Deutschlandrundfahrt Der lebendige Charme von Ewigkeit Der Stadtgottesacker von Halle an der Saale Von Margarete Wohlan Sendung: 13. November 2016, 11.05 Uhr (Wdhlg. vom 11.10.2015) Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Renate Schönfelder Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015 01 Atmo Friedhof Autorin Wer ihn vor 25 Jahren kannte, würde ihn heute nicht wiedererkennen: den Stadtgottesacker von Halle. Er war eine Ruine: umgefallene Grabsteine, zerstörte Schwibbögen, Betreten verboten: Einsturzgefahr. Dass sich so viele Menschen dafür eingesetzt haben, ihn wieder herzustellen, liegt nicht nur daran, dass dieser Friedhof ein so einmaliges Denkmal der Renaissance ist. 01 O-Ton DAHLMEIER Das ist Stadtgeschichte! Die wichtigsten Personen, die in Halle gelebt haben, sind hier beigesetzt worden – Franke und viele andere – Thomasius, sind ja bekannte Persönlichkeiten, die hier beigesetzt worden sind, und für mich war es eigentlich eine große Herausforderung, da etwas zu tun, auch Spuren für die Zukunft zu hinterlassen, das war der Antrieb eigentlich. Kennmelodie Sprecher: Der lebendige Charme von Ewigkeit Der Stadtgottesacker von Halle an der Saale Eine Deutschlandrundfahrt von Margarete Wohlan Kennmelodie 02 Atmo Bohrmaschinenlärm auf dem Friedhof Autorin Maya Graber und Marcus Golter stehen auf einem Gerüst, nebeneinander, unter ihnen die beiden Grüfte, darüber die Schwibbögen, an denen sie arbeiten. Diese 94 Schwibbögen haben einst den Ruf des Stadtgottesackers als Meisterwerk der Renaissance nördlich der Alpen begründet. Es sind Bögen, die den Eingang zu ebenerdigen Grabkammern bilden. Konzentriert fräsen die beiden Bildhauer Figuren in den Sandstein. Seit 1996 werden die Schwibbögen des Stadtgottesackers nach und nach instandgesetzt, von insgesamt drei Bildhauern. Zur Zeit sind die Bögen 53 und 54 an der Reihe. 02 O-Ton Maya, Marcus SIE: Also dieses Jahr beschäftigen wir uns mit den vier Elementen, und Marcus hat Erde und Luft, und bei mir geht’s um Feuer und Wasser. Und wir haben uns etwas überlegt, was sowohl nebeneinander gut steht und eben auch die Formsprache des Friedhofs aufnimmt, … und in meinem Fall arbeite ich gerade am Feuer, da gibt’s so ne Art Zentaur, also ein kräftiges Menschentier, was die Feuerenergie transportieren will. ER: Also im Prinzip machen wir hier chimärenartige Figuren, die sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzen, aus tierischen und menschlichen. Das gibt es in der Renaissance-Formsprache der alten Reliefs hier öfter, und das nehmen wir wieder auf: die Erde ist eben ein weiblicher Körper, mit einem kuhartigen Unterleib, und ganz vielen Früchten, die sich durch so ein bänderartiges Ornament gruppieren. AUTORIN: Hat das was mit dem Bogen, mit den Toten, die hier begraben sind, zu tun? ER: Öfter ja, aber jetzt in dem Fall nicht, weil wir jetzt keine prägnanten Geschichten gefunden haben. 03 Atmo Hammer und Meißel Autorin Die Feinarbeiten führen die beiden mit Hammer und Meißel durch, da hat sich nichts geändert seit der Renaissance – der Zeit, in der dieser Friedhof entstand. Die Lage allerdings hat sich geändert: während er damals außerhalb der Stadtmauern lag, ist er heute mitten in der Stadt. 03 Atmo Hammer und Meißel nochmal hoch Autorin Von den 94 Schwibbögen, die den Stadtgottesacker umschließen, waren zur Wendezeit 27 zerstört, und es gab keine Fotos, keine Dokumentationen darüber, was in den Reliefs oder auf den Epitaphen früher zu sehen war. Für Bildhauer und Steinmetze, die sich hier künstlerisch verewigen dürfen, ist das ein Glücksfall und eine Herausforderung zugleich – erzählt Bernd Göbel, Professor an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, der die Arbeiten leitet und betreut. 03 O-Ton Göbel Natürlich setzen wir ein historisch gewachsenes Baudenkmal wieder instand. Aber mit unseren Mitteln. Es sind künstlerische Arbeiten, die aus dem Geist der Renaissance in das 20ste Jahrhundert geführt werden unter Wahrung und Würdigung der Vergangenheit. Hinzu kam, dass wir uns sehr genau informiert haben, über die ehemaligen Besitzer dieser Grüfte. Was waren das für Leute, waren das Handwerker? Waren das Professoren der Universität? Was haben die gemacht? Und das haben wir so ein bisschen mit reingeholt in die Gestaltung dieser Reliefs. 04 Atmo Göbel und ich gehen über den Friedhof, leises Gespräch miteinander Autorin Wir machen einen kleinen Rundgang über den Friedhof, an den Schwibbögen entlang, wo Bernd Göbel immer wieder stehenbleibt, um zu illustrieren, was er meint: den Apothekerbogen zum Beispiel, mit der Schlange, die den Stab umwindet – aber eben zeitgenössisch gestaltet. Er hat auch einen Schwibbogen selbst gestaltet – den über der Gruft von Christian Thomasius. Ein bekannter Jurist und Philosoph an der Universität Halle, der wesentlich zur Abschaffung der Hexenprozesse und der Folter beigetragen hat. Bis heute liegen immer wieder frische Blumen auf seinem Grabstein, auch jetzt. 05 Atmo Friedhof Autorin Der emeritierte Professor freut sich, dass seine ehemaligen Studenten die Arbeit auf dem Stadtgottesacker fortsetzen. 05 O-Ton Göbel Für mich ist das einfach ne großartige Sache, dass ich das erleben kann, dass die miteinander in harmonischer Weise arbeiten. 06 Atmo Bohrmaschine, die aufhört 06 O-Ton Maya Also für uns ist es ein Riesengeschenk, dass er da ist und ich empfinde das auch als Privileg, weil wir uns so weiterhin auch austauschen können und inzwischen ist es glaub ich schon nicht mehr ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern es hat auch durchaus was Freundschaftliches und man begegnet sich auf Augenhöhe. 03 Atmo Hammer und Meißel 08 O-Ton Maya AUTORIN: Ist es für einen Bildhauer, für einen Steinmetz, für einen Künstler – ist es toll, dass man das machen darf? SIE Ja, auf jeden Fall!! Ich meine, wir sind neben dem, was wir hier schaffen, freischaffende Bildhauer und gestalten unsere eigenen Dinge – und das ist schon eine Kür, dass man nicht etwas Altes neu erfindet, sondern eigenes auch machen kann! Ich empfinde das durchaus als Privileg, weil es ist eine alte Anlage – und wenn nichts weiter passiert, wird die nochmal ein paar hundert Jahre leben und dass man dann hier was hinterlassen darf, das ist schon richtig toll, ja. 01 Musik – Händel 07 Atmo Friedhof, bei Francke Einsatz 02 Musik (Felix Mendelssohn, Rondo Capriccioso Op. 14) Autorin Es gibt 14 Friedhöfe in Halle – aber nur einen Stadtgottesacker. Er ist das Geschichtsbuch von Halle, und zwar der letzten 500 Jahre. Wer hier bestattet wurde, musste in Halle leben und sich um die Stadt verdient gemacht haben. Es sind Familien von Industriellen, Universitätsprofessoren, höheren Beamten und Offizieren – unter ihnen die Familie des Pietisten August Hermann Francke, der die Franckeschen Stiftungen gründete. Auch Johann Reinhold Forster liegt hier begraben – er war bei der Weltumseglung von Captain James Cook dabei. 1775 kam er zurück und brachte exotische Pflanzen mit, die er dem Botanischen Garten in Halle vermachte. Dafür wurde er sechs Jahre später mit der Gartenleitung betraut. Doch die bekannteste Familie hier ist eine andere... 02 Musik abblenden 09 O-Ton AUTORIN: Wir gehen da jetzt mal rein. ER: Ja, wir gehen da jetzt rein. SCHLÜSSEL AUF UND REIN. SCHRITTE IN DER GRUFT Autorin Bernd Hofestädt öffnet das Tor zur berühmtesten Grabstätte des Stadtgottesackers: die der Eltern des Komponisten Georg Friedrich Händel. Für den Familienforscher aus Halle ist es immer etwas Besonderes, über die Händels zu sprechen – auch aus persönlichen Gründen, wie er lächelnd erzählt: 10 O-Ton Hofestädt Hier wird manchmal behauptet, ich sei ein Nachfahre von Georg Friedrich Händel. Aber das stimmt natürlich nicht, denn der hatte gar keine Kinder. Es ist einfach so, ich habe ne Ahnengemeinschaft mit Händel, eine meiner Urahninnen war die Urgroßmutter von Händel. Ja!! LACHEN Autorin Tja, so leicht ist es hier, den Bogen zu schlagen zwischen der Stadt und ihrem berühmten Gottesacker, zwischen den toten und den lebenden Hallensern. 08 Atmo Schritte auf Stein Autorin Hier liegen nicht nur Händels Eltern Georg und Dorothea begraben, sondern auch seine beiden Schwestern Dorothea Sophia und Johanna Christiana. Der Vater hat den Schwibbogen samt Gruft bereits 23 Jahre vor seinem Tod erworben, noch bevor seine erste Frau Anna 1682 an der Pest starb. Auf einer Tafel sind die Titel des Vaters aufgelistet, unter anderem: Amtschirurg und Kammerdiener im Herzogtum Sachsen-Weißenfels. 11 O-Ton Hofestädt Also, Amtschirurg war der verantwortliche Kreisarzt für bestimmten Bezirk, und dieser Bezirk – das Amt Giebichenstein - umfasste mehrere Kleinstädte und an die 60 Dörfer, also war ein sehr großer Beritt. Und ansonsten war er ein vertrauter Arzt bei diversen Herrschaften, also beispielsweise beim Herzog August von Sachsen-Weißenfels, der in Halle den Dom umgestaltet hat, da ging er eben auch ein und aus. 09 Atmo Stadt, Marktplatz Autorin Die Familie Händel hat bis heute Spuren in der Stadt hinterlassen – obwohl die Eltern seit über 300 Jahren tot sind und der Komponist selbst in London begraben wurde. Es gibt nicht nur das Händel-Haus und ein Denkmal des Komponisten auf dem Marktplatz, sondern auch die Marktkirche, in der bis heute die Orgel steht, an der der kleine Händel geübt hat. 10 Atmo Kirche innen 12 O-Ton Hofestädt FLÜSTERND Ich bin immer wieder begeistert von dem Anblick, es ist unglaublich, wie schön diese Kirche ist. ATMER. 0’15 Ja, und vor uns sehen wir dort auf der Empore die kleine Reichel-Orgel, die hübsche kleine Orgel, die, auf der Georg Friedrich Händel bei seinem Lehrer Zachow Orgelspielen geübt, gelernt hat, bis er wohl dem Meister selbst den Rang abgelaufen hatte. So erzählt man wenigstens. STILLE. Autorin Die kleine Altarorgel steht seit 1664 auf der Ostempore und wurde innerhalb von zwei Jahren vom Orgelbauer Georg Reichel erbaut. Weiß, verziert mit goldenen Ornamenten und Figuren, leuchtet sie vor dem wuchtigen Gemälde des Halleschen Malers Heinrich Lichtenfels: Szenen aus der Apostelgeschichte, und direkt hinter der Orgel, im Zentrum des Bildes, der gekreuzigte Jesus. Das Gemälde hängt dort seit 1593 – und wird wohl auch den jungen Händel beim Üben begleitet haben. 10 Atmo Kirche innen (kurz) Autorin Händel hatte es nicht weit von seinem Zuhause hierher, und obwohl die Einträge aus seiner Zeit unvollkommen sind, weiß man, dass er täglich hier geübt hat, wahrscheinlich auf dem Weg zur oder von der Schule. Aber es ist nicht das Einzige, was sich belegen lässt. 13 O-Ton Hofestädt Wir wissen beispielsweise, dass der junge Mann, als sein Vater starb, war er noch nicht zwölf Jahre alt - und da hat er ein Trauerkarmen, also ein Gedicht, verfasst: Oh Herzeleid, und so weiter, was sehr anrührend ist, und was er unterzeichnet ganz voller Stolz: Georg Friedrich Händel, den Freien Künsten Ergebener. Ein noch nicht zwölfjähriger Knabe!! 03 Musik Händel Blende 11 Atmo Reingehen, Sprechen/Gemurmel, Treppe steigen, Lachen, Reden. TÜRAUFSCHLIESSEN Autorin Gegenüber der Marktkirche, in einem Innenhof versteckt, liegt das Backsteingebäude der Marienbibliothek – und dorthin will Familienforscher Bernd Hofestädt unbedingt noch hin, bevor wir zum Stadtgottesacker zurückkehren. Anke Fiebiger schließt die Tür auf und wir betreten diese älteste und größte ununterbrochen öffentlich zugängliche Bibliothek in Deutschland. 14 O-Ton Anke Fiebiger, Bernd Hofestädt SIE: Ja, ich bin sozusagen der gute Geist in der Marienbibliothek LACHT, der das quietschende Tor öffnet. Ja, die Marienbibliothek wurde 1552 gegründet und eine der ersten und immer noch eine der wertvollsten Schenkungen sind die Bücher der Familie von Selmenitz. Die kamen 1580 in die Marienbibliothek, darunter sind z.B. die erste und die zweite Auflage der sog. Luther-Vollbibel, 1534 und 1541 in Wittenberg erschienen, mit handschriftlichen Einträgen für die Felicitas von Selmenitz, er hat ihr diese Bibel geschenkt. ER: Das war die Mutter von Georg von Selmenitz, der seinerseits im Testament verfügt hat, dass die Büchersammlung hier in die Marienbibliothek zu übernehmen ist. 12 Atmo Bibliothek Gehen zwischen den Regalen, leises Murmeln, leichte Schritte. Buch wird auf dem Tisch hingelegt Autorin Die Bibliothekarin holt das alte, sehr gut erhaltene Buch aus dem Regal: die Wittenberger Ausgabe der Luther-Bibel von 1534. Holzeinband, mit eingravierten Initialen der Besitzerin und einer Originalwidmung Martin Luthers an seine Freundin Felicitas. 15 O-Ton Fiebiger Und das sind natürlich für Halle Schätze, die man zeigen kann, weil gerade in Zeiten des Reformationsjubiläums kommen natürlich auch viele interessierte Luther-Touristen nach Halle. 04 Musik Bach / Glenn Gould – Goldberg Variationen 13 Atmo Friedhof, Schritte Autorin Wieder zurück auf dem Stadtgottesacker erklärt sich der Besuch in der Marienbibliothek: Bernd Hofestädt steuert direkt auf einen der ältesten Schwibbögen zu: das Grabmal derer von Selmenitz. Gebaut noch vom Ratsbaumeister Nickel Hoffmann selbst – einem der bedeutenden Meister damals im mitteldeutschen Raum, der den Bau des Stadtgottesackers im 16. Jahrhundert leitete. Auf der Grabplatte: das Porträt der adeligen Familie in Lebensgröße. 16 O-Ton Hofestädt Unter der Darstellung der Kreuzigung mit den beiden Schächern zur Rechten und zur Linken von Christus sehen wir kniend, anbetend, die vollständig versammelte Familie von Selmenitz. Zur Linken den Vater in Ritterrüstung, dahinter seine fünf Söhne, etwas größer und hervorgehoben Georg von Selmenitz, der als einziges Kind dieser beiden Eltern überhaupt überlebt hat. Zur Rechten sehen wir die Mutter, Felicitas von Selmenitz, mit ihren beiden Töchtern, die ebenfalls gestorben sind. Autorin Bereits mit 31 Jahren wird sie Witwe, weil ihr Mann hinterrücks erstochen wird. 17 O-Ton Hofestädt Er war am Hofe des Kardinals Albrecht und hat dort einen seiner aus früherer Zeit verfeindeten Gegner getroffen – Moritz von Knebel – und dieser hat den Ritter von Selmenitz in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu Halle auf dem Marktplatz erstochen. Autorin Sohn Georg erlebt das mit und beginnt – mit zehn Jahren – ein Kalendarium zu schreiben, eine Art Tagebuch, das er auch der Marienbibliothek schenkt. 18 O-Ton Hofestädt Die Mutter hat nie wieder geheiratet, und dieses innige Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn, das spiegelt sich in den Darstellungen wider, eben beispielsweise daher, dass man erzählt: sie als eine bekennende Lutheranerin hat von ihrem Sohn das Lesen gelernt, sie wollte selbst in der heiligen Schrift lesen die Worte Luthers in deutscher Sprache, das wollte sie lesen. Autorin Felicitas von Selmenitz war eine der frühesten Anhängerinnen der Reformation in Halle. Als sie 1558 starb, hat ihr Sohn Georg dieses Grabmal ihr zu Ehren errichten lassen – bis heute eines der besterhaltenen auf dem Stadtgottesacker. 04 Musik Bach / Jethro Tull, Bourèe 14 Atmo wir beide in der Gruft, blättern, reden leise 19 O-Ton Tittel Hier schaue ich jeden Tag an meinem Schreibtisch drauf: ist ein ganz alter Kalender von 1911, das ist quasi fast das einzige Farbige, was existiert, weil viel schwarz weiß halt gedruckt wurde, das ist die alte Familie sozusagen, das ist das Haus, was uns mal gehörte, in der Schmerstraße am Eselsbrunnen, da war das Familienunternehmen drinne. Das ist direkt im Zentrum von Halle, hier ist der Markt, die Straße hinter, und hier ist der berühmte Eselsbrunnen, der Esel, der auf Rosen läuft. Autorin Der Brunnen mit dem Esel – ein Wahrzeichen Halles, das eine populäre Sage aus dem 10. Jahrhundert aufgreift: Der Esel und sein Müllerbursche schreiten über Rosen in die Stadt hinein, die eigentlich dem zu erwartenden Kaiser Otto I. gestreut worden waren. Nur hatte dieser wegen des Saalehochwassers seine Einzugsroute in die Stadt kurzfristig geändert. Die Figur am Marktbrunnen wurde 1913 eingeweiht und ist bis heute die beliebteste Brunnenfigur der Stadt. Axel Tittel, 43, kennt sich aus mit der Geschichte von Halle. Seine Familie ist seit sechs Generationen mit der Stadt verbunden. Er hat alte Kataloge und Geschenkschachteln aus dem Familienbesitz mitgebracht. „Juwelier Tittel“ oder „Goldschmiedemeister“ steht überall geschrieben, die ältesten noch erhaltenen stammen aus dem Jahr 1885. Wir hocken in der Familiengruft, durch ein kunstvolles Holzgitter von der Außenwelt abgeschirmt – im Schwibbogen Nummer 9, seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Familie Tittel. 20 O-Ton Tittel Es ist ein Ort, wo man hinkommt, und einfach alle versammelt sind, leider nicht alle natürlich, weil mein Onkel ist in Norwegen beerdigt, und meine Tante liegt auf einem anderen Friedhof in Halle, aber im Grunde genommen sind viele Menschen hier versammelt. 15 Atmo Friedhof, Vogelzwitschern Autorin Auch sein Vater wurde hier 1990 beerdigt – eine wichtige Zäsur gab es jedoch 1945. 21 O-Ton Tittel Ja, wo der Zweite Weltkrieg zu Ende war, und die russischen Besatzer sozusagen, die Sieger, dann einfielen in Halle, wurde die Familie halt enteignet, und das war auch ein Grund, dass die Familie über Jahre auseinander gebrochen ist, ausgewandert ist teilweise, nach Norwegen, nach USA, und natürlich die Familientradition ist unterbrochen worden. Mein Opa hat dann irgendwann versucht, ne kleinere Goldschmiede zu eröffnen und hat auch bis zu seinem Tode als Goldschmied noch gearbeitet. 16 Atmo Friedhof, Schritte 22 O-Ton Tittel IM GEHEN Das war der Weg immer zum Wasserholen, und hier kann ich mich an das Motiv erinnern, hier unten sehen Sie den Anker, das Herz, die Sonne – das ist genau noch so wie alles, und hier, ich kann mich immer erinnern an die fleischigen Blumen als Kind, das ist alles noch so genau wie vor 30 Jahren, 40 Jahren, sag ich mal, so wie ich es kenne. 0’20 GEHEN bis 0‘28 17 Atmo: ERINNERT SICH, FLIEGER FLIEGT HOCH VORBEI, ICH FRAGE… Autorin Wir gehen gemeinsam den Weg ab, den Axel und sein Zwillingsbruder Markus auch benutzten, als sie mit ihren Eltern zu DDR-Zeiten das Familiengrab besuchten und pflegten: Abdecken, saubermachen, Laub wegräumen, Blumen pflanzen – und natürlich gießen. 23 O-Ton Tittel Wir hatten als Kinder natürlich auch gespielt auf dem Friedhof, weil‘s ne wunderbare Spielwiese war, und wir hatten schon den Eindruck, dass wir hier alleine sind. Es kamen mal ab und zu Spaziergänger rum, aber ansonsten war das ziemlich einsam. Und ich kann mich auch noch an die Grüfte erinnern, da konnte man reingucken in die offenen Grüfte, und hat dann unten halt dann noch die Särge oder die Sarkophage stehen sehen. Das war als Kinder schon ein bisschen gruselig manchmal, aber halt spannend, weil das war alles total zugewachsen mit Efeu – das war wie wirklich ein verwunschener Ort! Man hat das als Kind natürlich nicht empfunden, aber im Endeffekt, was ich als verwunschen empfunden hab, war natürlich irgendwo marode, kaputt, verfallen, aber irgendwo hatte es auch ne bestimmte Schönheit. Autorin Seine Mutter, er und sein Bruder wollen und werden hier bestattet. Damit schließt sich für Familie Tittel eine Lücke. Für Axel, der Goldschmied gelernt hat – der Familientradition zuliebe – und jetzt als Grafikdesigner arbeitet, ist das nur ein kleiner Trost. 24 O-Ton Tittel Ich sitze nicht nur einmal die Woche da und überlege mir, wie schön es doch wäre, in einem Familienunternehmen zu arbeiten, denke mir, wie wäre das heute, weiß ich nicht, sechste, siebente Generation, man geht irgendwo hin, wo ein Name dran steht, der vielleicht schon hundert Jahre an dem Haus dran steht. TIEFER ATMER Ist vielleicht sehr romantisiert die Vorstellung in der heutigen Zeit, aber ich könnte mir das sehr gut vorstellen. 18 Atmo TORQUIETSCHEN 05 Musik: Puhdys, Wenn ein Mensch lebt 19 Atmo Dokfilm: Hallrolle 01: Kirchenglocken, „Was ist denn los, Paul? Schlaf nicht ein da oben….“ 25 O-Ton Dahlmeier Also, das ist einer von diesen Filmen hier, da können Sie mal Halle sehen, wie es mal ausgesehen hat: hier ist der Domplatz, Betten-Paris, das ist die Oleariusstraße. AUTORIN: Und welche Zeit ist das? Welches Jahr? ER: Das ist 88, dieser Film hier. 1’08 AUTORIN: Sieht sehr grau aus. ER: Ja, also wenn ich Besuch hatte, von meiner Familie, die in der Nähe von Bielefeld wohnen, sagten die immer: Halle sieht so grau aus, man möge Halle am liebsten wieder verlassen. FILM-ATMO 20 Atmo Film Straßenbahn fährt, Moped knattert, Häuser werden abgerissen … Autorin Peter Dahlmeier sitzt auf einer Bank auf dem Stadtgottesacker, vor ihm ein Laptop, auf dem er mir den Dokumentarfilm „Hallrolle 1“ zeigt – einen von mittlerweile drei Filmen, die die Entwicklung Halles seit Mitte der 80er Jahre dokumentieren. Gedreht von Bodo Erdmann, produziert von der Bürgerstiftung Halle. Zu sehen sind der Abriss historischer Altstadtteile, aber auch der Aufbruch nach der politischen Wende in der DDR. 20 Atmo Film nochmal hochkommen lassen, dann blenden Autorin Auch der Stadtgottesacker ist – durch Zufall – im Film verewigt. Am 13. Januar 1990 – also noch zu DDR-Zeiten – trafen sich Peter Dahlmeier und seine Mitstreiter zum Aufräumen. 26 O-Ton Dahlmeier (Film-Atmo drunter – leichtes Störgeräusch) Das ist die zweite Aktion, in der wir aus dem Abriss in Halle Dielenbretter bergen wollen, um sie hier im Stadtgottesacker für die Verschalung der Tonnengewölbe, der Schwibbögen, zu nutzen. Wir sind also hier zwölf Leute, wir hoffen, dass es noch etwas wärmer wird, es sind gerade so um die Null Grad, aber die Arbeit wird uns da schon einheizen. 21 Atmo Film unter Text weiter laufen lassen Autorin Peter Dahlmeier ist Vorsitzender von „Bauhütte Stadtgottesacker“, einem Verein, der sich seit 1990 für die Instandsetzung und Neugestaltung des Friedhofs engagiert. Der gebürtige Hallenser, der nur zum Studium in das 140 Kilometer entfernte Freiberg zog und dann wieder zurückkam, kennt den Stadtgottesacker seit den 60er Jahren. 27 O-Ton Dahlmeier Ich habe dieses Bauwerk kennengelernt, in einem erbarmungswürdigen Zustand, und war sehr traurig über diesen Zustand, weil hier nichts stattfand: keine Instandsetzungsarbeiten, nichts! PAUSE Und man hat mit diesem Bauwerk, diesem Denkmal gelitten, weil nichts vorranging, ganz im Gegenteil, weil es immer weiter verfiel und immer mehr verlorengegangen ist. Autorin Die Aufgabe schien so groß, dass sie einem den Atem nahm, erinnert sich der heute 73jährige Dahlmeier. Der Stadtgottesacker war eine Ruine, überall umgefallene Grabsteine, kaputte Bögen, eingestürzte Dächer, und der Regen gab oft den Rest. 28 O-Ton Dahlmeier Wir wurden belächelt, ob der großen Aufgabe. Wir mussten ja in die Öffentlichkeit gehen und wir haben gesagt, wir müssen den Stadtgottesacker retten, denn er schien ja schon fast verloren aufgrund seines schlechten Zustandes, und da wurden wir eigentlich belächelt, was wollt ihr machen, die Aufgabe ist für euch viel zu groß! Und da haben wir gesagt: einfach anfangen!! Autorin Das taten sie: mit zwölf Leuten, allen Widrigkeiten zum Trotz. Und doch wäre das Ganze nicht möglich gewesen ohne eine private Großspende. Von den insgesamt verbauten elf Millionen Euro stammen sechs von ihr: Marianne Witte. Ihr Vater bekam 1936 eine Professur als Ordinarius für Chemie an der halleschen Universität. Da war Marianne 13 Jahre alt. Bis 1945 lebte die Familie hier – für Marianne eine wichtige Zeit: ihre Jugend! Vielleicht war das der Grund für ihre großzügige Spende?! Fragen können wir sie nicht mehr, sie ist vor drei Jahren gestorben. Auch Peter Dahlmeier weiß das nicht so genau – er ist einfach nur dankbar! 29 O-Ton Dahlmeier Die entscheidende Spende, um das Bauwerk überhaupt so weit instand setzen zu können, kam von Frau Dr. Witte. Die Tochter des Nobelpreisträgers Ziegler, aus Mühlheim an der Ruhr, Frau Dr. Witte, hat sich regelmäßig während ihrer Lebzeiten hier sehen lassen, ein Enkelkind hat in Leipzig studiert, und dann ist sie nach Leipzig gefahren, hat aber Halle tangiert und war dann hier und hat den Bildhauern über die Schulter geschaut und war immer zufrieden, dass es hier weitergeht. Autorin Denn in der Tat werden auch die Bildhauer, die den Stadtgottesacker neu gestalten, vom Verein „Bauhütte“ finanziert. Dass sich der ganze Einsatz gelohnt hat, davon zeugen nicht nur die Auszeichnungen und Preise: 2011 wurde der Stadtgottesacker mit dem „Bestattungen.de-award“ ausgezeichnet. 2015 kam der hallesche Bürgerpreis "Der Esel, der auf Rosen geht" hinzu. Und der Verein ist auch für den Deutschen Engagementpreis 2015 nominiert. Ende gut, alles gut also? 30 O-Ton Dahlmeier Also wir wollen unbedingt, dass im Jahr 2016 die Arbeiten abgeschlossen sind, und dann ist der Friedhof wieder vollständig komplett und befindet sich in einem guten Zustand. AUTORIN: Und wie ist das Gefühl? Wenn Sie sich das vorstellen? ER: Ganz toll! 06 Musik Amy Winehouse, Our day will come 31 O-Ton Suche nach dem Grab AUTORIN: Hier ist die 76, ER: wir suchen die ja auch. Jetzt muss ich nochmal gucken. SCHRITTE. Na, hier ist er doch, da haben sie ein neues – das hab ich noch gar nicht gesehen (entfernt..) Dann sind wir hier schon richtig. Ja, ja. AUTORIN: Philipp Friedrich Theodor Meckel. ER: Ja, der ist noch in Berlin geboren und dann nach Halle gekommen. AUTORIN: 1755 und 1803 in Halle gestorben. Professor der Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe in Halle. ER: Ja. 22 Atmo Friedhof Autorin Im Schwibbogen Nummer 76 liegt er also begraben, der Sohn des Begründers der Pathologie und selbst ein bedeutender Anatom – Wilhelm Bartsch muss das wissen, denn er hat einen Roman über die Meckel-Dynastie geschrieben und war zur Recherche auch auf dem Stadtgottesacker. 32 O-Ton Bartsch Er ist wahrscheinlich einer der wenigen Leute auf der Welt, die zwei Stätten des Gedenkens haben mit Teilen seiner Leiblichkeit. (SCHMUNZELN) Hier liegen seine Innereien, weil die waren zwar alle atheistisch eingestellt, also die glaubten alle nicht an Gott, die Meckels, aber sie nahmen natürlich in ihrem Kirchensprengel am gesellschaftlichen Leben teil und deswegen ist er auch hier, auf nem christlichen Friedhof begraben, aber sein Skelett hat er dem Christentum entzogen, das kann man ja nachher sehen. Autorin In der Tat: nicht nur das Grab von Theodor Friedrich Meckel existiert bis heute, sondern auch sein Skelett, in der Anatomie von Halle, seit 1803! Eine bedeutende Phase für Halle, erzählt der Dichter und Schriftsteller Bartsch, der seit knapp 40 Jahren in der Stadt lebt. 33 O-Ton Das war die Zeit, als die Universität die kurze und wirklich wichtige Phase hatte und die vielleicht modernste Universität weltweit sogar war, mit Leuten wie Schleiermacher oder Reil, Wolf, die alle zum Gründungsgremium der Humboldtuniversität in Berlin gehörten, und somit Wilhelm von Humboldt nicht der alleinige Erfinder der modernen Universität ist – es war halt ne Weile französisch hier, und infolge dessen sind die besten Kräfte – außer Meckel – eben nach Berlin gezogen und haben dort eine neue Universität gegründet. 23 Atmo Friedhof, Schritte Autorin Wir machen uns auf den Weg zum Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Halle-Wittenberg, nicht weit vom Stadtgottesacker entfernt. Dorthin, wo nicht nur Meckels Skelett aufbewahrt wird. Das einzige, was darüberhinaus an die Familie erinnert, ist das Haus, in dem sie lebten – und das im Roman „Meckels Messerzüge“ von Wilhelm Bartsch so beschrieben wird: 24 Musik, Philip Glass, Windcatcher 3 Zitat Am meisten an seinem Haus liebte Meckel Atlas und Hercules, die beiden Steinriesen an seinem Eingang. Ihretwegen hieß unser Riesenhaus Riesenhaus. Beide Riesen lehnen an jeweils einer ionischen Kolossal-Halbsäule und sollen alle wahren Seefahrer des Geistes zur Einfahrt ins Meckel‘sche Reich einladen. 34 O-Ton Bartsch Dieses Riesenhaus vom Postmeister Madeweis, der auch Freimaurer war – die Freimaurer haben hier ne große Rolle gespielt – ist eines der berühmtesten Freimaurer-Häuser überhaupt gewesen, da ist jeder Winkel berechnet, nach Freimaurer-Codes. Und das war damals alles noch vorhanden, noch anteilig die verschiedenen Reste der Stadtmauern, die es damals noch gab – Halle hatte unglaubliche Stadtmauern, da gab es zum Beispiel einen Turm, der von den Meckels als - Präpariersaal kann man ja nicht sagen -, also als Präparier-Turm benutzt wurde, da hingen dann die Hautpräparate und flatterten über die Stadt und stanken vor sich hin. Es war ein prächtiges Haus! Das ist entkernt worden, Ende des 19. Jahrhunderts, ein Architekturverbrechen, sag ich mal – es ist nur noch die prächtige Fassade da. 24 Atmo Stadt blenden in 35 O-Ton Anatomie Begrüßung und Fahrstuhlfahren, Tür knallt zu (irgendwann blenden unter Text) SCHULTKA: Ich habe geahnt, Herr Bartsch ist mit Ihnen auf dem Stadtgottesacker und da hab ich mir gedacht, also wenn Herr Bartsch dort ist, dann kommen Sie zu spät. Nein … FAHRSTUHLTÜR WIRD AUFGEMACHT, REDEN UND FAHREN, RAUS. Autorin Wilhelm Bartsch und Rüdiger Schultka kennen sich, seitdem der Schriftsteller für seinen Roman auch hier recherchierte. Denn der 76jährige ist Professor für Anatomie im Ruhestand und Leiter der Meckel’schen Sammlungen. Wir fahren zusammen hoch ins Dachgeschoss des Instituts für Anatomie und Zellbiologie – und betreten eine der umfangreichsten und wertvollsten anatomischen Sammlungen in Europa. Professor Schultka, der seit Jahrzehnten über die Meckelschen Sammlungen forscht, geht geradewegs zu dem bekanntesten Präparat. 36 O-Ton Schultka Hier ist der berühmte Meckel-Schrank – Sie sehen das Skelett von Philipp Friedrich Theodor Meckel, einer der Begründer der Meckelschen Sammlungen. AUTORIN: Ist das hier ein Original? ER: Das ist natürlich ein Original – er hatte etwas verfügt, was auch heute sicher Verwunderung hervorruft: erstens dass er seziert wird, zweitens dass er hier entsprechend skelettiert wird und drittens dass sein Skelett in einem Schrank aufgestellt wird. Autorin Der Gipfel anatomischer Leidenschaft! Aber er wollte damit wohl auch ein Zeichen gegen Vorurteile und Aberglauben setzen – und für die Wissenschaft. 37 O-Ton Schultka Wichtig ist, dass hier anatomische Besonderheiten zu sehen sind, und zwar ein dreizehntes Rippenpaar! Es wird oft bei Führungen gefragt, ob er das gewusst hätte. Da sag ich immer: wenn er so korpulent wie ich gewesen ist, dann wird er es nicht gewusst haben. 25 Atmo Brummen aus der Anatomie + Baustelle draußen Autorin Die Meckels – immerhin drei Generationen: Meckel der Ältere, Meckel der Jüngere und der auf dem Stadtgottesacker begrabene Mittlere Meckel – haben innerhalb von 80 Jahren mindestens 12.000 Präparate zusammengetragen – und legten damit den Grundstock der halleschen anatomischen Sammlungen, erzählt Rüdiger Schultka voller Begeisterung. 38 O-Ton Schultka Ich zeige Ihnen mal ein Präparat, weil das wirklich ein phantastisches Präparat ist: ein ganz kleines Skelett eines 7 bis 8 Wochen alten Embryo. Dieses Skelett stammt von 1802! Sie sehen schon daran, wie wertvoll diese Sammlung ist, und jetzt schauen wir uns einmal Präparate an, die größtenteils aus der Zeit des Jüngeren Meckel stammen. Sie sehen also hier sehr viele Fehlbildungen. Diese Fehlbildungen hat der Jüngere Meckel für seine wissenschaftliche Arbeit herangezogen, zum Beispiel hier: zwei Köpfe, drei Arme und dann zwei untere Extremitäten – diese sind lebensfähig. 07 Musik Philipp Glass, Windcatcher Teil 3, Berliner Lautencompagney (kurz frei stehenlassen) Zitat Hauptattraktionen für Besucher aus aller Welt sind natürlich jene Zyklopen, Sirenen, Janusköpfe, Kopflose (…) Aber ein Monstrencabinet ist das hier nicht. Meckels Cabinet besteht vielmehr aus lauter sich gegenseitig verdeutlichenden Sichtfenstern in die Gesetze und Daseinsweisen des Lebens. Somit ist es auch kein Friedhof. Deshalb müsste über der Eingangstür dieser Sammlung stehen: mors porta vitae – Der Tod ist die Pforte zum Leben. Autorin So beschreibt Wilhelm Bartsch in seinem 2011 erschienenen Roman „Meckels Messerzüge“ die Meckelschen Sammlungen. 26 Atmo Aufschließen Hörsaal, reingehen. Schultka öffnet die Tür zum Hörsaal … Wenn Sie sich den Hörsaal anschauen, merken Sie: eine hervorragende Akustik, die amphitheatralische Anordnung der Sitzreihen so wie in den alten Theater Anatomica… anatomisches Theater … wo 130 Studenten Platz finden können Autorin In diesem Hörsaal hat Rüdiger Schultka, der seit 1966 in der Anatomie in Halle arbeitete, bis zu seinem Ruhestand 2004 unterrichtet. Und hier hat Wilhelm Bartsch auch seinen Roman über die Meckel-Dynastie vorgestellt. 39 O-Ton Bartsch, Schultka Bartsch Ja, einen besseren Ort gab es dafür natürlich nicht – zumal begleitet von Professor Schultka, das Ganze. Ich hab ihn natürlich nicht geschrieben, ohne Genehmigung sag ich mal der Anatomie hier, also, ich hab mich auch sachkundig gemacht so gut wie ich konnte – und insofern freue ich mich, dass er da auch bei den Fachkundigen angekommen ist. Schultka: Voll angekommen, ja! Na ja, es ist ganz wichtig, dass man sich solchen Dingen auch von verschiedenen Seiten nähert und durchdenkt, ja?! Ich wäre z.B. nicht in der Lage, so einen Roman zu schreiben, muss ich sagen! Weil ich naturwissenschaftlich-medizinisch ausgebildet bin – für mich zählt mehr dann die Sachlichkeit. Aber das Gespür zu haben, wer die Meckels waren, das hat Herr Bartsch fantastisch hingekriegt. 08 Musik Laura Nyro, And when I die 27 Atmo Friedhof Autorin Der Stadtgottesacker – das ist eine Oase inmitten der Hektik der Stadt. Alte Linden säumen die Wege, Bänke, die die Besucher zum Verweilen einladen. Durch die Instandsetzung und Neugestaltung dieses Friedhofs, den der Verein „Bauhütte Stadtgottesacker“ unermüdlich vorangetrieben hat, kommen sowohl Einwohner als auch Besucher der Stadt öfter hierher. Und: sie lassen sich hier bestatten. Denn seit Sommer 2000 können sich Hallenser auf dem Stadtgottesacker eine Grabstelle sichern – mit 1.300 Euro für 30 Jahre. 40 O-Ton Bade Die Nachfrage hier sich bestatten zu lassen auf dem Stadtgottesacker ist relativ groß, was diese Urnennischen betrifft in diesen Columbarien, in diesen Bögen. Autorin Erzählt Friedhofsleiter Hartmut Bade, der seit 25 Jahren in der Friedhofsverwaltung von Halle arbeitet. 41 O-Ton Bade Davon haben wir zur Zeit 16 Bögen in den letzten 15 Jahren ausbauen können, wahrscheinlich werden noch drei oder vier Bögen ausgebaut in den nächsten Jahren, und dann ist hier auf diesem Friedhof, was die Bestattung in diesen Schwibbögen, diesen Columbarien betrifft, Schluss. Da haben wir also keine Kapazitäten mehr, der Friedhof ist nicht unermesslich groß, es gibt 94 Bögen, und davon sind dann 20 mit diesen Urnennischen ausgebaut und die anderen werden sowieso nicht angetastet, weil da natürlich die alten Grabmale drin stehen von 17 noch was und die stehen alle unter Denkmalschutz. Autorin Auch im Innenfeld des Stadtgottesackers sind Grabstellen frei – immerhin 150 an der Zahl. Auch hier ist nur Urnenbestattung möglich – und dennoch wird das nicht so häufig nachgefragt: ein bis zwei Mal im Monat finden hier Begräbnisse statt. Das hat seinen Grund, weiß der gebürtige Hallenser Bade. 42 O-Ton Bade Das Problem an diesem Friedhof ist, der ist also denkmalgeschützt, und ich muss natürlich hier viele Sachen beachten, was ich auf anderen Friedhöfen nicht muss. Also auf nem anderen Friedhof kann ich nen Grabstein nehmen, der ist poliert, mit Goldschrift, mit aufgesetzten Metallbuchstaben, ich kann da ein Gitter drumherum bauen oder wie auch immer, das ist also auf anderen Friedhöfen durchaus möglich – was hier aber nicht geht, und dass ich die Bürger also in ihrer Entscheidungsgewalt etwas einschränke, da sagen viele: Nein, ich möchte doch nach meinen Vorstellungen die Grabstelle anlegen und das geht halt hier nicht. 27 Atmo Friedhof Aber vielleicht ist der Stadtgottesacker heutzutage auch weniger ein Friedhof als viel mehr eine Art Museum, in das die Menschen kommen und in dem sie sich die Geschichte der Stadt erlaufen?! 28 Atmo Hammer und Meißel Autorin Und in dem an der einen oder anderen Stelle an dieser Stadtgeschichte noch geformt und gestaltet wird. Von den Bildhauern Maya Graber und Marcus Golter zum Beispiel, die das mit Leidenschaft und Hingabe tun – der 50jährige Schwabe seit 20 Jahren, die 40jährige Schweizerin seit acht Jahren. 44 O-Ton Maya, Marcus und die Autorin AUTORIN: Gibt es eine Lieblingsstelle, einen Lieblingsbogen, eine Lieblingsgestalt, was ihr gemacht habt, an die wir jetzt? ER: Bei mir ist aber ein alter Bogen. SIE: Bei mir sind‘s auch alte. AUTORIN: Ach?! Alte Bögen? SIE: Ja, und da gibt es viele Lieblingsorte, weil man gerade über die Jahre Neues entdeckt. Niemand hat ja so viel Zeit wie wir, das zu sehen, weil wir leben ja hier in diesen Monaten, in denen wir arbeiten, und da entdeckt man automatisch immer wieder was Neues, und da gibt es viele Stellen, wo ich immer wieder gern hingucke. AUTORIN: Bei dir auch? ER: Na ja, klar. Diese alten Reliefs sind ja so das Faszinosum. AUTORIN: Gut! Da gehen wir jetzt mal hin. ER: Gehen wir zu den alten, da, Maya? SIE: Ja, ja, das wollte ich auch zeigen, das ist eins meiner Lieblinge: diese knutschenden – wie nennst du die Markus? Also ich ER: für mich sind das Hunde. SIE: knutschende Hunde. ER: so was wie Hunde. SIE: die machen ja so‘n richtigen Zungenkuss, mit den Ornamenten, die sie aus dem Mund entwickeln, die sich ineinander verschlingen und das ist keck und einfach immer wieder schön zum Schauen. 29 Atmo Reden, Schritte von uns Dreien Blenden in Kennmelodie Sprecher Der lebendige Charme von Ewigkeit Der Stadtgottesacker von Halle an der Saale Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Margarete Wohlan Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Renate Schönfelder Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2015. Manuskript und das Audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 7