim Galakonzert von Kalina Krasnaja dabei zu sein, darf sich schon als Sieger fühlen. Die Legende sagt, den Teilnehmern winke die Freiheit. Tatsächlich aber muss ein Häftling für eine Entlassung das Wohlwollen der Anstaltsleitung genießen, zwei Drittel seiner Strafe abgesessen und obendrein noch Glück haben. Jana Drónnikowa etwa stand 2010 zunächst auf der Liste der Glücklichen. Wenige Wochen vor der Show aber verschwand ihr Name wieder. Kurz nachdem ihr Gesuch auf vorzeitige Entlassung abgelehnt worden war. Atmo Ankunft Hörerinnen im Klub, Begrüßung, Vorstellung Mädels O-Ton Kalina krasnaja Sprecher 1 Kalina Krasnaja, Ihre Briefe ? und Lieder. Gesungen mit dem Herzen. Atmo Radio Sprecher 1 Guten Tag, wir bringen das Programm des Mitleids und der Reue. Wir begrüßen unsere Hörer und alle, die zum ersten Mal bei uns im Studio sind. Ihre Briefe ? und Lieder, gesungen mit dem Herzen. Erzählerin Vica, Olga und Tanja, Gefangene aus IK-6, sitzen im Klub, um zusammen mit Marina die wöchentliche Radiosendung von Kalina Krasnaja zu hören. O-Ton Vica Sprecherin 2 Diese Sendung ist für uns ganz wichtig. Das ist unsere Welt. Erzählerin Kalina Krasnaja ist seit Jahren das populärste Programm des nationalen Senders Radio Rossija (sprich: Raßíja). Wjátschislav Klimenków moderiert selbst, liest Briefe von Gefangenen und Angehörigen vor und spielt Songs aus den Knästen. O-Ton Brief Sprecher 1 Ein Brief von Ustám Sarájkin:Guten Tag, Kalina Krasnaja! Ich bin 24 und muss noch zwei Jahre sitzen. Ich bitte mein Opfer um Verzeihung. Er heißt Dmítrij. Ich bereue meine Tat sehr und hoffe, dass Dmítrij mich irgendwie verstehen kann. Dann bitte ich auch noch meine Lieben um Vergebung, meine Mutter und mein Schwesterchen Svetlána. Wenn ich entlassen bin, werde ich ein neues Kapitel anfangen. Und niemals werde ich meine schlimmen Fehler von früher vergessen. O-Ton Tanja Sprecherin 4 Ich hab das Gefühl, dass die Leute nicht immer die Wahrheit schreiben. Ich weiß nicht... mir jedenfalls kommt das so vor. Nicht alle bereuen ihre Taten. In der Regel lügt die Hälfte von ihnen.Ich bin noch nicht bereit, so einen Brief zu schreiben. O-Ton Olga Sprecherin 1 Mir scheint, sowas kann man nur reinen Herzens schreiben. Ich glaube ihnen, auf jeden Fall. Musik Musik instr. Liedgut Erzählerin Neben Huldigungen an die Heimat, die russische Landschaft, an die Birkenwälder im Herbst, im Frühling, im Sommer, widmen viele Häftlinge ihre Lieder der Mama ? deren Hoffnungen sie so bitter enttäuscht haben. Musik Victoria Gratschewa: Mamamama Erzählerin Von Reue zerknirscht, von Schuldgefühl gequält, bitten die missratenen Töchter und Söhne um Vergebung. Die Chansons haben die immergleiche Botschaft: Wir sind geläutert, bessern uns, weichen nie mehr vom Pfad der Tugend ab. Sie werden mit oft kindlicher Inbrunst gesungen, offenbaren tränenreich die Seelenqualen. Auch wenn sich Herz und Schmerz allzu schlicht reimen, kann sich selbst der Gast aus dem Westen der anrührenden Wirkung kaum verschließen. Musik Victoria Gratschewa: Mamamama O-Ton Klimenkow Sprecher 1 Ohne diese Knastlieder ? ich meine: die richtigen, die gemütvollen, wo die Häftlinge von ihrem Schmerz erzählen ? ohne sie gäbe es keine russische Kultur. Die ganze russische Kultur baut darauf auf. Erzählerin In den anderen, den "falschen" Knastliedern dagegen, den blatnýje pésni, prahlen die Sänger mit ihren Bräuten, ihren kühnen Beutezügen und Gelagen. Hier gibt es keine Reue, nur das großmäulige Versprechen, es beim nächsten Bruch besser zu machen, sich nicht erwischen zu lassen. Solch dreiste Lieder hört man natürlich nicht beim Sängerwettstreit Kalina Krasnaja. Obwohl sie in Russland überaus populär sind. Hat doch fast jede Familie einen Angehörigen, der schon einmal im Lager gesessen hat. Mittag Atmo Klingel, Speisesaal Erzählerin Im Speisesaal der Strafkolonie KP-7. Bei Jana, Christina und Sascha. Ein gefliester Raum, etwa 40 Tische. Sehr dunkel. Die Näpfe sind hier aus Plastik. O-Ton Jana Sprecherin 1 Also, drei Stück Brot, wieviel Gramm? Weiß ich nicht. Dann gibt es eine einfache Suppe mit Graupen, dann Makkaroni und Frikadellen. Zur Auswahl noch Kürbis, Gurken und irgendeinen Salat. Nun, ich esse in meiner Abteilung. Ich bin nicht ganz gesund, habe ein Magengeschwür. Das Kantinenessen ist für mich zu deftig. Ich kann das nicht essen. Atmo Händewaschen, Hof Erzählerin Alle Frauen müssen auf dem Weg zurück zu ihrer Abteilung über den großen Hof. Das Gebiet der Männer. Einige Frauen nutzen die Gelegenheit für einen Flirt. O-Ton Jana Sprecherin 1 Ach, ich habe Angst darüber zu sprechen. Nun klar, wir reden miteinander. Aber es kann passieren, dass man uns dafür bestraft. Es ist ja verboten, mit den männlichen Häftlingen zu sprechen. Musik Wissotzky Lagerwesen Erzählerin auf MusikSchon die Zaren ließen ihre Gefangenen in Lager sperren, weit hinten in Sibirien. Die kommunistische Regierung schuf Lager für Klassenfeinde, politische Gegner und gewöhnliche Kriminelle. Unter Stalin verbreitete sich das Gulag-System über die ganze Sowjetunion. Dem Kollaps des Kommunismus folgte in den 90er-Jahren eine Ära des ökonomischen Chaos. Die Zahl der Häftlinge schnellte hoch von 500 000 auf eine Million. Der Staat überließ die völlig überfüllten Lager weitgehend sich selbst. Korruption, Gewalt und Misshandlungen wurden zur Norm. Noch immer liegt das russische Strafmaß weit über westeuropäischen Standards. Vor allem Rückfalltäter verschwinden für endlose Jahre hinter Gittern. Der Knastalltag bleibt bedrückend, die medizinische Versorgung miserabel. 90 Prozent der Insassen sind nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft krank. Viele haben Tuberkulose oder Aids. Die Sterblichkeit ist hoch. Allmählich aber sinkt die Zahl der Gefangenen. Selbst von höchster Stelle wird inzwischen Kritik am desolaten Zustand des Strafvollzugs laut. Doch echte Veränderungen erkennt man bislang nur in jenen Regionen, wo Verantwortliche umdenken und sich engagieren. Ein Toast Atmo Hofatmo - Frauen, Schlüsselgeklapper, Anweisung : Aufstellen! Atmo Begrüßung, Türenknallen Erzählerin Strafkolonie KP-7. BegrüßungGefängnisdirektor Boris Nikolajewitsch Wolkow (sprich: Barís Nikolájewitsch Wólkow) ist ein jovialer Typ mit listigen Augen. Vorsichtig, aber nicht argwöhnisch. Man wird schnell warm mit ihm. Atmo Party Erzählerin Bevor er den Gästen aus dem Ausland vertraut, testet er sie bei einem frugalen Mahl ? und vier Flaschen Wodka. Atmo Toast Erzählerin Lasst uns einen kleinen Schluck trinken, sagt Boris Nikolajewitsch, als wir wieder die Gläser heben, auf das Leben, unser Land, auf die Freunde. Angelika (Anjelíka), die Sprecherin der Gefängnisverwaltung, lächelt zustimmend. Atmo Boris und Angelika singen Erzählerin Er stammt aus einem armen Bauerndorf. Lange Jahre, sagt Boris Nikolajewitsch, sei er ein Bulle gewesen, habe jede Menge Verbrecher gejagt und eingelocht. Heute sieht er die Dinge völlig anders, fühlt sich verantwortlich für die Häftlinge. Sie dürften nicht einfach weggesperrt und gebrochen, sondern müssten für ihren Neustart ins Leben vorbereitet werden. O-Ton/Atmo Boris Sprecher 3 Ich liebe meine Arbeit sehr und wünsche mir, dass jeder Mensch, oder doch mindestens 90 Prozent aller Menschen ihre Kraft für das Wohl anderer einsetzten. Erzählerin Eigentlich sei es ein elender Beruf, findet er. Aber immerhin, sagt Boris Nikolajewitsch mit verschmitztem Lächeln, gebe es da ja noch Leute wie ihn. Kann man ihm trauen? O-Ton Jana Sprecherin 1 Hier in der Administration taugt nur einer was, Wolkow. Der versteht die Gefangenen und sucht Kontakt zu ihnen. Erzählerin Für ein ausführliches Gespräch mit dem Trio Jana, Christina, Sascha stellt der Lagerleiter sein Büro zur Verfügung. Ohne Aufsicht.Damit sie sich frei äußern könne. Ohne dass die Ohren der Wärter präsent sind.Lass sie sich ausweinen, sagt er. Atmo ins Büro reingehen O-Ton Jana Sprecherin 1 Ich fühle Trauer, Schwermut. Ich kann an Gefängnissen nichts Lustiges entdecken. Mir ist elend. Ich will nach Hause. Mehr als sieben Jahre habe ich meine Familie nicht gesehen, keiner hat mich je hier besucht. Wir haben ein schwieriges Verhältnis. Und je länger ich hier sitze, umso kleiner wird die Chance, mich mit ihnen zu versöhnen. O-Ton Sascha Sprecher 3 Ob meine Strafe zu lang ist? Nein, sie ist nicht zu lang. Ich könnte hier noch fünf Jahre sitzen ? allein. Aber für meine Kinder ist es furchtbar lang ? ohne Vater. Wenn ich Freigang habe ... Ach, ich fahr schon gar nicht mehr nach Hause. Ich hätte keine Kraft mehr, hierher zurückzukommen. Und die Kinder fragen: Papa, hast Du jetzt nicht lange genug gesessen? O-Ton Christina Sprecherin 2 Also ehrlich, ich weiß wirklich nicht, was noch Böses in mir steckt, das ausgemerzt werden muss. O-Ton Jana Sprecherin 1 Mein Fall zum Beispiel: Ich hab ja niemanden getötet. Und der Verkauf von Waffen ist mir nicht nachgewiesen worden. Und dann gibt man mir einfach acht Jahre, weil die Anklage ihre Sache gut vertreten hat. Ich hatte kein Geld für einen Anwalt, kein Geld für den Richter und den Staatsanwalt. 60 000 Rubel wollten die, und dann noch mal 150 000 Rubel. Das hatte ich nicht. Und dann acht Jahre ? das ist viel. Atmo Telefon klingelt. Jana geht ran. Erzählerin Das Telefon klingelt. Jana nimmt ganz selbstverständlich den Hörer ab. O-Ton Jana Sprecherin 1 Den Gefangenen heute wird viel mehr erlaubt. Außer Sprit und Drogen, ist alles gestattet. Vergleicht man das Lagerleben heute mit dem der 90er-Jahren, ja sogar mit dem vor fünf Jahren, so hat sich viel verändert. Mit jedem Jahr wird es besser. Erzählerin Und doch gibt es immer wieder Schikanen. Die drei durften zum Beispiel seit Monaten nicht proben, sagt Jana. O-Ton Jana Sprecherin 1 Seit Mai hat man uns nur in den Klub gelassen, wenn das Fernsehen auftauchte. Dann kriegen wir am Vortag Zeit, um uns vorzubereiten. Lagerzucht Atmo Eierlaufen, Tanzstunde Erzählerin IK-6. Sonntagnachmittag. Vor dem Klub ist eine Musikanlage aufgebaut. An die 40 Frauen spielen Kindergeburtstagsspiele. Zwei Staffeln rennen um die Wette, einen Ball auf einem Löffel balancierend. Dann beginnen sie paarweise auf einer Zeitung zu tanzen, die immer kleiner gefaltet wird. Atmo Gitter, Summer, rein ins Haus Atmo Antonina Erzählerin Abteilung 15. Eine kleine Küche. Daneben ein Raum mit Stühlen und Bänken, einem Fernseher, Pflanzen, recht wohnlich. Das kleine Reich der 66 Frauen von Abteilung 3.Man könnte sagen, wir sind hier im Kurort, sagt Antonina, eine zierliche, alte Frau, mit ironischem Lächeln. Sie ist erst 53, sieht aber aus wie 70 O-Ton Antonina Sprecherin 4 Bei vielen brechen die Talente erst hier auf. Nun, ich sag' mal so: In der Freiheit ist jeder mit seinen Sachen beschäftigt ? Arbeit, Kinder, dies und das. Der eine trinkt, der andere macht was anderes. Nach Poesie und Versen ist da keinem zumute. Das passiert alles erst hier. Erzählerin Zwei Stockwerke höher sitzt Marina, die Sängerin, in ihrem Schlafsaal. O-Ton/Atmo Marina Erzählerin Etagenbetten für 18 Frauen. Nachtschränkchen. Ein Spiegel, Blumen, Plastikvorhänge, Kleiderhaken. O-Ton Marina Sprecherin 3 Die Wände blau, schön, die Decke ist weiß ? renoviert fast nach westlichem Standard. Atmo Raum Erzählerin An jedem Bett ein Schild mit Namen, Vornamen, Geburtsjahr, Paragraph, Beginn und Ende der Haft, Foto. Atmo/Musik Gesang Marina Erzählerin Marina absolvierte die Hotelfachschule, arbeitete in der Gastronomie. Sie bekam einen Sohn. Er ist inzwischen 23. Ihr Enkelkind ist noch ein Baby. O-Ton Marina Sprecherin 3 Ich bin in so eine Clique geraten. Keiner hat mich gezwungen, Drogen zu nehmen. Niemand ist daran schuld. Ich allein wollte es, ganz freiwillig. Habe es ausprobiert. Das ist schon alles. Und diese erste Spritze werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Erzählerin Marina war sofort abhängig. Ihr Mann verließ sie. Drei Jahre spritzte sie sich heimlich, im Badezimmer, damit der Sohn nichts sah. Fing an zu dealen und zu stehlen. O-Ton Marina Sprecherin 3 Jeden Tag dasselbe: Irgendwo Geld auftreiben, den Stoff besorgen, sich spritzen. Das war Absturz und Hölle. Ich starb so langsam dahin. Als man mich festnahm, dachte ich: "Gott sei Dank!" Archangelsk Musik Marsch Erzählerin Das große Theater in Archangelsk ist frisch renoviert, mit modernster Technik ausgestattet. Ein Jazzorchester sorgt für Stimmung. Im Foyer Verkaufsstände mit Getöpfertem und Gedrechseltem, gebastelt von Gefangenen der Region. Atmo Saalatmo Erzählerin Das Galakonzert Kalina Krasnaja kann beginnen. In den vordersten Reihen die Gäste aus der 1000 Kilometer entfernten Metropole, weiter hinten und auf dem Rang die Honoratioren der Stadt und der Orthodoxen Kirche, Vertreter der Justizbehörde und Mitarbeiter des Strafvollzugs. Kaum Jugendliche. Atmo Ansagen/Grussworte Archangelsk Erzählerin Grußworte über Grußworte ? vom Gouverneur der Region Archangelsk, vom Bischof Tíchon, vom Leiter des föderalen Strafvollzugs und vom Vorsitzenden des Vereins zur Unterstützung des Strafvollzugs.Und dann beginnt die Show. Musik Männerchor Erzählerin Wie immer mit einer Videosequenz aus dem Spielfilm "Kalina Krasnaja? von Wasíli Schukschtschín, beide ein Mythos in Russland. Ein Leinwandklassiker, der dem Wettbewerb den Namen gab. Im Film endet die Läuterung allerdings tragisch: Die Geschichte eines entlassenen Sträflings, der den Neuanfang wagt ? und von seiner Vergangenheit schließlich doch eingeholt wird. Atmo Gala Erzählerin Monatelang hat das Team Kalina Krasnaja an der Inszenierung gefeilt: Choreographien einstudiert, Kostüme entworfen und genäht, die große Bühne in Szene gesetzt. Jeder Schritt soll sitzen. Der Aufwand ist enorm. Auf der großen Leinwand werden Szenen aus dem Lageralltag eingespielt, sehr professionell geschnitten und montiert.Rund 50 000 Euro kosten Vorbereitung und Durchführung des Konzerts. Der größte Teil des Geldes geht für Gefangenentransporte drauf.Hinter den Kulissen die Häftlinge, schwer bewacht. Aus ganz Russland sind sie tagelang in Etappen herbeitransportiert worden, aus Ástrachan und Irkútsk, aus Twer oder Tscheljábinsk. Die auserwählten Stars aus den Straflagern, eben noch in Anstaltskleidung, singen an diesem Abend in glamourösen Gewändern ihre tragischen Lieder. Die Läuterung wird bunt zelebriert. Mancher Anzug aber sitzt ein wenig zu weit. O-Ton Bogomolov Sprecher 1 Als man uns mitteilte, dass hier Knastbrüder auftreten sollen, dachten wir: Herrje! Knastbrüder! Und was kommt danach? Erzählerin Ewgénij Bogomólow, technischer Direktor des Theaters von Archangelsk, ist nach drei Tagen Vorbereitungshektik ziemlich ernüchtert. O-Ton Bogomolov Sprecher 1 Seien wir doch ehrlich ? das hier ist eine kommerzielle Veranstaltung. Sojus Production will Gewinn machen. Sie produziert die Aufnahmen. Sie verkauft die DVDs und CDs. Die ganze Show basiert auf Geld. O-Ton Bogomolow Sprecher 1 Das ist Kommerz reinsten Wassers, man verdient mit den Gefangenen hier Geld.Aber sie bekommen bei Kalina Krasnaja auch ihre Chance ? keine schlechte Chance. Atmo Gala-Musik Erzählerin Die Gala strebt dem Höhepunkt entgegen. Der Pope verteilt Ikonen, die Sponsoren Blumen, Kosmetika und andere Präsente. Es ist ein großes Freuen und Schenken, Rührung ergreift den Saal. Der Bischof spricht. O-Ton Pope, Bischof Tichon von Archangelsk Sprecher 2 Der Mensch, der ins Gefängnis geraten ist, fängt an über sein Leben nachzudenken. Diese Gedanken über Schuld und Sühne führen viele Menschen hinter den Gefängnistoren zu Gott. Wir unterstützen diese Entwicklung. Wir reichen ihnen eine hilfreiche Hand: Bitte, wir sind bereit. O-Ton/Atmo Suschkow Erzählerin Und dann werden, wie jedes Jahr, die Namen jener Gefangenen verlesen, die auf Bewährung freikommen. Der Vorsitzende des Unterstützer-Vereins betritt feierlich die Bühne. O-Ton Suschkow Sprecher 3 Mit großer Freude kann ich verkünden, dass auch in diesem Jahr vier Häftlinge auf Bewährung freigelassen werden: Sácharow, Sergéj, Sokolóv, Andrej, Nitscheporúk, Sergej und Schtscherbátych, Witálij. Wir hoffen, dass sie das Vertrauen der Verwaltung rechtfertigen und uns auch in Zukunft nicht enttäuschen werden. Atmo Gala Erzählerin Sämtliche 20 Sträflinge, die bei den bislang sieben Konzerten auf Bewährung frei kamen, hatten schon lange zuvor Bescheid bekommen. Auf der Gala wird ihre Entlassung nur noch einmal effektvoll in Szene gesetzt. Tränen fließen. Und auch die Häftlinge spielen bei der Inszenierung emsig mit. O-Ton Bogomolov Sprecher 1 Die, die hier als freie Menschen die Bühne verlassen, sind in Wahrheit schon seit zwei, drei, vier Monaten frei. Alles nur Show. Aber vielleicht ist das gar nicht schlecht. Das Publikum will ja Spiele, will betrogen werden. O-Ton Jana Sprecherin 1 Da wird groß getönt, die Häftlinge würden direkt von der Bühne in die Freiheit entlassen. Das ist gar nicht wahr. Keiner verlässt die Gala als freier Mensch ? wenn er nicht schon vorher auf Bewährung freigelassen ist. Musik Gala Erzählerin Jana weiß, wovon sie spricht. Auf der Gala 2007 in Ufá sang sie ihr Lied Molitwá ? das Gebet. Sie hat es genossen. Obwohl der lange Gefangenentransport grauenhaft war. O-Ton Jana Sprecherin 1 Alles ein Mythos. Aber klar, Showbusiness, Reklame und Spektakel gehören eben dazu. Frei Atmo Zug O-Ton Witálij Minya Sovut Sprecher 2 Ich heiße Witálij Schtscherbátych. Bin in Worónesch geboren. Meine Mutter war Betriebswirtin, mein Vater einfacher Fabrikarbeiter. Atmo Ankunft Dubna, Laufen Treppe Erzählerin Witálij Schtscherbátych ist 41 Jahre alt, groß, schlank. Er hat eine lange Nase, braune, wehmütige Augen, die Haare sind zum Zopf gebunden. Er wurde wegen schweren Raubüberfalls zu 16 Jahren verurteilt. Witálij ist frei. O-Ton Witálij Sprecher 2 In den 90er-Jahren begann bei uns die Perestroika. Alles veränderte sich enorm. Die Gesellschaft teilte sich in reich und arm. Und wer nicht besonders reich war, wollte reicher werden, und das auf ganz verschiedenen Wegen. Erzählerin Gerade Sportler wie er wurden oft zu Verbrechern, sagt Witalij, damals, in den "wilden 90er-Jahren". O-Ton Witálij Erzählerin Damals tauchten auch die ersten "Geschäftsleute" auf. Sprecher 2 Und viele andere, die vom Kuchen etwas abhaben wollten. Ich gehörte auch dazu. Das ist schon alles. Atmo Küche Erzählerin Er hat 12 Jahre gesessen, im Gefängnis und in diversen Lagern. Das letzte: Die Kolonie Nr. 1 in Similúki. Dort konnte ihn sogar seine Mutter besuchen. Atmo Küche O-Ton Witálij Sprecher 2 Drei Mal habe ich bei Kalina Krasnaja gesungen. Beim letzten Auftritt wurde ich auf Bewährung entlassen. Das war in Archangelsk. Darüber bin ich unendlich froh.Und seitdem läuft's bei mir nicht schlecht. Atmo Essen Erzählerin Witálij Schtscherbátych ist als Videoproduzent viel beschäftigt. Im Moment lebt er in einer kleinen Stadt nördlich von Moskau, an der Wolga. Mit seiner Frau, Natália Abáschkina. Sie haben sich bei Kalina Krasnaja kennengelernt. Natália führte dort Regie. Atmo Gesang (gleicher Song, solo) Sprecher 2 Der Abend erstarrt über dem FlussDer Wind spielt in den BirkenAn der Gartenpforte zu HausErwartet die Mutter den geliebten Sohn. O-Ton Witalij Sprecher 2 Wenn man dich von der Straße einfängt, die Türen hinter dir zuschlagen, ist es so, als ob du ins Wasser gefallen bist und sich die Wassermassen über dir schließen, und (Pause) Stille. Erzählerin Das Lager, sagt Witalij, zwinge jeden Menschen, sich zu entscheiden ? zu diesem oder jenem Ufer zu schwimmen. Eine dritte Möglichkeit gebe es nicht. O-Ton Witalij Erzählerin Hier komme das Allerbeste zum Vorschein ? oder das Allerschlechteste. O-Ton Witalij Sprecher 2 Ein Gefängnis, ja was ist das? Das ist ein betoniertes Zimmer mit vergitterten Fenstern. In so einem Raum sind etwa 20 Menschen untergebracht. Immer dieselben Menschen: einen Tag, zwei Tage, drei..., einen Monat, ein Jahr, das Zweite Jahr. Immer dieselben Menschen, jeden Tag, jeden Tag. Erzählerin Für ihn, sagt Witalij, war der Knast wie eine Universität. Er lernte Trompete bei einem Musiker, Hebräisch bei einem Israeli. Er gründete ein Blasorchester, beschaffte einen Computer, baute ein winziges Studio. O-Ton Witalij Sprecher 2 Du nimmst eine Gitarre, ein Mikrofon, ein Keyboard in die Hand. Was da für eine riesige Welt entsteht! Sofort! Ein Universum. Kalina Krasnaja ist eine ganz große Hilfe, ein Rettungsring. Erzählerin Freiheit an sich, meint Witalij, sei ja ziemlich leer. O-Ton Witalij Erzählerin Seine Bewährungsfrist endet im Sommer 2013. Er hat jetzt reichlich zu tun. Ich habe einfach Glück gehabt, sagt er. O-Ton Witalij Ende Atmo Lager, Gitter, Nähmaschinen O-Ton Marina Sprecherin 3 (Seufzer) Zukunftspläne? Es ist schwer, Pläne zu schmieden. Ich möchte so gern nach Hause. Das Wichtigste ist, endlich frei zu sein. Aber in meinem Alter warten bestimmt nicht die ganz großen Chancen auf mich. Man wird mir wohl kaum eine gute Arbeit anbieten. Aber irgendwas finde ich bestimmt, sofort. Ich denke, dass ich nicht noch einmal hierher zurückkomme. Atmo Lager - Frauen, Schlüsselgeklapper, Zählung Erzählerin Marina im Lager IK-6 geht zum Abendessen. Im Lager KP-7 geht derweil die erste Schicht zu Ende. Jana klappert nervös mit ihrer Pillendose. Sie muss ständig Tabletten nehmen. O-Ton Jana Sprecherin 1 Nachdem man meinen Antrag auf Bewährung zum zweiten Mal abgelehnt hat, hab ich einen Infarkt bekommen. Ich habe Herz-Kreislaufprobleme und leide an Arterienverkalkung. Alle meine Krankheiten habe ich mir hier eingefangen. Atmo Nähmaschine Erzählerin Wie soll die Zukunft aussehen? O-Ton Sascha Sprecher 3 Ich möchte nur ganz schnell nach Hause, zu meinen Kindern. O-Ton Christina Sprecherin 2 Ich will auch ganz schnell nach Hause. Ich möchte so gern eigene Kinder. Leider habe ich noch keine. Erzählerin Aber Christina muss noch zwei Jahre sitzen. O-Ton Christina O-Ton Jana Sprecherin 1 Ich würde gern weiter schreiben. Nicht unbedingt Lieder. Vielleicht richtige Bücher. Ich habe den Menschen etwas zu sagen. Atmo Schlafsaal TV Erzählerin Im Schlafsaal von Jana und Christina sitzen die Frauen der ersten Schicht vor dem Fernseher. O-Ton Christina Sprecherin 2 Mit der Zeit wird hier jeder müde, sehnt sich nach Ruhe und Frieden, wenigstens mal für ein Stündchen. Es passiert eben hin und wieder, dass du keine Menschen mehr sehen kannst. Einfach nur allein sein willst. Atmos Hof und Schritte, Schlafsaal Erzählerin Die zweite Schicht wird erst wiederkommen, wenn sie schon schlafen. O-Ton Christina Sprecherin 2 Wir versuchen, Rücksicht zu nehmen. Wir wissen ja, dass die anderen Mädels nach ihrer Schicht müde sind. Also machen wir im Schlafsaal keinen Lärm. Atmo Klingel, Schlafsaal Erzählerin Zeit ins Bett zu gehen. O-Ton Jana Sprecherin 1 Ein harte Pritsche. Klar, nicht so weich wie zu Hause. Also, Nacht Mädels! Atmo Schlafsaal Absage: Roter Holunder Sängerwettbewerb in russischen Haftanstalten Ein Feature von Suzanne Bontemps und Tom Schimmeck Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk 2010 Es sprachen: Anne Moll, Isis Krüger, Sigrid Burkholder, Maya Bothe, Claudia Mischke, Wolf Aniol, Volker Niederfahrenhorst und Martin Bross Ton und Technik: Hendrik Manook und Hanna Steger Regie: Thomas Wolfertz Redaktion Karin Beindorff O-Ton Jana Sprecherin 1 Schlaft Mädels, gute Nacht! Ein Tag näher zur Freiheit ist geschafft. Schon wieder einen Tag hinter Gittern verbracht. Was der morgige Tag bringt, wissen wir nicht. Warten wir´s ab. O-Ton Jana ENDE 6 7