COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport-Magazin "Mehr Demokratie wagen?" 06.05.2011 Was haben die Volksentscheide den Berlinern gebracht? Länge: 6'04 Autorin: Verena Kemna Redaktion: Heidrun Wimmersberg ______________________________________________________________ Atmo Startendes Flugzeug Ich wohne jetzt seit 40 Jahren hier. Da war det ein regulärer Flughafen gewesen, da war das alle drei Minuten gewesen, das hat mich auch nicht gestört. Ick hatte schalldichte Fenster, ick bin der Meinung, det soll so bleiben, wie es ist. Doch der innerstädtische Flughafen Berlin Tempelhof ist seit Ende Oktober 2008 geschlossen. Der Volksentscheid ist gescheitert. Geblieben ist ein Naherholungsgebiet mitten in der Stadt. Auf dem riesigen Flugfeld können die Berliner Radfahren, Skaten oder Drachen steigen lassen ganz ohne jeden Fluglärm. Atmo zwei: Glocke Ja, ich gehe hin und ich stimme pro Ethik, weil ich dafür bin, dass die Kinder gemeinsam Unterricht haben und weil ich selber auch nicht sehr religiös bin und keine Nähe zum Religionsunterricht habe. Noch immer steht Religionsunterricht in Berliner Schulen auf keinem Lehrplan. Versetzungsrelevantes Pflichtfach ist der Ethikunterricht, zwei Stunden pro Woche, allerdings erst ab der siebten Klasse, so hat es der rot-rote Senat eingeführt und so sollte es nach Ansicht der Landesregierung auch bleiben. Der Volksentscheid Pro Reli hat in den Berliner Klassenzimmern nichts geändert. Über die Hälfte der Teilnehmer hat mit Nein gestimmt. Somit ist das Berliner Modell für den Ethikunterricht unverändert. Trotzdem, Christoph Lehmann, Rechtsanwalt und Vater von vier schulpflichtigen Kindern, erinnert sich gerne an die Wochen auf der Straße. Christoph Lehmann war der Kopf der Bürgerinitiative Pro Reli. Ich erinnere mich sehr eindrücklich an ein Gespräch mit einer evangelischen Religionslehrerin und die sagte, das schönste für sie sei, mal mit den Katholiken auf der Straße zu stehen und sich nicht immer über die Frage des Abendmahls zu unterhalten. Es war das Gefühl gemeinsam etwas zu tun, was die Menschen mehr zusammengeführt hat als manches Gespräch darüber, was einen trennt und was einen verbindet. Aus Gesprächen mit den eigenen Kindern, mit Schülern und Lehrern weiß er, dass Pro Reli mit der Kampagne für den Religionsunterricht auf jeden Fall eines erreicht hat. Das Fach Religion mag noch immer eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft sein, inhaltlich hat es an Bedeutung gewonnen. Man kann auf einmal ein Thema das mehr oder weniger dahin dümpelt in den Focus der Öffentlichkeit bringen und damit auch das ein oder andere anstoßen. Im Fall Tempelhof oder auch bei unserem Fall haben wir zwar keinen zählbaren Erfolg gehabt aber durchaus die Stadt zu einer Diskussion gebracht über das Verhältnis von Staat und Religion und den Religionsunterricht, die wir sonst nicht gehabt hätten. Er erzählt, dass auch bei seinen eigenen Kindern die Diskussionen, öffentlichen Auftritte und nicht die unzähligen freiwilligen Arbeitsstunden auf der Straße Spuren hinterlassen haben. Die Botschaft lautet: Wer sich für die Gesellschaft einsetzt, bekommt etwas zurück. Das Ergebnis von Volksinitiativen rückt in den Hintergrund. Also ich glaube, dass die große Stärke gar nicht darin liegt, wenn man Erfolg hat oder nicht, sondern der große Vorteil dieser Volksinitiativen besteht darin, dass Menschen Themen, die sie wirklich berühren auch zum Thema in der Politik machen können und die Politik auch dazu zwingen können, in der einen oder anderen Form zu reagieren. Oder eben nicht zu reagieren und sich damit der Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen gegebenenfalls. Atmo Wasser Mehr als eineinhalb Milliarden Euro hat die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe dem Berliner Landeshaushalt vor über elf Jahren eingebracht. Die Unternehmen bekommen hohe Renditen, die Wasserpreise sind seitdem um ein Drittel gestiegen. Jahrelang haben die Mitstreiter der Volksinitiative Berliner Wassertisch die Offenlegung der Verträge gefordert. Ihre Botschaft auf blauem Faltblatt lautet: Wasser gehört in Bürgerhand. Das Logo der Initiative: Ein Hai, der mit gefletschten Zähnen nach einem Wassertropfen schnappt. Ich bin gegen die Privatisierung von den Berliner Wasserbetrieben. Also das Volksbegehren ist ganz konkret, dass die Geheimverträge offengelegt werden. Wir haben in Berlin das teuerste Wasser in Deutschland und das muss nicht sein. Am 13. Februar konnten die Mitstreiter vom Berliner Wassertisch es kaum glauben. Bei einer Wahlbeteiligung von über 27 Prozent haben fast alle dem vorgelegten Gesetzesentwurf zugestimmt. Demnach sollen die Verträge aus dem Jahr 1999 nun endlich offengelegt werden. Gerhard Seyfarth hat wochenlang in seiner Freizeit Unterschriften gesammelt. In seiner Wohnung in Berlin Tempelhof trifft er sich regelmäßig mit Ulrike Kölver. Auch sie hat für den Wassertisch gekämpft. Geheimverträge, die 64- jährige schüttelt entrüstet den Kopf. Sie kämpft für Demokratie. Dass das Interesse der großen Menge der ärmeren Bürger höher stehen muss als das Interesse einer kleinen privilegierten Gruppe von Großverdienern. Gerhard Seyfarth nickt, auch er ist seit Langem politisch engagiert. Er meint, dass Volksentscheide in einer repräsentativen Demokratie immer wichtiger werden. Gerhard Seyfarth sieht sich durch den Erfolg der Initiative Berliner Wassertisch bestätigt. Deshalb denke ich, dass Volksentscheide durchaus ein Mittel sind, um den Bürgerwillen den Regierenden zur Kenntnis zu geben und sie zu zwingen, sich danach zu richten. Auch Ulrike Kölver ist vom Volksentscheid überzeugt. Die Zeit davor, das Sammeln der notwendigen Unterschriften sei so etwas wie eine Aufklärungskampagne von Bürgern für Bürger. Sie weiß, dass manche erst am Wassertisch von der Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe erfahren haben. Es war eine spannende Zeit. Ich bin viele Male morgens aufgestanden mit der Idee, 170.000 Unterschriften, das ist doch überhaupt nicht zu schaffen und dann hat man eben täglich an wechselnden Stellen mit unterschiedlichen Leuten gestanden und natürlich hat man da viele Leute kennengelernt. Wir haben tagsüber gesammelt, abends hat man dann noch stundenlang telefoniert, um die nächsten Tage sicher zu stellen. Es war schon einfach spannend. Länderreport-Magazin "Mehr Demokratie wagen?" 06.05.2011 Die bayerische Graswurzel-Demokratie Länge: 5'53 Autor: Michael Watzke Redaktion: Heidrun Wimmersberg ___________________________________________________________________________ Politische Vorbilder? Sebastian Frankenberger überlegt. Dann nennt der Initiator des Nichtraucher-Volksbegehrens in Bayern die Urväter der bayerischen Verfassung. Sie seien wahre Vorkämpfer für direkte Demokratie gewesen. 1 "Die haben nämlich in den Paragrafen reingeschrieben: Volksbegehren finden in der Regel im Frühjahr und im Herbst statt. Das heißt: Als man die Verfassung geschrieben hat, ist man davon ausgegangen, dass die Partizipation ein ganz wichtiges und wesentliches demokratisches Instrument wird. Und dass man die Bauern, wenn sie mähen und wenn sie heuen und die Ernte einfahren, damit nicht belästigen möchte. Darum dieser Zusatz in der Verfassung." Damals, 1946, arbeiteten noch 90 % der Bayern in der Landwirtschaft. Die Gründerväter wussten um den starken Willen der Bauern. Bayern war deshalb das erste deutsche Bundesland, das direktdemokratische Elemente in seine Verfassung schrieb. Tatsache ist aber auch - seitdem gelang es bayerischen Bürgerinitiativen nur sechs Mal, einen Volksentscheid zu erwirken. Bei 18 Anläufen. Einen Volksentscheid "von unten" durchzusetzen, ist in Bayern sehr schwer. Frankenberger gibt die Schuld daran den Nachfolgern der Verfassungsväter: 2 "Wir hatten ursprünglich eine tolle Verfassung in Bayern, wir haben sie immer noch - bloß die Ausführungsbestimmungen sind schlecht." Die Ausführungsbestimmungen. Sie legen die Hürden fest, die eine bayerische Volksinitiative überwinden muss, damit aus einem Volksbegehren ein Volksentscheid werden kann. Die erste Hürde - das Sammeln von 25.000 Unterschriften - ist noch recht niedrig: 3 "Aber dann brauche ich beim Volksbegehren 10 % der Wahlberechtigten innerhalb von 14 Tagen auf dem jeweiligen Rathaus, dort wo man gemeldet ist. Während der normalen Öffnungszeiten. Also nicht das ganze Wochenende oder abends mal, sondern komplett beschränkt. Das ist eine irre Leistung, die man hier liefern muss. Man muss sich mal vorstellen: Jeden Zehnten draußen auf der Straße muss man bewegen, zum Unterschreiben aufs Rathaus zu gehen. Da gibt es Länder wie Hamburg, die besser ausgestattet sind. Teilweise mit freier Sammlung, niedrigeren Quoren, längeren Fristen - da hinkt Bayern definitiv hinterher." Insgesamt gab es in Bayern seit dem Krieg 14 Volksentscheide. Acht davon initiierte der Bayerische Landtag, die restlichen sechs kamen von Bürger-Initiativen. Den letzten Volksentscheid 2010 gewann Sebastian Frankenbergers Nichtraucher-Bündnis. Seitdem darf man in bayerischen Gaststätten und Kneipen nicht mehr rauchen. Andere Themen der vergangenen Jahrzehnte waren die Abschaffung des bayerischen Senats, um Geld zu sparen, ein neues Müllkonzept oder Umweltschutz als Staatsziel. Viel länger ist die Liste der gescheiterten Themen, die nie den Sprung vom Begehren zum Entscheid geschafft haben: 5 "Es hat ein Wald-Volksbegehren gegeben, um die Privatisierung des Staatswaldes zu stoppen. Der Bund Naturschutz war dahinter. Mit 9,7 % gescheitert. Die Rücknahme des G8-Gymnasiums, mit vielen Lehrer- und Schülerverbänden - gescheitert. Die hatten rund 5 %. Wir mit der ÖDP haben Embryonenschutz gefordert, kein Klonen von Menschen - wir sind mit 7% gescheitert, obwohl die Kirchen hinter uns standen. Alle diese Themen sind gescheitert, weil diese 10-Prozent-Hürde nur schaffbar ist, wenn Sie ein emotionales Thema haben." Der vielleicht wichtigste Volksentscheid in Bayern fand 1995 statt. Das Bündnis "Mehr Demokratie in Bayern" forderte Mini-Volksentscheide für Städte und Gemeinden. Sogenannte Bürgerentscheide. Mit Erfolg. 96 % der Wähler stimmten für mehr Demokratie auf kommunaler Ebene. Die Hürden für Bürgerbegehren sind viel geringer als die für Volksbegehren auf Landesebene. Deshalb gab es seit ihrer Einführung vor 16 Jahren hunderte von Bürgerentscheiden. Das jüngste Beispiel: Am Sonntag entscheidet Garmisch- Partenkirchen über die Olympia-Bewerbung. Ausgang offen. Der bayerische Bürger hat durchaus Revoluzzer-Potenzial, sagt Sebastian Frankenberger. 4 "Die Bayern wollen sich nicht alles gefallen lassen, sie sagen gern ihre Meinung. Aber man muss sie erstmal dazu hinbringen. Man muss sie erstmal rauskitzeln. Im hintersten Niederbayern, im Bayerischen Wald, da haben wir immer die schlechtesten Ergebnisse bei Volksbegehren, weil dort sagt man noch: ,Der Kini, der hat scho gwusst, wo's langgeht'." Der Kini, das ist der König. Der hieß früher Ludwig, später dann Franz-Joseph Strauß. Der hatte mit der CSU die absolute Mehrheit. Deshalb, behauptet Sebastian Frankenberger, habe die CSU die direkte Demokratie in Bayern nie sonderlich gefördert. Martin Kastler sieht das anders. Der junge CSU-Europa-Abgeordnete aus Schwabach bei Nürnberg kämpft seit Jahren für mehr direkte Demokratie in Bayern. Während seines Studiums erlebte er im Schweizer Kanton "Appenzell Innerrhoden" eine Volksabstimmung. Seitdem ist der Familienvater aus Mittelfranken begeisterter Anhänger von direkter Demokratie. 6 "In der heutigen Zeit möchten die Bürger regelmäßiger beteiligt werden. Sie wollen nicht immer alle vier oder fünf Jahre abwarten, bis sie dann ihre Vertreter entsenden. Sie befassen sich auch zwischendurch mit Themen. Ich glaube, es würde die Menschen auch wieder näher an die Politik heranführen, wenn es mehr direkte Demokratie gäbe. In vielen Bereichen. Ich hielte es auch für die Bundespolitik für sinnvoll. Wenn wir in gewissen Bereichen die Bürger mitentscheiden ließen. Ein Volksentscheid am gleichen Tag in allen Bundesländern: Das wäre mein Wunsch." Martin Kastlers Vision ist ein Volksentscheid auf europäischer Ebene. Im Europaparlament kämpft er für möglichst niedrige Eingangs-Hürden und geringe Quoren. Sein erstes Anliegen, sozusagen seine Blaupause dafür, ist die Kampagne "Sonntags gehört mein Papa mir". Die europaweite Einführung eines arbeitsfreien Sonntags. Kastler weiß, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Nicht nur in Brüssel muss er dicke Bretter bohren, sondern auch daheim, in Bayern. In der CSU. 7 "Ich muss zugeben, dass das bei dem einen oder anderen Parteifreund nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Deshalb setz ich mich dafür ein, dass es wieder zum Thema Nummer 1 wird. Für mich ist es das schon. Deshalb bin ich auch beim Verein "Mehr Demokratie e.V." dabei. Ich gebe zu: Ich bin einer der wenigen aus der CSU, die dort aktiv sind." Ein Vereins-Kollege ist dafür Sebastian Frankenberger von der ÖDP. Der wünscht sich von der CSU, die Bedingungen für einen Volksentscheid zu erleichtern. Etwa die Frist der 25.000 notwendigen Unterschriften von zwei auf vier Wochen zu verlängern. Die bayerische SPD hat im Landtag gerade erst einen Antrag dazu eingebracht. Frankenberger würde auch gern das Quorum senken - also die Anzahl der Bürger, die ein Volksbegehren unterstützen müssen, damit es zum Volksentscheid werden kann. Frankenberger fordert die 5-Prozent-Hürde statt 10, wie bisher. Vor dem bayerischen Verfassungsgericht ist er mit diesem Ziel bereits gescheitert. 8 "Und das ist traurig. Weil Volksbegehren, die ein niedriges Quorum haben, die schaffbar sind, haben auch eine Art Alarmmelder-Funktion für Minderheiten. So kann ich ein Thema auf die Tagesordnung bringen, wo nicht die große Lobby dahintersteht. Das betrifft vielleicht nur eine Randgruppe, aber ich starte so wenigstens einen Diskussionsprozess. Denn die Entscheidung Ja-Nein, die fällt am Schluss immer noch das ganze Volk." Frankenberger plant für nächstes Jahr ein neues Volksbegehren. Es dreht sich um das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten. Genaueres will der Passauer noch nicht verraten. Nur eines: Hätte das Begehren Erfolg, würde es die bayerische Verfassung komplett umpflügen. Stärker noch, als es den bayerischen Verfassungsvätern jemals vorgeschwebt hätte. Deutschlandradio Kultur Länderreport 06.05.2011 "Mehr Demokratie wagen?" Bürgerbegehren in Thüringen Länge: 6'20 Autorin: Blanka Weber/Landesstudio Thüringen Redaktion: Heidrun Wimmersberg ___________________________________________________________________________ Anmoderation "Das, was wir erleben", sagt der Bürgerrechtler und Theologe Ralf-Uwe Beck, "ist, das Politiker vor der Wahl unsere Nähe suchen und danach - das Weite!" Beck gehört zu denjenigen in Thüringen, die mit der Initiative für "Mehr Demokratie" die Hürden für Volksbegehren gesenkt haben, vor allem auf kommunaler Ebene. Vor Jahren noch von der regierenden Politik bloßgestellt, abgelehnt und boykottiert - heute nun, spricht Beck von einer neuen politischen Kultur. Bürgerrechte haben einen besseren Boden bekommen. Einmischen ist nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und wenn Bürger Sachfragen selbst entscheiden können, dann wird (auch wieder) mehr miteinander als über die Köpfe hinweg geredet. Doch wie steht es um Proteste und "Mehr Demokratie" in Thüringen? ___________________________________________________________________________ Atmo: Bürgerprotest vor Landtag Beispiel 1: Schüler und Lehrer protestieren vor dem Landtag in Erfurt. Es geht um das neue Schulgesetz und weniger Geld für freie Träger. Protesten draußen und - Erklärungsnot drinnen im Landtag: "Was wir heute machen, ist, die gesetzliche Voraussetzung für diese Schulentwicklung auf den Weg zu bringen." (O-Ton Minister Matschie - übertönt von Protesten von außen.) Auf einen Weg, den viele nicht mitgehen wollen. Bürgerboykott in Thüringen. Minister Matschie ist in Nöten - in Erklärungsnöten auch, wenn es um neue Schulformen geht: "Gemeinschaftsschule kann kein Notnagel sein für einen Schulstandort, der sich ansonsten nicht halten kann. Sondern Gemeinschaftsschule braucht eine ausreichende Entwicklungsperspektive." Beispiel 2: Die geplante 380-Kilovolt-Starkstromtrasse - quer durch den Thüringer Wald. Eine Trasse, die Windstrom aus Norddeutschland in den Süden transportieren soll. Die Menschen der betroffenen Orte protestieren seit Monaten und haben dem alten Rennsteiglied einen neuen Text verpasst: Atmo Lied Beispiel 3: Abwasser- und Straßenausbaubeiträge: Proteste der Menschen vor allem im ländlichen Raum, die hohe Beiträge dafür zahlen sollen, weil mancherorts überdimensionale Abwassersysteme und neue Straßen gebaut worden sind. Die Bürger wurden dafür zur Kasse gebeten, und zwar kräftig. Weil die Proteste wirkungslos verhallen, hat sich die Bürgerinitiative entschlossen, jetzt ein Volksbegehren zu starten. Atmo: Proteste Ob: Bildung, Stromtrasse oder Abwasser - Menschen gehen auf die Straße, fordern die Politiker auf, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Einer, der in Thüringen viel bewegt hat mit der Initiative " Mehr Demokratie ", ist Ralf-Uwe Beck: "Wir wünschten uns eine staatlich beauftragte Stelle, die tatsächlich im Blick hat, wie ist es um Bürgerbeteiligung bestellt? Wie werden die Instrumente genutzt? An welchen Stellen gibt es unnötige Reibungsverluste? Wo werden Menschen enttäuscht, die gar nicht enttäuscht werden müssten? Wo müsste man in Bürokratieabbau gehen, wenn es um Einmischung geht. Das sollte jemand tatsächlich mit staatlichem Auftrag, mit Rückendeckung aus dem Landtag aufbereiten und immer wieder den Entscheidern auch vorlegen." Mut-Bürger, statt Wut-Bürger, ist der Slogan. Gerade nach Stuttgart 21 müssen die Formen der Mitsprache und die politische Kultur eine neue Bedeutung haben, sagt Ralf-Uwe Beck - Theologe und Bürgerrechtler: "Immer wieder bestätigen Umfragen, dass das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie nicht zum Besten bestellt ist. Uns muss etwas einfallen, um dieses Vertrauen zurückzugewinnen und das wird nur gehen, in dem wir den Bürgerinnen und Bürgern mehr zutrauen und indem die Menschen die Erfahrung machen, dass ihre Stimme tatsächlich Gewicht hat." Auch der Verein "Mehr Demokratie" hat Gewicht in der politischen Debatte in Thüringen. Ein Bündnis aus 20 Organisationen, fast 6.000 Mitgliedern. Staatliche Förderung gibt es nicht. Dafür jetzt - dank der Initiative - mehr Mitsprache für Bürger auf kommunaler Ebene. "Wir haben Volksbegehren, Volksentscheide verbessern können durch ein erstes Volksbegehren und in einem zweiten Schritt auch die Bürgerbegehren, Bürgerentscheide auf der kommunalen Ebene reformiert." Im Jahr 2000 beteiligten sich mehr als 387.000 Menschen an der Aktion. Es wurde die erfolgreichste Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Landesregierung klagte damals vor dem Verfassungsgericht stoppte das "Volksbegehren für mehr Demokratie". Nach monatelangem Verhandeln wurden schließlich die Hürden deutlich gesenkt. Heute genügen 5.000 Unterschriften in sechs - statt früher vier Wochen, um den ersten Schritt, den Antrag eines Begehrens, zu schaffen. Später genügen 10 Prozent stimmberechtigte Unterstützer statt 14 Prozent. Alles in allem: Ein Erfolg für die Initiatoren und für kritische Bürger. "Für uns der logische zweite Schritt war dann zu schauen, dass auch die direkte Demokratie in den Kommunen verbessert wird. Unser Modellland war immer der Nachbar Bayern, an dem wir uns orientiert haben." 250.000 Unterschriften sammelten die Organisatoren für das nächste Volksbegehren: "Und das ebenso erfolgreich war wie das Erste und das der Landtag schließlich auch wieder nach sehr viel Hin und Her aber schließlich 1:1 übernommen hat. Da gilt heute, was wir uns seinerzeit in diesem Bündnis ausgedacht haben." Seitdem gilt auch die freie Unterschriftensammlung. Sie war 2008 von der CDU abgeschafft worden. Nun genügen sieben Prozent der Stimmberechtigten einer Gemeinde - statt früher 13 bis 17 Prozent - für ein Bürgerbegehren. Politische Parteien kommen daran nicht mehr vorbei. Dinge, die Menschen unmittelbar betreffen, so Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, werden nicht mehr einfach so hingenommen: "Das ist eine Tendenz, die wir in Deutschland, denke ich, seit geraumer Zeit beobachten und die sich auch niederschlägt in Initiativen, wie z. B. bei ,Demokratie jetzt', wo auch Hürden für Volksbegehren gesenkt worden sind. Aber es ist ein Geist, der geht weit darüber hinaus geht." Vor allem die Erfahrung mit dem Projekt Stuttgart 21 hat die Wahrnehmung von Boykott und Bürgerprotest geschärft. Auch in Thüringen: "Von daher sage ich: Planungszeiten verkürzen, aber nicht im Widerspruch zur Bürgerbeteiligung, sondern wir müssen Modelle finden, wo wir Bürgerbeteiligung mit möglichst kürzeren Verfahrensdauern gut kombinieren können und ich denke das ist möglich." (Lieberknecht) Es geht nicht um Boykott, sagt Peter Häusler. Es geht um Mitgestalten. Er gehört zu einer Gruppe, die sich seit Jahren für optimale Kita-Bedingungen einsetzt. Auch dazu gab es ein Volksbegehren, ein erfolgreiches mit hohem Zeitaufwand für die Initiatoren: "Das war eine Zeit, in der ich selber viel gelernt habe, was es bedeutet, aktiv an der Demokratie teilzunehmen. Demokratie bedeutet ins Deutsche übersetzt, Angelegenheiten des Volkes. Das heißt, wir machen unsere Angelegenheit auch zu unserer Sache. Wir übernehmen Verantwortung." Genau das wünscht sich Peter Häusler heute noch mehr. Die Grundbedingungen dafür sind geschaffen. "Wir haben ja dank der Initiative von Ralf-Uwe Beck und seinen Mitstreitern die Hürden für Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene gesenkt, das heißt, die Bürger können vor Ort in ihrem Wirkungskreis, da wo man die Dinge noch am besten überschaut, mitbestimmen und da fehlt mir noch das Bewusstsein dafür. Viele Bürger wissen gar nicht, dass sie diese Möglichkeit haben, die sollten sie nutzen!" Spätestens beim Bau der umstrittenen Stromtrasse durch den Thüringer Wald dürfte eine neue politische Kultur gefragt sein. Davon ist auch Ralf-Uwe Beck überzeugt: "Aber, es ist, denke ich, leichter geworden. Es wächst eine Kultur ganz langsam, eine Kultur heran, wo von der offiziellen Politik der Wert der direkten Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie erkannt wird und nicht mehr die Forderung als Angriff aufs parlamentarische System verstanden wird und da ist unsere Hoffnung, dass es zu einer besseren politischen Kultur kommt, die sehr viel kommunikativer sein wird als das, was wir in den vergangenen Jahren erlebt haben." (Ralf-Uwe Beck) 6