Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 23. April 2016 / 11.05 - 12.00 Uhr "Die andauernde Katastrophe. Weißrussland 30 Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl" Mit Reportagen von Nicole Scherschun und Leila Knüppel Redaktion: Gerwald Herter Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - OPENING: SPR 2 00_01_O-Ton Valerie Saizev Uns hat man nach Tschernobyl rausgefahren wie Versuchskaninchen. Und dann haben sie geschaut, was passiert. Ich bekam eine große Strahlen-Dosis abbekommen. Im Grunde hatte man mich schon abgehakt. Ich war ein Todeskandidat. Dieses riesige Unglück war unser Schicksal. Viele Menschen sind gestorben und ein großer Teil unseres Landes wurde verstrahlt. MOD ...sagt einer der so genannten "Liquidatoren". Und auch ein weißrussischer Wissenschaftler beklagt den Umgang mit der Katastrophe .... SPR1 00_02_O-Ton Alexej Nesterenko (russisch) Die Regierung überarbeitet alle paar Jahre die Liste der verseuchten Ortschaften. Und die wird immer kürzer. Unter uns machen wir dann Scherze: In Weißrussland zerfällt das Cäsium 137 schneller als sonstwo auf der Welt. Aber das ist nicht nur ein weißrussisches Problem. Es gibt weltweit, auf höchster Ebene, eine bestimmte Haltung zu der Tschernobyl-Katastrophe: Sie wollen das Ganze schnell vergessen. MOD Die andauernde Katastrophe. Weißrussland 30 Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl. "Gesichter Europas" mit Reportagen von Nicole Scherschun und Leila Knüppel. MUSIK 1 REPORTAGE 1 01_01_Atmo: Autofahrt: "Die Apokalypse, die beginnt dort hinten." Die Apokalypse, die beginne dort hinten, scherzt Dimitri Rutschenko. Er lenkt den russischen Geländebus bis an die Schranke: "Achtung! Hier beginnt die nuklear verstrahlte Zone" steht auf einem Schild. Daneben prangt das schwarz-gelbe Warnsignal für Radioaktivität. Das Atomkraftwerk Tschernobyl ist 30 Kilometer von hier entfernt, dazwischen liegt die Grenze zur Ukraine. 01_02 Atmo: Kontrolle / Einfahrt in die 30-Kilometer-Zone Fahrer Rutschenko reicht den Passierschein raus, an die weißrussische Beamtin in olivgrünem Parker. Ohne ausdrückliche Genehmigung darf hier niemand rein. Auch drei Jahrzehnte nach der Katastrophe ist das Gebiet stark verstrahlt. 01_04 Atmo: Anfahren Heute fährt Rutschenko den Zoologen Valeri Jurko in die Zone. Der untersucht seit mehr als zehn Jahren die Tierpopulationen hier: Luchse, Biber, Elche und Wildschweine leben in dem mehr als 2000 Quadratkilometer großen Niemandsland. (eventuell: 01_05 Atmo: "Adler, Adler.") Dazu 60 seltene Vogelarten wie Seeadler und Uhu. SPR 1 01_06 O-Ton Valeri Jurko (russisch) Wir haben hier auch viele Wölfe. Vor drei Tagen bin ich durch ein Dorf gegangen und habe drei Wölfe über die Straße laufen sehen. 01_07 Atmo: Autofahrt Das Auto rumpelt eine schmale Straße entlang - hinein in die Todeszone. So wird das Gebiet immer noch genannt: Denn als der Reaktorblock des ukrainischen Atomkraftwerks am 26. April 1986 explodierte, gelangte ein Großteil der Radioaktivität über die nahe Grenze, direkt hierher. Insgesamt fast ein Viertel Weißrusslands gilt seitdem als nuklear verstrahlt. SPR1 01_08 O-Ton Valeri Jurko Das hier war früher eine große Asphaltstraße, zweispurig. Jetzt ist sie fast völlig zugewachsen, wie ein Tunnel. Der Asphalt ist von Baumwurzeln aufgebrochen. Recht und links stehen Birken und Kiefern dicht an dicht, strecken ihre Äste über den Weg, lassen den Himmel fast verschwinden. Niemand darf hier mehr wohnen. Alle Ortschaften, die bis zu 30 Kilometer vom Reaktor entfernt lagen, wurden evakuiert. Er war drei Jahre alt, als der Unfall passierte, erzählt Fahrer Rutschenko, während er den Wagen an Schlaglöchern und umgefallenen Birken vorbei lenkt. Er kommt aus einem Dorf am Rande der Zone. SPR 2 01_09 O-Ton Dimitri Rutschenko Der Unfall ist eben passiert. Das kann man jetzt auch nicht mehr ändern. Uns hat man damals gleich evakuiert. Und dann sind wir wieder zurückgekommen. Wir leben halt damit. Was sollen wir anderes machen. Das ist doch unsere Heimat. Man muss sie lieben, wie sie ist. Hinter dem dichten Wald, erstreckt sich eine weite Sumpflandschaft: fahles Schilf, tiefschwarzes Wasser, ab und zu ragt ein schräger Strommast empor; und erinnert an die Zeit, als hier noch Menschen lebten. An einem der alten Entwässerungskanäle stoppt Rutschenko den Wagen. 01_13 Atmo: Anhalten, Aussteigen Jurko zieht den Reißverschluss seines Militärparkas hoch, hängt sich sein Fernglas um und setzt seine Fellmütze auf. Er möchte einen Biberbau genauer untersuchen, den er vor einigen Wochen entdeckt hat. SPR1 01_14 O-Ton Valeri Jurko Ich weiß, wie ich mich verhalten muss, um möglichst wenig Radioaktivität abzubekommen. Also habe ich keine Angst. Die größte Gefahr geht von Staub aus, der aufgewirbelt wird. Der enthält nämlich kleinste radioaktive Teilchen. 01_15 Atmo: Schritte Jurko geht ans Ufer, zeigt auf einige Birken, die ins Wasser ragen. 01_16 Atmo: Wasser SPR1 01_17 O-Ton Valeri Jurko Das sind alte Biber-Spuren. Seit die Menschen aus dem Gebiet geflohen sind, entwickeln sich die meisten Tierarten hier prächtig, erzählt der 56-jährige. Die Radioaktivität scheint sich kaum negativ auszuwirken, meint er. Jedenfalls nicht aus dem Blickwinkel eines Zoologen: SPR1 01_21 O-Ton Valeri Jurko Da geht es um die Fragen: Wie vermehren sich die Tiere? Wie viele Junge bekommen sie? Unterscheidet sich die Anzahl der Jungvögel in diesem Gebiet von der Anzahl außerhalb der Zone? Gibt es Mutationen bei den Tieren? Aber davon gibt es einfach nichts. Es sieht alles so aus, wie es aussehen sollte. Ganz normal. Sie sehen keinen Elch mit fünf Beinen, oder mit drei Augen. Das gibt es einfach nicht. 01_22 Atmo: Einsteigen, Auto startet Auf der ehemaligen Hauptstraße, die damals von Minsk direkt nach Kiev führte, geht es weiter hinein in die Todeszone, immer dichter heran an den Reaktor. 01_24 Atmo: Autofahrt Zehn Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt biegt der Wagen ab, auf eine sandige Piste - zum Dorf Krasnoselje. 250 Menschen haben hier vor der Katastrophe gelebt. Jetzt sind die Holzhäuschen von Schlingpflanzen überwuchert, die Scheiben der Fenster zerbrochen. 01_25 Atmo: Valeri Jurko zeigt Laden Valeri Jurko zeigt auf den alten Laden in der Dorfmitte - das Dach eingestürzt. SPR1 01_26 O-Ton Valeri Jurko Wenn das Dach kaputt ist, beginnt der Verfall. 01_27 Atmo: Aussteigen; Schritte Am Ende der Dorfstraße hält Rutschenko vor einem alten Holzhäuschen. Ein Apfelbaum lehnt seine knorrigen Zweige ans Dachsims. Zwischen den zerbrochenen Scheiben wehen Fetzen einer Gardine. Eine verrostete Kanne steht auf dem Brunnen vor dem Haus. Im Stall daneben lagert noch Stroh. SPR1 01_28 O-Ton Valeri Jurko Kurz nach dem Reaktorunfall, einige Tage später, haben sie begonnen, die Menschen zu evakuieren. Man sagt: Es kamen viele Busse. Die Leute durften nur das Nötigste mitnehmen. Manchmal ein bisschen Essen, Dokumente, Geld. Sonst nichts. Und dann sind sie gefahren. 01_29 Atmo: Reingehen Drinnen, auf den zerbrochenen Dielen des Hauses liegen Frauenschuhe, verstaubte Teller, Krüge. Kinderpuppen starren an die Decke, von der der Putz herunterbröckelt. Jurko steigt über eine vermoderte Matratze. 01_30 Atmo: Durch das Haus gehen, mit Reden SPR1 01_32 O-Ton Valeri Jurko (russisch) Ich mag nicht in die Häuser hineingehen. Dabei habe ich ein schlechtes Gefühl. Der Zerfall und das alles. In der Natur bemerkt man das nicht. Aber hier, wo Menschen gelebt haben, sieht man das einfach so deutlich. Das springt einem förmlich ins Auge. Mir geht es schlecht an solchen Orten. - Ich geh raus. 01_33 Atmo: Vögel Draußen bleibt Jurko einige Minuten vor dem alten Brunnen stehen, blickt zurück auf das Haus. SPR1 01_34 O-Ton Valeri Jurko Als ich die ersten Male hier in die Zone gekommen bin, da war das wirklich unheimlich. Wenn ich die verlassenen Dörfer gesehen habe. Da habe ich viel nachgedacht: Wie die Leute hier gelebt haben, ganz normal wie überall. Und dann plötzlich war alles vorbei. Jetzt finde ich es toll, wie die Tiere sich hier vermehren, ausbreiten. Ich verstehe jetzt, dass wir Menschen der Natur damals keine Chance gegeben haben, sich so zu entwickeln. Ohne den Menschen. 01_35 Atmo: Schwäne Jurko zeigt auf einen Zugvogelschwarm, der am mattweißen Himmel vorrüberzieht. Es wird Frühling, die Vögel kehren zurück - in die Todeszone. MUSIK 2 MOD "Bei der Arbeit an meinen früheren Büchern betrachte ich das Leiden anderer Menschen, diesmal aber ist auch mein Leben Teil der Ereignisse", schreibt die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft". In dem Buch dokumentiert sie Gespräche mit Zeitzeugen, destilliert sie zu einem "Roman der Stimmen": Wie beispielsweise die Erinnerungen von Ljudmila Ignatenko, die zur Zeit der Katastrophe 25 Jahre alt war; frisch verheiratet mit einem Feuerwehrmann, der in den Reaktor geschickt wurde . LITERATUR 1 Eine einsame menschliche Stimme Ich weiß nicht, was ich erzählen soll ... Vom Tod oder von der Liebe? Oder ist das ein und dasselbe? ... Ich weiß nicht ... Wir hatten kurz zuvor geheiratet. Wir gingen durch die Straßen und hielten uns noch an den Händen gefasst, auch wenn wir ein Geschäft betraten ... Ich sagte zu ihm: "Ich liebe dich." Aber ich wusste noch nicht, wie sehr ... Ich hatte keine Ahnung ... Wir lebten im Wohnheim der Feuerwehreinheit, in der er diente. Im ersten Stock. Unten, im Erdgeschoß, standen die roten Löschfahrzeuge. Das war sein Dienst. Ich wusste immer, wo er war, was mit ihm war. Mitten in der Nacht hörte ich Lärm. Ich schaute aus dem Fenster. Er sah mich. "Im Kraftwerk ist Feuer. Ich bin bald zurück." Die Explosion selbst habe ich nicht gesehen. Nur die Flamme. Alles leuchtete ... Der ganze Himmel ... Eine hohe Flamme. Ruß. Schreckliche Hitze. Und er kam und kam nicht. Der Ruß rührte vom brennenden Bitumen, das Dach des Kraftwerks war damit gegossen. Sie sind, so erinnerte er sich, wie über Teer gegangen. Sie versuchten, die Flammen zu löschen, schoben den brennenden Graphit mit den Füßen vom Dach ... Sie waren ohne die Segeltuchmonturen gefahren und hatten nur Hemd und Hose an. Man hatte ihnen nichts gesagt, sie waren zu einem normalen Feuerwehreinsatz geholt worden. Vier Uhr ... Fünf Uhr ... Sechs ... Sieben Uhr ... Um sieben teilte man mir mit, dass er im Krankenhaus sei. Ich rannte hin, aber das Krankenhaus war von Miliz umringt. "Lass mich rein!" - "Kann ich nicht. Es geht ihm schlecht." Ich ließ nicht locker. "Ich will ihn bloß sehen." "Na gut", sagte sie. "Komm mit. Aber nur für 15 oder 20 Minuten." Ich sah ihn ... Ganz aufgedunsen, verquollen ... Die Augen waren fast nicht zu sehen ... Mein Mann Wassja (Aussprache mit scharfem s: Was-ja) kam nach Moskau in ein Krankenhaus! Er wurde mit einer Sondermaschine ausgeflogen. Und im Radio wurde bekanntgegeben, dass die Stadt möglicherweise nur für drei bis fünf Tage evakuiert werden würde, wir sollten warme Sachen und Sportanzüge mitnehmen, wir würden im Wald kampieren. In Zelten. Die Leute freuten sich: auf in die Natur! REPORTAGE 2 Valerie Saizev und seine beiden Kameraden Genadie Ledton und Genadie Denissow quetschen sich auf drei Stühle zwischen Schreibtisch und Wand. SPR2 02_02 O-Ton Valerie Saizev Dieses Zimmer... Wenn man es so nennen darf... Das ist das Büro der Organisation der "Liquidatoren Tschernobyls". In dem kleinen Büro ist zwischen Vitrinen voller Medaillen, einem Regal mit Büchern über Tschernobyl und ausrangierten Druckern, Wasserkochern, Radios kaum noch Platz. SPR2 02_03 O-Ton Valerie Saizev 2007 haben sie uns die staatliche Unterstützung gekürzt. Da haben wir uns versammelt und eine Organisation gegründet. Eine eigene. Wir haben die hier registriert. SPR2 02_05 O-Ton Valerie Saizev Da hängt die Urkunde. "Liquidatoren Tschernobyls" steht auf der Urkunde. Liquidatoren nennen sich die Helfer, die nach dem Unfall nach Tschernobyl geschickt wurden, um die Auswirkungen der Katastrophe einzudämmen, so gut es ging die umliegenden Gebiete zu säubern; etwa 800.000 Menschen, aus verschiedenen Sowjetrepubliken. Die meisten waren Soldaten, Reservisten wie Saizev, Ledton und Denissow. SPR2 02_06 O-Ton Valerie Saizev (russisch) Unsere Abteilung hat sich um die Dekontaminierung gekümmert. Darum, dass alles von Radioaktivität gesäubert wird. Das gab es für Straßen, für die Gebäude, für die Geräte. Wir haben uns besonders um die Säuberung der Kleidung gekümmert, die sie im Kraftwerk trugen. Und wir haben Ausrüstung sauber gemacht. Das Büro der "Liquidatoren Tschernobyls" ist im Erdgeschoss eines alten Plattenbaus in Mozyr untergebracht: eine Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern im Süden Weißrusslands. 100 Kilometer sind es von hier bis nach Tschernobyl in der Ukraine. Als der Reaktor am 26. April 1986 explodierte, ahnte in der Stadt noch niemand etwas, erinnert sich Saizev. Er war damals 33 Jahre alt. SPR2 02_08 O-Ton Valerie Saizev An dem Tag waren die Leute draußen unterwegs, spazieren. Es war sonnig. Niemand hat etwas Schreckliches vermutet. Eigentlich bis Mitte Mai. Am ersten Mai, dem Tag der Arbeit, fanden ganz normal die Feierlichkeiten statt. Keiner wusste, dass das Unglück schon über uns hereingebrochen war. Ein planmäßiger Test war außer Kontrolle geraten. Ein Zusammenspiel aus menschlichem und technischem Versagen. Der Reaktor vier des Atomkraftwerks Tschernobyl war explodiert. SPR1 02_09 O-Ton Genadie Denissow Die Leute gingen ganz normal zur Arbeit. So wie ich. Dann habe ich meine Einberufung bekommen. Wir wurden in Busse verfrachtet, bekamen unsere Militäruniformen. Und dann wurden wir nach Tschernobyl geschickt. Wohin wir fuhren, warum, das hatte uns niemand gesagt. SPR2 02_10 O-Ton Valerie Saizev Mit der Politik sind wir hier nicht gerade eng. Damals wurde alles geheim gehalten. Damit Europa nichts erfährt, die ganze Welt nichts von unserem Unglück erfährt. Und uns hat man da rausgefahren wie Versuchskaninchen. Und hat dann geschaut, was passiert. Erst 18 Tage nach dem GAU informierte der damalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow die Weltöffentlichkeit über die Katastrophe. 02_11 Atmo: Schublade offnen, Fotos Saizev kramt ein paar Fotos aus den Schubladen des Schreibtischs. SPR2 02_12 O-Ton Valerie Saizev Hier, so sahen wir aus.... In der Zone. Mit etwa 30. Erkennen sie mich? - Das bin ich. Er zeigt auf ein Schwarz-Weiß-Foto: Drei junge Männer in leichter Uniform lächeln in die Kamera. SPR2 02_13 O-Ton Valerie Saizev In dieser Kleidung haben wir gearbeitet. SPR1 02_14 O-Ton Genadie Denissow 17 Kilometer vom Kraftwerk entfernt bauten wir unsere Zelte auf. SPR2 02_15 O-Ton Valerie Saizev Ich habe eine große Strahlen-Dosis abbekommen. Da hat man mich ins Krankenhaus gesteckt. Aber nicht außerhalb der Region, nein. Sondern in der Nähe von Tschernobyl. Ich hatte mehrere Tage hohes Fieber, so um die 40 Grad. Im Grunde hatte man mich schon abgehakt. Ich war ein Todeskandidat. Am fünften oder sechsten Tag kam mir dann Blut aus dem Mund, aus der Nase. Aber irgendwie habe ich es überlebt. SPR2 02_16 O-Ton Valerie Saizev Uns sind allen die Zähne ausgefallen, komplett. (Atmo direkt am O-Ton dran: "Denissow: Ja, die Zähne als allererstes.") Ja, allen seien die Zähne ausgefallen, bestätigt Denissow; grinst seine Kameraden mit seiner Vollprotese an, zeigt dann auf seinen Daumen, der merkwürdig schräg und verformt von seiner Hand absteht. Die Gelenke lösen sich bei ihm auf, erzählt er. 02_17 O-Ton Szene SPR2 Valerie Saizev: Wir wissen bis heute nicht, wie viel Strahlung wir damals abbekommen haben. Aber wir wissen, welche Krankheiten wir danach bekommen haben. Jeder hat so viele, dass es für fünf Tote reicht. Unsere Krankenakte ist so dick... SPR2 O-Ton Valerie Saizev: So dick wie das Kapital von Karl Marx. Etwa zwei Millionen Menschen sind in Weißrussland offiziell als Tschernobyl-Opfer anerkannt; jeder Fünfte. Saizev kramt ein paar Farbfotos hervor: eine Gruppe älterer Herren. SPR2 Valerie Saizev: Und so sehen wir heute aus. Das sind alle Aktiven in unserer Organisation. SPR1 Genadie Denissow: Ja, aber der da ist tot. SPR2 Valerie Saizev: Ja. Viele sind schon gestorben. Früher erhielten die Liquidatoren einen Zuschuss zur Rente. Ärztliche Behandlung und Kuren war für viele kostenlos. Doch inzwischen sei ihr Liquidatorenausweis nicht mehr viel wert, meint Genadie Ledton. 02_20 Atmo: Erzählen von Kürzungen Ledton: "Ja, gestoppt. Also, die Zuschüsse wurden gestoppt. Kur, dass man Wohnungen bekommt, alles...." Vor etwa zehn Jahren wurde ein Großteil der Kompensationen gekürzt oder ausgesetzt, erzählt er. 02_21 O-Ton Szene Valerie Saizev: Zehn Euro im Monat. Das ist alles. Genadie Denissow: Nein Fünf Euro, fünf! Das ist einmal einkaufen. Schon zu Sowjetzeiten sah das "Tschernobyl-Gesetz über den Sozialschutz der von Tschernobyl betroffenen Bevölkerung" Kompensationszahlungen und Fürsorgeleistungen vor. Die damalige sowjetische Republik Weißrussland beschloss das Gesetz. Mit der Erwartung, ein Teil der Kosten würde über den sowjetischen Haushalt finanziert werden. Doch nach der Wende stand das Land mit den Kosten alleine da. In den 90ern wurden jährlich zehn bis 20 Prozent der staatlichen Ausgaben für Tschernobyl-Maßnahmen ausgegeben. O-Ton Valerie Saizev: Unsere Organisation hat eigentlich große Forderungen: Wir wollen die Unterstützungszahlungen von damals zurück. 2009 habe ich das öffentlich gesagt, im Europaparlament. Naja, Sie wissen ja... Jetzt möchte Saizev das eigentlich nicht mehr allzu laut wiederholen. O-Ton Valerie Saizev: Ich kann es Ihnen erklären: Bevor ich mich öffentlich geäußert habe, bekam ich 350 Euro Rente. Danach waren es 120 Euro. So ist das mit meinen Forderungen. O-Ton Valerie Saizev Wir haben damals unserem Land gedient. Und danach hat uns niemand mehr gebraucht. Wir waren damals so etwas wie Patrioten. Heute nicht mehr. MUSIK 3 LITERATUR 2 Er veränderte sich. Jeden Tag traf ich auf einen anderen Mann... Die Verbrennungen traten zutage ... Im Mund, auf der Zunge, auf den Wangen ... Zuerst kleine Bläschen, die größer wurden... Die Schleimhaut löste sich in Schichten ab... In weißen Häutchen... Die Gesichtfarbe... Die Farbe des Körpers... Blau... Rot ... Graubraun... Es gehörte doch alles zu mir, war mir lieb und vertraut! Das kann man gar nicht erzählen! Die Klinik für akute Strahlenkrankheiten ... 14 Tage... Innerhalb von 14 Tagen stirbt der Mensch ... Ich [kochte Brühe:] hängte einen Tauchsieder in ein großes Glas, tat Hühnerfleisch rein, ganz kleine Stückchen ... Aber es nützte alles nichts, er konnte nicht mal mehr trinken ... Oder ein rohes Ei schlucken ... Ich hätte ihm so gerne etwas Schönes zu essen gebracht! Als könnte das helfen! Er lag nicht mehr in einem normalen Zimmer, sondern in einem speziellen Sauerstoffzelt, unter einer durchsichtigen Folie, keiner durfte rein. Es ging ihm so schlecht, dass ich keine Minute von ihm weichen konnte. Er rief ständig: "Ljussja, wo bist du? Ljussenka!". Er rief und rief ... Die anderen Sauerstoffzelte, in denen unsere Jungs lagen, wurden von Soldaten betreut, weil die angestellten Sanitäter sich weigerten, sie forderten Schutzkleidung. Und jeden Tag hörte ich: Tot ... Tischtschura tot. Titenok tot. Tot ... Tot! ... hämmerte es in meinem Kopf ... REPORTAGE 3 03_01 Atmo Wiegen Denis Balahonof legt eine Tüte mit getrockneten Birnen auf die Waage, die hinten im Klassenzimmer auf einem Tisch steht. Eine Klassenkameradin hat das Obst aus dem Garten mitgebracht. SPR3 03_02 O-Ton Denis Balahonof (russisch) Wir messen hier die Radioaktivität von Lebensmittel. Dafür müssen wir erst einmal die Masse bestimmen. 03_03 Atmo messen Es ist Samstagvormittag: Der 15-Jährige und seine acht Mitschüler haben Strahlen- Unterricht im Gymnasium in Leltschyzy, im Süden Weißrusslands. Sie sollen mehr über die Gefahren der Radioaktivität lernen, erzählt Andrey Targonia. Der Biologielehrer. SPR2 03_04 O-Ton Lehrer Andrey Targonia Der Tschernobyl-Unfall ist 30 Jahre her. Die Eltern der Kinder wissen deswegen vielleicht noch Bescheid. Aber die Kinder nicht mehr. Für sie ist die Katastrophe einfach sehr lange her. Er hat sich im Belrad-Insitut zum Strahlen-Lehrer ausbilden lassen; einem unabhängigen Institut, das Messungen in den verstrahlten Gebieten vornimmt - und sich außerdem die Aufklärung der Bevölkerung zur Aufgabe gemacht hat. Denis schiebt den Plastikbehälter mit dem Obst in das Radiometer. Ein schwerer, eiserner Zylinder, noch aus Sowjetzeiten. O-Ton Denis Balahonof Ich habe viele Verwandte, die in der Zone leben, wo die Gebiete also stark verstrahlt sind. Meine Oma wohnt auch da. Und sie fühlt sich oft schlecht. Hier kann ich lernen, welches Essen für sie gefährlich ist. Denis liest den Messwert ab und errechnet an der Tafel, wie viel Radioaktivität in den getrockneten Birnen steckt. Dabei schafft er es immer wieder, die anderen zum Lachen zu bringen. Radioaktivität und seine Gefahren sind hier im Klassenzimmer etwas Abstraktes: versteckt in Tabellen und Formeln. O-Ton Denis Balahonof Ich habe da gar keine Angst. Das muss man spüren und mit eigenen Augen sehen, sonst hat man da keine Angst. Seine Mitschülerin Nastja schaut in die Normtabelle, die ihr Biologielehrer Targonia reicht: Darf sie die Birnen essen? O-Ton Lehrer Andrey Targonia: Die Norm ist 370 und die hier sind 51. Die sind praktisch sauber. Das ist minimal. Man kann die Birnen essen. O-Ton Lehrer Andrey Targonia: Aber letzte Woche hat Nastja Pilze mitgebracht. Ihr Papa war überzeugt, dass die sauber sind. Sie hat sie hier untersucht und welchen Wert hatten die? Nastja: 8000 Lehrer Andrey Targonia: Und die Norm? Nastja: 2500 Der Strahlenwert in den Pilzen war also mehr als drei Mal höher als zulässig. O-Ton Nastja Wir werden die seltener essen. Haben die Eltern die Pilze nicht weggeworfen? O-Ton Nastja Nein. (Lachen) SPR1 03_16 O-Ton Alexej Nesterenko Wissen sie, es hängt sehr viel von den Eltern ab. Einen erwachsenen Menschen zu überzeugen, etwas nicht zu essen, ist schwer. Weil er die Entscheidung eigentlich schon getroffen hat, zum Beispiel Pilze zu essen. Alexej Nesterenko ist Leiter des Belrad-Instituts, das den Strahlen-Unterricht in Leltschyzy ermöglicht. Sein gesamtes Berufsleben kämpft er schon gegen diesen schwer zu fassenden Gegner: die radioaktive Strahlung. Und gegen das Vergessen, Verdrängen, Vertuschen. O-Ton Alexej Nesterenko Mein Vater hat "Belrad" gegründet. Vor der Tschernobylkatastrophe war er Direktor des Instituts für Atomenergie in der sowjetischen Republik Weißrussland. Als der Unfall dann passierte, hat das sein Leben verändert. Radikal. Seine Einstellung zu Atomkraft. Er wollte die Bevölkerung davor schützen. Und hat seinen Job verloren. Er versuchte, Moskau und Minsk über das Ausmaß der Katastrophe zu informieren. Nesterenko führt seine Gäste durch das Institut: einem größeren Einfamilienhaus ähnlich, liegt es am Rande von Minsk, der weißrussischen Hauptstadt. Das Institut beherbergt ein paar Büroräume und eine Kellerwerkstatt, in der die Messgeräte repariert werden. Belrad ist das einzige unabhängige Institut in Weißrussland, das auf eigene Faust Daten erhebt. Denn den offiziellen Angaben möchte Alexej Nesterenko nicht so recht glauben. O-Ton Alexej Nesterenko Die Regierung überarbeitet alle paar Jahre die Liste der verseuchten Ortschaften. Und die wird immer kürzer. Wir scherzen dann hier unter uns: In Weißrussland zerfällt das Cäsium 137 schneller als sonstwo auf der Welt. Wenn die Elemente schneller zerfallen, muss die Regierung den Betroffenen ja am Ende weniger Geld zahlen. Früher hatte das Institut 370 Messstellen überall in Weißrussland. Doch 2000 strich die Regierung die finanzielle Unterstützung. Heute hat das Insitut noch ganze 14 Messstellen im Land. 03_21 Atmo: Alexej Nesterenko über Vater; "Das ist sein Erbe. Wäre doch schade, wenn es nicht weitergehen würde." Trotzdem möchte er weitermachen, das Erbe seines Vaters bewahren, sagt Nesterenko. 03_23 Atmo: In Papieren kramen Denn: So viel auch über Tschernobyl veröffentlicht wurde, welche Folgen die Katastrophe hatte und hat, ist bis heute ungewiss. Wer nur wissen will, wie viele Todesopfer die Tschernobyl-Katastrophe gefordert hat, sieht sich mit verschiedensten, stark abweichenden Statistiken konfrontiert. Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, geht von einer Zahl von 4.000 Strahlen-Toten aus. Im Vergleich ist das sehr wenig. Nach Ergebnissen anderer Studien liegt die Zahl der Toten zehn Mal höher. Nesterenko hat gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern recherchiert. Sie rechnen sogar mit 800.000 Todesopern weltweit. O-Ton Alexej Nesterenko Woher kommt der Unterschied? Offiziell gibt es für die Weltgesundheitsorganisation nur eine Folgeerkrankung durch Tschernobyl: Schilddrüsenkrebs. Alles andere hängt für sie nur mit Radiophobie zusammen, wäre also psychologisch bedingt. Oder die Erkrankungen liegen an den schlechten ökonomischen Bedingungen in den Ländern. Alkoholismus. Es ist also nicht nur ein weißrussisches Problem. Es gibt auf hoher Ebene, selbst bei Organisationen wie der UN, eine bestimmte Haltung, weltweit: Sie wollen das Ganze schnell vergessen. 03_25 Atmo Verabschiedung MUSIK 4 REPORTAGE 4 O-Ton Valentin Choroschko Heute ist der erste Tag, an dem die Bienen ausfliegen. Sie reinigen jetzt ihren Stock und bereiten alles vor, um Honig zu sammeln. Der Himmel ist blau. Valentin Choroschko hat seine Bienenstöcke in den Garten gestellt. Nebenan pflanzt seine Nachbarin Tomaten und Gurken im selbst gezimmerten Gewächshaus, kommt aber für einen kurzen Plausch an den Gartenzaun. O-Ton Walentina Sotschuk Wir waren sehr glücklich, als die Häuser für die Familien gebaut wurden. Mein Mann hat auch mitgeholfen. Jetzt wohnen wir schon seit 22 Jahren hier und bereuen nichts. Es ist wirklich schön. Die Hauptsache ist doch, dass es den Kindern gut geht, uns allen. Dass wir nicht so krank werden wie dort. Das Dorf Druschnaja liegt im Norden Weißrusslands, nahe des Naratsch-Sees. Wobei Dorf schon fast zu viel gesagt ist: 24 Häuser auf einem kleinen Hügelchen. Dazu das Gemeindehaus, in dem sich die Kinder nachmittags zum Spielen treffen, ein Holzkreuz am Anfang der Dorfstraße. Für die Bewohner ist das Dorf aber sehr viel mehr: "Druschnaja" - "Das freundliche Dorf". So haben sie es getauft, als sie es 1993 mit Hilfe der deutschen Organisation "Heim statt Tschernobyl" gründeten. Ein Öko-Dorf für Umsiedler aus den radioaktiv verstrahlten Gebieten. Eine neue Heimat. O-Ton Valentin Choroschko: Genau hier wurden dann die erste Reihe Häuser gebaut; Choroschko zeigt die Dorfstraße hinunter. O-Ton Valentin Choroschko: Die ersten 15 Häuser aus Stroh und Lehm. Seine Nachbarin Walentina Sotschuk nickt, bindet sich ihr buntes Kopftuch um. Etwa zwei Millionen Weißrussen waren damals vom Reaktorunfall betroffen, jeder Fünfte. Sie selbst komme ursprünglich aus Bragin (Aussprache wie geschrieben), erzählt die quirlige Frau; einem Ort in der Nähe von Tschernobyl, der nach der Katastrophe teilweise evakuiert wurde. Wie 130.000 andere Weißrussen musste sie ihre Heimat verlassen. O-Ton Walentina Sotschuk Unser Haus, das Haus meiner Mutter, das meines Mannes, meiner Schwiegermutter - alle wurden nach der Katastrophe abgerissen, begraben. Die Häuser gibt es nicht mehr. Wenn wir heute dort hinfahren, weine ich. Das war meine Heimat. Und nun ist alles weg. Einfach alles. Für einen Moment verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. O-Ton Walentina Sotschuk Wir haben nichts mitgenommen. Es war schrecklich. Alles war verstrahlt. Wir sind dann losgefahren. Mit leeren Händen. Wir mussten neu anfangen, mit allem. Und wir hatten drei Kinder. Das war sehr schwer. Und nun soll ausgerechnet hier, rund 60 Kilometer entfernt, in Ostrowetz, das erste weißrussische Atomkraftwerk gebaut werden. O-Ton Walentina Sotschuk Wir haben Angst, sind traurig, enttäuscht und machen uns Sorgen. Das ist doch direkt nebenan. Aber wir können ja nichts ändern. Und natürlich hoffen wir, dass alles gut geht. Dass es nie wieder einen solchen Unfall wie in Tschernobyl gibt, damit die Leute nicht so leiden müssen. Dann zeigt Choroschko die Werkstatt des Dorfs: Ein großes Holzhaus, in der jede Menge Maschinen stehen. An einem der Hobel glättet Choroschko einige Leisten. Aus ihnen werden Türen und Fenster gebaut. Die Wände der Gebäude werden aus Reet, Papierhäckseln oder Stroh und Lehm gefertigt. Baumaterialien aus der Region. O-Ton Valentin Choroschko Die Häuser halten sehr, sehr gut. Ein bisschen teurer als herkömmliche Häuser ist das schon. Deshalb baut man die bei uns so nicht. Trotzdem, auch in den Nachbarorten haben die Dorfbewohner von "Druschnaja" schon einige Häuser in traditioneller Bauweise errichtet. Eine richtige Firma ist so entstanden, durch die das Umsiedler-Dorf unterstützt wird und es unabhängig von Spendengeldern macht. Sogar ein zweites Ökodorf ist bereits entstanden. Choroschko ist einer der Angestellten der Firma, kümmert sich vor allem um drei Windräder, die einige hundert Meter vom Dorf entfernt stehen, sich im Blau des Frühlingshimmels drehen - und ebenfalls der kleinen Dorf-Firma gehören. Er öffnet die Tür zum Inneren des Windrads. Neben der Elektroniksteuerung hängen Sicherheitshinweise, Klettergurte und Schutzhelme. Metallsprossen führen den Mast hinauf. O-Ton Valentin Choroschko Oben, vom Windrad kann man das Atomkraftwerk in Ostrowetz sehen. Alle sind da hochgeklettert und haben sich gewundert: Was ist das denn? Der Kühlturm! Der ist ja ganz nah! Choroschko klickt sich durch das Menü der Windrad-Elektronik. Sieht nach, wie viel Strom das Rad gerade erzeugt. O-Ton Valentin Choroschko 22 Kilowatt, die Windstärke liegt etwa bei drei Metern pro Sekunde. Das ist sehr wenig. Wenn der Wind so zwölf bis 15 Meter pro Sekunde ist, dann arbeitet das Rad richtig gut. Bis zu 650 Kilowatt, manchmal sogar 700. Den Strom speisen sie ins reguläre Netz ein und erwirtschaften dadurch den Großteil ihrer Firmen-Einnahmen. Ob das auch so bleibt, wenn das Atomkraftwerk hochgefahren wird? - Choroschko zuckt mit den Schultern. O-Ton Valentin Choroschko: Warum sollten wir dann für das kleine Weißrussland noch Windräder brauchen? Wohin sollen wir mit der Energie? Die Überprüfung ist abgeschlossen. Choroschko zieht die Tür zu. Dann blickt er um sich: O-Ton Valentin Choroschko: Wunderschön, das Panorama. Die Landschaft ist einfach atemberaubend. Unten am Hügelrad ist das Blau des Naratsch-Sees zu sehen. Auf der anderen Seite stehen die Lehmhäuser von Druschnaja. Seiner neuen Heimat. MUSIK 5 LITERATUR 3 Die Klinik für akute Strahlenkrankheiten ... 14 Tage... Innerhalb von 14 Tagen stirbt der Mensch ... Das letzte ... Ich erinnere mich nur bruchstückhaft. In der Nacht sitze ich neben ihm auf dem Stuhl ... Um acht Uhr früh: "Wassenka, ich geh jetzt. Ich ruh mich ein bisschen aus." Er öffnet die Augen und schließt sie wieder - zum Zeichen, dass er einverstanden ist. Kaum bin ich im Hotel, in meinem Zimmer, habe mich auf dem Fußboden ausgestreckt, aufs Bett konnte ich mich nicht legen, alles hat so wehgetan, da klopft auch schon eine Schwester. "Wie geht's ihm?" - "Er ist vor einer Viertelstunde gestorben!" Wie? (...) Ich war doch nur für drei Stunden weg gewesen! Ich stand am Fenster und schrie: "Warum? Wofür?" Ich sah zum Himmel hoch und schrie... Seine letzten Worte waren gewesen: "Ljussja! Ljussenka!" - "Sie ist nur mal kurz weg, sie kommt gleich", hatte ihn die Schwester beruhigt. Er seufzte auf und - war still ... Als alle gestorben waren, wurde das Krankenhaus renoviert. Die Wände wurden abgeschabt, das Parkett herausgerissen und weggetragen ... Zwei Monate später bin ich nach Moskau gefahren - und vom Bahnhof gleich auf den Friedhof. Zu ihm! Und dort auf dem Friedhof setzten die Wehen ein ... Ich hatte kaum mit ihm gesprochen ... Ein Krankenwagen musste geholt werden... Das Kind kam zwei Wochen zu früh ... Sie zeigten es mir ... Ein Mädchen ... "Nataschenka", rief ich. "Papa wollte, dass du Nataschenka heißt." Äußerlich ein gesundes Kind. Händchen, Füßchen ... Aber sie hatte eine Leberzirrhose ... In der Leber waren 28 Röntgen ... Ein angeborener Herzfehler ... Vier Stunden später teilte man mir mit, dass das Kind gestorben sei ... Vom Tod wollen die Leute nichts hören. Von schrecklichen Dingen... Aber ich habe Ihnen von meiner Liebe erzählt... Wie ich geliebt habe. REPORTAGE 5 Mit Zeigestock in der Hand begrüßt Eduard Swirid die Schüler im Informationszentrum des Atomkraftwerks. O-Ton Eduard Swirid Kinder, so wird unser Atomkraftwerk aussehen. Kommt näher ran! Traut euch! An einem großen Wandbild zeigt er, was schon alles gebaut wurde - und wie es später aussehen soll: das erste weißrussische Atomkraftwerk, das hier in Ostrowetz, nahe der litauischen Grenze entsteht. 2018 soll der erste Block in Betrieb gehen, zwei Jahre später der zweite. O-Ton Eduard Swirid Unser Reaktor hat ein Gehäuse. Dicke Wände, einen Deckel und alles festgezogen mit dicken Schrauben. In Tschernobyl gab es kein Gehäuse. Deswegen ist der Unfall passiert. Mehrere Sicherheitshüllen soll das Atomkraftwerk haben, erzählt Eduard Swirid - und breitet seine Arme aus, so weit er kann: So dick sei allein eine davon. O-Ton Eduard Swirid Die hermetische Hülle ist in der Lage einen Flugzeugabsturz auszuhalten. Sie ist in der Lage Unwetter und Überflutungen, Erdbeben, Tsunamis auszuhalten. Sie schützt uns, wenn es zu einem Unfall kommt. Seit sieben Jahren erzählt er Schulklassen und Anwohnern, wie wichtig Atomenergie sei - und wie sicher das neue Kraftwerk sein wird. Die Schüler lassen das Referat des Pressesprechers schweigsam über sich ergehen. Nur die Lehrerin schaut bisweilen etwas skeptisch. O-Ton Lehrerin Wir fragen uns schon, wie wir weiterleben werden mit dem Atomkraftwerk. Wir hoffen natürlich, dass alles gut wird. Aber man denkt natürlich darüber nach. Dass einige der Anwohner besorgt sind, hier in einem Land, das bis heute mit den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe zu kämpfen hat, räumt Swirid gerne ein. Aber das Kraftwerk des russischen Modells "AES 2006" sei nicht vergleichbar mit dem in Tschernobyl,das sicherste der Welt! Das sagt jedenfalls der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko. Doch bisher ist noch kein Kraftwerk dieses Modells am Netz. Swirid führt seine schweigsame Schülergruppe weiter an eine große Weltkarte, auf der viele rote Lämpchen blinken: überall dort, wo ein Atomkraftwerk steht. O-Ton Eduard Swirid Westeuropa, Südostasien und Nordamerika sind wirtschaftlich stark. Die brauchen viel Strom, deshalb gibt es dort auch Atomkraftwerke. Da sei es doch ganz selbstverständlich, dass Weißrussland auch einen Reaktor benötige, meint Eduard Swirid. O-Ton Eduard Swirid Bisher kaufen wir Gas aus Russland und verbrennen das. Eigenes haben wir nicht. Wir müssen es zukaufen. Tatsächlich hängt die Energieversorgung des Landes bis heute fast völlig von russischen Gas- und Öllieferungen ab. Aber wie steht es beispielsweise mit Windenergie, wird Swirid gefragt... 05_13 Atmo (hochziehen): Eduard Swirid: Es gibt keinen Wind. Nein, Wind gebe es in Weißrussland nicht. 05_14 Atmo: Ende der Führung Am Ende der Führung legt Swirid seinen Zeigestock beiseite - und verteilt einige Hochglanz-Broschüren an die Kinder. O-Ton Eduard Swirid Es ist uns gelungen, ein entspanntes Verhältnis hier in der Region Ostrowetz zu schaffen - in Bezug auf das AKW. Wir hatten keine Proteste, keine Straßenbarrikaden. Proteste gegen das Atomkraftwerk habe es wirklich kaum gegeben, sagt Dimitri Kotschuk. O-Ton Dimitri Kotschuk Nach den ersten Protesten hat man die Aktivisten für 15 Tage ins Gefängnis gesteckt. Danach hatten wir einen Tschernobyl-Gedenkmarsch organisiert und die Aktivisten waren noch nicht einmal aus ihrer Haustür raus und wurden schon wieder verhaftet, 15 Tage Gefängnis - oder es gab hohe Geldstrafen. Der Grünen-Politiker lenkt seinen Wagen durch einen neu angelegten Kreisverkehr. Eine Abzweigung führt ins Zentrum von Ostrowetz, die andere zum Atomkraftwerk. O-Ton Dimitri Kotschuk: Wenn wir hier weiterfahren, kommen bestimmt die Sicherheitsleute. O-Ton Anastasija Doroffewa: Bei uns gibt es so etwas wie das "Festhalten zum Zweck der Personenkontrolle". Und das kann mitunter sehr lange dauern. Und als wir das letzte Mal nach Ostrowetz fuhren, verfolgte uns ein Polizeiauto. Anastasjia Doroffewa und Dimitri Kotschuk sind beide Mitglieder der Grünen Partei Weißrusslands. Sie gehören zu der kleinen Gruppe von Menschen, die sich in dem autoritär geführten Land gegen den Bau des Atomkraftwerks engagieren. O-Ton Anastasija Doroffewa Es gibt auch staatliche Zahlen von 2005. Sie besagen, dass mehr als die Hälfte der Weißrussen gegen Atomkraft eintrat. Jetzt - 2015 - sind es nur noch 23 Prozent, die gegen den Bau sind. Etwa die Hälfte ist dafür. Das ist das Ergebnis der staatlichen Informationspolitik. Es gibt eine Kampagne seit zehn Jahren. Wir nennen sie "Vergesst Tschernobyl". An einer Sicherheitsschranke vor dem Atomkraftwerk stoppt Kotschuk das Auto. Die beiden Grünen-Politiker steigen aus. Sand- und Zement-Lastwagen biegen hier zur Baustelle ab; klapprige Busse mit Arbeitern rumpeln vorbei. O-Ton Anastasija Doroffewa Der Bau hier wurde im Rekordtempo errichtet. Die haben die Fundamente schon gegossen, da war das AKW-Projekt noch nicht in trockenen Tüchern. Es soll das günstigste sein und am schnellsten gebaut werden. Dass auf der Baustelle alles glatt geht, kann doch keiner garantieren. Weil auch wir das nicht kontrollieren können. Eine Tochter des staatlichen russischen Energiekonzerns Rosatom baut das weißrussische Atomkraftwerk. O-Ton Dimitri Kotschuk Aus meiner Sicht ist das ein politisches Projekt, das vor allem Russland wichtig ist, um Weißrussland stärker an sich zu binden. Wenn es um die Wirtschaftlichkeit geht, dann deckt das Kraftwerk etwa zwölf Prozent des Energiebedarfs hier im Land. Aber man kann natürlich auch einen anderen Weg gehen und mit grüner Energie diese zwölf Prozent abdecken. Da brauchen wir nicht Milliarden zu zahlen und in Russland Kredite aufnehmen. Während Dimitri Kotschuk noch erzählt, kommt eine Frau in Sicherheitsweste auf ihn zugerannt. Sie rudert aufgebracht mit den Armen. O-Ton AKW-Wächterin Wer hat das erlaubt?! - Niemand hat was erlaubt. - Mit wem machen sie das Interview? Nach einer kurzen Diskussion beschließen die Grünen-Politiker aufzubrechen. Als sie auf der Rückfahrt im Zentrum von Ostrowetz kurz stoppen, werden sie schon von drei Polizisten erwartet. Sie wollen die Ausweise sehen. O-Ton Kontrolle ABSAGE / MOD "Die andauernde Katastrophe - Weißrussland 30 Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl" Das waren "Gesichter Europas" mit Reportagen von Nicole Scherschun und Leila Knüppel. Die Literaturauszüge stammen aus dem Roman "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" von Swetlana Alexijewitsch. Erschienen im Piper Verlag. Claudia Mischke hat sie vorgetragen. Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern Ton und Technik: Christoph Rieseberg, Roman Weingart und Bernd Friebe Gerwald Herter war der Redakteur dieser Sendung. . 1