KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : "Dinosaurier in schwierigen Zeiten." Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa Autor : Peter B. Schumann Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 7.12.2010 Regie : Beatrix Ackers Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken ge- nutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Take 1 Vargas Llosa Sprecher 1: Mein beharrliches Bemühen, die literarische Arbeit als Verantwortung zu be- greifen, ist eigentlich ein Anachronismus. Doch für mich erschöpft sich Literatur nicht im Künstlerischen, sondern ist zwangsläufig mit einem moralischen Anliegen und einer gesellschaftlichen Wirkung verbunden. Diese Auffassung von Literatur macht aus mir in dieser Zeit virtueller Wirklichkeit einen Dinosaurier mit Hose und Krawatte, umstellt von Computern. Autor: Mario Vargas Llosa 1996 in seiner Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche. Das Engagement des Schriftstellers, das er damals betonte, gilt für sein gesamtes Schaffen. Es drückt sich bereits 1963 in seinem ersten Roman aus: Die Stadt und die Hunde. Darin beschreibt er eine Kadetten- anstalt als Hort sozialer Gewalt, sadistischen Drills und menschenver- achtender Rituale. Sie bringt oft sexuell pervertierte und seelisch verkrüppelte Wesen hervor. Er selbst hatte eine solche Schule als 14- und 15-jähriger besuchen müssen, weil sein Vater dem widerspenstigen, gehemmt und un- männlich wirkenden Sohn Disziplin und Härte einbläuen lassen wollte. Sprecher 2: Die beiden Jahre waren ziemlich hart, ich verbrachte dort wahrhaft schreckliche Tage, vor allem an den Wochenenden, an denen ich Arrest hatte. Autor: So schreibt der Autor gut vierzig Jahre danach in seinen Memoiren Der Fisch im Wasser über die Zeit, die sein literarisches Schlüsselerlebnis wurde. Sprecher 2: Von 1950 bis 1951, als ich eingesperrt hinter den von der Feuchtigkeit des nahen Meeres verrosteten Gitterstäben lebte, in diesen grauen Tagen und Nächten mit ihren tristen Nebelschwaden las und schrieb ich, wie ich es nie zuvor getan hatte, und begann, mich zu einem Schriftsteller zu entwickeln - auch wenn ich es damals noch nicht wusste. (Mario Vargas Llosa: Der Fisch im Wasser. Erinnerungen. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1995) Autor: Die erschreckenden Erlebnisse in dieser Erziehungs-Anstalt verdichtete Mario Vargas Llosa ein Jahrzehnt später in Die Stadt und die Hunde. Was er als notwendige Gesellschaftskritik empfand, schlug wie eine Bombe in der peruanischen Oberschicht ein. Das Militär fühlte sich derart desavouiert, dass es die ersten tausend Exemplare öffentlich verbrennen ließ. Doch dadurch wurde das Skandalon erst recht bekannt und machte seinen Autor über Nacht berühmt. Er hatte auch seinen Stoff gefunden: die persönlichen Erfahrungen als ein wesentlicher Quell seiner literarischen Inspiration. Take 2 Vargas Llosa Sprecher 1: Schreiben heißt für mich leben. Wenn Literatur zur Bestimmung wird, dann gibt es keine andere Form zu leben. Alle Erfahrungen dienen dazu, diese Arbeit zu speisen. Gleichzeitig geben sie ihr Orientierung, sie ist eben eine Form des Lebens, des Atmens. Deshalb kann ein Schriftsteller seine Arbeit niemals als bloßen Beruf begreifen, obwohl er damit seinen Lebensunterhalt verdient, sondern als etwas viel Tieferes, was sich in dem Begriff Berufung ausdrückt. Autor: Diese beiden Elemente - die eigenen Erfahrungen und der Wille, sie literarisch zu gestalten, um so auf gesellschaftliche Deformationen hinzuweisen - bilden den Antrieb für das außerordentliche Engagement, das Leben und Werk von Mario Vargas Llosa charakterisiert. Take 3 Vargas Llosa Sprecher 1: Ich glaube, der Intellektuelle hat eine moralische Verpflichtung, sich an der gesellschaftlichen Debatte zu beteiligen. Er setzt sich naturgemäß mit Ideen auseinander, und es ist sehr wichtig, dass er deshalb dazu beiträgt, die Probleme aufzuzeigen, die Prioritäten deutlich zu machen und Lösungen zu suchen. Wenn die Literatur sich nicht von den Problemen der Gemeinschaft beeinflussen lässt, dann verliert sie die Vitalität, die große Literatur aus- zeichnet, und kann leicht zu einer Aktivität der Katakomben werden. Die Literatur, die mein Leben bereichert und ihm Orientierung verliehen hat, wurzelt tief in den uns alle bewegenden Problemen. Take M 1 Musikalisches Intervall Autor: 1966 erweist sich Mario Vargas Llosa erneut in dem Roman Das grüne Haus als ein unbequemer Kritiker seines Landes, vor allem seiner eigenen, der bürgerlichen Klasse. Nach den Militärs nimmt er jetzt eine andere Institution aufs Korn: die katholische Kirche und ihren Umgang mit den indigenen Ureinwohnern. Am Anfang dieses umfangreichen Romans fahren Soldaten und Nonnen den Amazonas hinauf, um Jagd auf Indigenas zu machen. Die Mädchen sollen zum christlichen Glauben bekehrt und zu billigen Haushaltshilfinnen abgerichtet werden. Doch die meisten der so Christianisierten landen schließlich im Bordell, im ,Grünen Haus'. Mario Vargas Llosa schildert Peru von seinen schlimmsten Seiten: Unterwerfung und Ausbeutung, Rassenhass und Aberglaube. Doch er registriert die Barbarei bloß und attackiert sie nicht wie in seinem ersten Roman Die Stadt und die Hunde. In dieser Gesellschaft gibt es weder Gerechte noch Schuldige, sondern nur ein System der Gewalt, dem alle ausgesetzt sind. Deshalb opfert er auch keine seiner Gestalten auf dem Altar der Moral. In seinem folgenden, seinem dritten Roman Gespräch in der 'Kathedrale' von 1969 konkretisiert er dieses System an einer besonders pervertierten Form bürgerlicher Herrschaft: der Militärdiktatur von General Odría im Peru der frühen 1950er Jahre. Take 4 Vargas Llosa Sprecher 1: Ich habe mit fiktiven Mitteln versucht, die Mechanismen zu zeigen, die es einer Diktatur wie der von Odría ermöglicht haben, ein ganzes Land zu kontrollieren. Und ich wollte zugleich jene anderen psychologischen, privaten Mechanismen in verschiedenen Gesellschaftsschichten aufdecken, die einer solchen Diktatur das Überleben sicherten und es verhinderten, dass es keinen Widerstand, keine Mobilisierung gegen diese Diktatur gab. Autor: Ausgangspunkt dieses letzten Teils seiner Peru-Trilogie ist eine lange Unter- haltung zwischen Santiago, dem Intellektuellen und Sohn eines Kapitalisten, und Ambrosio, dem ehemaligen schwarzen Chauffeur von dessen Vater. Beide sitzen in einer billigen Kneipe mit dem hochtrabenden Namen ,Kathedrale' und lassen die letzten Jahre Revue passieren. Eine Vielzahl von Einzelschicksalen taucht in immer neuen Gesprächen auf. Daraus entsteht das komplexe Bild eines autoritären politischen Systems, das alle ge- sellschaftlichen Schichten durchdringt, vor allem die zutiefst korrupte Bourgeoisie. In diesem Sumpf hat auch der Intellektuelle keine Chance mehr. Sprecher 2: Immer hab ich gelogen, immer simuliert. In der Schule, zu Hause, im Barrio, im Zirkel, in der Fraktion, in der Redaktion von ,La Crónica'. Das ganze Leben lang hab ich die Dinge getan, ohne daran zu glauben, das ganze Leben lang simuliert. Und dabei hab ich das ganze Leben lang an etwas glauben wollen. Aber das ganze Leben war bloß eine Lüge. (Mario Vargas Llosa: Gespräch in der ,Kathedrale'. Aus dem Spanischen von Wolfgang A. Luchting. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1984) Autor: Gespräch in der 'Kathedrale' gilt als das frühe Hauptwerk des Nobelpreisträgers. Ein gesellschaftliches Gesamtbild Perus von solcher Dichte und Differenziertheit hat er später nie mehr entworfen. An Aktualität hat es selbst nach vier Jahrzehnten nichts eingebüßt. Take 5 Vargas Llosa Sprecher 1: Die Teilung der peruanischen Gesellschaft in jene, die alle Möglichkeiten be- sitzen, und solche, die über keine verfügen - diese tiefe Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen denen in der Stadt und jenen auf dem Land, diese Kluft ist noch genauso groß und vielleicht sogar noch tiefer als zu Zeiten der Diktatur von Odría. Das alles gibt dem Roman und seinen politischen und sozialen Problemen eine gewisse Gültigkeit. Take M 2 Musikalisches Intervall Sprecher 2: Der Mann war hochgewachsen und so mager, dass er immer wie im Profil wirkte. Seine Haut war dunkel, seine Knochen traten hervor, und seine Augen brannten in immerwährendem Feuer. Er ging in Hirtensandalen, und das violette Gewand, das lose an seinem Körper herabfiel, erinnerte an die Tracht der Missionare, die von Zeit zu Zeit die Dörfer des Sertão aufsuchten, Mengen von Kindern tauften und die in wilder Ehe lebenden Paare trauten. Über sein Alter, seine Herkunft, seine Geschichte war nichts zu erfahren. Aber in seinem ruhigen Äußeren, in seiner kargen Lebensweise, seinem un- erschütterlichen Ernst lag etwas, das die Leute anzog, noch ehe er Rat erteilte. (Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt. Aus dem Spanischen von Anneliese Botond. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1982) Autor: 'Ratgeber' haben sie deshalb diesen Antonio genannt, die Armen in Der Krieg am Ende der Welt. Mit diesem Roman verlässt Mario Vargas Llosa zum ersten Mal den ihm vertrauten Kosmos Perus und begibt sich auf eine Reise: zunächst nach Brasilien, später auch in andere Erdteile. Er blickt ins 19. Jahrhundert zurück, als die brasilianische Republik aus großen Turbulenzen hervorging. Die historischen Fakten sowie die Gestalt des Antonio hat er dem berühmtem Werk Krieg im Sertão des brasilianischen Schriftsteller Euclides da Cunha entlehnt. Take 6 Vargas Llosa Sprecher 1: Diesem Antonio gelingt es auf dramatische Weise, die Nöte und Probleme einer brasilianischen Gesellschaft zu artikulieren, die unter sehr primitiven, sehr rückständigen Verhältnissen lebt. Sie ist aber zugleich ganz unverfälscht, ganz authentisch. Und das bringt er ziemlich konfus und ursprünglich, aber auch genial zum Ausdruck. Antonio der Ratgeber verkörpert eine eigenständige Identität. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von der, die ihm Leute aufzwingen wollen mit einer rein abstrakten, ideologischen Vorstellung unserer Wirklichkeit. Autor: Antonio baut in Canudos, einem Dorf im Elendsgebiet des brasilianischen Nordostens, ein utopisches Gemeinwesen auf. Es basiert auf dem Prinzip der Gleichheit, des kollektiven Besitzes von Grund und Boden. Dieser urchristliche, "authentische" Sinn für Gemeinschaft und Gerechtigkeit ist verbunden mit einem fundamentalistischen Fanatismus, das Land "vom Bösen zu reinigen" - wie es heißt. Dabei bringen die Gläubigen in ihrem heiligen Wahn all jene um, die Widerstand leisten. Die junge brasilianische Republik - vertreten durch das stets gewaltbereite Militär und eine von Wirt- schaftsinteressen beherrschte Bourgeoisie - kann die christliche Anarchie nicht dulden. Die Utopie von Canudos scheitert am Unvermögen, am Fanatismus beider Seiten. Beide wollen ihr jeweiliges Projekt mit Gewalt durchsetzen. Antonio und seine Anhänger verkennen in ihrer Rückständigkeit den politischen Fortschritt der heraufziehenden Demokratie. Und die ,gebildeten Kreise' des bürgerlichen Machtkartells zeigen sich außerstande, die menschlichen und sozialen Werte der Kommune anzuerkennen. Sie wird schließlich unter einem Berg von Trümmern und Leichen begraben. Take 7 Vargas Llosa Sprecher 1: Das Thema mag vielleicht in manchen Ländern etwas exotisch erscheinen. Doch in Lateinamerika ist es leider von großer Aktualität: der Fanatismus, die Bürgerkriege, die Teilung der Gesellschaft in zwei Hälften, zwischen denen es keinerlei Verständigung, nur Fanatismus auf beiden Seiten gibt. Das ist kein historisches Thema, sondern ein ganz aktuelles, das vielerorts großen Schaden verursacht und in Lateinamerika eine Kontroverse über die Gegen- wart ausgelöst hat. Autor: Diese "brasilianische Erfahrung" von 700 Seiten Umfang hat Mario Vargas Llosa vier Jahre lang beschäftigt. Danach suchte er Abstand zum Schreiben und erprobte sich als Moderator im peruanischen Fernsehen mit einer Sen- dung über politische und kulturelle Themen. Aber die Literatur, die - er- klärtermaßen - sein Leben bedeutet, setzte sich schließlich durch und beendete seinen medialen Ausflug. 1984 erschien der Roman Maytas Ge- schichte. Sprecher 2: Warum Mayta? Weil sein Fall der erste in einer Reihe war, die eine ganze Epoche prägen sollte? Weil er der absurdeste war? Weil er der tragischste war? Weil er, in seiner Absurdität und Tragik, etwas vorweggenommen hat? Oder einfach weil seine Person und seine Geschichte etwas Erschütterndes haben, dem ich mich nicht entziehen kann, etwas, das über ihre politischen und moralischen Implikationen hinaus so etwas wie ein Röntgenbild der peruanischen Misere ist? (Mario Vargas Llosa: Maytas Geschichte. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1986) Autor: So fragt sich der Ich-Erzähler in diesem Buch. Er will einen Roman über den ehemaligen Trotzkisten Mayta schreiben. Wieder verarbeitet Vargas Llosa dazu persönliche Erlebnisse und Erfahrungen. Den zeitlichen Hintergrund bilden die Jahre zwischen 1958 und 1983. Konservativ-liberale Regierungen und ein linksgerichtetes Militärregime wechseln sich ab, die maoistische Guerrilla-Organisation Sendero Luminoso/ Leuchtender Pfad beginnt ihren Terror. In dieser politisch aufgeheizten Situation entsteht Maytas Geschichte. Sprecher 2: Eine sehr freie Geschichte über die Zeit, Maytas Milieu und die Ereignisse je- ner Jahre. Autor: Aber auch ein Abgesang des Autors auf die eigene politische Vergangenheit als begeisterter Anhänger der Weltrevolution. Sprecher 2: Was Peru betrifft, hast du die Hoffnung wohl aufgegeben. Völlig und end- gültig, nicht wahr, Mayta? Autor: - fragt das Erzähler-Ich die Hauptfigur in einer Begegnung am Ende der Ge- schichte. Sprecher 2: Du, der du so sehr an eine Zukunft für dein unglückseliges Land geglaubt hast, glauben wolltest. Du hast das Handtuch geworfen, nicht wahr? Du denkst, dass es sich nie zum Besseren, sondern nur zum Schlechteren wenden wird - oder zumindest handelst du so. Noch mehr Hunger, noch mehr Hass, noch mehr Brutalität, noch mehr Barbarei. Auch du, wie so viele andere, denkst nur noch daran, dich zu retten, bevor es endgültig mit uns zu Ende geht. (Mario Vargas Llosa: Maytas Geschichte. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1986) Autor: Mayta erscheint als puristischer Sektierer, der eine Revolution ohne Basis be- treibt und dazu mit einer Handvoll Genossen sowie sieben Schulkindern in die Berge zieht, um die Indios zu mobilisieren. Natürlich scheitert er an sei- nem Wahn und der Verkennung der Realitäten, dieser trotzkistische Idealist, der zum Fanatiker wird - ein Hinweis auf Ernesto Che Guevara und seinen absurden Versuch, von Bolivien aus die Revolution in Lateinamerika zu ent- fachen. Doch mit Anspielungen begnügt sich Vargas Llosa nicht. Der linke Anstifter muss auch noch schwul sein, wozu er sich natürlich nicht bekennt. Die übrigen Linken sind stalinistische Dogmatiker, die ihre Kurz- sichtigkeit hinter dicken Brillengläsern verbergen. Oder Demagogen, die sich als Hardliner behaupten. Oder Opportunisten, die sich jeglichem Regime an- dienen und dennoch das Image eines fortschrittlichen Intellektuellen zu wahren verstehen. Oder ganz einfach Verräter ihrer Genossen. Mario Vargas Llosa lässt seinen Mayta sogar als historische Gestalt auftreten, um einige Unterstellungen des Ich-Erzählers über seine Hauptperson zu de- mentieren. Es ist ein hoch kompliziertes Spiel mit Dichtung und Wahrheit, das zuweilen den Eindruck eines politischen Exorzismus vermittelt. Take M 3 Musikalisches Intervall Autor: Mario Vargas Llosa vertrat bis Ende der 60er Jahre marxistische Ideale und sah in Cuba eine Alternative zu den Militärdiktaturen in Lateinamerika. Doch sein Vertrauen in den sozialistischen Weg wurde bald erschüttert: Sowjetische Truppen marschierten im Sommer 1968 in die Tschechoslowakei ein. Im Frühjahr 1971 wurde der cubanische Poet Heberto Padilla wegen seiner kritischen Haltung verhaftet und erst nach einer erzwungenen Selbstkritik freigelassen - einer der schlimmsten Akte geistiger Unter- drückung im revolutionären Cuba. Viele namhafte Intellektuelle Lateinamerikas und Westeuropas kritisierten damals die Castro-Regierung öffentlich und distanzierten sich von ihr. Das führte schließlich zur folgenreichen Spaltung der lateinamerikanischen Intelligenz in Sympathisanten und Gegner Cubas. Doch keiner der berühmten Schriftsteller des Kontinents vollzog eine derartige Kehrtwende wie Mario Vargas Llosa. Er entwickelte sich allmählich zu einem Verfechter neoliberaler Prinzipien und bekennt sich u. a. zum Partido Popular, der konservativen Partei Spaniens. Take 8 Vargas Llosa Sprecher 1: Ich, ein Liberaler, fühle mich dem Partido Popular und seinen wirtschaftlichen Vorstellungen eng verbunden, die ich für die modernsten und die besten halte. Autor: Zugleich bleibt Vargas Llosa ein kompromissloser Verteidiger der Freiheitsrechte. Für ihn schließt das allerdings auch eine nahezu grenzenlose Marktfreiheit ein. Mit diesem Konzept versuchte er 1990, die Präsidentschaftswahlen in Peru zu gewinnen. Er besaß zunächst auch große Chancen, unterlag aber dann einem gewissenlosen Populisten: Alberto Fujimori, der sich später in einem System von Korruption verstrickte. Diese politische Niederlage dürfte eine der schmerzlichsten Erfahrungen des vom Erfolg verwöhnten Schriftstellers sein. Zwei Bücher sind das literarische Resultat: der Roman Tod in den Anden und seine Erinnerungen: Der Fisch im Wasser. Beide erscheinen 1993 nahezu gleichzeitig. Der Fisch im Wasser ist sein politisches Resümee. Take 9 Vargas Llosa Sprecher 1: Darin wollte ich ein wahrhaftiges Zeugnis ablegen, also etwas völlig anderes machen als bei der Niederschrift eines Romans. Zunächst wollte ich nur meine politische Erfahrung mitteilen. Dann habe ich mich entschieden, einen Teil meines Lebens bis in die 50er Jahre hinzuzufügen, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, ich sei bloß ein Politiker. Deshalb alterniert in dem Buch die Geschichte meiner politischen Aktivitäten zwischen 1987 und 1990 mit meinen frühen Jahren, in denen ich die Literatur entdeckte, meine Berufung fand, zum Schriftsteller wurde. Ich wollte den Kontrast herausarbeiten zwischen zwei Epochen meines Lebens, die entscheidend waren für die Literatur und die Politik. Autor: Demokratie - so wird in diesen Erinnerungen deutlich - ist für ihn die einzige vorstellbare Staatsform. Sie hat er in Europa studiert, in England z.B., in London, wo er zeitweise lebte. Dieses europäisch geprägte Gesellschaftsbild unterscheidet ihn von vielen seiner Schriftstellerkollegen in Lateinamerika und macht ihn zugleich für Europa so attraktiv. Nicht umsonst hat man ihn hier als einen der wenigen Lateinamerikaner mit Preisen geradezu überhäuft. Seit 1993 ist er auch spanischer Staatsbürger. Er betrachtet sich heute als einen liberalen Demokraten und stellt so etwas wie das "alternative Ge- wissen" Lateinamerikas (jenseits der Linken) dar. In Der Fisch im Wasser schreibt er: Sprecher 2: Viele unserer Intellektuellen glauben noch an den Mythos von der be- freienden Revolution und der Gewalt als notwendigen Ausgangspunkt für geschichtlichen Fortschritt. Im Gegensatz zu ihren europäischen Kollegen haben sie ihre naive Annahme des Marxismus-Leninismus noch keiner Revision unterzogen. Dagegen existieren in unserem Volk tief reichende demokratische Lebensformen, gerade bei einfachen Leuten... Diese Menschen, in deren Hand die demokratische Zukunft Lateinamerikas liegt, haben am meisten unter der Brutalität gelitten, unter den rechten Diktatoren, aber auch unter linken Extremisten, die ihre Wahrheit mit Blut und Feuer verbreiten wollen. (Mario Vargas Llosa: Der Fisch im Wasser. Erinnerungen. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1995) Take M 4 Musikalisches Intervall Autor: Neben seinen Erinnerungen publizierte Mario Vargas Llosa 1993 den Roman Tod in den Anden. Der Autor wurde zwar in Arequipa, einer Andenregion im Süden Perus, geboren. Doch erst die zahlreichen Auftritte während des Wahlkampfs um die Präsidentschaft boten ihm tiefere Einblicke in die indigene Soziographie. Take 10 Vargas Llosa Sprecher 1: Es hat mich sehr beeindruckt, wie stark der Terrorismus und die Wirtschaftskrise sich auf das Leben der Bevölkerung ausgewirkt haben. Dadurch lebte alter Aberglaube, lebten archaische Kulte und Praktiken wieder auf wie die Angst vor den 'pishtacos', den Geistern, die den Menschen angeblich das Fett aussaugen. Dieses Phänomen der Vergangenheit war plötzlich wieder ganz aktuell und bot mir eine Fülle von Material. Autor: Irrationalismus und Terrorismus sind die beiden zentralen Themen dieses Buches, das sein Autor als Kriminalroman bezeichnet. Menschen sind ver- schwunden - wie so oft in Peru. Ein Polizeioffizier und sein Helfer machen sich auf die Suche. Bei ihren Nachforschungen stoßen sie auf eine Welt des Obskurantismus, wo noch die Praxis ritueller Menschenopfer existiert und ein stummer Viehhirte sein Leben verliert. Take 11 Vargas Llosa Sprecher 1: Pedrito Tinoco ist Leidtragender der Terroristen und der militärischen Re- pression und wird schließlich auf grausame und absurde Weise getötet. Sein Opfer ist eine Art Symbol für die Tragödie, die ein ganzes Volk erlebt durch die politische und soziale, aber auch durch die religiöse oder mythische Gewalt, die wir für überwunden hielten. An dieser Figur habe ich sehr viel gearbeitet, denn sie ist stumm, eine elementare, quasi subnormale Gestalt mit einem untrüglichen Sinn für tiefe Humanität. Pedrito wird geopfert, um das Unbegreifliche zu be- kämpfen. Es ist eine Form der Sühne, etwas höchst Irritierendes, Empörendes, das jedoch in der Menschheitsgeschichte zutiefst verwurzelt ist, denn es erscheint in allen Zivilisationen und Glaubensrichtungen. Autor: An dieser Figur exemplifiziert Mario Vargas Llosa die Folgen des Terrors durch die politische Verbrecherorganisation des ,Leuchtenden Pfads' und durch den Staat, der in seinem Anti-Terror-Kampf kaum weniger blutig agiert. Tod in den Anden ist die radikalste Absage des Autors an jegliche Form der Gewalt, und es ist außerdem eines seiner besten Bücher. Über dem gesamten Geschehen liegt eine Atmosphäre ständiger Bedrohung, ein Gefühl der Unsicherheit und der latenten Desorientierung. Durch die Verschränkung verschiedener Sprachebenen und Handlungsräume entsteht eine eigentümliche, faszinierende Polyphonie von großer Spannung. In Tod in den Anden erklärt und kritisiert Vargas Llosa viele sonst kaum erkennbare ge- sellschaftliche Zusammenhänge, ohne sich direkt in die peruanische Politik einzumischen. Take 12 Vargas Llosa Sprecher 1: Ich benötige eine gewisse Perspektive, ausreichend Freiheit, um die Fakten handhaben zu können, um vor allem historische Tatbestände mit Phantasie zu verarbeiten. Die unmittelbare Realität hat immer etwas Prozesshaftes und be- hindert die Phantasie. Wenn ich meine politische Meinung mitteilen oder in die gesellschaftliche Debatte eingreifen will, dann schreibe ich Artikel, Essays oder halte einen Vortrag. Autor: Aus großer Distanz nimmt Mario Vargas Llosa schließlich zu dem korrupten, autoritären Regime von Alberto Fujimori Stellung und legt im Jahr 2000 Das Fest des Ziegenbocks vor. Darin beschreibt er einen der blutigsten Diktatoren Lateinamerikas: Rafael Leónidas Trujillo. Er hatte von 1930 bis 1961 die Dominikanische Republik mit seinem Terror heimgesucht. Take 13 Vargas Llosa Sprecher 1: Er besaß etwas Theatralisches, das keinem der anderen Diktatoren eigen war, etwas Exaltiertes, das sich in seinem Zeremonien-Kult, seiner Leidenschaft für Riten, Uniformen, Etikette, seiner Obsession für Formales ausdrückte... Seine Diktatur wurde dadurch zu einer Art Farce, einem konstanten Spektakel, in dem es neben grotesken, lächerlichen Ereignissen Gewalt und Grausamkeit gab. Das war für mich als Romancier sehr verführerisch...: diese Kombination von gewalttätigem, blutrünstigem Despoten und Clown, die Trujillo besaß. Sprecher 2: Er ruderte wie verrückt. Er schwitzte schon. Wenn man ihn jetzt sehen würde! Denn als weiterer Mythos wurde kolportiert: "Trujillo schwitzt nie. Er trägt im glühendsten Sommer diese Uniformen aus schwerem Tuch, dazu Dreispitz aus Samt und Handschuhe, und kein Schweiß glänzt auf seiner Stirn." ... Wie angenehm war es dagegen, der Wut freien Lauf zu lassen, wenn man Ratten, Kröten, Hyänen und Schlangen geben konnte, was sie verdienten. Die Bäuche der Haie waren Zeugen dafür, dass er sich dieses Vergnügen nicht versagt hatte. War das in Mexico nicht der Leichnam des perfiden Galiciers José Almoina? ... Und die Leichen der drei Schwestern Mirabal, die die Kommunistinnen und Heldinnen spielten, waren sie nicht da, um Zeugnis dafür abzulegen, dass nichts seiner Wut Einhalt gebieten konnte, wenn er ihr freien Lauf ließ? (Mario Vargas Llosa: Das Fest des Ziegenbocks. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2001) Autor: Das Fest des Ziegenbocks ist der erste Diktatoren-Roman des Autors. Seine frühen Werken spielen zwar vor dem Hintergrund des Militärregimes von Odría, aber hier bearbeitet er nun sein zentrales Thema Freiheit und Menschenrechte erstmals an der Gestalt eines Gewaltherrschers. Er lässt damit sein Geburtsland Peru literarisch hinter sich. Nach der Dominikanischen Republik wendet er sich im Frankreich des späten 19. Jahr- hunderts Fragen politischer und künstlerischer Utopie zu. Dann unternimmt er als Reporter eine Reise nach Palästina und Israel. In seinem jüngsten Werk Der Traum des Kelten begibt sich Mario Vargas Llosa nach Afrika, in den Kongo, um die Verbrechen der belgischen Kolonialmacht darzustellen. Und auch dort ist der Weltbürger seinem frühen Credo vom gesellschaftlichen Engagement des Schriftstellers treu geblieben. Take 14 Vargas Llosa Sprecher 1: Benjamin und Popper, der Marxist und der Liberale, heterodox und originell innerhalb der großen Denkströmungen, die sie erneuerten, sind zwei Bei- spiele dafür, wie man durch Schreiben widrigen Umständen trotzen, wie man handeln und die Geschichte beeinflussen kann. Ich erwähne diese beiden Prototypen des engagierten Schriftstellers als Beispiele dafür, dass die Dinosaurier, sich zu helfen wissen, um zu überleben und nützlich zu sein in schwierigen Zeiten. 14