COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 1. Juli 2013, 19.30 Uhr Wie der Staat sich Probleme schafft ! Was geschieht, wenn man Hunderttausende Armutsflüchtlinge sich selbst überlässt ? Eine Sendung von Winfried Roth Musikakzent: ein rumänisches Roma-Ensemble [auch die folgenden Musikakzente] OT Bade (1): Man kann sicher von Angstmache sprechen, weil die Bundesregierung sich sehr lange mit dem Thema nicht zureichend beschäftigt hat und nun den Eindruck erweckt, als sei etwas aus heiterem Himmel heruntergebrochen. Nein - Wissenschaftler haben jahrelang auf dieses Problem hingewiesen. OT Großpietsch (1): Ich frage mich wirklich, warum unsere Gesellschaft das jetzt braucht - warum da alte Ressentiments, die schon seit dem Mittelalter bestehen, geweckt werden und noch gelebt werden. OT Roma (1): Ich bin hergekommen, weil ich arbeiten wollte - und ein besseres Leben für meine Kinder. Wir finden aber leider keinen Job. Vier Kinder habe ich. Wir sind finanziell sehr schlecht dran. Ich komme aus Rumänien, ich bin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gekommen, ich will hier die Schule machen, einen Abschluss kriegen. Sprecher/in vom Dienst: Wie der Staat sich Probleme schafft! Was geschieht, wenn man Hunderttausende Armutsflüchtlinge sich selbst überlässt? Eine Sendung von Winfried Roth Musikakzent OT Metodieva (1): Ich komme aus der wunderschönen Stadt Varna. Obwohl meine Stadt so wunderschön ist, gibt es kaum Arbeit. Sprecher: Seit 2007 erlebt eine Reihe deutscher Großstädte eine massenhafte Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Dazu gehören Berlin, Duisburg, Dortmund, Hamburg, Mannheim und München. In Duisburg gab es Anfang 2013 über 6000 Zuwanderer aus den beiden Ländern, nach Berlin kamen bisher mindestens 25 000. In ganz Deutschland waren es in den letzten sechs Jahren offiziell etwa 600 000. Hinzu kommen viele, die nicht gemeldet sind. Die enorme Rückwanderung wird allerdings oft ausgeblendet. Beispielsweise trafen 2012 im Land von Angela Merkel, Martin Winterkorn und Dieter Bohlen etwa 180 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien ein - aber 100 000 kehrten dorthin zurück. Der bekannte Migrationsexperte Prof. Klaus Jürgen Bade aus Berlin: OT Bade (2): Und wenn dann noch über Roma gesprochen wird, wird es ganz unsicher - denn wir haben ja keine ethnische Statistik. Wir wissen gar nicht, wie viele davon Roma sind. Sprecher: Gekommen sind Straßenmusiker, Bettlerinnen oder ungelernte Arbeiter, aber auch zahlreiche Ärzte, Softwareexpertinnen oder Studierende - auch die Dolmetscherinnen, die in dieser Sendung zu hören sind. OT Bade (3): Wenn wir über Arme und Minderqualifizierte sprechen, dann reden wir über maximal 20 Prozent. Und von denen sind viele deswegen nicht beschäftigt, weil sie das nicht dürfen. Das heisst, wir müssen die Zahl derjenigen, über die jetzt mit großer Sorge gesprochen wird, noch kleiner definieren. Sprecher: Gerade Roma kommen oft aus extrem armen Verhältnissen. Die bulgarischen und rumänischen Roma, die hier erzählen, wollen anonym bleiben. OT Roma (2): Ich habe keine Ausbildung, ich habe gar nichts. Ich kann nicht lesen, ich kann nicht schreiben. Aber ich möchte eine Arbeit, egal was. Sprecher: Über die Hoffnungen für ihre Kinder sagen einige: OT Roma (3): Sehr arm sind sie aufgewachsen. Hier sind sie besser aufgehoben. Besser als in Bulgarien. Wir möchten, dass unsere Kinder hier einen Abschluss schaffen und zur Arbeit gehen können. Sprecher: Noch gibt es für Bürger Rumäniens und Bulgariens eine Menge Beschränkungen bei der Arbeitssuche. Am unkompliziertesten ist bisher die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit. Jedoch gilt ein Teil der Gewerbeanmeldungen als vorgetäuscht. In Berlin-Neukölln sind über 3000 Selbständige aus den beiden südosteuropäischen Staaten registriert. Der Sozialarbeiter Daniel Ibraimovic: OT Ibraimovic (2): Es sind überwiegend Leute, die tatsächlich arbeiten und selbständig sind. Das ist überwiegend im Bau- und im Reinigungsbereich. Sprecher: Wegen der Einschränkungen für die Arbeitsaufnahme können gegenwärtig nur wenige Bulgaren oder Rumäninnen "Hartz IV" beantragen. Anfang 2013 bezogen etwa 30 000 von ihnen in Deutschland Kindergeld. Manchmal haben ganze Familien keine anderen Einnahmen. Ein weiteres Motiv für die Auswanderung von Roma ist ihre häufige Diskriminierung in Rumänien und Bulgarien. Da nur politische Verfolgung als Asylgrund gilt, werden kaum entsprechende Anträge gestellt. Musikakzent OT Bade (4): Horrormeldungen, Überflutungsängste, Missbrauchsvorstellungen - hier liegt eine ganz große Gefahr. Sprecher: Klaus Jürgen Bade. Die Rentnerin Angela Großpietsch engagierte sich jahrelang in der Internationalen Kinderbücherei im Migrantenstadtteil Duisburg- Hochfeld. Seit 2007 kamen dorthin immer mehr Kinder aus Bulgarien und Rumänien. Mit der Ankunft ihrer Familien änderte sich in Duisburg etwas: OT Großpietsch (2): Da sprach man von Banden, die aus Hochfeld einfallen. Ich glaube, dass die Medien wesentlich dazu beigetragen haben, dass diese Stimmung entstanden ist. Sprecher: In der Debatte über die Zuwanderung aus den Balkanländern ist fast nur von Roma die Rede. Sie werden in erster Linie als Tagelöhner oder Kleinkriminelle wahrgenommen, in deren Familien patriarchalische Verhältnisse herrschen. Dass es in dieser Gruppe - genauso wie unter ethnisch Deutschen - fragwürdige Verhaltensweisen und Kriminalität gibt, ist unbestreitbar. Unsicher ist dagegen, welche Dimension diese Probleme haben. Das Wissen über die in den letzten Jahren eingereisten Roma erweist sich bei näherem Hinsehen als ausgesprochen lückenhaft. Viele Verallgemeinerungen über die Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien sind daher kaum mehr als misstrauische Vermutungen. Gleichzeitig ignorieren manche Medien und Politiker gesichertes Wissen - mit Blick etwa auf die umfangreiche Rückwanderung und den eher geringfügigen Bezug von Sozialleistungen. Werden - zwecks politischer Profilierung - manchmal bewusst verzerrte Bilder verbreitet? Klaus Jürgen Bade: OT Bade (5): In den Köpfen der Adressaten bleiben diese Vorstellungen hängen, diese Vokabeln, diese Abwehrhaltungen verselbständigen sich und beginnen ein Eigenleben zu entfalten. "Vor Ort" engagieren sich viele Institutionen und einzelne Bürger für die Zuwanderer. Die Bundesregierung dagegen hält sich - auch finanziell - bisher auffallend zurück. Ist das Gedankenlosigkeit ? Oder geht es um Abschreckung - um Deutschland für wenig qualifizierte Ausländer unattraktiv zu machen ? Werden so womöglich folgenschwere Fehler der Vergangenheit wiederholt ? Musikakzent OT Roma (4): Wir sind arbeitslos in Bulgarien. Für die Kinder gibt es keine Zukunft dort. Wir sind traurig, weil wir Verwandte in Bulgarien haben. Aber wir leben hier besser. OT Schneider (3): Wenn die Menschen in ihren Heimatländern eine wirtschaftliche und soziale Perspektive hätten, hätten sie nicht den Drang nach Westen, Sprecher: Guntram Schneider, Minister für Arbeit, Integration und Soziales von Nordrhein- Westfalen.. Rumänien und Bulgarien fallen in der EU durch überdurchschnittliche Armut und Demokratiedefizite auf. Auch zahlreiche Menschen aus der Bevölkerungsmehrheit haben diese Länder verlassen. Die ein bis zwei Millionen Roma zwischen Timi?oara und Plovdiv sind die wahrscheinlich ärmste ethnische Gruppe in der ganzen EU. Janusz Galuszka Leiter eines Jugendzentrums in Duisburg-Hochfeld, hat die bulgarische Stadt Schumen besucht, aus der ein großer Teil der Duisburger Roma kommt: OT Galuszka (1): Das sind abgegrenzte Terrains am Rande der Stadt. Da gibt es keine Kanalisation. Die wohnen mit großen Familien in kleinen Räumen ohne Heizung. Das sind Bruchbuden. Das ist kein Leben da. Die medizinische Versorgung: beinahe Null. Geld haben die nicht. Die gehen immer in Gruppen raus. Die sagen - jetzt verprügeln uns die Bewohner der Stadt und die Polizei dreht sich um und versucht das nicht zu sehen. Sprecher: Diskriminiert werden rumänische und bulgarische Roma auch im Bildungssystem und bei der Arbeitssuche. Viele sind arbeitslos oder in der Schattenwirtschaft aktiv. Sicher begünstigt das vormoderne, patriarchalische Lebensformen. Prof. Bade: OT Bade (6): Wenn eine Bevölkerungsgruppe über Jahrhunderte ausgegrenzt, verfolgt worden und zum Teil auch systematisch ermordet worden ist, dann muss man damit rechnen, dass das Misstrauen nach außen und das Zusammenhalten nach innen ganz außerordentlich stark ausgeprägt sind und das sind nicht unbedingt die besten Vorrausetzungen für Integration. Musikakzent Sprecher: In Deutschland leben die Roma-Zuwanderer meist in seit Langem verarmten Stadtteilen. In Duisburg gehören dazu Hochfeld, Bruckhausen und Marxloh, in Berlin Neukölln und Moabit. Die räumliche Konzentration wird oft mit einem Wunsch nach Abschottung erklärt. Sie hängt aber eher damit zusammen, dass arme Zuwanderer auf dem Wohnungsmarkt wenig Auswahl haben. Außerdem: OT Metodieva (2): Viele Bulgaren waren schon vor längerer Zeit hierhergekommen. Diese Bekanntschaft hat uns geholfen - dass die uns die Information gegeben haben, an wen wir uns wenden können zu bestimmten Fragen, zum Beispiel zur Schule. Sprecher: Solche Wohngebiete bieten Solidarität, sie werden als eine Art geschützter Raum erlebt. Soziologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass dasgerade neu ankommenden Migranten Integration erleichtert. OT Galuszka (2): Ansonsten versuchen wir so oft wie möglich zu kochen - weil Bedarf da ist. Seit ich das Haus kenne, haben wir immer Kinder, die an dem Tag nichts gegessen haben. Dann sitzen wir schön unten in der Küche. Das gibt auch diese Atmosphäre, dass die sich wie zu Hause fühlen. Sprecher: Janusz Galuszka, Leiter des Jugendzentrums der "Falken" in Hochfeld. Die Lage der bulgarischen und rumänischen Roma in deutschen Großstädten ist oft katastrophal. OT Roma (5): Meine Wohnung ist sehr teuer. Und ist marode. Es gibt Kakerlaken in den Wohnungen. Bei den anderen Nationalitäten - Deutsche, Türken - kümmern sich die Vermieter, bei uns nicht. Sprecher: Allein schon die häufige Überfüllung der Wohnungen erklärt manche Konflikte mit der Nachbarschaft. Angela Großpietsch hält die Aufregung für übertrieben: OT Großpietsch (4): Wir in Hochfeld haben etliche Ecken, wo Müll ist. Und der ist schon seit 20 Jahren da. Der wird immer wieder in die gleiche Ecke geschmissen und hält sich da, bis dann die Stadt wieder abfährt. Sprecher: Das Bild ist widersprüchlich. Der Mieter eines Wohnblocks in Duisburg- Rheinhausen, in dem großenteils Roma wohnen, erzählt: OT Roma (6): Fünf Kinder und zwei Erwachsene - drei Zimmer: das reicht uns. Alles funktioniert. Ja, ich bin zufrieden. Sprecher: Die Zuwanderer sind oft unzureichend krankenversichert. Manche Eltern schicken ihre Kinder nicht zur Schule. Andere können nicht zur Schule gehen. OT Roma (7): Ich habe sieben Kinder. Meine zwei großen Söhne gehen zur Schule, die zwei kleinen nicht - weil es keine Plätze gibt. Ich finde das ganz schlecht. OT Ibraimovic (3): Die, die gleich in die zweite, dritte Klasse gesteckt werden, haben schlechte Karten. Die sind erst zwei, drei Monate hier - dann werden die gleich aussortiert. Man denkt, dass sie nicht intelligent sind und sie werden in die Sonderschule geschickt. Nur weil es an Sprachkompetenz fehlt. Sprecher: Daniel Ibraimovic vom "Familienforum" in Berlin-Neukölln. OT Roma (8): Mit der Schule meines Sohnes bin ich sehr zufrieden, die Lehrer sind sehr warmherzig. Sprecher: Auch wenn es keine exakten Zahlen gibt - die meisten Kinder und ein Teil der Erwachsenen sprechen wahrscheinlich schon Deutsch. OT Roma (9): Ich hab es alleine gelernt. Meine Söhne waren in der Schule und hatten diese Blätter. Ich hab zusammen mit meinen Söhnen gelernt. Sprecher: Kontakte zur deutschen Bevölkerung scheinen eher selten. OT Roma (10): Das ist Herr Stephan und Herr Claus und diese Dame (lacht) - zum Rest haben wir nicht viel mit Deutschen. Aber ich fühle mich wohl, weil Herr Stephan und Herr Claus uns viel geholfen haben. OT Roma (11): Ich bin 13 und heiße Benny. Ich will Fußballer werden. Da sind die Trainer - einer Deutscher, einer Türke. Und die lassen uns nicht beleidigen. Sprecher: Auf jeden Fall erlebt in Vierteln wie Neukölln oder Marxloh die Mehrheit - meist türkischer oder deutscher Herkunft - die neue Zuwanderung unvorbereitet. Angela Großpietsch hat in Hochfeld auch alltäglichen Hass erlebt: OT Großpietsch (5): Auch heute, wo man denkt, dass wir in einer aufgeklärten Gesellschaft leben, kommen Geschichten, zum Beispiel aus Aberglauben einen Besen ins Schaufenster zu stellen. Dieser Besen soll "Zigeuner" vom Betreten der Lokalitäten abhalten. Das ist ein deutscher Aberglaube. Das Gute ist, dass die meisten Bulgaren oder Rumänen gar nicht darauf reagieren. OT Roma (12): Ich gehe auf der Straße und sehe eine ältere Frau, auch rumänisch - und zwei Kinder - 12, 13 - spucken dieser Frau ins Gesicht. OT Roma (13): Einige türkische Familien, fast hundert Personen, sind in unsere Wohnungen gekommen und haben alles kaputt gemacht, zerschlagen. Wir haben die Polizei gerufen. Zum Glück ist die Polizei gekommen, damit die wieder aus unseren Wohnungen gegangen sind. Die haben Steine geworfen, alle Fenster zerschlagen und der Grund war: Sie wollen uns nicht! Sprecher: Ein Jugendlicher reagiert so: OT Roma (14): Mit dem Kopf nach unten - weitergehen. Das war es eigentlich. Sprecher: Bei Deutschen und Türken spielen traditionelle Vorurteile ebenso eine Rolle wie Furcht vor Kriminalität. Zuverlässige Statistiken fehlen - aber über Einbrüche, Diebstähle und aufdringliches Betteln durch Zuwanderer wird in vielen Städten berichtet. Im vergleichsweise wohlhabenden Duisburg-Rheinhausen lösten Roma sogar heftige Proteste aus. Gegen Bewohner des Wohnblocks "In den Peschen 3-5" liefen Anfang 2013 mehrere hundert Ermittlungsverfahren - vor allem wegen Ruhestörung und Eigentumsdelikten. Für Berlin-Neukölln und Duisburg-Hochfeld gibt die Polizeistatistik dagegen Entwarnung. Und Angela Großpietsch meint: OT Großpietsch (6): Das ist nicht gefährlicher geworden. Da hatte ich am Anfang immer ein bisschen Angst um mein Portemonnaie. Durch die Zeitungen bin ich selber darauf reingefallen, auf die ganze Geschichte. Sprecher: Nur selten ist die Rede von den Vorteilen, die die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien zwielichtigen Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft bringt. Guntram Schneider: OT Schneider (4): Es gibt Dreizimmerwohnungen mit über zwanzig Menschen, die dort vegetieren - die Matratze pro Monat 200 Euro. Das sind natürlich Geschäfte, die man nicht akzeptieren kann. Musikakzent OT Bade (7): 2007 ist auf EU-Ebene eine Fehlentscheidung getroffen worden mit der verfrühten Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in die EU. Es hat viele Initiativen von Seiten der EU gegeben, auch milliardenschwere. Dieses Geld ist in den Taschen der Politiker gelandet, dieses Geld ist in den Kassen von von fetten Sozialbürokratien gelandet, die nichts produzieren als Papier, mit denen man die bulgarischen und rumänischen Parlamente tapezieren könnte. Sprecher: In den Herkunftsländern haben sich die Lebensbedingungen der Roma durch EU-Programme bisher nur wenig verbessert. Die Mittel wurden sogar von den Regierungen oft nicht abgerufen. Möglicherweise bewegt die politischen Eliten in Bukarest und Sofia ein unausgesprochener Wunsch. Klaus Jürgen Bade: OT Bade (8): Ich gehe davon aus, dass beide Länder ganz zufrieden wären, wenn möglichst viele aus dieser Gruppe das Land verlassen würden. Musikakzent OT Roma (18): Wir sind täglich unter Stress. Mit Stress gehen wir ins Bett, mit Stress stehen wir auf. Die kleinen Kinder verstehen das noch nicht, vor den großen Kindern verschweigen wir das. Sprecher: Wie könnte es mit den Roma in Deutschland weitergehen? Wenn eine Gruppe von Menschen auf Dauer an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, entstehen mit ziemlicher Sicherheit folgenschwere Probleme. Das gilt für Langzeitarbeitslose mit deutschem Hintergrund genauso wie für besonders arme und besonders fremd wirkende Zuwanderer. Eine häufige Antwort auf Ausgrenzung ist Selbstausgrenzung. Die Betroffenen halten an traditionellen, oft autoritären Lebensformen fest - oder sie entdecken sie für sich neu. OT Bade (9): Die EU hat die Bundesregierung 2011 ersucht, eine "Roma-Konzeption" vorzulegen, weil man auf EU-Ebene genau wusste, dass man mit den normalen Integrationssystemen dieses Problem nicht würde lösen können. Die Bundesregierung hat geradezu verstockt geantwortet: Nein, das brauche man nicht! Sprecher: Zugewanderte Roma werden in Deutschland vom Staat weithin sich selbst überlassen. Im Alltag ist Integration Sache der Länder und Kommunen - das gilt vor allem für Sprachförderung und Schule. Gleichzeitig hängt viel von der Bundesregierung ab - gerade bei der Finanzierung von Integration. OT Bade (10): Weil das so ist, haben die Kommunen einen legitimen Anspruch, dass ihnen nun von Bundesseite geholfen wird. Ideen haben sie genug, was ihnen fehlt, ist Geld. OT Schneider (5): Wir benötigen Initiativen des Bundes bei der Bewältigung dieser großen Integrationsmaßnahme. Wir brauchen ein Sofortprogramm für die Städte. Allein für Duisburg werden im nächsten Jahr finanzielle Probleme mit einem Volumen von 15 Millionen Euro anstehen. Das kann diese arme Stadt nicht allein schultern. Sprecher: Was tut Nordrhein-Westfalen? OT Schneider (7): Das Land kann mit seinen finanziellen Möglichkeiten nur begrenzt helfen. Für die Zuwanderung von Roma ist hier vor allem das sogenannte KOMM-IN- Programm erwähnenswert. Wir haben die Migranten-Selbsthilfeorganisationen gestärkt. Wir bereiten ein Anerkennungsgesetz für ausländische Studien- und Berufsabschlüsse vor. Noch einmal: wir sind da angesichts unserer finanziellen Möglichkeiten sehr begrenzt. Sprecher: Mit Blick auf die Bundesregierung und bevorstehende Wahlkämpfe vermutet der Integrationsminister von der SPD sogar: OT Schneider (8): Ich habe den Eindruck, dass hier Städte allein gelassen werden, um auch soziale Konflikte hochkochen zu lassen. Sprecher: Einige der ungefähr zehn Kommunen, auf die sich die Zuwanderung von Roma konzentriert, haben es ohnehin mit einer schwierigen Haushaltssituation zu tun - etwa Duisburg und Berlin. Dennoch wird dort eine Menge getan. Auch die Beteiligung der neuen Einwohner steht auf dem Programm. Meist gibt es für Kinder besondere Vorbereitungsklassen, Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen, für Erwachsene soziale Beratung und Integrationskurse. Andererseits unterbleiben manchmal Maßnahmen, die nur wenig kosten - etwa Kontrollen von überbelegten Wohnungen. OT Galuszka (3): Prima ist, dass die uns entdeckt haben und sich hier wohlgefühlt haben. Für die bulgarischen Roma war das hier ein super Haus - mit Spielmöglichkeiten und Tanz. Die Großen gingen nicht zur Schule, die Kleinen haben auf Plätze in der Schule gewartet. Das Haus war dann überfüllt. Allein von der Gruppe bulgarische und rumänische Jungs und Mädels kommen etwa zwanzig Kinder. Die passen sich ganz schnell an. Sprecher: Janusz Galuszka vom Jugendzentrum der "Falken" in Duisburg-Hochfeld. OT Roma (15): Ich bin schon sechs Jahre in Deutschland. Mein Vater arbeitet hier. Putzen von Laden. Manchmal arbeite ich mit meinem Vater. Ich hab Freunde, ich kann die Sprache sprechen, gehe zur Schule. Mir gefällt es auch. Ich habe gute Noten in der Schule. Ich habe mich nie geprügelt in der Schule, nie Scheiße gebaut, noch nie. Wir spielen alle mit allen, wir verstehen uns gut. OT Roma (16): Ich komme hierher fast jeden Tag - ich spiele gerne Playstation und ich gehe manchmal zur Disco. Hier ist es schön, hier gibt es Abendessen. Wenn ich groß bin und alle Klassen habe, möchte ich ein Pilot werden. OT Galuszka (4): Wir arbeiten sehr aktiv mit dieser Gruppe. Theater - Nachhilfe - Sprachkurse ... Die sind auch begeistert, wenn die hier einfach Billard oder Kicker spielen. Wichtig ist, dass Sport und Bewegung dabei ist. Wenn die zusammen singen, dann sind die so happy ... die tanzen dann sehr gern ... Sprecher: Viel Engagement geht letztlich aber ins Leere, es ändert sich nichts an der Armut in Deutschlands Großstädten. Durch soziale Beratung, Sprachkurse oder Freizeitangebote entstehen schließlich keine neuen Arbeitsplätze. Musikakzent Sprecher: Gegenüber Asylsuchenden sind in der ganzen EU und auch in Deutschland offene Abschreckungsmaßnahmen üblich - Grenzsperren, "zentralisierte Unterbringung", anfängliches Arbeitsverbot, grundsätzlich Lebensbedingungen noch unter dem für Einheimische vorgesehenen Existenzminimum. Ein Ähnliches Vorgehen gegenüber Bürgern der EU-Staaten Bulgarien und Rumänien, die nach Deutschland kommen, ist rechtlich ausgeschlossen. Möglich ist aber eine weitgehende Vernachlässigung. Teilweise wird auch Druck zwecks rascher Wiederausreise organisiert. Eine Ausweisung ist schon möglich, falls "Hartz IV" beantragt wird. Allerdings gibt es dann nach den EU- Verträgen ein Recht auf sofortige Wiedereinreise. Vielleicht geht es um eine Art Mobbing von Staats wegen? Guntram Schneider, der NRW- Integrationsminister, grenzt sich von einem solchen Kurs ab: OT Schneider (9): Ich setze nicht auf repressive Maßnahmen. Die funktionieren sowieso nicht. Dies ist auch inhuman. OT Roma (17): Wir haben gehört, dass in Duisburg das größte Industriegebiet Deutschlands ist. Wir haben so ein Bild gehabt - große Industrie heißt viele Arbeitsplätze, für uns. Sprecher: Ab 2014 könnte die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien stark zunehmen. Dann werden Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme in Deutschland - rechtlich - einfacher. Angesichts von drei oder vier Millionen fehlenden Stellen zwischen Greifswald und Lörrach sieht es für durchschnittlich oder gering qualifizierte Zuwanderer schlecht aus. Auf die Sozialsysteme und vor allem auf die Kommunen könnten erhebliche Mehrausgaben zukommen - gerade für "Hartz IV". Allerdings lässt sich über solche Entwicklungen nur spekulieren. 2007 fielen ähnliche Beschränkungen für Arbeitssuchende aus Polen, Ungarn oder Tschechien weg - ohne dramatische Auswirkungen. Musikakzent Sprecher: Gegenüber den bulgarischen und rumänischen Roma macht der Staat gegenwärtig ähnliche Fehler wie in den achtziger und neunziger Jahren gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon, aus Bosnien oder dem Kosovo - mit ähnlichen Folgen. Auch damals kamen viele Menschen, die in ihren Herkunftsländern diskriminiert wurden und in großer Armut lebten. Asyl beantragten unter anderem zehntausende Roma, die im zerfallenden Jugoslawien seit 1991 gleichsam zwischen die Fronten geraten waren. In der Bundesrepublik gab man diesen Flüchtlingen deutlich zu verstehen, dass sie nicht willkommen waren. Die meisten - auch die Roma aus Belgrad, Sarajevo oder Skopje - entschieden sich nach einigen Jahren freiwillig für eine Rückkehr, andere wurden ausgewiesen. Aber viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten blieben angesichts versperrter Rückwege in Deutschland - und zählen bis heute zu den "Problemgruppen". Prof. Klaus Jürgen Bade: OT Bade (11): Mit Sicherheit hat sich der Staat durch Untätigkeit gegenüber solchen Zuwanderern langfristig Probleme geschaffen. Nehmen Sie das Beispiel der sogenannten Libanesen in Berlin. Das sind häufig arabisch sprechende Kurden. Es sind auch Palästinenser, die dorthin ausgewichen sind. Dann hat man sie über lange Jahre ausgegrenzt gehalten - was die Kriminalitätsbelastung, die schon im Libanon vorhanden war, verstärkt hat. Und dann hat man sich gewundert, dass Clans entstanden sind, die wirklich schwer integrierbar waren. Das ergibt sich, wenn man Leute sehr lange am Rande hält. So entstehen ganz unnötige Probleme, die durch solches Fehlverhalten von Politik verschärft werden. Musikakzent OT Roma (19): Unser älterer Sohn hat uns darum gebeten, dass wir hier bleiben - der hat schon seine Umgebung mit seinen Mitschülern, seinen Lehrern. Der kann sich nicht vorstellen, dass er zurück nach Bulgarien geht. Sprecher: Für alle Bürgerinnen und Bürger der EU gilt das gleiche Recht auf Freizügigkeit - auch für Arme und Unqualifizierte. Angesichts steigender Arbeitslosigkeit werden vermutlich noch mehr teils gut, teils gering qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen - nicht nur aus Bulgarien und Rumänien, sondern auch aus Griechenland, Italien oder Spanien. Daran dürfte auch gleichgültiges oder abweisendes Verhalten des Staates gegenüber unqualifizierten Zuwanderern nicht viel ändern. Es sollte nicht nur selbstverständlich sein, dass Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten willkommen sind. Für jede Gesellschaft ist es gefährlich, wenn Menschen vernachlässigt und zu Überflüssigen erklärt werden - besonders, wenn es Kinder und Jugendliche trifft. Wenn der Staat sich nicht nachhaltiger engagiert, werden viele Roma aus Südosteuropa die schon heute riesige Gruppe vergrößern, die in den düsteren Randzonen dieser Gesellschaft lebt. OT Bade (12): Wichtig ist, den Menschen zu sagen, wir sind stark und schaffen das. Man muss mit diesen Menschen auskommen. Hoffen auf die Selbstlösung von Problemen, zwischenzeitlich populistischer Missbrauch und sich dann überrascht zeigen, dass es diese Probleme überhaupt gibt - davon müssen wir uns lösen. Wir haben Millionen Menschen integriert in diesem Land. Mit diesem Problem werden wir auch noch fertig werden. Atmo (Roma): Mutter und Tochter unterhalten sich (auf Bulgarisch) über die Schule Sprecher/in vom Dienst: Wie der Staat sich Probleme schafft! Was geschieht, wenn man Hunderttausende Armutsflüchtlinge sich selbst überlässt Eine Sendung von Winfried Roth Es sprach: Thomas Holländer Ton: Ralf Perz Regie: Roman Neumann Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 2