DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Dienstag, 23.02.2016 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 - 20.00 Uhr Bürgermeister mit zwei Pässen Wie der Marokkaner Ahmed Aboutaleb Rotterdam regiert Von Claudia Heissenberg URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton: (Fernsehausschnitt "Nieuwsuur") U zit hier tegenover de burgemeester van Rotterdam...kennis gemaakt met wat er gebeurde. Sprecher 1: Sie sitzen hier dem Bürgermeister von Rotterdam gegenüber, aber es ist nicht zu leugnen und ich will es auch nicht leugnen, dass hier auch ein wütender Muslim sitzt. Es tut mit tief in meiner Seele weh, ich fühle es mit meinem ganzen Körper, war wie erstarrt, als ich heute Mittag von den Geschehnissen in Paris erfahren habe. Erzählerin: Januar 2015: Es ist der Abend nach dem Anschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschriftschrift "Charlie Hebdo". In der niederländischen Nachrichtensendung "Nieuwsuur" spricht Ahmed Aboutaleb aus, was viele Menschen fühlen. Und Aboutaleb - Niederländer, geboren in Marokko, Muslim und Bürgermeister von Rotterdam - geht mit radikalen Islamisten und ihren Unterstützern hart ins Gericht. O-Ton: Het is onbegrijpelijk, dat je je zo tegen de vrijheid kunt keren, maar als je de vrijheid niet ziet, pak je koffers en vertrek, ...ja, mag ik het zo zeggen, rot toch op! Sprecher 1: Es ist unbegreiflich, dass Menschen sich so gegen die Freiheit wenden können. Wenn dir die Freiheit nicht gefällt, pack Deine Koffer und geh, vielleicht gibt es irgendwo einen Fleck auf der Welt, wo es Du dich besser fühlst, aber bring nicht unschuldige Journalisten um. Verschwinde, wenn Du Deinen Platz in den Niederlanden nicht finden kannst, nicht einverstanden bist mit unserer Art der Gesellschaft. Wir wollen hier nur Menschen haben, die das sind, auch Muslime, alle gutwilligen Muslime, die nun wahrscheinlich wieder verurteilt werden. Aber wenn es Dir hier nicht gefällt, weil du Karikaturisten nicht magst, dann, lass es mich so sagen: Hau doch ab! Erzählerin: "Ein muslimischer Bürgermeister als Held der Woche" titelte am nächsten Tag die deutsche Tageszeitung "Die Welt". Mit seinen Äußerungen brachte sich Aboutaleb in zahlreiche Medien: In Deutschland, Belgien, Frankreich, England, der Türkei, den Vereinigten Staaten und sogar in China. Aber nicht alle wollten dem Bürgermeister folgen. Die niederländische Journalistin und Kolumnistin Hassnae Bouazza stammt wie Aboutaleb aus Marokko. Sie bezog in einem Interview mit dem "Volkskrant" Stellung. O-Ton: (Hassnae Bouazza) Daar waren merdere dingen, waar ik aanstoot aan nam, ....Aboutaleb komt zelf uit de marokkanse gemeenschap, ...ik vind het ook niet eerlijk van hem. Sprecherin 1: Ich habe an mehreren Dingen Anstoß genommen, zum einen an der Aussage: Wenn Du diese Art Humor nicht begreifen kannst, dann verschwinde. Ich sage, die Gedanken sind frei, warum muss jeder dasselbe Gefühl für Humor haben? Ich möchte direkt klar stellen, dass ich den Anschlag auf Charlie Hebdo furchtbar fand, ich habe auch darüber geschrieben und die Tat scharf verurteilt. Aber ein Politiker hat Verantwortung, Aboutaleb kommt selbst aus der marokkanischen Gemeinschaft, er weiß ganz genau, wie das hier in Holland funktioniert. Er weiß, dass Marokkaner und Muslime immer auf die Taten anderer angesprochen werden. Dass er das nun als Bürgermeister genauso macht, finde ich gemein und auch nicht ehrlich von ihm. Erzählerin: Hassnae Bouazza hält den Bürgermeister für einen "platten Populisten", der sich auf Kosten der Muslime profilieren will. Ahmed Aboutaleb ist Sozialdemokrat. Aufgrund seiner Herkunft und seiner persönlichen Geschichte nimmt der 54-Jährige eine Ausnahmestellung in der Politik ein. Aber ist er wirklich der richtige Mann für das multikulturelle Zusammenleben? Ist er ein Vorbild gelungener Integration oder ein Blender, der nur die eigene Karriere im Blick hat, wenn er ausspricht, was viele Niederländer denken? Musik Ansage: Bürgermeister mit zwei Pässen - Wie der Marokkaner Ahmed Aboutaleb Rotterdam regiert Ein Feature von Claudia Heissenberg O-Ton: (Rob Kok) Ja, daar heeft die bij de echte Rotterdamer wel mee gescort ....De keuze ligt bij jou. Sprecher 2: Da hat er bei den echten Rotterdamern wirklich gepunktet. Ist doch auch so, man kann doch überall wohnen. Und wenn Du es hier nicht schön findest, geh woanders hin. Du hast die Wahl. Erzählerin: Rob Kok ist einer dieser ‚echten' Rotterdamer, ist dort geboren und aufgewachsen. In den Niederlanden gelten die Bewohner der Hafenstadt als bodenständig, zupackend und direkt. Menschen, die nicht gerne um den heißen Brei herumreden, sondern offen aussprechen, was ihnen nicht passt. Aber nicht nur in Rotterdam, auch im Rest des Landes, behauptet eine Umfrage, waren 90 Prozent der Bevölkerung von Aboutalebs harten Worten begeistert. O-Ton: (Hassnae Bouazza) Ik weet, dat ie word bewonderd en bewierookt, maar ik ben geen fan. ...Het is iemand, die heel goed weet, hoe hij het publiek te bespelen, ...en dat is wat ie doet en dat vind ik jammer. Sprecherin 1: Ich weiß, dass er bewundert und beweihräuchert wird, aber ich bin kein Fan von ihm. Er ist jemand, der genau weiß, was er dem Publikum bieten muss und womit er punkten kann. Ich weiß, wie dieses Politikerspiel funktioniert, aber ich finde, man sollte dennoch die Würde und das politische Rückgrat haben, sich nicht auf Kosten von Menschen zu profilieren, die niemanden etwas Böses getan haben. Das ist es, was er macht, und das finde ich schade. Atmo: Stadhuis Rotterdam Erzählerin: Kurz vor 10 Uhr im historischen Rathaus von Rotterdam, einem wuchtigem Monumentalbau mit Glockenturm und breiten Fluren. Eines der wenigen Gebäude im Zentrum der Stadt, die den deutschen Bombenangriff am 14. Mai 1940 überstanden haben. Bürgermeister Ahmed Aboutaleb - mittelgroß, mittelschlank, dünnrandige Brille, grau-meliertes, kurz geschnittenes Haar - empfängt mich in einem holzgetäfelten Saal. Er strahlt die routinierte Freundlichkeit eines Politikers aus, wirkt aber gleichzeitig auf mich sehr distanziert. Eine halbe Stunde Interview wurde erst nach zähen Verhandlungen gewährt, dazu das Angebot, den viel beschäftigten Bürgermeister am Abend zu einem Termin zu begleiten - das sei schon die VIP-Behandlung, versichert mir der Pressesprecher. Seit Januar 2009 ist Aboutaleb Stadtchef von Rotterdam und der erste Muslim in einem solchen Amt in ganz Europa. Gewählt wurde er vom Gemeinderat, nicht direkt von den Bürgern. O-Ton: (Aboutaleb) Ik ben als een soort chip gebakken in Marokko en geprogrammeert in Nederland ...die ik in Nederland geleert heb. Sprecher 1: Ich bin wie ein Computerchip, produziert in Marokko und programmiert in den Niederlanden. Das heißt, dass ich hardwaremäßig, als Mensch und physiologisch mit dem Land, aus dem ich stamme, große Verwandtschaft besitze. Wenn man dort geboren ist und 15 Jahre lang dort gelebt hat, dann kann man nicht sagen, dass das nicht einen Teil der Identität ausmacht. Es ist ein Teil meiner Identität und den will ich auch nicht wegwerfen, aber viele Dinge, die ich in den vergangenen Jahren gelernt habe, ich lebe nun seit genau 40 Jahren in den Niederlanden, die programmatischen Bestandteile meines Funktionierens sozusagen, habe ich hier gelernt. Erzählerin: Ahmed Aboutaleb ist verheiratet mit einer Marokkanerin und Vater von vier Kindern - drei Töchtern und einem Sohn. Er ist bekennender Muslim und bezeichnet sich selbst als fromm. Abgesehen von den 5 vorgeschriebenen Gebeten - am frühen Morgen, am Mittag, am Nachmittag, am Abend und in der Nacht - betet er zusätzlich noch zwölf bis 15 Mal am Tag. Zum Beispiel in seiner Dienstlimousine. O-Ton: Ik ben groot gebracht met maar een waarheid op terrein van religie ...dat is programeren en herprogrameren. Sprecher 1: Ich bin aufgewachsen mit nur einer Wahrheit, was die Religion angeht und dass der Islam die Religion aller Menschen sein muss. Durch Kontakte mit anderen Menschen, die einen anderen Glauben und andere Auffassungen haben, wurde mir klar, dass ich eine Wahrheit habe, dass es aber ganz viele andere gibt, die auch eine eigene Wahrheit haben und dass das bestens nebeneinander bestehen kann. Ich habe eine Art Erleuchtungsprozess durchgemacht, und wenn ich ehrlich bin, ist das noch gar nicht so lange her, vielleicht 15 oder 20 Jahre, dass ich die Dinge so sehe. Also das Programmieren ist nicht an einem Tag geschehen, es wird immer wieder neu programmiert. Erzählerin: In den Niederlanden wird Aboutaleb als Prototyp des erfolgreichen Vorzeige-Migranten gesehen, als einer, der es geschafft hat und der die Karriereleiter in großen Schritten erklommen hat. Er gilt als ehrgeizig, medienerfahren, spricht die Sprache fehlerfrei und ohne Akzent. O-Ton: (Aboutaleb) Een buurgemeester zit heel dicht op de huid van de bewoners en de bewoners zitten ook heel erg dicht op de huid van de burgemeester, ...ja dat is voor mij wel heel mooi en dan slap ik goed. Sprecher 1: Ein Bürgermeister sitzt den Bewohnern dicht auf der Pelle, und die Bewohner sitzen auch dem Bürgermeister dicht auf der Pelle. Heute Abend zum Beispiel treffe ich mich im Westen von Rotterdam mit einer Gruppe von Anwohnern. Das ist meine Art, die Dinge anzugehen, ich suche die Leute auf und wir schauen zusammen, wie wir ein Stadtviertel sicherer und lebenswerter machen können. Den Alltag der Menschen verbessern zu können, das finde ich schön, und dann schlafe ich auch gut. Atmo: Buurt bestuurt Erzählerin: Die Veranstaltung, die der Bürgermeister an diesem Abend besucht, ist das monatliche Treffen von Buurt bestuurt, was übersetzt soviel heißt wie "das Stadtviertel gibt die Richtung vor". Mehr als 30 Anwohner haben sich im Bürgerzentrum de Put in Oud-Mathenesse versammelt. Ahmed Aboutaleb hängt erstmal sein Jackett über die Stuhllehne und setzt sich hemdsärmelig in die Runde; die beiden Sicherheitsbeamten, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten, warten diskret vor der Tür. Atmo: Buurt bestuurt Erzählerin: Der Moderator informiert über erste Erfolge bei den Abfallcontainer-Patenschaften. Vor ein paar Wochen wurden einige Stadtteilbewohner mit einem Schlüssel für die Container ausgestattet, um wild abgestellten Müll entsorgen zu können. Eine ältere Dame mit Dutt wirft ein, dass es bei ihr in der Straße zwar mehrere Mülleimer gebe, der Abfall aber trotzdem immer daneben liege. Für Bürgermeister Aboutaleb ist das alles eine Frage der Erziehung. Kürzlich sei er in Osaka gewesen, einer japanischen Millionenstadt, wo es keinen einzigen Mülleimer und auch keinen Müll auf der Straße gebe. O-Ton: (Rob Kok) Nou vroeger gebeurde het natuurlijk altijd zo, dat wij de problemen bedachten, ...maar die bewoners liggen daar misschien helemaal niet wakker van. Dat kan. Sprecher 2: Früher war es so, dass wir die Probleme benannten, jetzt haben wir es umgedreht. Was ist für Dich ein Problem? Ist es Hundekot, Taubendreck oder Drogenhandel. Es wird mehr auf die Anwohner gehört, denn vielleicht machen wir ein Problem aus Hundekot, der auf den Rasenflächen liegt, aber die Anwohner stört das gar nicht. Erzählerin: Rob Kok, der einmal bei der Luftwaffe diente, ist ein sogenannter Stadtteilhausmeister und damit Ansprechpartner für rund 5000 Haushalte in Oud-Mathenesse. Hier leben vor allem alte Menschen, daneben aber auch ein paar junge, die gerade ins Berufsleben starten. Außerdem viele Polen und Bulgaren. Nicht wenige von ihnen sind verschuldet, auch Einsamkeit im Alter ist ein Problem. Rob Kok hat eine Internet-Seite für das Viertel eingerichtet, auf der sich die Anwohner austauschen können. Er macht Hausbesuche, organisiert Aufräumaktionen und vermittelt zwischen Bewohnern, Immobiliengesellschaft und Behörden. O-Ton : in die wijk is dat een soort van klein burgemeestertje, een spin in het web, zeggen ze in Nederland, ...dan maakt het dat ook weer spannend, denk ik. Sprecher 2: Man ist so eine Art kleiner Bürgermeister, eine Spinne im Netz, wie man in Holland sagt, die ihre Beinchen im ganzen Viertel ausgestreckt hat. Er muss wissen, was in dem Viertel so läuft und manchmal auch eingreifen. Ab und zu knallt es zwischen den Leuten, wegen dem Glauben, Arm gegen Reich, Junkies, das passiert, aber das macht die Arbeit auch spannend. Atmo: Buurt bestuurt Erzählerin: Die Initiative "Buurt bestuurt", sagt Rob Kok, ist inzwischen in 70 Rotterdamer Wohngebieten aktiv. Anwohner, Polizei und Stadtverwaltung entscheiden bei den monatlichen Treffen gemeinsam, welche Probleme wann und wie angegangen werden sollen. O-Ton: (Kok) Kijk als je iets will verbeteren, dan moet je dat met de mensen uit de wijk doen ....en dat zeggen de bewoners ook. Sprecher 2: Wenn man etwas verbessern will, muss man das zusammen mit den Menschen aus dem Stadtviertel tun. Wenn man von vorneherein sagt, ihr seid ein Problemviertel und ich helfe Euch jetzt, dann ist das nicht gut. Genauso wie Ausländer, das ist auch so ein gruseliges Wort. Wir nennen sie neue Rotterdamer. Und Problemviertel heißen bei uns Aufmerksamkeitsviertel. Ja, dieses Viertel bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Das finden die Bewohner auch. Atmo: Buurt bestuurt Erzählerin: Die Aufmerksamkeit des Bürgermeisters ist ihnen gewiss - zumindest für zwei Stunden heute Abend. Aboutaleb hört zu und nickt, gibt Ratschläge, macht Vorschläge. Aber er fordert auch: Zum Beispiel Verständnis für Sparmaßnahmen. Ihm sei es lieber, teure Jugend- und Bürgerzentren zu schließen, als Bürgerinitiativen die Gelder zu streichen, die Menschen in Schwierigkeiten unter die Arme greifen. Und er beschwert sich: Nie würde er die Bürger bei den Gemeinderatsversammlungen sehen, wo jeder ein fünfminütiges Rederecht genießt und den Politikern, die die Entscheidungen fällen, seine Wünsche und Forderungen direkt vortragen kann. O-Ton: (Rob Kok) ...want hij regelt het voor elke burger, wie of wat je ook bent. Sprecher 2: Und wenn etwas ist, sucht er nach einer Lösung, nicht nur für die Marokkaner. Zuerst dachten wir, dass er nur für die Marokkaner da ist, aber er ist für jeden Bürger da, egal wer oder was Du bist. Atmo: Rotterdam Erzählerin: Anfangs war die Skepsis der Rotterdamer groß. Ein Marokkaner als Bürgermeister, dazu noch einer aus dem ungeliebten Amsterdam. Vor dem Rathaus fanden sich am Tag der Amtseinführung ein paar Demonstranten ein. Unter ihnen Heringsverkäufer Rinus van de Heerik. O-Ton: (Rinus van de Heerik) Kijk ze zeggen allemaal hij heeft dit gedaan, hij heeft dat gedaan, die meneer Aboutaleb heeft in totaal helemaal niets gedaan nog voor de stad, ...want als de Rotterdammers hadden mogen kiezen had hij hier niet gezeten, dat weet ik op zeker. Sprecher 5: Sie sagen alle, er hat dieses getan, er hat jenes getan, der Herr Aboutaleb hat noch gar nichts getan für die Stadt. Er wohnt in der Nähe von Den Haag, hat in Amsterdam gesessen und ist auch noch Ajax-Anhänger. Im Feyenoord-Stadion werden schon Witze gemacht, warum der Verein so schlecht spielt. Er wird von den Rotterdamern nicht geliebt, das weiß ich sicher. Wenn die Rotterdamer hätten wählen dürfen, würde er hier nicht sitzen. Musik: Hymne Feyenoord (Jacky van Dam, Hand in Hand) Erzählerin: "Hand in Hand, Kameraden, nicht Worte, sondern Taten", heißt es im Vereinslied des Rotterdamer Fußballclubs "Feyenoord". Und Taten werden auch vom neuen Stadtoberhaupt erwartet. Allerdings glaubten damals, im Jahr 2009, nur wenige, dass Aboutaleb ein Bürgermeister für alle Rotterdamer sein könnte. Vor allem Bewohner sozialer Brennpunkte, wie Rinus van de Heerik, fragten sich, ob der Sozialdemokrat in der Lage sei, hart durchzugreifen. Für den Heringsverkäufer ist der Bürgermeister ein Emporkömmling, der nur den eigenen Aufstieg im Visier hat. Tatsächlich hat Ahmed Aboutaleb eine rasante Karriere hingelegt. Schon während des Studiums der Elektrotechnik, Fachrichtung Telekommunikation, beteiligte er sich am Aufbau eines Ausländerbeirates in Den Haag und kam so zum ersten Mal mit der Politik in Berührung. Nach dem Studium arbeitete Aboutaleb als Radio- und Fernsehjournalist, berichtete in bunt gemusterten Strickpullovern für den Sender Veronica und die RTL-Nachrichten aus dem Parlament. 1991 wurde er mit nur 30 Jahren Pressesprecher der sozialdemokratischen Gesundheitsministerin Hedy d'Ancona und 1998 Direktor des Instituts für Multikulturelle Entwicklung FORUM. O-Ton: (Aboutaleb) Daar is altijd wel kontakt met mij geweest door politieke partijen van, zal je interesse willen hebben ...dan moet daar maar meedoen. Sprecher 1: Es gab eigentlich immer Kontakt zwischen mir und den politischen Parteien, ich wurde mehrfach gefragt, ob ich Interesse hätte, mich um ein parlamentarisches Amt zu bewerben und habe dann immer gesagt, ich bin Mitglied bei der Partij van de Arbeid, ich wähle Partij van de Arbeid, aber ich habe kein Bedürfnis, aktiv zu sein. Bis 2002 Rob Oudkerk sein Amt als Beigeordneter in Amsterdam aufgab und ich gefragt wurde, ob ich Dezernent werden will. Da musste ich dann kurz drüber nachdenken und habe schließlich entschieden, wenn so viele Menschen der Meinung sind, dass ich in einer Stadt etwas bewirken kann, dann sollte ich das auch tun. Erzählerin: In Amsterdam forderte er die Migranten auf, die niederländische Sprache zu lernen, hart zu arbeiten und ihre Kinder in die Schule zu schicken. Sie sollten sich, so der Mann fürs Soziale, nicht immer beklagen. Um sogenannte ‚Sozialhilfebetrüger' aufzuspüren, setzte er auf unangekündigte Hausbesuche. Als im November 2004 ein gebürtiger Marokkaner und islamischer Fundamentalist den Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam auf offener Straße erstach, wurde die niederländische Gesellschaft, die sich soviel auf Toleranz und Konsens zugutehält, in ihren Grundfesten erschüttert. Am Tag nach dem Attentat meldete sich Aboutaleb zu Wort. O-Ton: (Fernsehausschnitt Nachrichtensendung "Tweevandaag") Iedereen, die vind dat hier in dit land .... elke dag vertrekken een heleboel vliegtuigen ...pak je koffers en verdwijn. Sprecher 1: Jeder, der findet, dass in diesem Land Umgangsformen herrschen, die für ihn inakzeptabel sind, der muss einfach nur seine Koffer packen. Jeden Tag fliegen ab Schiphol Flugzeuge in alle Ecken der Welt. Wenn es Dir hier nicht gefällt, sei dann konsequent: Pack Deine Koffer und verschwinde. Erzählerin: In den Wochen nach dem Mord schwappte eine Welle der Gewalt über das Land. 174 Anschläge auf islamische und christliche Einrichtungen registrierte die Polizei allein in einem Monat. Die Journalistin Hassnae Bouazza, die 1978 im Alter von vier Jahren in die Niederlande kam, hat miterlebt, wie sich das Klima zwischen Niederländern und Einwanderern veränderte: O-Ton: (Hassnae Bouazza) Het begon met 11 september al, dat en dan was het niet alleen maar marokkanen maar überhaupt alle moslems, dat ze moesten bewijzen, dat ze deugde, ...maar de dynamiek zie je dus wel, als het een lid van een minderheidsgroepering betreft. Sprecherin 1: Es begann eigentlich schon mit dem 11. September, damals waren nicht nur die Marokkaner, sondern alle Muslime betroffen und mussten plötzlich beweisen, dass sie etwas taugten und nicht einverstanden waren mit den Anschlägen. Dann gab es das Attentat auf Pim Fortuyn und schließlich Theo van Gogh, ermordet von einem marokkanischen Muslim oder jemandem, der sich als solcher bezeichnet. Nach dem Mord an van Gogh habe ich mir große Sorgen gemacht, dass die Stimmung im Land in Gewalt umschlägt. Und es ist bis heute so, dass man als Marokkaner zeigen muss, dass man etwas taugt, dass man die westlichen Normen achtet und diesen ganzen Unsinn. Immer wenn irgendein Marokkaner oder Türke oder Muslim etwas Böses anstellt, wird die ganze Gemeinschaft mit ihm in einen Topf geworfen, was natürlich nicht passiert, wenn ein Weißer eine Straftat begeht. Dafür wird nie die ganze Gesellschaft verantwortlich gemacht, das gehört sich auch nicht. Aber diese Dymanik gibt es eben, wenn es um ein Mitglied einer Minderheit geht. Erzählerin: Das Unbehagen in Teilen der niederländischen Bevölkerung gegenüber Muslimen im Allgemeinen und Marokkanern im Speziellen gärt schon lange. 2001 ging Pim Fortuyn mit Parolen wie "das Boot ist voll" auf Stimmenfang. Der Soziologiedozent und bekennende Homosexuelle, der sich im Laufe seines 54-jährigen Lebens vom Leninisten zum Rechtsaußen gewandelt hatte, gerne Maßanzüge trug, dicke Zigarren rauchte und sich in einem Bentley herumchauffieren ließ, bezeichnete den Islam pauschal als rückwärtsgewandte Kultur und Bedrohung. Wenige Tage vor den Parlamentswahlen im Mai 2002 wurde Fortuyn von einem militanten Tierschützer auf offener Straße erschossen. Seine Partei wurde zweistärkste Kraft und zerfiel kurze Zeit später. Aber der Ton in der politischen Debatte hatte sich verändert. Eine rechte Partei nach der anderen wurde gegründet. Am erfolgreichsten ist bis heute Geert Wilders mit seiner Freiheitspartei, auch bei deutschen Pegida-Kundgebungen ein gern gesehener Gast. O-Ton Pegida: Wir haben genug von politischer Korrektheit, wir haben genug von der Islamisierung unserer Gesellschaft, wir stehen ein für die Freiheit, für die Wahrheit und wir wollen ein Leben in Freiheit und Wahrheit, weil wir der Meinung sind, ohne Freiheit ist das Leben nicht lebenswert. O-Ton: (Hassnae Bouazza) Maar nu ...is racisme, heeft het andere gedaantes aangenomen, of in ieder geval, men geeft het een andere gedaante, ze noemen het: benoemen of "niet wegkijken voor problemen", ...Dus je mag je wel rassistisch uiten, mag allerlei rare troep zeggen, zolang je het maar niet benoemd als rassisme. Wat je ziet is, dat het debat in Nederland, wat eerst een integratiedebat was, ...om de gunst van de kiezers maar te winnen. Sprecherin 1: Der Rassismus hat eine neue Form angenommen, es heißt hier jetzt "Probleme benennen" oder "vor Problemen nicht die Augen verschließen", das hat sich verändert. Es ist in Holland inzwischen vollkommen normal über "Neger" zu sprechen, wenn man schwarze Menschen meint, es ist normal, jemanden aus Marokko oder einen Muslim als Pädopropheten zu bezeichnen oder zu rufen, geh doch zurück in deinen Sandkasten oder nach Sandnegristan. Das Tabu, Menschen aufgrund ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Kultur auszugrenzen, ist verschwunden, und das haben wir der Politik zu verdanken. Nicht nur der Partij van de vrijheid von Geert Wilders. Auch alle anderen Parteien sind nach rechts gerückt, um die Gunst der Wähler zu gewinnen. Atmo: Rathaus Erzählerin: Umso mehr überraschte im Herbst 2008 die Nachricht, dass Ahmed Aboutaleb der neue Bürgermeister von Rotterdam werden sollte, jener Stadt also, in der Pim Fortuyn sechs Jahre zuvor als Spitzenkandidat von "Leefbaar Rotterdam" , dem lebenswerten Rotterdam, mit ausländerfeindlichen Parolen aus dem Stand 34,7 Prozent der Stimmen holte und damit das langjährige Machtmonopol der Sozialdemokraten beendete. Musik O-Ton: (Amtseinführung Aboutaleb/Protokollführerin Karin Hanstede) Wij, Beatrix, bij de gratie gods konigin der Nederlande, princess van Oranje-Nassau enz. enz. enz. op voordracht van onze minister van binnenlandse zaken en Konikrijkrelaties ...s'Gravenhage, 3. november 2008, Beatrix. Sprecherin 2: (Voice over) Wir, Beatrix, Königin der Niederlande von Gottes Gnaden, Prinzessin von Oranje-Nassau und so weiter und so fort, haben das Ersuchen unseres Innenministers vom 31. Oktober 2008, Nummer BK 0859057, Abteilung Königreichs- und Kabinettsangelegenheiten, für gut befunden und ernennen am 5. Januar 2009 Herrn Ingenieur A. Aboutaleb zum Bürgermeister der Gemeinde Rotterdam. Der Innenminister ist beauftragt mit der Ausführung dieses Beschlusses. Den Haag, 3. November 2008, Beatrix. Erzählerin: In den Niederlanden werden Bürgermeister nicht von der Bevölkerung, sondern vom Gemeinderat gewählt. Zuvor berät der Kommissar der Königin oder des Königs mit einer Vertrauenskommission über die verschiedenen Bewerber. In Rotterdam galt 2008 der Christdemokrat Geert Leers, der schon in Maastricht Bürgermeistererfahrungen sammeln konnte, als aussichtsreichster Kandidat. Mehr als vier Stunden lang stritten sich die Mitglieder des Gemeinderates am Tag der Entscheidung. Das Ergebnis der geheimen Wahl war dann nicht nur in Holland eine Sensation: der erste muslimische Bürgermeister einer europäischen Großstadt. Was versprach man sich von Aboutaleb, vom "Obama von der Maas"? O-Ton: (Jan Franssen, Kommissar der Königin) De wereldstad Rotterdam heeft een wereldburgemeester. ... heel veel kunt bereiken. Sprecher: Die Weltstadt Rotterdam hat einen Weltbürgermeister. Das ist der Beweis, dass es für Niederländer mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft keine gläserne Decke geben muss. Dass man mit harter Arbeit und wenn man seine Chancen ergreift, viel erreichen kann. Erzählerin: Jan Franssen, der Kommissar der Königin, bei der feierlichen Amtseinführung im Januar 2009. O-Ton: (Jan Franssen) Rotterdam dames en heren, is een stad, die de burgemeester ... Sprecher 2: Rotterdam, meine Damen und Herren, ist eine Stadt, die dem Bürgermeister, und dafür verdienen die politisch Verantwortlichen ein Kompliment, breiten Raum lässt, um ihr seinen Stempel aufzudrücken. Gleichzeitig sind die Erwartungen hoch, um es auf Rotterdams, also direkt zu sagen, der neue Bürgermeister muss schon etwas abliefern. Erzählerin: Die Kritik im Ratssaal blieb nicht aus. Vertreter von "Leefbaar Rotterdam", die einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt hatten, hielten den gebürtigen Marokkaner Aboutaleb für den falschen Mann an der Spitze einer Stadt, in der ihrer Meinung nach die Mehrheit der Einwanderer die Integration verweigere. Dass der neue Bürgermeister nicht nur den niederländischen, sondern auch einen marokkanischen Pass besitzt, war für Parteichef Marco Pastors ein Zeichen fehlender Loyalität. O-Ton: (Marco Pastors) Wj bieden U als welkomsgeschenk daarom een envelop aan. Niet met inhoud maar wel gefrankeerd en geadresseerd aan de koning van Marokko. ...bewijzen dat U de juiste keuze bent geweest. (Applaus) Sprecher 4: Wir bieten Ihnen als Willkommensgeschenk darum einen Umschlag an. Ohne Inhalt, aber frankiert und adressiert an den König von Marokko. Da können Sie Ihren Pass reintun oder, wenn Sie sich das nicht trauen, einen Brief schreiben und auch in dieser Hinsicht ein Vorbild sein. Sie finden das vielleicht nicht besonders nett von mir, aber Ihre Stellung in unserem Land bringt diese moralische Verpflichtung mit sich. "Leefbaar Rotterdam" wird Sie arbeiten lassen. Und wenn Sie tun, was sie versprochen haben, dann können Sie Rotterdam, den Niederlanden und "Leefbaar Rotterdam" beweisen, dass Sie die richtige Wahl waren. Atmo: Rathaus Erzählerin: Seine zwei Pässe hat Aboutaleb behalten. Aber das erste Amtsjahr war hart. Den Genossen seiner Arbeitspartei war er nicht links genug, den Rechten nicht rechts genug, manchen Muslimen nicht muslimisch genug. Aboutaleb wurden Fehler vorgeworfen. Als bei Krawallen von Fußball-Hooligans ein Polizist einen Jugendlichen erschoss, schwieg der Bürgermeister zunächst. Später bat er dafür um Verzeihung, setzte eine Untersuchungskommission ein und zeigt seitdem demonstrativ Bürgernähe. Auf jede E-Mail eines Bürgers antwortet er persönlich, wenn es sein muss, auch am Wochenende. Seine Arbeitstage sind lang. Gestern war er erst gegen neun Uhr abends zuhause, erzählt er mir, und heute bei "Buurt bestuurt" wird es noch später werden. O-Ton: (Moderator Buurt bestuurt) Omdat U kwam hebben we gedacht, ja we zijn een jaar of drie zijn we nu bezig, ...maar we beginnen eigenlijk, waar we altijd mee beginnen en dat zijn de politiezaken. Sprecher 5: Da Sie schon mal hier sind, wollen wir bei "Buurt bestuurt" auch von der Gelegenheit Gebrauch machen, ein Resümee zu ziehen und zu fragen: Was ist gut gelaufen, was läuft okay, was könnte besser laufen und was klappt noch gar nicht? Wir beginnen aber wie immer mit dem Polizeibericht. Atmo: Buurt bestuurt (Marsha + Aboutaleb) Erzählerin: Bei Stadtteilpolizistin Marsha steht heute nur wenig auf der Liste. Keine Überfälle, keine Wohnungseinbrüche, nur ein paar aufgebrochene Autos in einer Tiefgarage, ansonsten war alles ruhig. Die sogenannte "Dunkle-Tage-Offensive" mit mehr Polizeipräsenz auf der Einkaufsstraße bei Ladenschluss scheint ein Erfolg. Auch Aboutaleb, als Bürgermeister verantwortlich für die Sicherheit in der Stadt, hat nur gute Nachrichten zu vermelden. Laut Statistik habe sich die Zahl der Raubüberfälle seit 2011 mehr als halbiert; Einbrüche gebe es seither um ein Drittel weniger. O-Ton: (Rob Kok) De veiligheid in Oud-Mathenesse, maar ik denk in heel Rotterdam is wel okay, natuurlijk gebeurt er wellis wat, zeker, maar daar ben je ook een wereldstad voor, ...ja, dat is niet altijd gelijk aan de veiligheid. Sprecher 2: Die Sicherheit in Oud-Mathenesse und auch in ganz Rotterdam ist eigentlich okay, natürlich passiert hier und da was, aber dafür sind wir auch eine Weltstadt. Anders ist das mit dem Sicherheitsgefühl. Die Zahl der Straftaten sinkt zwar, aber die Menschen fühlen sich trotzdem nicht sicherer. Atmo: Bahnhof Rotterdam (Durchsage) Erzählerin: Auch das Bahnhofsviertel, früher in der Hand von Drogenhändlern und Kleinkriminellen, erstrahlt nach jahrelangen Baumaßnahmen inzwischen in neuem Glanz. Moderne Bürogebäude mit Spiegelfassaden, schicke Läden, Restaurants und Cafés verströmen aufgeräumtes Großstadtflair. Dennoch belegt Rotterdam auch heute noch in der landesweiten Kriminalitätsstatistik einen der vorderen Plätze. Früher lebten die Rotterdamer vom Hafen - dem größten Europas. Heute haben Maschinen dort die Menschen ersetzt und die Millionen, die mit den Frachtschiffen aus aller Welt erwirtschaftet werden, landen bei multinationalen Unternehmen und kaum bei den Einwohnern der Stadt. Atmo: Markthalle Erzählerin: Es gibt viele Stadtteile mit hoher Arbeitslosigkeit; in Feyenoord, wo nicht nur das Stadion, sondern auch die größte Moschee des Landes steht, sind knapp 70 Prozent der Bewohner Einwanderer. Sie verfügen in der Regel über weniger Einkommen und Wohnraum, sind schlechter ausgebildet, häufiger arbeitslos und kriminell. Vor allem marokkanische Jugendliche und junge Männer zwischen 12 und 25 Jahren sind in der Kriminalitätsstatistik seit langem überrepräsentiert. Im Jahr 2012 ermittelte das niederländische Zentralbüro für Statistik, dass sie vier bis fünf Mal häufiger unter Verdacht geraten als Niederländer; bei Gewaltdelikten liegt die Quote sogar 22 Mal höher. O-Ton: (Mohammed El Joghrafi) Maar de Marokkanen-jongen, die hebben ook, de meeste hebben geen werk, geen opleiding, ...Ze hebben geen buurthuizen, waar ze binnen kunnen lopen, ze hebben geen school meer, ze hebben geen werk, geen stageplek, ja. Sprecher 3: Aber die marokkanischen Jungen, die haben auch keine Arbeit, keine Ausbildung und wenn sie sich bewerben, meine Tochter zum Beispiel, die hat 33 Briefe geschrieben für ein Praktikum. Sie bekam zwei Antworten. Auf 33 Bewerbungen, ich habe die Briefmarken geklebt. Versuch mal, Dich zu bewerben, wenn Du Mohammed heißt. Da wirst Du noch nicht mal eingeladen, das ist auch bekannt. Ja und die Jungens, die hängen auf der Straße rum, was sollten sie machen? Jugendzentren gibt es nicht mehr, sie gehen nicht mehr zur Schule, haben keinen Job, kein Praktikum. Erzählerin: Mohammed El Joghrafi arbeitet seit seiner Pensionierung ehrenamtlich in einem Bürgerzentrum in Spangen. Wie Bürgermeister Aboutaleb stammt auch er aus Marokko und ist Mitglied bei der Arbeitspartei. Früher war er Maschinenbauer in einem großen Betrieb in der Nähe des Hafens. Heute berät er Menschen, die verschuldet sind oder ihre Miete nicht bezahlen können, hilft bei Anträgen auf Sozialhilfe und Rente und beschäftigt eine Menge junger Leute als Praktikanten, um sie von der Straße zu holen. O-Ton (Mohammed El Joghrafi): Ik zou gewoon adviseren, als ze naar mij luisteren, laat de jongens en meisjes leren, want ze zijn de toekomst van ons. Sprecher 3: Wenn Sie mich fragen, lass die Jungen und Mädchen lernen, denn sie sind unsere Zukunft. Musik: Appa feat. Sjaak, Ik heb schijt Erzählerin: Wenig Geld, keine Perspektiven, dazu das Gefühl nicht willkommen zu sein, sind für manch einen Grund genug, der niederländischen Gesellschaft den Rücken zu kehren. "Ich scheiß auf die Obrigkeit, ich scheiß auf alles und jeden", beschreibt der niederländisch-marokkanische Rapper Sjaak das Lebensgefühl vieler Jugendlicher. Bürgermeister Aboutaleb ist für sie ein Überläufer und Verräter, der vergessen hat, wer seine Brüder sind und sich bei den Weißen anbiedert. O-Ton: (Aboutaleb) Voor sommige ben ik absoluut de held en ook een goed voorbeeld, ...en in die wereld zitten helaas ook wat marokkanen en die vinden mij vervelend. Sprecher 1: Für manche bin ich absolut ein Held und auch ein gutes Vorbild, aber es gibt auch Menschen, die sehr kritisch sind und andere, die mich gar nicht akzeptieren, aber es ist vermutlich bei keinem Bürgermeister so, dass alle immer applaudieren. Ich habe natürlich Befugnisse als Bürgermeister, die manchem nicht gefallen, ich bin unwahrscheinlich hart in Sachen Kriminalität, hart, wenn Gesetze und Regeln nicht befolgt werden, hart in Punkto Koffieshops, und in diesen Kreisen verkehren leider auch Marokkaner und die finden mich lästig. Erzählerin: Ahmed Aboutaleb weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet arm zu sein. Sein Vater war Imam in einem kleinen Dorf im marokkanischen Rif-Gebirge, seine Mutter kann bis heute weder lesen noch schreiben. O-Ton: (Aboutaleb) Ik ben geboren in een omgeving, ...ja dat was eigentlijk ons leven. Sprecher 1: Groß geworden bin ich in einer dörflichen Gegend, wo die Menschen von dem lebten, was der Boden so hergab, kleine Bauern, die meistens auch eine Kuh, eine Ziege oder ein paar Schafe hatten und füreinander einstanden. Ja, das war unser Leben. Erzählerin: Es gab weder Strom noch fließend Wasser in Beni Sidel, erzählt Ahmed Aboutaleb. Jeden Tag musste er barfuß zu einem weit entfernten Brunnen laufen und eimerweise Wasser nach Hause schleppen. Immerhin gab es eine kleine Grundschule, untergebracht in einem alten spanischen Aussichtsposten, und einen Lehrer, der alle Kinder gemeinsam unterrichtete. O-Ton: De onderwijzer leeft overings nog, die zie ik af en toe, hij is al behoorlijk op leeftijd, ..."een zwarte klas" en zwarte klas was goed. Sprecher 1: Der Lehrer lebt übrigens noch, ich besuche ihn ab und zu, er ist schon sehr alt. Aus dieser Klasse ist ein Richter hervorgegangen, ein Lungenarzt, ein hoher Beamter und der heutige Vorsitzende der marokkanischen Menschenrechtskommission, eine echte Erfolgsklasse, die war wirklich gut. Erzählerin: Die Naturalien, mit denen der Vater als Imam entlohnt wurde, reichten nicht, um die Familie zu ernähren. Mitte der 60er-Jahre verließ er Frau und Kinder, um sich in Algerien als Tagelöhner zu verdingen. Von dort aus zog er weiter nach Frankreich, arbeitete auf Bauernhöfen und in Fabriken, bevor er schließlich in Holland landete und im Hotel- und Gaststättengewerbe Arbeit fand. Der Fernsehreporter Jaap van Meekren reiste 1969 für eine Reportage über die Anwerbung von Gastarbeitern nach Marokko: O-Ton: (Fernsehreportage 1969) Dit is Udjar in Marokko. Het land, wat in het verleden 15.000 werkkrachten naar Nederland leveerde, werkkrachten, die men gastarbeiders noemt, ...Vous parlez francais? - Oui - Combien des annees vous etes allés à l'ecole? - 8 ans - Pas accepté. Non, je cherche l'autre type. Vous parlez francais? (Weiter als Atmo) Sprecher 4: Das ist Udjar in Marokko. Das Land, das in der Vergangenheit 15.000 Arbeitskräfte in die Niederlande lieferte, die man Gastarbeiter nennt, aber die einerseits lange nicht besonders gastfreundlich empfangen wurden, anderseits aber auch nicht besonders mit Verhaltensweisen glänzten, die wir von unseren Gästen erwarten. Schwierigkeiten also, aber es gibt in unserem Land eine zunehmende Nachfrage von Arbeitskräften und Marokko hat ein überbordendes Angebot. Um die Möglichkeiten voll auszunutzen und Schwierigkeiten zu vermeiden, haben die marokkanische und die niederländische Regierung im Mai eine Übereinkunft geschlossen und Simon Evert Jongejaan ist im Namen unseres Ministeriums für soziale Angelegenheiten aus Schliedrecht nach Marokko gekommen. Er ist der Mann, der für die Niederlande wirbt und selektiert. Sprecher 4: Sprechen Sie Französisch? Sprecher 3: Ja Sprecher 4: Wieviele Jahre sind Sie zur Schule gegangen? Sprecher 3: Acht Jahre. Sprecher 4: Nicht akzeptiert. Nein, ich suche was anderes. Erzählerin: Der staatliche Anwerber Jongejaan suchte 1969 möglichst ungebildete Arbeitskräfte, die in den Niederlanden als Fabrikarbeiter gebraucht wurden. Marokkanische Männer mit Schulabschluss sortierte er direkt aus. Ahmed Aboutaleb zog 1976 im Rahmen der Familienzusammenführung mit Mutter und Geschwistern in die Niederlande. Da war er gerade 15 Jahre alt. Rolltreppen, Autobahnen, fremde Gesichter, eine winzige Etagenwohnung in einem heruntergekommenen Stadtteil von Den Haag statt des großen Hauses in Marokko und die Kälte, das waren seine ersten Eindrücke. O-Ton: (Aboutaleb) Verloren gevoel inderdaad, ik denk dat ik een maand of drie, vier s'avonds in mijn eentje in het bed lag te huilen, van wat gaat het worden en veel heimwee, ...dat je geen taal spreekt, dat geassocieerd wer met, dus zit er geen talent in, is heel ernstig in Nederland. Sprecher 1: Ein Gefühl der Verlohrenheit. Ich glaube, ich habe drei oder vier Monate lang jeden Abend, wenn ich allein war, geheult. Ich hatte viel Heimweh, fühlte mich überfordert und unsicher. Mein Vater schien leider doch nicht ganz auf der Höhe zu sein, was das niederländische Schulsystem angeht. Auf welche Schule sollte ich gehen? Ich war zufälligen Begegnungen ausgeliefert mit Menschen, die mir irgendetwas erzählt haben. Es gab keine Struktur, ich wurde nicht gefragt, was ich wollte oder was ich kann, es wurde irgendwie ausgeknobelt. Ich habe auch das Gefühl, dass ich auf der falschen Schule gelandet bin, einer technischen Berufsschule. Später wurde zwar alles noch zurechtgebogen, aber ich glaube, ich habe dort nicht hingehört. So ist das, wenn man die Sprache nicht spricht, dann denken sie, dieser Junge kann nur mit den Händen arbeiten. Also die Tatsache, dass man die Sprache nicht spricht, wird assoziiert mit fehlendem Talent, das ist sehr stark in den Niederlanden. Erzählerin: Ahmed kaufte sich Wörterbücher, setzte sich an den Schreibtisch und lernte, sagt er. Mit 20 sprach er fehlerfrei Niederländisch. Bis heute lautet sein Credo: Sich bilden und hart arbeiten. Jeder könne aufsteigen, wenn er sich nur anstrenge. Und wer das nicht von selbst tut, der wird unter Druck gesetzt. Eltern von Schulschwänzern wird das Kindergeld gestrichen, wer keinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz hat, muss den Job nehmen, den ihm das Arbeitsamt zuweist. Wer sich weigert, verliert den Anspruch auf Arbeitslosengeld. O-Ton: Sommige verwachten, dat als het ware zonder condities voor hen opkomt en dat wijger ik, ...die heel graag fatsoenlijke burgers een arm op de schouders legt, als ze het moelijk hebben. Sprecher 1: Einige erwarten von mir Sonderkonditionen und die verweigere ich, aber gleichzeitig bin ich auch sehr sanft zu den Menschen. Ich bin sehr dafür, in Bildung zu investieren. Ich bin unglaublich hart zu jedem, der über die Stränge schlägt, aber ich bin auch jemand, der gerne ordentlichen Bürgern die Hand auf die Schulter legt, wenn sie es schwer haben. Erzählerin: Als gütiger, aber strenger Bürgervater, so präsentiert sich der 54-Jährige am liebsten. Und wer kann der marokkanischen Gemeinschaft in Rotterdam besser die Leviten lesen als er? Ein Niederländer, geboren in Marokko, der den Koran kennt, Arabisch und auch die Berbersprache spricht. Seine markigen Sprüche unterscheiden sich inhaltlich oft nur wenig von den Verbal-Attacken des rechten Geert Wilders. Im Juli 2015, in der dreistündigen Fernsehsendung "Sommergäste", die Aboutaleb mit Einspielfilmen über seinen Werdegang bestückte, wählte er unter anderem einen Wahlkampfauftritt des Kontrahenten. O-Ton: (Fernsehausschnitt Zomergasten: Wilders/Aboutaleb) Willen jullie in deze stad meer of minder marokkanen? (Menge klatscht und ruft) Minder, Minder, minder. - Dan gaan we dat regelen... wanneer gaat U bij mijn ouders langskomen, wanneer komt U ze ophalen? Sprecher 4: Wollt ihr in dieser Stadt mehr oder weniger Marokkaner haben? Sprecher 1: Dann werden wir das regeln. Das bedeutet, dass Du einen Plan hast oder einen ausbrütest. Und ich finde, die Gesellschaft hat ein Recht zu erfahren, wie der aussieht. Mit anderen Worten, wenn es von meinen Eltern oder auch mir in diesem Land etwas weniger geben soll, wird es wohl auch einen Plan geben, wie das realisiert werden soll? Dann ist meine Frage an Herrn Wilders: Wann kommen Sie bei meinen Eltern vorbei und holen sie ab? Erzählerin: Wilders und Aboutaleb zählen heute zu den populärsten Politikern in den Niederlanden. Würde jetzt gewählt, behaupten Umfragen, erhielte Wilders mit seiner "Freiheitspartei" die meisten Stimmen. Aber auch der Bürgermeister von Rotterdam kommt bei denen, die mit ihren muslimischen Mitbürgern ihre Probleme haben, ganz gut an: O-Ton: (Aboutaleb) Het is voor mij vrij invoudig, dit soort liden, die ongeloofelijk zich wijden aan dit soort terroristische aktiviteiten ...dat je ze de hand boven het hoofd houdt. Sprecher 1: Für mich ist das ganz einfach. Menschen, die sich an terroristischen Aktivitäten weiden, die beschmutzen als erstes die muslimische Gemeinschaft in Europa. Die Muslime haben auch als erste darunter zu leiden. Zurzeit ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt, die Unterstützung für Muslime und den Islam in Europa ist weggebrochen, und die Terroristen haben dabei eine Hauptrolle gespielt. Sei aufmerksam. Und vermittele diesen Leuten nicht den Eindruck, dass du schützend Deine Hände über ihr Haupt legst. O-Ton: (Bouazza) Een soort herezen Jesus was het,...mensen vonden dat heel erg, mensen vonden dat heel erg, dat ik het niet goed vond, ze begrepen het ook niet. Sprecherin 1: Eine Art wiederauferstandener Jesus war er! Ich wurde auch von vielen Menschen zurechtgewiesen, es sei doch gut, was er tut. Jeder kann das natürlich toll finden, ich habe da so meine Bedenken, wenn jemand sich auf Kosten einer schwächeren Gruppe, die sich nicht gut zur Wehr setzen kann, profiliert. Er ist natürlich ein Politiker, ein Karrieremensch, jemand mit Macht und einen Netzwerk und vielen Möglichkeiten. Es ist ein ungerechtes Spiel, das er spielt, um seinen Ruhm zu mehren, und das nehme ich ihm übel. Aber es gab einige Menschen, die es schlimm fanden, dass ich seine Äußerungen nicht gutheiße, und sie haben es auch nicht verstanden. Erzählerin: Hassnae Bouazza möchte gern das Klischeebild, das manche Niederländer von Marokkanern haben, korrigieren. Nicht auf die Unterschiede schauen, sondern Gemeinsamkeiten finden, nicht problematisieren, sondern normalisieren. O-Ton: (Hassnae Bouazza) Misschien ziet hij zichzelfs als bruggebouwer, hij zou een bruggebouwer kunnen zijn, maar zo fungeerd hij niet, ...mensen zien hem als de marokkaan, die deugt. Sprecherin 1: Vielleicht sieht Aboutaleb sich selbst als Brückenbauer, er könnte auch einer sein, aber er ist es nicht. Denn er profiliert sich auf Kosten der marokkanischen Gemeinschaft. Wenn man Vertrauen schaffen will, dann muss man die Gemeinsamkeiten verstärken und nicht Misstrauen schüren. Und man sollte nicht in das Geheule einstimmen: Sie müssen sich distanzieren, sonst taugen sie nichts, sie müssen mitdemonstrieren, sonst taugen sie nichts und sollen abhauen. Nein, ich denke nicht, dass er damit wirklich einen positiven Beitrag geleistet hat, außer vielleicht für sich selbst. Die Menschen sehen in ihm den Marokkaner, der was taugt. Erzählerin: In Rotterdam sind die meisten Kritiker Aboutalebs inzwischen verstummt. Ende 2014 wurde der strenge Muslim mit großer Mehrheit vom Gemeinderat für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt. Unter den Unterstützern waren auch Vertreter von "Leefbaar Rotterdam". O-Ton: (Aboutaleb) Ik hoop dat als ik weg ga dat mensen zullen zeggen, ...kleine voetnoot mag zijn in de Rotterdamse geschiedenis. ...Ik ben niet ooit gaan denken van politik dat is mijn uiterste bestemming,... ik leef mijn leven zo als het mij gegeven is, zeg ik regelmatig. Sprecher 1: Ich hoffe, dass die Menschen, wenn ich hier weggehe, sagen werden, dieser Mann hat zum Frieden in dieser Stadt beigetragen. Er hat für mehr Bildung gesorgt und hatte ein Auge auf seine Bürger. Und ansonsten würde ich mich freuen, eine ganz kleine Fußnote in der Rotterdamer Geschichte zu sein. Ich habe nie gedacht, dass Politik meine Bestimmung ist, das, was ich unbedingt machen will. Ich plane mein Leben auch nicht, ich lebe mein Leben, so wie es mir gegeben ist, sage ich immer. Musik Absage: Bürgermeister mir zwei Pässen - Wie der Marokkaner Ahmed Aboutaleb Rotterdam regiert. Ein Feature von Claudia Heissenberg. Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016. Es sprachen: Janina Sachau, Josef Tratnik, Volker Niederfahrenhorst, Frank Meyer, Bernd Reheuser, Fiona Metscher und Katherina Wolter Ton und Technik: Michael Morawietz und Angelika Brochhaus Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Hermann Theißen 1