DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Karin Beindorff Dossier "Verbrannt in Polizeizelle Nummer fünf". Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in Dessau Feature von Margot Overath Co-Produktion MDR / DLF / NDR Sprecher: Bärbel Röhl Matthias Ponnier Redaktion: Karin Beindorff Regie: Nikolai von Koslowski Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 12. November 2010, 19.15 - 20.00 Uhr Musik,darauf Erzählerin: 28. März 2005. Zentralfriedhof Dessau, Feierhalle. Durch die Glaskunstwand im Rücken des großen Raums fällt Sonnenlicht. Die meisten Trauernden haben auf Stühlen Platz genommen, andere stehen vor dem Sarg aus hellem Holz. Sie beten mit offenen Händen. Etwa hundertfünfzig Menschen aus Dessau, Halle und Berlin, schwarze und weiße, wollen Abschied nehmen von Oury Jalloh. Der Pfarrer spricht. Über das Zusammenleben in Dessau mit seinen 78.000 Einwohnern. Von den Menschen verschiedener Ethnien und Kulturen, von Integration statt Isolation ... 01. Mouctar Bah: Der hat nur über diese Stadt geredet. Wie die Stadt gut sein könnte. Wie diese Stadt so offen ist. Da sind die Leute aufgestanden und haben den angemeckert, haben dem den Mikro weggenommen. Erzählerin: Mouctar Bah, ein Freund Oury Jallohs. - Dann steht ein Mann auf. 02. Thomas Veil: Ich war ja im Innenministerium. Also in dem Ministerium, das auch für die Polizei zuständig ist. Aber ich war für diesen Bereich nicht verantwortlich. Erzählerin: Thomas Veil, von 1991 bis 2007 Abteilungsleiter im Innenministerium von Sachsen- Anhalt. 03. Thomas Veil: Bin nach vorne gegangen und habe ganz kurz zwei Sätze gesagt. Ich bin hier als Vertreter der Landesregierung. Ich möchte Ihnen sagen, wir sind hier und wir sind bei Ihnen und wir bedauern das sehr und wir möchten Ihnen Beileid ausdrücken. Ansage: Verbrannt in Polizeizelle Nummer fünf. Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in Dessau Feature von Margot Overath 04. Thomas Veil: Ich wollte eigentlich jetzt rausgehen und hörte dann aber, wie also Holz zersplitterte. Und barst. Das heißt also, die Massen dort, die Menschen dort haben den Sarg zu öffnen versucht. Haben ihn wohl auch geöffnet. In dem Zusammenhang war dann Schreien zu hören. 05. Mouctar Bah: Jeder wollte das sehen. Wir haben gedacht, wenn er wirklich innerhalb von diesen Minuten ums Leben gekommen ist, dann konnte man wenigstens sein Gesicht sehen. Aber er war... richtig ganz, ganz, ganz schwarz. Und richtig verkohlt. Erzählerin: Die Freunde am Sarg erschrecken. In der Zeitung stand, Oury Jalloh sei wenige Minuten nach Ausbruch des Brandes an einem Hitzeschock gestorben. Musik Erzählerin: Oury Jalloh, ein Meter 71 groß, schlank. Geboren 1968 in Kabala, Sierra Leone. Dem Land der Blutdiamanten. Wo man verstümmelt oder getötet wurde für Nichts. In der letzten grausamen Phase des Bürgerkriegs entschloss er sich zur Flucht nach Conacry, Guinea. Die Eltern lebten schon dort. Sie schickten den Sohn Oury weiter nach Europa. Dafür legten sie alles Geld zusammen. Als Oury aus Deutschland anrief, freuten sie sich. Er hat es geschafft, es wird ihm gut gehen, er wird etwas Geld sparen und wieder zurückkommen, dachten sie. Oury Jalloh stellte in Deutschland ein Gesuch, als Asylbewerber anerkannt zu werden und bekam ein Bett im Asylbewerberheim Roßlau, Sachsen-Anhalt. Sechs Jahre später ist Oury Jalloh tot. Es war der 7. Januar 2005. Was war geschehen? Jalloh kam betrunken aus der Disko, Frauen der Stadtreinigung fühlten sich von ihm gestört, um acht Uhr nahmen Polizisten ihn mit, sperrten ihn ein, fesselten ihn an Händen und Füßen. Vier Stunden später schlug der Brandmelder an. Feueralarm. Als er gerettet werden sollte, war es zu spät. Er verbrannte in Zelle fünf des Polizeigewahrsams Dessau, bei lebendigem Leibe. Er habe sich selbst angezündet, sagte die Polizei. "Das kann gar nicht sein, das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn", erklärt mir ein Dessauer Polizist. Seinen wirklichen Namen will er nicht nennen. Ich nenne ihn Lutz, Lutz Becker. MDR-Mitschnitt Tumult (liegt bereit, bitte zusammenschneiden) Tumult im Gerichtssaal und vor dem Gerichtsgebäude nach Verkündung des Freispruchs Erzählerin: Zwei Polizisten standen wegen Oury Jallohs Tod in Dessau vor Gericht. Der Prozess dauerte zwanzig Monate. Am achten Dezember 2008 wurden sie vom Vorsitzenden Richter Manfred Steinhoff freigesprochen. Der Dienstgruppenleiter Andreas S. vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge. Er war für Oury Jallohs Sicherheit in der Gewahrsamszelle zuständig. Der Streifenpolizist Hans-Ullrich M. vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Er hatte Oury Jallohs Kleidung durchsucht und soll dabei er ein Feuerzeug übersehen haben. 09. Kay Wendel: Als er den Freispruch verkündet hat, gab es einen Tumult. Die Leute sind aufgesprungen, haben rum geschrieen, it is the murderhouse. Hat einer geschrieen. Die Polizisten kamen rein und haben die raus gezerrt. Also es war eine unglaubliche tumulthafte Situation. Erzählerin: Der Politikwissenschaftler Kay Wendel vom Flüchtlingsrat Brandenburg. Teilnehmer einer internationalen Prozessbeobachtergruppe. 10. Kay Wendel: Steinhoff ist sehr cool geblieben, sehr souverän, ist, wollte dann nach vorne, draußen, wo ne Demonstration war. Wollte da sogar eine Ansprache halten. Ging dann nicht. Hat aber sozusagen die Leute überredet, jetzt erst mal zu warten, was er zu sagen hat. ... Erzählerin: Bereitschaftspolizisten bahnten ihm einen Weg vor die Tür des Gerichtsgebäudes. Auf dem Podest vor der Glastür blieb er stehen, in der Robe, umringt von einer Polizeikette. Am Fuß der Treppe erwarteten dutzende Zuhörer seine Begründung für den Freispruch. Sprecher: Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht. All diese Beamten, die uns hier belogen haben sind einzelne Beamte, die als Polizisten in diesem Land nichts zu suchen haben. 10a. Kay Wendel: ... Und viele, viele, viele Zuschauer waren von seiner mündlichen Urteilsbegründung sehr beeindruckt. Selbst der Afrikaner, der an einem der ersten Prozesstage gerufen hat, das ist Rassismus, hat dann geklatscht. War beeindruckt von diesem Richter. Erzählerin: Am nächsten Tag war seine mündliche Urteilsbegründung in allen Zeitungen zu lesen. Doch drei Monate später, am zweiten März 2009, legte Richter Manfred Steinhoff das schriftliche Urteil vor. Die Zweifel aus der mündlichen Urteilsbegründung kommen dort nicht mehr vor. Sprecher: Der Angeklagte Andreas S. war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Für die vorgeworfene Körperverletzung mit Todesfolge im Amt fehlte bereits der Körperverletzungsvorsatz. Eine fahrlässige Tötung gemäß Paragraf 222 Strafgesetzbuch ist nicht gegeben. Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Tod Oury Jallohs objektiv vermeidbar gewesen wäre. Erzählerin: Fünf Jahre nach Oury Jallohs Tod, am siebten Januar 2010, hob der Bundesgerichtshof den Freispruch auf. Die Begründung sei lückenhaft und die Würdigung der Beweismittel nicht nachvollziehbar, erklärte die Vorsitzende Richterin Ingeborg Tepperwien den anwesenden Journalisten und Freunden von Oury Jalloh in Karlsruhe. Erzählerin: Vor dem Landgericht Magdeburg muss der Tod von Oury Jalloh komplett neu verhandelt werden. Neue Beweisaufnahme, neue Zeugenbefragung, neue Sachverständige. Viele in Dessau rechnen Mouctar Bah an, dass es überhaupt zum Prozess kam. Ich las in der Zeitung von dem Fall. Die beiden unterschiedlichen Urteilsversionen machten mich neugierig. Ich fuhr nach Dessau, ich wollte mit dem Richter und dem Staatsanwalt reden. Mit Prozessbeobachtern und Freunden des Opfers. Im Landgericht fange ich mit meinen Recherchen an. Und bekomme die erste Absage. Schriftlich teilt mir Pressesprecher Frank Straube mit, er werde keine wertende Stellungnahme zum Verfahren abgeben. Er könne mir den Sitzungssaal zeigen, das werde sich einrichten lassen. Und Zahlen zur Chronologie des Verfahrens nennen. Dauer der Hauptverhandlung, Anzahl der Zeugen und Sachverständigen, und so weiter. Für die Medien sei er allein der Ansprechpartner. Ich ahne schon. Diese Recherche wird schwierig. 13. Polizeirevier/Leitstelle, mit Atmo beginnt mit Raumatmo und OT Polizistin am Pult, die einen Einsatz koordiniert... Erzählerin: Polizeirevier Wolfgangstraße in Dessau. Ort des Geschehens. Ich darf das Revier und die Gewahrsamsräume besichtigen. April 2010, mehr als fünf Jahre nach Oury Jallohs Tod. ... Polizist: Jetzt sind wir in der Leitstelle des Polizeireviers Dessau-Roßlau. Von hier aus werden alle Einsätze koordiniert, hier laufen die Notrufe der Stadt Dessau- Roßlau ein und die beiden Einsatzbeamten, der Leiter, leitende Einsatzbeamte vom Dienst (aus Lautsprecher ist Stimme zu hören) koordiniert das mit seinem Einsatzbeamten, eben die gesamten Einsätze.... Erzählerin: Die beiden Sprecher des Polizeipräsidenten, Doreen Wendland und Ralf Moritz, einige Polizisten und der jetzige Dienstgruppenleiter begleiten mich. ...Polizistin antwortet auf die Stimme: Es nicht bekannt. Sie soll einen geistig verwirrten Zustand machen. Deswegen soll sie eingewiesen werden. Autorin (leise): Dieser Raum, spielt der ne Bedeutung an dem fraglichen Vormittag, an dem Oury Jalloh zu Tode kam? ... Erzählerin: Die Gewahrsamszellen befinden sich im Keller, die Leitstelle ist in der ersten Etage des Gebäudes. Hier begann die Katastrophe. ... Dieser Raum hat da eine Bedeutung mit, jawohl. Weil auch hier die gesamte Anlage zur Überwachung der Gewahrsamsräume installiert ist. Autorin: Sie waren aber nicht dabei? Polizist: Nein, nein. Keiner von den Anwesenden ist an diesem Tag involviert gewesen... 14. weiter z.T. als Atmo: Polizeirevier/Leitstelle Autorin: Können Sie mir trotzdem sagen, wie sich das abgespielt hat? Polizist: Vom Grundsachverhalt war es ja so, wir hatten draußen ein Ereignis, bei dem Oury Jalloh festgestellt worden ist, es gab, ein Notruf war's wohl, ja? Dass dort Frauen belästigt worden sind und daraufhin kam Polizei zum Einsatz und hat den Sachverhalt vor Ort geklärt... Erzählerin darauf: Der siebte Januar 2005 war ein Freitag. Ein milder Morgen, um sieben Uhr schon Temperaturen im zweistelligen Bereich. Etwas windig. Oury Jalloh hatte die Nacht in einer Diskothek verbracht. Allein. Er hatte viel getrunken, drei Promille Alkohol im Blut, Vollrausch, wie sich später herausstellen wird. Zurück nach Roßlau in die Unterkunft? Dafür war er zu betrunken. Er wollte jemanden anrufen. Warum wurde er festgenommen an diesem Freitagmorgen im Januar 2005? Der Einsatzbefehl von acht Uhr an die Funkstreife lautete nur: Fahren Sie in die Turmstraße, vier Frauen der Stadtreinigung fühlen sich von einem Afrikaner belästigt. 15. Mouctar Bah: Am Donnerstag, der kam zu mir und der wollte zur Diskothek gehen. Ja ich hab ihm gesagt, ich kann jetzt nicht mitgehen, weil ich noch länger arbeiten muss. Er ist dann gegangen. Ich hab gesagt, ich komm nach. Aber ich hab eben lange gearbeitet... Erzählerin: Mouctar Bah, in Guinea geboren. Er hatte damals im Zentrum von Dessau einen Laden. Für Oury Jalloh war er ein Freund und "großer Bruder". ... Wenn ich mit ihm zusammen an dem Tag gegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich mit ihm den ganzen Abend geblieben, dann hätten wir auch zusammen nach Hause gegangen. Ich hätte ihn nicht alleine da gelassen. Es ist komisch. Ich denke, ich schulde es immer noch. Erzählerin: Als die Polizeistreife bei den Frauen der Stadtreinigung ankam, soll die vermeintliche Konfrontation schon beendet gewesen sein. Oury Jalloh stand einige Meter abseits und hielt sich an der Hauswand fest, erzählten die Frauen vor Gericht. Die Polizisten gingen auf ihn zu. "Ausweis". Jalloh maulte. Dann: "Passport, Amigo". Er wollte nicht. Sie nahmen ihn in den Schwitzkasten. Er trat um sich. Sie bugsierten ihn in den PKW. Boubacar glaubt, dass sein Freund Oury Tina anrufen wollte. 19. Polizeirevier/Leitstelle Und in dessen Folge ist dann Oury Jalloh hier in die Dienststelle verbracht worden und aufgrund seiner Gesamtumstände, Alkoholisierungsgrad, des Ausgangssachverhalts, hat man sich entschlossen, Oury Jalloh in Gewahrsam zu nehmen. Und so ist der hier in das Polizeirevier gekommen (endet mit Funkgespräch zwischen Leitstelle und Polizeistreife). Erzählerin: Um acht Uhr dreißig kam die Funkstreife in der Wolfgangstraße an. Oury Jalloh wurde gleich in den Keller gebracht. Oben in der Leitstelle telefonierte Andreas S. mit dem Bereitschaftsarzt Dr. B.: Sprecher: Polizeimitschnitt: Gespräch Andreas S. und Bereitschaftsarzt Dr. B. Polizei: "Wir bräuchten dich mal." Arzt: "Was haste denn?" Polizei: "Na, eine Blutabnahme" Arzt: "Na, dann mach ich das." Polizei: "Ja, pikste mal ´nen Schwarzafrikaner." Arzt: "Ach du Scheiße." Polizei: Lachen. Arzt: "Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen." Polizei: "Na, bring doch ´ne Spezialkanüle mit." Arzt: "Mach ich." 20. Polizeirevier/von Leitstelle zu Gewahrsam, ganze Strecke Pressesprecher: Dann würde ich vorschlagen, dann gehen wir von hier aus in den Zellenbereich runter, ja? Also ist der kürzeste Weg jetzt. Atmo: Tür geht auf, wir verlassen den DGL-Raum und das Vorzimmer. Tür, Schritte, Hausfluratmo, wir gehen die 1 Treppe runter, sind Parterre, 2. Treppe runter, sind im Keller. Tür fällt zu. Pressesprecher: Das ist also der gesamte Gewahrsamstrakt des Polizeireviers Dessau-Roßlau. Erzählerin darauf: Ich will mir den Arztraum und die Zelle fünf zwei Etagen tiefer ansehen. Unser kleiner Tross verlässt die Leitstelle, Ralf Moritz, Sprecher des Polizeipräsidenten, geht voran. Zwei Steintreppen bis zum Foyer, zwei Steintreppen in den Keller. Wir öffnen die Tür zum Gewahrsamsbereich. Diesen Weg ging Andreas S., als er Oury Jalloh retten sollte. Wir waren eine Minute unterwegs. Ohne Eile. Der Staatsanwalt hat ausgerechnet, dass am 7. Januar 2005 zwischen Feueralarm und Öffnen der Zellentür elf Minuten vergingen. Erzählerin: Im Arztzimmer nahm Dr. B. die Blutprobe. Das Ergebnis: Blutalkoholwert drei Promille. Zuvor hatten zwei Polizisten Oury Jalloh durchsucht. Udo S. tastete seinen Oberkörper ab, Hans-Ullrich M. aus der Funkstreife seinen Unterkörper. Er fand ein paar Münzen, ein Handy und Papiertaschentücher. Ein Feuerzeug war nicht dabei. Um neun Uhr dreißig trugen drei Männer Oury Jalloh in die Zelle fünf und legten ihn auf den Betonsockel mit der Matratze. Es handelt sich um eine Sicherheitsmatratze mit Kunstlederbezug, schwer entflammbar. Die ganze Zelle ist gefliest, auch der Betonsockel ist mit Fliesen beklebt. Vier fest montierte Metallgriffe, seitlich und am Fußende. Daran fesselten sie seine Hände und Füße mit Handschellen. Angeblich zum Schutz vor Selbstverletzung. Er soll seinen Kopf gegen die Wand geschlagen haben. Die beiden Streifenpolizisten, die ihn hergebracht hatten, fuhren wieder raus. Mehr oder weniger regelmäßig ging jemand runter in den Gewahrsamstrakt. Es schien keine Regeln zu geben, wer gerade Zeit hatte, sah nach ihm und trug seinen Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch ein. Über eine Gegensprechanlage zwischen Zelle und Leitstelle wurde Jalloh akustisch, der Flur vor den Zellen optisch überwacht. Zwei Kameras sendeten Bilder nach oben. Musik 22. Außenatmo mit Vogelstimmen Erzählerin: Wenn alles in Ordnung war, ein erfahrener Beamter für seine Sicherheit sorgte, die Überwachung funktionierte, wieso ist er dann verbrannt? Und warum die Fesselung? Was ist von Schutzmaßnahmen zu halten, die zum Tode führen? Lauter Fragen, auf die ich ein Antworten suche. In einem der großen Parks treffe ich Lutz Becker, meinen anonymen Informanten aus der Dessauer Polizei. Die gleichen Fragen habe er selbst versucht, im Kollegenkreis zu diskutieren. Fesselung sei unüblich, sagt er. Zumal bei einem Betrunkenen, er hätte sich erbrechen und daran ersticken können. Die Kollegen hätten ihn entweder laufen lassen oder ins Krankenhaus bringen sollen. Becker wörtlich: "Das Ganze ergibt keinen Sinn. Vielleicht waren Emotionen im Spiel. Wer weiß. Auf jeden Fall lief es nicht professionell ab. Und dann die Geschichte mit dem Feuerzeug. Als der Bürger durchsucht wurde, fand man keins. Wann hat man es gefunden? Drei Tage später. Ist das nicht merkwürdig?" Fragt er. 23. Polizeirevier/Leitstelle, evtl.als Atmo Autorin: Und was ist das hier für'n Buch? Polizist: Das ist das Tätigkeitsbuch. Hier werden quasi alle Notrufe erst mal kurz mitgeschrieben, bevor sie dann in unser Protokollsystem übernommen werden (endet mit Atmo). Erzählerin: Bis zwölf Uhr soll alles mehr oder weniger normal gelaufen sein, dann schlug der Brandmelder an. Feuer im Gewahrsam? Soviel steht fest: Der zuständige Dienstgruppenleiter Andreas S. drückte das Signal mehrmals weg. Beate H., seine Kollegin am Pult in der Dienststelle, hörte über die Gegensprechanlage Oury Jalloh nach Hilfe rufen. Einige Minuten vergingen, dann schlug auch der Alarmmelder für die Zellenbelüftung an. Aus der Gegensprechanlage war ein lautes plätscherndes Geräusch zu hören - das Geräusch von lodernden Flammen. Trotz Feueralarm glaubte Andreas S. jedoch, einen Wasserrohrbruch zu hören. Beate H. forderte ihn zum Kontrollgang auf: "Nun geh endlich, beweg dich mal". 24. Polizeirevier/Leitstelle Autorin (leise): Ihr Kollege hat ja gesagt, er hätte das nicht als Feueralarm wahrgenommen. Kann man das eigentlich noch mal hören? Wie das damals war? Kann ich mir das anhören irgendwo? Polizist: Ne. Das geht gar nicht. Das war auch ne installierte Anlage und. Autorin (leise): Ach hm, Sie hätten es auch überhört... .... Polizist: Kann ich nicht sagen. Also, überhören. Überhören konnte man es meiner Meinung nach nicht. Also jetzt richtig nen Feueralarm. Autorin (leise): Ja, Sie sind jetzt alle sehr vorsichtig. Das verstehe ich auch. ... Polizist: Ne, also ich sag bloß, die damalige Anlage war leiser, aber man hat das schon wahrnehmen können... Erzählerin: Man hat das schon wahrnehmen können! Laut Anklageschrift ertönte um zwölf der erste Alarm. Um neun Minuten nach zwölf gingen der Dienstgruppenleiter Andreas S. mit dem Kollegen Gerhard M., weil der zufällig gerade frei war, runter. Andreas S. will unterwegs vom Foyer aus noch telefoniert haben. Um elf Minuten nach zwölf Uhr öffnete Gerhard M. die Tür von Zelle fünf. Da lag Jalloh brennend auf der Matratze. M. konnte ihn nicht raus ziehen, weil er die Fesselschlüssel nicht dabei hatte. Andreas S. soll zurück gelaufen sein, die Schlüssel zu holen. Als er kam, war es zu spät. Gerhard M. versuchte, die Flammen mit einer Wolldecke zu ersticken, aber da war die Zelle schon so verraucht, dass die Rettungsversuche eingestellt werden mussten. ...Pressesprecher: Ist ja auch so wieder, das sind ja auch alles Bestandteile des Prozesses, der noch läuft, ja? Die Untersuchungen werden noch mal aufgerollt und deswegen möchten wir auch dazu keine Aussagen treffen. Sie können sich aber eins vorstellen, dass es hier in dieser Leitstelle nicht immer so ruhig ist wie es momentan jetzt ist. Erzählerin: Was hat das zu bedeuten? Verbrannte Oury Jalloh bei lebendigem Leib, weil der verantwortliche Dienstgruppenleiter andere Sachen zu tun hatte? Ich frage meinen Informanten Lutz Becker. "Eins nach dem anderen", sagt er. "Also, war der Dienstgruppenleiter im Buch als Verantwortlicher für den Gewahrsam eingetragen?" Die Antwort gibt er selbst: Das könne nicht sein, und wenn doch, müsse es irgendwo dokumentiert sein. Es müsse also eine Dienstanweisung dazu existieren. Der Dienstgruppenleiter ist der Vorgesetzte, er soll die Dienstschicht "führen", er trägt die Gesamtverantwortung. Kann er für den Gewahrsam nebenbei zuständig sein? Nein, sagt Becker, unmöglich. Ich zitiere aus dem Interview mit ihm, das ich vollständig abgetippt habe: "Wenn der Bürger rein gebracht wird von der Streife, wird ein Kollege extra abgestellt. Gewissermaßen als Wachdienst. Er ist dann der Gewahrsamsbeamte. Von dem Moment an ist der für ihn zuständig und dafür unterschreibt er auch. Wenn kein Beamter frei ist, muss einer angefordert werden. Versuchen Sie rauszukriegen, wer im Gewahrsamsbuch unterschrieben hat." Warum beauftragte der Dienstgruppenleiter Andreas S. Oury Jallohs keinen Gewahrsambeamten? Oder gab es einen und wir wissen es bloß nicht? Erzählerin: Ich lese im Verhandlungsprotokoll, dass Andreas S. nicht wusste, wo die Feuerlöscher hängen. Was sagen Sie dazu, frage ich Lutz Becker. Er hält es für möglich. Ich bin irritiert. Erzählerin: Von zwanzig nach zwölf bis fünf nach halb eins waren die Feuerwehrmänner mit Löscharbeiten beschäftigt. Um 13 Uhr 45 wurde die Tatortgruppe der Polizeidirektion Stendal nach Dessau gerufen. Die Beamten trafen um 15 Uhr 30 im Revier ein, ließen sich informieren und betraten mit einer Videokamera den Gewahrsamsbereich. Jallohs Leiche lag noch dort. Der Mann mit der Videokamera sagte während der Aufnahme in das Mikrofon, der Gefangene in der Zelle habe sich selbst angezündet. Das war mehr, als er wissen konnte. Dann wurde die Leiche mit einer Kombizange von den Fesseln gelöst. Von den Fingern und Zehen waren schon die Kuppen abgebrannt. Später wird man sie im Brandschutt finden, der zusammen gefegt und zur Vorbereitung der Untersuchung in Stendal auf drei Tüten verteilt wurde. Die Kamera war dabei, nahm alles auf. Erzählerin: Polizeipräsident Karl-Heinz Willberg steht für ein Interview nicht zur Verfügung. Weder er noch ein anderer Vertreter seiner Behörde, schreibt er mir. Nicht während des laufenden Prozesses. Danach wird er entscheiden, welche "Folgemaßnahmen aus einem möglichen Erkenntniszuwachs zu veranlassen sind". Wir gehen noch mal runter. Ich will wissen, wie sich die Gegensprechanlage anhört. Wie gut die Tonqualität ist. Vorher zeigen mir die Beamten die Leuchtanzeige für die Zellenbelegung. ... Polizist: (((PIEP)))), hörst du mich? P: Ja ich weiß, ich hab die Zellenbelegung gedrückt, guck noch mal bitte? (...) Ja, und die Zellenbelegung. (aus Lautsprecher: Guck mal von außen, Zelle belegt...) Ja, der leuchtet, außen. Ob er oben leuchtet, will ich wissen (Nein der leuchtet nicht, ich hab nur Ruf Zelle 5 Alles klar, gut. Jut, danke. 27. Polizeirevier/Gewahrsam, mit Atmo-Strecken Autorin: Ist die jetzt repariert, die Zelle? Das ist alles repariert ja. Wieder instand gesetzt. Autorin: Die muss ja ziemlich verqualmt gewesen sein. Polizist: Das war alles schwarz, nehm ich mal an, ja. Ich hab es selbst nicht gesehen. Tut mir leid. Ich bin jetzt anderthalb Monate hier. Autorin: Darf ich da mal reingehen? Polizist: Bitte. (Schritte)... Erzählerin: Noch am Nachmittag des siebten Januar begannen die Beamten der Polizeidirektion Stendal mit ihren Verhören. Zur wichtigsten Zeugin wurde Beate H., der aufgefallen war, dass der Dienstgruppenleiter mehrmals den Signalton des Feueralarms weggedrückt hatte. Beate H. berichtete auch von einem Geräusch etwa eine halbe Stunde vor dem Alarm, also gegen halb zwölf. Wie von einem klappernden Schlüsselbund. Sie hörte Kollegen mit Oury Jalloh reden, konnte die Stimmen aber nicht zuordnen. Danach sei auch keiner rauf gekommen, um den Kontrollgang ins Gewahrsamsbuch einzutragen. Eine Viertelstunde später hätte sie unten nachgesehen, aber da war niemand. Beate H. teilte den Ermittlern eine weitere merkwürdige Beobachtung mit. Sie hatte schon um elf und dann auch um viertel vor zwölf auf dem Fußboden von Zelle fünf eine Lache aus klarer Flüssigkeit gesehen. Zwei andere Kollegen erinnern sich in dieser Vernehmungsphase auch daran. Vielleicht Urin? Oury Jalloh war gefesselt, er konnte nicht zur Toilette gehen. Nein, sagen alle drei unabhängig voneinander, das war kein Urin. Auf die Idee, etwas davon aufzunehmen und kontrollieren zu lassen, waren sie aber nicht gekommen. 28. Polizeirevier/Gewahrsam Autorin: Das kann man sich gar nicht vorstellen, dass es hier gebrannt hat, wirklich, ne? ... Erzählerin: Drinnen in der vollständig gekachelten Zelle lasse ich mir die Metallbügel zeigen, an denen er fixiert war. Polizist: Also ich gehe mal davon aus von dieser Beschaffenheit der Halterung, dass diese beiden, haben wir hier noch ein paar dran, jawohl, dass diese beiden für die Arme vorgesehen sind und diese in Ausnahmefällen auch für die Beine. Erzählerin: In Ausnahmefällen. Was machte Oury Jalloh zum Ausnahmefall, warum wurden seine Füße angekettet. Darüber diskutieren noch heute Polizisten im Internet. Die Staatsanwaltschaft hielt es damals für überflüssig, den Leichnam röntgen zu lassen. Die "intensiv geführten Ermittlungen" hätten "eindeutig und zweifelsfrei" "nicht den geringsten Anlass für Misshandlungen und knöcherne Verletzungen des Oury Jalloh ergeben", lese ich in der Presseerklärung der Staatsanwaltschaft vom 24. März 2005. Aber die Familie traute den Ergebnissen nicht und schickte die Leiche des Sohnes auf eigene Kosten im Zinksarg zur Uniklinik Frankfurt am Main. Oury Jallohs Freunde haben dafür gesammelt. Sie wurde in die Röhre des Computertomografen geschoben. Professor Hansjürgen Bratzke fand "knöcherne Verletzungen" am Kopf, darunter einen Nasenbeinbruch. Brach er sich die Nase, als er seinen Kopf gegen die Wand schlug? frage ich Lutz Becker. Kopf gegen die Wand spricht gegen einen Nasenbeinbruch. So hole man sich eher ein Hämatom an der Stirn oder eine Augenverletzung, sagt er. Vielleicht hat einen Schlag auf die Nase bekommen, schlussfolgert Becker. Musik Erzählerin : Am 21. Juli 2009 gab es eine Hausdurchsuchung im ehemaligen Laden von Mouctar Bah. Vier Tage nachdem in der Zeitung stand, dass er mit der Carl-von-Ossietzky- Medaille ausgezeichnet werden soll. Er soll mit Diebesgut handeln. Jemand hatte ihn angezeigt. Im Januar. Der Vorwurf lautet "Hehlerei". Oberstaatsanwalt Christian Preissner: 30. OSTA Christian Preissner: Die Durchsuchung, die dann stattgefunden hat, hat jedoch nicht zum Auffinden von Beweismitteln geführt, sprich nicht zum Auffinden der dort vermuteten Bekleidungsstücke, die aus dem Modehaus stammen sollten. Und daraufhin sind dann auch die Ermittlungen gegen Herrn Bah eingestellt worden Erzählerin: Ich habe noch zwei Fragen: Das Modehaus hatte erklärt, dass gar keine Hosen fehlten. Warum wurden sie dennoch gesucht? Und warum erst nach sechs Monaten? 31. OSTA Christian Preissner, mit Atmo Preissner: Raus, Sie sind fertig, mehr gibt... (Türschloss, Schritte) Autorin: Ich hab zu diesem Thema noch ne Frage. Preissner: Nein, ich habe ihnen alles gesagt, was ich zu sagen haben. Bitte stellen sie es ab, sonst beschlagnahme ich ihr Gerät. Autorin: Sie wollen mein Gerät beschlagnahmen? Ja? ... Erzählerin auf die letzte Frage: Gerne interviewen lässt er sich offenbar nicht. ... Preissner: Wenn wir jetzt das Interview nicht beenden. Das Interview ist beendet. (Er geht zur Tür und ruft einen Angestellten) Herr Blaschke, ich habe der Dame gesagt, das Interview sei beendet, ich möchte jetzt, dass Sie das Haus verlassen. Erzählerin: Das habe ich auf der Stelle getan. Kurz darauf sein Anruf, er entschuldigt sich. Liegen in Dessau die Nerven blank? Musikton Erzählerin: Oury Jalloh muss furchtbare Schmerzen erlitten haben. Er muss gerufen und geschrieen und mit den Handschellen gescheppert haben. Dabei hat er Ruß verschluckt. Die Gerichtsmediziner fanden Rußpartikel in Lunge und Magen, außerdem viel Adrenalin. Ein Beweis für Panik, für höchste Erregung in Todesangst. 32. Polizeirevier/Gewahrsam Autorin: Also wenn er jetzt hier nach Hilfe gerufen hat, ist es hierdurch nicht zu hören, oder? Polizist: Doch. Es ist ja auch so, wenn. Angenommen jetzt wirklich, hier wird ein Feueralarm ausgelöst, kann man sofort von oben diese Gegensprechanlage anmachen und kann hier rein hören in die Zelle, ja? Wenn alles technisch in einwandfreiem Zustand ist und das kontrollieren wir auch regelmäßig, kann man von oben dann sofort wenn ein Alarm ausgelöst wird auch hier rein sprechen, auch fragen, gibt's was... Erzählerin: Wie hat sich das angehört in der Leitstelle? ... (spricht in die Sprechstelle) Herr (((PIEP))), sind wir zu verstehen? Antwort durch Gegensprecher: Klar und deutlich... Erzählerin: Klar und deutlich. Erzählerin: Alle technischen Einrichtungen waren in Ordnung am siebten Januar 2005. So steht es im Untersuchungsbericht der Polizei Stendal vom 18. Januar 2005. Wie ist es möglich, dass Oury Jallohs Hilferufe nicht gehört wurden? ... ist hier unten für jeden, der hier rein kommt, ersichtlich, also Zelle belegt. Ja, ist markiert. Und oben am Pult leuchtet jetzt auch ne Lampe, das können wir ruhig anlassen, dass diese Zelle belegt ist. Dann sieht der gleich an seinem Pult, aha, Zelle fünf ist belegt. Ne? Das kann man an und zu schalten. Und genau so kann ich von draußen hier ein Gespräch aufbauen zur Zelle rein. Autorin: Von draußen heißt von oben? Polizist: Von außerhalb der Zelle auch. Ja?... Autorin: Das heißt, hier hat er gebrannt, der Brandmelder meldet sich, über den Brandmelder geht die Gegensprech ... Polizist: Geht das Signal nach oben und der Kollege kann sofort über ne Gegensprechanlage nach unten sprechen. So gehen wir jetzt von dem heutigen technischen Zustand dieser Zelle aus. Autorin: Und der war damals nicht? Pressesprecher: Ist Gegenstand der Untersuchung. Autorin: Ach das ist immer noch nicht... Pressesprecher: Ja, die technischen Sachen, die Parameter sind ja entscheidend. Autorin: Sie wissen es auch nicht? anderer Polizist: Da war ich leider noch nicht hier. Erzählerin auf den letzten Teil: Um zwölf Uhr achtzehn traf die Feuerwehr auf dem Hof des Reviers in der Wolfgangstraße ein. Zur gleichen Zeit führten zwei Polizeibeamte das folgende kurze Gespräch am Telefon, das automatisch mitgeschnitten wurde. Erzählerin: Nachdem der Brand gelöscht war, dreht ein Beamter der Tatortgruppe Stendal mit der Videokamera. Er filmt alles ab: Den Eingang zu Zelle fünf, die Leiche, den Brandschutt auf dem Zellenfußboden, die verrußten Wände, das kleine Zellenfenster. Ist ihm bei der Aufnahme schon das Feuerzeug aufgefallen, mit dem Oury Jalloh die Matratze angezündet haben soll? Der Brandschutt wurde zusammen gefegt, auf drei Tüten verteilt und durchgesehen. Ein Feuerzeug oder Reste eines Feuerzeugs sind niemandem aufgefallen. Man fand das Feuerzeug drei Tage später, am zehnten Januar. In einer Teilmenge des Brandschutts, die in einem Spezialofen auf Brandbeschleuniger untersucht wurde. Nach der Untersuchung wurde der Inhalt der Tüte ausgeschüttet und inmitten des Schutts tauchte ein rotes Plastikfeuerzeug auf. Das Feuerzeug war nur verschmort, nicht explodiert - obwohl der Brand achthundert Grad erreicht hatte. Sogar der Markenname war noch zu erkennen: Tokai. Hätte man das Feuerzeug nicht schon bei der Auswertung des Videofilms der Spurensicherung entdecken müssen? Eine ganze Stunde lang war gefilmt worden. Die ersten Minuten draußen im Flur und danach die Lage in der Zelle fünf. Doch die Bildspur des Videos ist fast leer, nur die ersten vier Minuten und elf Sekunden der Aufnahme sind zu sehen. Als der Kameramann in der Zelle filmen will, bricht der Film ab. Damals ging noch mehr verloren. Sogar ein Verzeichnis mit den Namen aller siebzig Personen, die an jenem Morgen im Revier waren. So ein wichtiges Papier - gestohlen? 36. Polizeirevier/Gewahrsam Beginnt mit Geräusch von Türen, Riegeln und Schlüsseln. Autorin: Ach so, hm, also man muss. Hier kommt man rein. Polizist: Man kann, man muss nicht, man kann (Tür knallt, Schlüssel).... Erzählerin: Wir haben den Gewahrsamsflur durch die Vordertür betreten, aber es gibt auch Türen am Ende und an den Seiten. Wurden die an Jallohs Todestag benutzt? Wenn ja, von wem? Was ist aus den Bildern der Flurüberwachung geworden, die nach oben zum Monitor in der Leitstelle gesendet wurden? Nicht vorhanden. 37. darauf Kay Wendel: Es ist nie geklärt worden, wer noch Zugang hatte zu einer anderen Tür von diesem Zellentrakt. Die war sogar glaube ich offen. Man kommt dann aber immer auf die Figur des Unbekannten. Und die Polizisten, die in dem Prozess als Zeugen aussagten oder angeklagt waren, haben sich gegenseitig alle ein Alibi ausgestellt. Weil sie waren ja zu der Zeit gerade immer woanders. Erzählerin: Die große Frage, ob es um elf Uhr dreißig einen Kontrollgang gab und wenn ja, wer ihn machte, blieb bis jetzt unbeantwortet. Wenn es einen "Unbekannten Dritten" gab, betrat er den Gewahrsam heimlich durch eine andere Tür? Gabriele Heinecke, die Rechtsanwältin von Oury Jallohs Mutter: 38. Gabriele Heinecke: Gab es das, was man sich gar nicht vorstellen mag, nämlich, gab es einen Vorsatz, einen Menschen zu töten? Gab es das berechnende Abwarten? Gab es die Bereitschaft, jemand jämmerlich dort verrecken zu lassen? Alles das sind die Fragen, die man stellen muss. Und wenn man sich fragt, ob der jetzige Angeklagte der einzige ist, der da sitzen müsste, da werden sich möglicherweise im Verfahren neue Zweifel ergeben. Musik Erzählerin: Eine Flüssigkeitslache in der Zelle, die nicht untersucht wurde. Ein Kontrollgang, der nicht eingetragen wurde. Ein Feuerzeug, das erst nach drei Tagen entdeckt wurde. Eine Videokamera, die nach vier Minuten aufhörte zu filmen. Überwachungskameras, deren Bilder nicht sichergestellt wurden. Musik Erzählerin: Kurz nach dem Tod von Oury Jalloh wurde die Hauptbelastungszeugin Beate H. in eine andere Dienststelle versetzt worden. Es kam zu einem Gespräch zwischen Beate H., Andreas S. und seinen Strafverteidigern. Danach zog sie ihre Aussage zurück. Fünf Wochen nach dem siebten Januar ließ sie sich wegen psychischer Probleme krankschreiben und begab sich in Behandlung. Sie musste starke Medikamente nehmen. Eine Kollegin hatte sie jeden Tag weinen sehen. Sie blieb mehr als zwei Monate dem Dienst fern. Auch der Mann mit der Videokamera ließ sich für zwei Monate krankschreiben. Noch am gleichen Nachmittag, im Anschluss an die Tatortbesichtigung. Wegen einer Allergie. Lutz Beckers Erklärungsversuch für Beate H's Erkrankung schockiert mich. Wahrscheinlich hat sie über die Gegensprechanlage Oury Jallohs Schreie gehört, meint er. "So was würde man nicht vergessen", sagt er, "das bleibt im Gedächtnis. Für immer". Warum ist sie nicht selbst runter gegangen, frage ich. "Vielleicht wollte sie", sagt er, "aber vielleicht hat sie jemand daran gehindert. Die Frage muss gestellt werden." Musik Erzählerin: Im März 2005 erschien als "Hausmitteilung" des Polizeireviers eine, wie es hieß "objektive" Darstellung der Ereignisse vom 7. Januar. Angefertigt hatte sie ein Vorgesetzter aus dem Polizeirevier. Er hatte alle Aussagen redaktionell bearbeitet und neu zusammengestellt. Damit wollte er das Wissen seiner Beamten auf den gleichen Stand bringen, gibt er als Zeuge im Prozess an. 42. Marco Steckel: Als das alles anfing, da hab ich mir gesagt, du behältst hier einen kühlen Kopf. Das war nicht immer einfach. Erzählerin: Marco Steckel leitet die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt in Dessau, Wittenberg und Anhalt-Bitterfeld. Mit seinem Team hat er jeden der sechzig Verhandlungstage des Dessauer Landgerichts beobachtet, protokolliert und ins Internet gestellt. 46. Marco Steckel: Von Anfang an hatte ich immer das Gefühl, dass da gemauert wird und man die Öffentlichkeit sozusagen nicht gerne informiert, sondern nur auf Druck. Erzählerin: Erst fünf Wochen nach dem Ereignis räumte die Polizeiführung ein, dass Oury Jalloh gefesselt und fixiert war. Musik Erzählerin: Endlich habe ich den Vorsitzenden Richter Manfred Steinhoff am Telefon, er war verreist. Im schriftlichen Urteil steht, wie es abgelaufen ist, sagt er. Das mündliche.. war... na ja, situationsbedingt. Und übertrieben dargestellt. Mehr darf er angeblich nicht sagen. Der Justizminister erlaube ihm nicht, mit den Medien zu reden. Doch im Ministerium erfahre ich das Gegenteil. Wenig später schreibt mir Frank Straube, der Sprecher des Dessauer Landgerichts, dass der Richter mir kein Interview gewähren werde, weil, Zitat "Erteilung von Presseauskünften nunmehr dem Pressesprecher des Landgerichts Magdeburg obliegt". Ich suche im Urteil die Stelle, wie der Brand entstanden sein soll. Oder entstanden sein kann. Gutachter hatten versucht, den Brand nachzustellen. Aber kein einziger Test war erfolgreich. Sie mussten erst den Bezug der Matratze aufschneiden - sie hatte doppelte Nähte - den Schaumstoffkern herausholen, erst dann ließ sich die Matratze anzünden. Daraus folgerte der Richter, Oury Jalloh habe mit dem Feuerzeug die Naht des Kunstlederbezugs der Matratze verschmort, um den Bezug öffnen zu können. Den Inhalt habe er dann herausgezogen und angezündet. Oder - er habe eine schadhafte Stelle an der Matratze entdeckt, die Flamme darauf gerichtet und so den Schaumstoff durch den Kunstlederbezug hindurch in Brand gesetzt. 48. Gabriele Heinecke: Wenn mir ein Richter sagt, er geht davon aus, dass er das so gemacht hat, müsste man nach den Tatsachen fragen. Es geht ja nicht darum im Gerichtssaal oder bei der Urteilsfindung eine Phantasie so auszuschmücken, dass man sich eine Vorstellung davon machen kann, wie es hätte sein können. Es braucht ja Fakten dafür. Wo die Fakten fehlen, bleibt es Phantasie und ist nicht geeignet, um ein Urteil zu begründen. Auch kein entlastendes Urteil. Erzählerin: Für Rechtsanwältin Gabriele Heinecke ist der Erklärungsversuch unhaltbar. 49. Gabriele Heinecke: Wenn man sich jetzt das landgerichtliche Urteil anguckt und die Begründung darin, muss man ja fast schon sagen, dass es möglicherweise die Fortsetzung des Versuches war, etwas unter den Teppich zu kehren. Erzählerin: Oury Jallohs Freunde haben einen furchtbaren Verdacht. Sie glauben, dass Brandbeschleuniger eingesetzt wurde. An der Leiche wurde kein Brandbeschleuniger gefunden. Auch nicht im Brandschutt. Sicher sind die Ergebnisse aber nicht. Können sie gar nicht sein, nach diesem Brandverlauf, mit dieser Hitze. Zweifel bleiben also. Musik Erzählerin: War Oury Jalloh im Vollrausch fähig, das Feuerzeug so lange und zielgerichtet auf eine Stelle zu halten, ohne sich die Hand zu verbrennen? Lutz Becker findet diese Frage wichtig. Die Richterin des Bundesgerichtshofs hatte sie am siebten Januar 2010 auch gestellt. Wer sich weh tut, wirft das Feuerzeug spontan weg. Es passiert einfach, ein Reflex. Außerdem: Brennt eine Flamme nicht immer von unten nach oben? Wie kann er eine Matratze anzünden, auf der er liegt? Gefesselt liegt. Geht das überhaupt? Hat darüber schon mal jemand nachgedacht, fragt Lutz Becker. Das war ein kleines Plastikfeuerzeug, kein Hochleistungsbrenner. Ob sie das schon mal im Kollegenkreis besprochen hätten, frage ich ihn. Schon, sagt er. Aber das Gespräch sei in dem Moment beendet. Weil jeder dasselbe denkt, davon ist Lutz Becker überzeugt. Was denn, frage ich. Man denkt, da hat jemand Feuerzeugbenzin drauf geschüttet. Das wäre das Ende der Fahnenstange. Es müssten viel mehr Personen im Fokus stehen als nur der Dienstgruppenleiter, meint er. Er sagt, ich zitiere: "Stellen Sie sich vor, jetzt käme raus, da hat die Person X nachgeholfen, und das hätten wir schon vor Jahren wissen können. Dann müsste gefragt werden, wer hat das vermasselt und warum wurde das nicht geprüft. Dann käme jemand sehr stark in Erklärungsnot. Der Schaden wäre immens, auch intern, die ganze Hierarchie käme ins Wanken. Das wäre ein Desaster, auf jeden Fall für Dessau." Sollten die Richter unter Druck gestanden haben? Musik Erzählerin: Es gibt Fotos von Oury Jalloh. Auf einer Bank im Stadtpark, vor dem Hauptbahnhof... Er sieht traurig aus. Aber er war ein lebensfroher Mensch. "Freundlich, zugewandt", erzählt mir sein Anwalt am Telefon. Er hatte ihn einmal in einer Drogensache vertreten. Nichts Großes, sagt er. Das Verfahren lief noch. Er war nicht vorbestraft. Musik Erzählerin: Mouctar Bah hat viel riskiert für seinen toten Freund. Anonyme Anzeigen, Verleumdungen, Faustschläge ins Gesicht, seine ganze wirtschaftliche Existenz. Dennoch hat er nie aufgegeben. Im Dezember 2009 verlieh ihm dafür die Internationale Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Drei Wochen später am 07. Januar 2010 kippt der Bundesgerichtshof das Dessauer Urteil aus dem Jahr 2008. 65. Polizeirevier/Gewahrsam (beginnt mit Schritten) Autorin: Und seit dem Oury Jalloh hier zu Tode gekommen ist, ist dieser Trakt ...(Tür knallt zu) Polizist: Er wird er wird nicht genutzt, ja. Weil doch verschiedene Verfahrensfragen noch offen sind oder zumindest noch mal nachvollzogen werden soll und deswegen wird dieser Trakt vorerst nicht genutzt. Absage "Verbrannt in Polizeizelle Nummer fünf". Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in Dessau. Feature von Margot Overath. Es sprachen: Bärbel Röhl und Matthias Ponnier Redaktion: Ulf Köhler Regieassistenz: Annett Krake Regie: Nikolai von Koslowski Produktion: Sie hörten eine Koproduktion des Mitteldeutscher Rundfunks mit dem Norddeutschen Rundfunk und dem Deutschlandfunk, 2010. 2