KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Luftgeister und Paladine - Der italienische Schriftsteller und Verlagslektor Italo Calvino Autor : Maike Albath Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 14.09.2010 Besetzung : Autorin (spricht selbst) : Sprecher : Sprecherin : Zitator Musik/o-Ton (V-Sp.) Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig DeutschlandRadio Kultur Wortspiel Red.: Sigried Wesener Maike Albath Sendedatum: 14.09.10 Wortspiel: Luftgeister und Paladine. Der italienische Schriftsteller und Verlagslektor Italo Calvino Regie: Musik, ev. zwischen den O-Tönen hochkommen lassen, Neorealismo, CD 1, "Ossessione", Track 9 Zitator: Ich beginne damit, dass ich im Zeichen der Waage geboren wurde: In meinem Charakter korrigieren sich das Unausgeglichene und das Ausgeglichene gegenseitig und mildern Exzesse ab. (Italo Calvino, übersetzt v. Maike Albath, zit.n. Maike Albath, Der Geist von Turin, Berenberg Verlag Berlin 2010) O-1, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Er war verschlossen. Ein Ligurer, die Ligurer sind verschlossen. Die Orte, aus denen wir kommen, prägen auch unseren Charakter. Zitator: Ich kam zur Welt, als meine Eltern nach vielen Jahren in der Karibik den Weg in die Heimat antraten: Daher rührt die geographische Unbeständigkeit, die mich fortwährend ein Anderswo ersehnen lässt. (op.cit.) O-2, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Er war sehr schüchtern. Oder vielmehr introvertiert. Seine Schüchternheit hing mit seinem zurückhaltenden Wesen zusammen. O-3, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Er hat nicht sehr viel gesprochen, meistens stotterte er sogar. Mit seinen ganzen Liebesgeschichten hat er uns dauernd in Atem gehalten, manchmal auch unfreiwillig. O-4, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Er war einfach nicht der Typ, der sofort auf andere zuging und sagte, ah, kommt her, wir sind alle Freunde, so wie die Neapolitaner, nein. Das war nicht seine Art. Er blieb eher für sich. Regie: Musik, wie oben, ab 0'40 Zitator (auf Musik): Das Wissen meiner Eltern umfasste das Reich der Vegetation, seine Wunder und Tugenden. Ich wurde von einer anderen Vegetation angezogen, der der geschriebenen Sätze, und kehrte dem, was meine Eltern mir hätten beibringen können, den Rücken; aber auch die menschliche Weisheit blieb mir fremd. (op.cit.) O-5, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Er war sehr intelligent, sehr gut, als Schriftsteller sehr fähig. Ein hervorragender Schriftsteller, auch wenn wir damals fanden, er sei zu oberflächlich, denn wir waren alle Revolutionäre. Aber als die sowjetischen Panzer 1956 nach Ungarn vorrückten, klärten sich ein paar Dinge, und wir verabschiedeten uns vom Kommunismus. Zitator: Als jemand, der in Zeiten der Diktatur aufwuchs und im wehrpflichtigen Alter vom totalen Krieg erwischt wurde, halte ich ein Leben in Frieden und Freiheit für ein zerbrechliches Glück, das mir jederzeit wieder genommen werden kann. Durch meine Arbeit im Verlag habe ich den Büchern der anderen mehr Zeit gewidmet als meinen eigenen. Das sage ich nicht mit Bedauern: All das, was der Gesamtheit des zivilisierten Zusammenlebens nützt, ist klug verbrauchte Energie. (op.cit.) Regie: Musik, Neorealismo, CD 1, "Umberto D.", Track 6, ab 0'36 Autorin (auf Musik): Italo Calvino, Romancier, Prosaautor, Essayist. Großer Märchensammler und jahrzehntelang Lektor im Turiner Verlagshaus Einaudi. Ein kleiner Mann, der unter dicken Augenbrauen ziemlich munter hervorschaut. 1923 auf Kuba geboren und in San Remo aufgewachsen, beginnt er nach dem Abitur eher widerwillig, an der Universität von Turin Agrarwissenschaften zu studieren. Seine Eltern, berühmte Agronome und Botaniker, wünschen es so. Calvino verfasst unterdessen Erzählungen, Theaterstücke und unzählige Briefe. Vor allem an seinen Schulfreund Eugenio Scalfari: Zitator: Es ist Juni/ Es ist 8 Uhr 20/ Es ist der zehnte/ Salve, Eugenio./ Zeitung erhalten, Brief erhalten./ AD ZEITUNG/ Entschuldige, es mögen die Prüfungen sein (gestern habe ich eine abgelegt; fast ohne den Mund aufzumachen, habe ich eine 21 eingeheimst), es mag Christina sein (sie ist blond, hat himmelblaue Augen, und die Haut auf ihren Wangen ist weich und frisch wie eine Pflaume), ich habe mir Mühe gegeben, Deinen Artikel zu lesen, aber beim besten Willen nichts davon kapiert. (...) SAG MAL HE Wofür hältst Du mich eigentlich, für einen Ignoranten? Dass meine Erzählungen einem veralteten Genre angehören, das wusste ich schon, bevor es Dir auffiel, ich wusste es sogar schon, als ich sie schrieb. Na und? Alle Großen haben angefangen, indem sie andere nachahmten. (Italo Calvino, Ich bedaure, dass wir uns nicht kennen. Briefe 1941-1985. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Hanser Verlag München 2007) Autorin: Der schreibwütige Student steckt voller Tatendrang, kann ein paar Kinokritiken in Zeitschriften unterbringen und nimmt an einem Wettbewerb für Theaterstücke teil. Doch dann überstürzen sich die politischen Ereignisse. Regie: Musik, Neorealismo, CD 1, "Paisà", Track 2, 0'19 Autorin (auf Musik): Am 8. September 1943 gibt die Regierung Badoglio den Waffenstillstand bekannt, die Alliierten rücken von Sizilien nach Apulien und Kampanien, im Norden wird die Republik von Salò installiert. Es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Italo Calvino kann sich in San Remo verstecken. Einige Wochen später geht er in den Widerstand und stößt er mit seinem jüngeren Bruder Flori zu den kommunistischen Brigate Garibaldine vor. Zwanzig Monate kämpft er in den ligurischen Bergen. Der Kunsthistoriker Carlo Ginzburg, der älteste Sohn von Leone Ginzburg, dem Mitbegründer des Einaudi Verlages und der Schriftstellerin Natalia Ginzburg, erkennt in dieser Entscheidung den Charakter seines älteren Freundes: unbestechlich, streng gegen sich selbst, von einer politischen Moral durchdrungen. O-6, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Auf dem Gymnasium von San Remo gab es zwei Schulfreunde. Einer hieß Italo Calvino, der andere Eugenio Scalfari. Scalfari ging nicht zu den Partisanen. Er wurde später ein wichtiger Zeitungsmann und hat La Repubblica gegründet. Es gibt diesen großartigen Brief, in dem Calvino schreibt, dass sich sein Freund niemals vorstellen könne, was diese Zeit bedeutet habe. Zwei Menschen, die mehr oder weniger aus demselben sozialen Milieu stammen, - Calvinos Familie war schon etwas Besonderes, dennoch ähnelt sich ihre Herkunft -, die aber vollkommen verschiedene Entscheidungen treffen, die bezeichnend sind. Der eine geht in den Widerstand, der andere nicht. Regie: Musik, Neorealismo, CD 1, "Umberto D.", Track 6, Anfang Zitator: Lieber Eugenio, ich dachte schon, Du seiest tot, nachdem ich auf meine verschiedenen Schreiben, die ich Dir seit der Befreiung geschickt habe, keine Antwort bekam, bis ich dann neulich endlich Deine Karte erhielt. Wir sind alle am Leben; Ihr "dort unten" werdet nie begreifen können, was diese Zeit für uns bedeutet hat und wie glücklich sich jeder schätzen kann, der sie überlebt hat. Ich kann das mit mehr Grund sagen als jeder andere, da mein Leben in diesem letzten Jahr eine einzige Folge von Umschwüngen war: Ich war die ganze Zeit Partisan und bin durch eine Menge unbeschreiblicher Gefahren und Entbehrungen gegangen; ich habe Gefängnis und Flucht kennen gelernt, mehrmals habe ich dem Tod ins Angesicht geschaut. Doch ich bin zufrieden mit allem, was ich getan habe, mit dem Kapital an Erfahrung, das ich angesammelt habe, ja, ich hätte gern noch mehr getan. Jetzt mache ich journalistische und politische Arbeit. Ich bin Kommunist und der Sache ganz ergeben. Morgen fahre ich nach Turin, um meine Mitarbeit bei einer dortigen Wochenzeitung zu regeln. Aber ich komme bald zurück und freue mich, Dich wiederzusehen. Ich dachte mir, Du wärest ein hohes Tier im Partito d'azione oder etwas Ähnliches, dagegen höre ich mit Erstaunen, dass Du diese ganze Zeit in ländlicher Idylle zugebracht hast. (op.cit.) O-7, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Der Brief an Scalfari ist absolut zentral. Calvino schildert seine Erfahrungen im Widerstand, die damals ganz frisch waren. Aber er hat dann noch sehr lange gelebt, und seine Wahrnehmung hat sich verschoben. Es gibt ein Lied von ihm, das geht so: "Mädchen mit den Pfirsichwangen, Mädchen mit den Morgenrotwangen, Du bittest mich, Dir mein Leben zu erzählen. Wir hatten all das Schlechte vor uns und trugen all das Gute im Herzen." Auf den ersten Blick ist das naiv, aber Calvino war alles andere als naiv. Er distanziert sich hier vielmehr von Vereinfachungen. Die Lage war nach der Phase des Widerstands extrem komplex. Der Gegensatz gut - böse trug nicht mehr. Calvino war Kommunist, ein überzeugter Kommunist. Dann wurde er enttäuscht, trat aus der Partei aus und diesen Austritt hat er als eine Verletzung erlebt, die er nie ganz überwinden konnte. Die Melancholie des späten Calvino hat nach meinem Eindruck sehr viel mit Politik zu tun. Autorin: Aber kurz nach dem Krieg schien alles möglich zu sein. Schließlich hatten Calvino und seine Freunde auf der richtigen Seite gestanden - nun wollten sie Italien vollkommen neu gestalten. Regie: Musik, Neorealismo, CD 2, "Du soldi di speranza", Track 3 Autorin (auf Musik): Jetzt kann sich der 22jährige auch endlich von den Erwartungen seiner Eltern lösen. Italo Calvino kehrt nach Turin zurück, schreibt sich für Literaturwissenschaften ein und arbeitet bei der kommunistischen Zeitung L'Unità mit. Eines Tages lernt er Giulio Einaudi kennen. Einen charismatischen Mann, der mit dem Schriftsteller Cesare Pavese und dem Slawisten Leone Ginzburg mitten im Faschismus 1933 einen Verlag mit einem internationalen Programm auf die Beine gestellt hatte. Einaudi engagiert Calvino für Gutachten und Werbetexte. Pavese mag den vorwitzigen Studenten und ermutigt ihn, seine Erfahrungen im Widerstand aufzuschreiben. Italo Calvino schnallt den Gürtel enger, haust in einer zugigen Mansarde, verdient sich mit dem Verkauf von ligurischem Olivenöl ein paar Lire zusätzlich und verfasst innerhalb weniger Wochen seinen Roman Wo Spinnen ihre Nester bauen. 1947 erscheint sein Debüt. Ein großer Erfolg. Zitator: "Sag mal, ist das dein Vetter?" fragt Pin den großen Mann. "Nein, Vetter heiße ich, alle nennen mich so." "Ich auch?" "Was, du auch?" "Darf ich dich auch Vetter nennen?" "Natürlich. Das ist ein Name wie jeder andere." Das gefällt Pin. Er probiert es sofort aus. "Vetter!" sagt er. "Was gibt's?" "Vetter, was wollen die Lastwagen hier?" "Uns kaltmachen, das wollen sie hier. Aber wir gehen ihnen entgegen und machen sie kalt. So ist das Leben." "Gehst du auch hin, Vetter?" "Natürlich, ich muss hingehen." "Hast du nicht genug vom vielen Laufen?" "Seit sieben Jahren laufe und schlafe ich mit Schuhen an den Füßen. Auch wenn ich mal sterbe, sterbe ich mit den Schuhen an den Füßen." "Sieben Jahre, ohne die Schuhe auszuziehen, gottverdammt, Vetter, stinken dann deine Füße nicht?" Autorin: Von Linientreue oder Glorifizierung des Widerstands keine Spur - der rotzige Waisenjunge Pin tobt wie ein wild gewordener Kobold durch die Wälder. Für viele Partisanen hat der Kampf nichts mit politischer Überzeugung zu tun. Er ist schlicht das kleinere Übel. Pavese lobt die farbenfrohe Keckheit, mit der sich der Nachwuchsautor wie ein schreibendes Eichhörnchen von Baum zu Baum schwinge. Er und Calvino werden enge Freunde. Als Pavese, von Schwermut geplagt, im August 1950 den Freitod wählt, ist Calvino schockiert. Guido Davico Bonino, langjähriger Pressechef bei Einaudi und ein Schützling Calvinos: O-8, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Einmal hat er mir Folgendes anvertraut: "Weißt Du, ich habe Schuldgefühle, weil ich Pavese damals nicht nahe genug war. Als er starb, habe ich Höllenqualen gelitten." Calvino erzählte mir auch, dass Pavese eher verschlossen war und sich nicht ohne weiteres jemandem anvertraute. "Vermutlich hätte ich ihn von seiner Tat nicht abhalten können, aber vielleicht hätte ich ihn doch zum Nachdenken bringen können", meinte er. Calvino hat Pavese unendlich bewundert. Von Pavese stammt diese berühmte Rezension über Calvinos Debüt, in dem er ihn als ein "Eichhörnchen der Feder" bezeichnet, eine wunderschöne Formulierung. Seitdem ließ Calvino nichts auf Pavese kommen. Autorin: Guido Davico Bonino, ein jovialer Mittsechziger mit vollendeten Manieren, geht mit uns die Turiner Boulevards hinunter. Schnurgerade Straßen mit imposanten Barockbauten. Um die Ecke herum liegt die Via Biancamano, wo der Verlag bis heute seinen Sitz hat. O-9, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Sein Schreibtisch stand meinem gegenüber, sechzehn Jahre lang. Er sagte mir immer, meiner sei der von Pavese. Vermutlich stimmte das sogar, denn er wurde nie aussortiert. Er war voller Brandlöcher; Pavese drückte immer seine Zigaretten am Tisch aus. Ich sehe Calvino noch vor mir, wie er dort saß, mit krummem Rücken über seinen Unterlagen. Er schrieb immer auf Druckfahnen. "Wir müssen sparen", meinte er, "die Rückseiten von Druckfahnen sind wunderbares Schreibpapier." Regie: Musik, Neorealismo, CD 1, "Ossessione", Track 9 Autorin (auf Musik): Der Verlag ist das kulturelle Zentrum der Nachkriegszeit: Im In- und Ausland spüren die Einaudianer literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen auf, übersetzen, verlegen und verfassen selbst Bücher. Leone Ginzburg, der an den Folgen der Folter durch die Gestapo in Rom gestorben war, hatte ein moralisches Vermächtnis hinterlassen, und daran knüpfte man an. Nach Paveses Tod gewinnt Calvino immer größere Bedeutung. O-10, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Wenn man mit ihm näher in Kontakt kam, war das sehr bereichernd. Calvino sprach nicht über oberflächliche Dinge. Er sprach über Literatur, das war seine große Leidenschaft. Was er sagte, hatte immer Hand und Fuß. Für mich war er ein großer Lehrer. Er hat mir den Beruf von der Pike auf beigebracht. Wie man ein Buch vorstellt, wie man es ins Gespräch bringt. Er hat mich zur Arbeit angetrieben, denn er hat immer viel erwartet. Regie: Musikakzent, Fred Buscaglione, "Eri piccola", Track 1, Intro bis 0'8, frei stehen lassen Autorin: Hinter der Piazza Vittorio Emmanuele direkt am Po steht ein verschachteltes Backsteingebäude aus den fünfziger Jahren. Hier wohnt Renata Einaudi, die Witwe des Verlegers. Eine zierliche Person, Ex-Partisanin, neunzig Jahre alt. O-11, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Calvino ging bei uns ein und aus. Er hat ja nebenan gewohnt, im selben Treppenaufgang. Manchmal war auch seine Frau da. Autorin: Chicchita, eine Argentinierin, aber die sollte Calvino erst 1964 nach einer langen Phase als lustvoller Junggeselle heiraten. O-12, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Calvino war berüchtigt. Sie sind jetzt bei mir zu Besuch. Er wäre herein gekommen und hätte gesagt: "Ah, wer ist das denn, stell' sie mir doch bitte vor!" Und ich hätte einen Stoßseufzer von mir gegeben, "Ach Gott, ist es wieder so weit...." Er hat keine einzige ausgelassen. Regie: Musikakzent, Fred Buscaglione, "Che bambola", Track 2, ab 0'10 - 0'20 Autorin: Eines Tages gabelt er die glamouröse Schauspielerin Elsa De Giorgi auf. O-13, O-Ton Renata Einaudi (voice over)/ Sprecherin Mit Elsa De Giorgi war ich zum Glück nie befreundet, sie war nicht der Typ, mit dem ich näher etwas zu tun haben wollte. Calvino fuhr nach Venedig und lernte sie dort kennen. Ihre Ausstrahlung hat ihn offensichtlich sofort betört. Als die Affäre dann zu Ende war, wurden wir in die Angelegenheit verwickelt, denn sie hat gedroht, mit einem Revolver im Gepäck anzureisen, um die Sache zu regeln. Carlo Levi rief uns an und sagte: "Passt auf, die Signora ist gerade losgefahren, sagt Italo Bescheid und unternehmt irgendetwas." Wir haben uns ernsthaft Gedanken gemacht, was nun zu tun sei, und haben die Polizei verständigt. Dann kam Italo hier an, wieder mit einer Frau im Schlepptau. Wir haben ihm geraten, sich besser sofort aus dem Staub zu machen, bevor Elsa De Giorgi einträfe und Gerechtigkeit übe. Jemand konnte ihr dann den Revolver abnehmen, es war, glaube ich, kein Colt, aber trotzdem. Für sie war es eine große Liebesgeschichte, die sie nun auch auf ihre Art zu Ende bringen wollte. Calvino besaß diese große Schwäche für Frauen, wer weiß, was sich dahinter verbarg. Er genoss das. Regie: Musikakzent, Fred Buscaglione, "Il dritto di Chicago", Track 3, Intro Autorin: Vielleicht ein Kontrast zu seinem ernsthaften Wesen. Es gibt keinen sorgfältigeren Lektor als ihn. Sogar der elegante, scharfsinnige und manchmal tyrannische Einaudi, vor dem fast niemand Gnade findet, weiß das. O-14, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Einaudi hatte vor Calvino enormen Respekt. Sowohl als Schriftsteller als auch als Lektor und Verlagsmann. Calvino hatte Einaudis Psyche vollkommen durchschaut. Offiziell wollte er deshalb auch nie Programmdirektor sein, obwohl er es eigentlich war. Es gab niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, das wird ja auch aus seinen Briefen deutlich. Er war von entwaffnender Offenheit. Primo Levi beendete ein Buch und schickte Italo das Manuskript, Sciascia schrieb einen neuen Roman, das Manuskript ging an Italo, Cassola und Bassani taten dasselbe, von Natalia Ginzburg und Elsa Morante ganz zu schweigen. Es ging alles durch seine Hände. Einaudi hat ihn also sehr geschätzt. Regie: Musik, Neorealismo, CD 2, "Roma ore 11", Track 7, ab 0'54 Autorin (auf Musik): Calvino verschreibt sich mit Haut und Haaren der Arbeit, verfasst über fünftausend Briefe an Gutachter, Übersetzer und Schriftsteller, spürt Talente auf, entwickelt Ideen für Buchprojekte und Zeitschriften, diskutiert literaturtheoretische Fragen und sprüht vor intellektueller Entdeckerlust. Seinen Autoren tritt er mit einer Mischung aus Ermutigung und Strenge entgegen. Zitator (auf Musik): Lieber Marcello, am 3. Januar hast du mir das Manuskript geschickt, und am 3. Mai antworte ich Dir. Vier Monate: Du bist wütend auf mich, und Du hast recht; aber die Verlagsarbeit spielt sich in einer Flut von Papier ab, wo tagtäglich die neueren und dringenderen Sachen die älteren versenken. Ich will Dir sagen: Ich hatte angefangen, den Roman zu lesen, und gesehen, dass er mir nicht gefiel. (...) Wer hat Dir beigebracht, solches Zeug zu schreiben? Wo ist die schöne, trockene und saubere Sprache Deiner Erzählungen hin? Was liest Du? (...) Lass' Dich also nicht vom Publikationswahn packen, wenn Du publiziert hast, was hast Du dann davon? Du wirst genauso ein unglückseliger Kerl wie ich, der entweder von vorn anfangen oder zu schreiben aufhören muss; warte zehn, fünfzehn Jahre mit dem Publizieren, aber lies unterdessen mit System, studier ein bisschen gründlicher, begreif besser, was Du eigentlich machen willst. Leg' Dich ins Zeug, ich erwarte Dich und hoffe, bald etwas Wunderschönes von Dir zu lesen. Ciao, Calvino (op.cit.) Autorin: Unterdessen steckt er mit seinen eigenen literarischen Projekten fest, fängt vieles an und legt es resigniert wieder ad acta. Erst als er sich Mitte der fünfziger Jahre auf das phantastische, surreale Element seines Erzählens konzentriert, fallen ihm neue Geschichten ein: Der geteilte Visconte und Der Baron auf den Bäumen. In derselben Zeit kommt es zu einer politischen Ernüchterung; die Träume von einem anderen Weg der italienischen Linken jenseits der Blockstaaten zerstäuben. Nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 fordert Calvino Solidarität mit den Aufständischen. Die Kommunistische Partei bleibt unbeweglich, und am 1. August 1957 entscheidet sich der ehemalige Widerstandskämpfer schweren Herzens zum Austritt. O-15, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Sein Freund, der Literaturwissenschaftler Piero Citati, spricht von zwei Calvinos. Dem der Nachkriegszeit, der sehr fröhlich war, und dem melancholischen Calvino mit seiner moralischen Schwermut. Ich kann mich an beide Calvinos gut erinnern, den jüngeren und den älteren. Es gab auch später noch diese Attacken von Fröhlichkeit. Aber er hatte sich verändert. Rein äußerlich, und literarisch. Dieser Satz von Pavese über Calvino als einem "Eichhörnchen der Feder" trifft auf den späten Calvino nicht mehr zu. Er wird sich seiner selbst sehr bewusst, ist reifer. Der frühe Calvino hatte etwas Unmittelbares, Mitreißendes. Regie: Musik, Neorealismo, CD 2, "Due soldi di speranza", Track 3, ab 0'13 Autorin (auf Musik): Mitte der sechziger Jahre verschieben sich seine Gewichtungen. Calvino fühlt sich von der Verlagsarbeit ausgebrannt. Ausgerechnet er, gefürchtetster Frauenheld des Verlagswesens, tritt einen Rückzug in die Kleinfamilie an. 1964 trifft in Turin ein Telegramm aus Kuba ein: "Teile Freunden Eheschließung mit". Esther Judith Singer, genannt Chicchita, eine Übersetzerin der Unesco, ist die Erwählte. Zuerst pendelt das Paar, aber Chicchita kann Turin nicht leiden, deshalb ziehen sie 1967 mit ihrer kleinen Tochter nach Paris. Bei Einaudi bekommt Calvino einen Beratervertrag. O-16, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Ich weiß noch, dass wir einmal im Val D'Aosta auf der großen Verlagsversammlung, die es dort jeden Sommer gab, spazieren gegangen sind. Mit dabei waren Calvino und Ciafaloni, der für die Politikreihe bei Einaudi verantwortlich war. Es muss 1972 gewesen sein. Ciafaloni sagte zu Calvino: "Auch wenn es nicht so aussieht, aber deine Beziehung zur Wissenschaft ist eher oberflächlich und deine Beziehung zur Politik ist sehr tief." Calvino schwieg und entgegnete nichts. Dieser Satz hat ihn sehr getroffen. Er stimmte. Die Wissenschaft bot ihm ein Reservoir an Metaphern, aber das, was ihn im Innersten berührte, war die Politik. Und die hat ihn enttäuscht. Regie: Musik, Neorealismo, CD 2, "Cronaca di un amore", Track 9 Autorin: Mittlerweile ist Calvino einer der berühmtesten Schriftsteller Italiens. Trotzdem machen sich Skepsis und Müdigkeit bei ihm breit. Nicht nur die Gesellschaft, auch die Kultur scheint dem Schriftsteller erstarrt. Als Reaktion versenkt er sich in theoretische Fragestellungen. Paris ist dafür der richtige Ort. O-17, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Diesen Spruch hat er öfter gebracht: Paris ist deshalb so schön, weil mich dort niemand kennt. Das war es. Er fühlte er sich der französischen Kultur sehr verbunden, gerade in Paris tauchte er tief in sie ein. Es gab eine enge Verbindung mit Queneau, der ihn zum Mitglied der experimentellen Schriftstellergruppe Oulipo berief, worauf er sehr stolz war, denn er war der einzige Italiener. Calvino hat Die blauen Blumen von Queneau übersetzt. Und es gab ein paar andere Autoren, mit denen er eng befreundet war. Ich habe bei Calvino zu Hause zum Beispiel Perec kennen gelernt. Cortazár war ihm wichtig, ein Argentinier, der ihm wegen seiner Traumwelten, der Bedeutung des Phantastischen und Surrealen sehr nahe stand. Aber grundsätzlich mochte er Paris, weil ihm dort niemand auf die Nerven fiel. Es war die Phase, in der er seine schwierigsten Texte produzierte. Autorin: Es geht um Semiotik, Zeichenfunktionen, Wahrnehmungstheorien und narrative Prozesse. Calvino beschäftigt sich mit der Kombinatorik von Tarockkarten. Auf diesem Hintergrund entsteht 1972 sein fein gewobenes Prosawerk Die unsichtbaren Städte, ein eigenwilliges Remake von Marco Polos Il milione. O-18, O-Ton Carlo Ginzburg (voice over)/ Sprecher Im späten Calvino gibt es dieses Element des emsigen Arbeitens, das im Vordergrund steht. Das Glück des Schreibens war vielleicht nicht mehr da. Allerdings ist diese Emsigkeit auch eine bestimmte Form des Glücks. Diese Art des Schreibens hing sicherlich auch mit seiner Herkunft aus einer Wissenschaftlerfamilie zusammen, ebenso wie der Gedanke, dass das Material bestimmte Zwänge vermittelt. Regie: Musik, Eric Satie, Piano works, "Gymnopédie No. 3", Track 27 Autorin: Calvinos späte Prosa ähnelt einer fremden, phantastischen Stadt, schön und unnahbar; eine Wegmarke in der italienischen Literatur. Aber so kristallin und schwebend sich seine Bücher lesen, so tief steckt er in der Krise. An seinen Freund Piero Citati heißt es: Zitator: Ich bin furchtsam geworden. Je mehr ich mich ins Privatleben zurückgezogen habe, um so mehr erscheinen mir all die kleinen Probleme riesig. Und außerhalb des Privatlebens reicht mir die Zeitungslektüre jeden Morgen, um meiner Furchtsamkeit mit den Bildern einer bedrohlichen und entsetzlichen Welt Nahrung zu geben. Und wenn ich in dieser Verfassung bin, vermag ich ans Schreiben gar nicht zu denken. Zum Glück ist meine Tochter Giovanna da, sie ist (abgesehen von der ständigen Sorge bei dem geringsten Anzeichen, sie könne krank werden) die einzige Frau in meinem Leben, die mir nur Freude gibt und keine Spannungen. Weshalb dieser Brief nur zum Teil depressiv ist und im übrigen heiter, wie das Leben Eures sehr lieben Italo (Briefe, op.cit.) O-19, O-Ton Guido Davico Bonino (voice over)/ Sprecher Das Schreiben hat ihm das Äußerste abverlangt. Ich habe ein paar Jahre das Festival von Spoleto geleitet, und im Spätsommer 1985 treffe ich ihn auf der Piazza, mit Frau und Tochter. "Was macht ihr denn hier?", fragte ich sie. "Ach, wir sind heute aus Rom angereist, um einen Tag Urlaub zu machen." Italo war grün im Gesicht. Ich sagte: "Du siehst müde aus." Natürlich habe ich ihm nichts über seine grüne Gesichtsfarbe gesagt. "Ja, ich arbeite viel", meinte er. Chicchita fügte hinzu: "Er bringt sich um für diese amerikanischen Vorlesungen, er ruht sich nicht einen Moment aus, ich habe ihm schon prophezeit, dass er früher oder später krank wird." Und kurz darauf ist er gestorben. Er starb an einer Gehirnblutung, so etwas passiert leichter, wenn man sehr erschöpft ist. Ich spürte damals seine Müdigkeit und habe mir große Sorgen gemacht, denn so hatte ich ihn in all den Jahren nie erlebt. Regie: Musik, Neorealismo, CD 1, "Ossessione", Track 9 oder Satie Autorin (auf Musik): Calvinos letzte Gedanken gehörten dem, was seine literarische Welt ausmacht: Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit. Zitator (auf Musik): Wenn ich dir sage, dass die Stadt, zu der meine Reise strebt, diskontinuierlich in Raum und Zeit ist, mal spärlicher, mal dichter, darfst du nicht glauben, dass man aufhören könnte, nach ihr zu suchen. Vielleicht entsteht sie jetzt gerade, während wir hier reden, verstreut in den Grenzen deines Reiches. (Calvino, Die unsichtbaren Städte. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag München 2007) 1