COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 28.3.2012, 19.30 Uhr Ein Buch als Gegengift Wie die Biologin Rachel Carson den Kampf gegen Pestizide begann Von Tobias Barth Zitator: Kapitel eins: Der stumme Frühling - ein folgenreicher Vorabdruck (Atmo: Agrarflugzeug nähert sich von der Ferne) Sprecher Frühjahr 1962. Die Zeitschrift "Der New Yorker" veröffentlicht eine Artikelserie, die sich mit dem Einsatz von Chemikalien in der Landwirtschaft beschäftigt. Und zwar kritisch. Zitatorin Rachel Carson "Sie sprühten die tausend Quadratmeter großen Grundstücke der Vorstädte, verschonten auch eine Hausfrau nicht, die sich verzweifelt bemühte, ihren Garten abzudecken, bevor die dröhnenden Flugzeuge sie erreichten." (Atmo: Agrarflugzeug Vorbeiflug) Sprecher: Rachel Carson, stellt die Kehrseiten des Chemikalieneinsatzes - allen voran des DDT, des Dichlordiphenyltrichlorethans - heraus, hinterfragt die Wirksamkeit, warnt vor den Folgen für Natur und Mensch: Zitatorin Rachel Carson "Sie überschütteten spielende Kinder und wartende Fahrgäste an den Eisenbahnstationen mit dem Insektizid. In Setauket trank ein schönes Pferd aus einem Trog auf einem Feld, das die Flugzeuge besprüht hatten: zehn Stunden später war es tot." Sprecher Die Artikel im "New Yorker" treffen einen Nerv der Zeit. Dabei sind sie nur der Vorabdruck von Rachel Carsons Buch "The silent Spring" - "Der stumme Frühling". Die Biologin schildert darin ein für damalige Zeiten düsteres Bild der Gegenwart - und ein noch düstereres der Zukunft. Der massenhafte Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln töte nicht nur die Schädlinge, sondern greife massiv in das ökologische Gleichgewicht ein. Zitatorin Rachel Carson "Die Herrschaft über die Natur ist ein Schlagwort, das man in anmaßendem Hochmut geprägt hat. Es stammt aus der "Neandertal -Zeit" der Biologie und Philosophie, als man noch annahm, die Natur sei nur dazu da, dem Menschen zu dienen und ihm das Leben angenehm zu machen." Sprecher: In der Folge des Einsatzes von Mitteln wie DDT drohe nicht nur das Artensterben für die Vögel und Wildtiere, sondern auch der Mensch selbst sei bedroht. Zitatorin Rachel Carson "Es ist ein beängstigendes Unglück für uns, dass sich eine so primitive Wissenschaft für ihren Kampf gegen die Insekten mit den modernsten und fürchterlichsten Waffen ausgerüstet und damit die ganze Welt gefährdet hat." Sprecher Nach der Artikelserie wird Rachel Carson heftig attackiert: Kritiker versuchen, das Erscheinen ihres Buches zu verhindern. Der ehemalige Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson schimpft sie eine Kommunistin. Insektizidhersteller bezichtigen sie der Sabotage. Carson würde mit ihren Thesen die amerikanische Lebensmittelproduktion untergraben. Dabei macht Rachel Carson vor allem eins deutlich: Zu sehr waren in der Vergangenheit Stoffe wie das DDT als Heilsbringer angepriesen worden. 1. O-TON Vaupel: "Das DDT, das muss man festhalten, hatte zum Jahr 48, als Paul Müller den Nobelpreis bekommen hat, in der ganzen westlichen Welt, in der Welt der Industrieländer schon einen sehr guten Ruf. Sprecher Elisabeth Vaupel, am Deutschen Museum München für die Abteilung Chemie zuständig. 2. O-TON Vaupel: Man kann immer wieder feststellen, es wurde im gleichen Atemzug mit dem Penicillin genannt als großer Lebensretter der Menschheit. Penicillin und DDT, das war ein Topos, das war ein Mythos, das gehörte zusammen. Die drei Lebensretter." (Atmo: Mücken, Spraydose, Fliegenklatsche) Zitator: Kapitel zwei: Toxisch, wirksam, ökonomisch - die Erfindung des DDT 3. Dok-Ton "Wenn mir der Ausdruck erlaubt ist, so möchte ich sagen, dass Dr. Paul Müller der Star unter den diesjährigen Nobelpreisträgern ist. Sprecher Eine Reportage aus dem Jahr 1948, Stockholm, am 10. Dezember: 4. Dok-Ton Das größte Warenhaus in der Stadt hat ein Ehrenschaufenster eingerichtet, mit einer eindrücklichen Dekoration. Es wird gezeigt: ein großes Bild, ein überlebensgroßes Bild, eine Fotografie von Dr. Müller, ferner überall Schweizer Fahnen in diesem Schaufenster. Dann eine Landkarte, die die Wirksamkeit gegen die Malaria zeigen soll. Dann ferner natürlich die DDT-Produkte." Sprecher Der Reporter berichtet von der Nobelpreisverleihung an Paul Müller, Industriechemiker aus der Schweiz und Angestellter des Basler Phamazieherstellers "Geygy". Paul Müller erhält die Ehrung im Bereich "Medizin" für seine Erforschung des Dichlordiphenyltrichloräthans - des DDTs. Erstmals beschrieben wurde diese chemische Verbindung in den 1870er Jahren, aber Paul Müller aber war derjenige, der 60 Jahre später die tödliche Wirkung des Stoffes auf Insekten erkannte. 5. O-TON Müller: "Sie war für Insekten so giftig, dass mein Versuchskasten, in welchem die Fliegen besprüht wurden, trotz der üblichen Reinigung nach kurzer Zeit, auch ohne neue Zerstäubung, für neu eingesetzte Fliegen, welche sich auf die vergifteten Wände setzten, tödlich war." Sprecher Paul Müller forscht für "Geygy" an einem synthetischen Insektenvernichter. Bedingt durch den zweiten Weltkrieg sind die bis dahin üblichen Mittel kaum mehr verfügbar, weil man zu ihrer Herstellung Importstoffe braucht. Dazu kommt, dass sie nur sehr eingeschränkt wirksam sind und oftmals auch giftig für den Anwender, denn sie enthalten zum Beispiel Arsen. DDT dagegen erfüllt - scheinbar- die von Forschern wie Paul Müller aufgestellten Idealanforderungen an ein Pestizid: Zitator Rascher Eintritt der toxischen Wirkung. Keine oder geringe Toxizität gegenüber Warmblütern und Pflanzen. Keine Reizwirkung und kein oder schwacher, jedenfalls nicht unangenehmer Geruch. Lange Dauer der Wirkung, das heißt große chemische Stabilität. Niedriger Preis = ökonomische Anwendung. Sprecher 1942 kommen die DDT-haltigen Mittel "Neocyd" und "Gesarol" auf den Markt. Der Basler Historiker Christian Simon schreibt dazu in seiner Kulturgeschichte des DDT: Zitator: Simon S.13 "Die Armeen entdeckten die Kriegswichtigkeit des von der Basler Firma probeweise zugestellten DDT und machten daraus einen "sekundären Kampfstoff" für Ihre Truppen, der im Tropenkrieg die Kampfkraft der Soldaten verstärkte." Sprecher Die Mittel töten Läuse, Zecken und Milben. Mit DDT imprägnierte Unterhosen schützen die Soldaten vor Ungeziefer. Kriegswichtiger noch ist der Einsatz von DDT gegen die Anopheles-Mücke, die Überträgerin der Malaria. Flugzeuge der US-Air Force und der Royal Air-Force versprühen vor dem Einsatz von Bodentruppen DDT und schützen so die Soldaten vor Ansteckung. Ein Erfolg, den sich "Geygy" nicht nehmen lassen will. Die Firma legt großen Wert darauf, als Erfinder des "Wundermittels" bekannt zu werden. Nach dem Krieg ist es vor allem die landwirtschaftliche Anwendung, die den Ruhm von DDT weiter trägt. "Geygy" verspricht "Höchsterträge". 6. O-TON Vaupel: "Man hat zwei Bauern nebeneinander über die Felder laufen lassen. Und diese Bauern hatten einen Besenstiel oder eine lange Stange in der Hand. Und an diese Stange hat man Stoffbeutelchen gehängt, die mit DDT gefüllt waren. Und durch Klopfen auf diesen Besenstiel hat man bewirkt, dass aus den Stoffbeutelchen DDT rausrieselte. Und so ist man also die ganzen Furchen und Felder abgegangen und hat jede Kartoffelreihe eingestäubt. Das war natürlich denkbar primitiv, nur mit Menschenkraft." Sprecher (Regie: Musik toxisch?) Bald schon kommen Flugzeuge zum Einsatz: Sie versprühen das Mittel über den Obsthainen im Schweizer Wallis, über Amerikas Baumwollplantagen, über Deutschlands Kartoffeläckern und über den Getreidefeldern der Sowjetunion. Die Euphorie für das neue "Wundermittel" ist so groß, dass es bis in die Wohn- und Schlafzimmer vordringt: als wirksamer Schutz gegen Motten und Insekten. Alte Werbebilder zeigen Hausfrauen, die mit einer Sprühdose DDT auf Matratzen ausbringen oder das weiße Pulver neben dem Mülleimer streuen, um Ameisen zu vernichten. Nichts scheint DDT aufhalten zu können. Bis 1962 Rachel Carson ihr Buch "Silent Spring" veröffentlicht. (Atmo: Mücken, Spraydose, Fliegenklatsche) Zitator: Kapitel drei: Der stumme Frühling - Ein Buch streut den Zweifel Sprecher Im September 1962 erscheint - allen Anfeindungen zum Trotz - "Der stumme Frühling" zunächst in den Vereinigten Staaten und nur ein halbes Jahr später auch auf Deutsch. Das Buch wird ein Bestseller. International. Rachel Carson berührt ihre Leser mit ihrem eingängigen, feuilletonartigen Stil - der damals für das Genre des Sachbuches außergewöhnlich ist. Sie schreibt eindringlich, emotional und beginnt mit einem "Schreckensszenario": Zitatorin Carson: Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. Die Stadt lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an ein Schachbrett erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben. Im Herbst entfalteten Eiche, Ahorn und Birke eine glühende Farbenpracht, die vor dem Hintergrund aus Nadelbäumen wie flackerndes Feuer leuchtete. Damals kläfften Füchse im Hügelland, und lautlos, halb verhüllt von den Nebeln der Herbstmorgen, zog Rotwild über die Äcker. (...) Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleierhafte Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Irgendein böser Zauberbann war über die Siedlung verhängt worden: Rätselhafte Krankheiten rafften die Kükenscharen dahin, Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Über allem lag der Schatten des Todes. Sprecher Keine Bienen summen mehr, keine Vögel singen, fischleer sind die Flüsse und Seen. Dann sterben auch die Menschen: Neuartige Leiden treten auf, plötzliche Übelkeit befällt die Kinder, die mitten im Spiel umfallen, machtlos müssen hilflose Ärzte ihrem Sterben zusehen. Zitatorin Carson: Fast unbemerkt ist ein Schreckgespenst unter uns aufgetaucht und diese Tragödie, vorerst nur ein Phantasiegebilde, könnte leicht raue Wirklichkeit werden, die wir alle erleben. Was geht hier vor, was hat bereits in zahllosen Städten Amerikas die Stimmen des Frühlings zum Schweigen gebracht? Dieses Buch will versuchen, es zu erklären. Sprecher Auf 280 Seiten folgt Rachel Carson den Spuren, die DDT und der Feldzug gegen Insekten in der Natur hinterlassen. Ihre Gewährsleute sind Biologen, Mediziner und Wissenschaftler, die sich mit den erschreckenden Folgen des Pestizideinsatzes beschäftigen. Carsons Kritik baut dabei auf drei Säulen auf: Zitatorin Carson DDT ist nicht so harmlos für Nicht-Insekten, wie von Herstellern und Anwendern behauptet wird. Sprecher Das Buch dokumentiert zahllose Fälle unerwünschter Nebenwirkungen. Wo DDT versprüht wird, sterben nicht nur Insekten, sondern auch Amphibien, Fische und Vögel. Betroffen ist zum Beispiel der Weißkopfseeadler - das Wappentier der USA. In den 50er Jahren gehen seine Bestände dramatisch zurück. Zitatorin Carson DDT - so wirksam es auch ist - führt langfristig zu Resistenzen. Sprecher Carson zitiert Fälle, in denen die wiederholte Anwendung von DDT den gegenteiligen Effekt erzielte. So seien schon in den späten 40er Jahren resistente Malariamücken bekannt geworden, später auch andere Insekten, die dem Gift durch Anpassung widerstanden: Etwa Läuse. Als man eine Gruppe koreanischer Soldaten wiederholt mit DDT-Pulver behandelte, nahm die Läuseplage zu. Zitatorin Carson DDT richtet mehr Schaden als Nutzen an, gerade wegen seiner erwünschten Eigenschaften. Sprecher Weil das Breitbandinsektizid so wirkt, wie wirkt, vernichtetet es auch nützliche Insekten wie etwa Bienen. Außerdem, so Carson, führe die Langlebigkeit und Fettlöslichkeit des Stoffes zu einer Anreicherung in der Nahrungskette - bis hin zu gefährlichen Dosen im Fettgewebe von Säugetieren, auch in dem des Menschen. 7.O-Ton Santen 3.00 Was dann über die Zeit passiert im Körper das lässt sich kaum vorhersehen. Sprecher Manfred Santen. Chemieexperte von Greenpeace Deutschland. 8. O-Ton Santen 3.00 Also eine akute Toxizität - dass man bei Einnahme einer bestimmten Dosis von DDT erkrankt - ließ sich nicht beobachten, deswegen dachte man okay, für den Menschen unwirksam, also können wir das ruhigen Gewissens einsetzen. Inzwischen weiß man, dass das nicht so ist, dass wenn man nicht sofort stirbt oder erkrankt, heißt das nicht, dass die Substanz deshalb unschädlich ist. Man weiß inzwischen, dass DDT krebserregend sein kann, dass es neurotoxisch wirkt, also auf das zentrale Nervensystem wirken kann, das es hormonell wirksam sein kann, und selbst wenn es dem erwachsenen Menschen nicht schaden sollte weiß man nicht, was es für das Kind im Mutterleib bedeutet. Sprecher Rachel Carsons Buch wirkt wie ein Gegengift. Sie holt das Thema an die breite Öffentlichkeit. Was ihr dabei hilft ist ihre Bekanntheit. Die Biologin hatte bereits mehrere erfolgreiche Bücher über Meereskunde geschrieben. Rachel Carson, 1907 in der Nähe von Pittsburgh geboren, lernte die Liebe zur Natur und Literatur von ihrer Mutter. Als ihr Vater starb, musste die Zoologin ihre Promotion abbrechen, um die Familie zu versorgen. Sie arbeitet bei der Fischereibehörde und machte im Krieg Reklame für Fisch als alternatives Nahrungsmittel. 1951 erscheint ihr erstes Buch "The Sea around us" - "Wunder des Meeres". Ein Erfolg, der es ihr ermöglichte fortan als freie Sachbuchautorin zu leben. Es folgten "The Edge of the Sea" - "Am Saum der Gezeiten" und "Under the Sea-Wind" -Unter dem Meerwind. Sie alle werden Bestseller. Wie eben "The silent spring" - "Der stumme Frühling" auch. Es zählt bis heute zu den folgenreichsten Publikationen des 20. Jahrhunderts und es hat das Thema Umweltschutz salonfähig gemacht. 9 O-Ton Manfred Santen Dieses Buch hat für die Umweltbewegung eine enorme Bedeutung. Das ist jedem, der sich mit Umweltpolitik beschäftigt, bewusst, dass dieses Buch ein Auslöser war für eine ganze Bewegung. Sprecher Rachel Carson fügt alle Indizien zusammen, die gegen die unbedachte, massenweise Anwendung von Pestiziden sprechen. Auch wenn manche ihrer Argumente sich als unrichtig erwiesen, etwa der angebliche Zusammenhang zwischen Insektiziden und der Ausbreitung von Hepatitis, war Rachel Carson dennoch die erste, die auf populäre Weise vor den akuten Eingriffen in ökologische Kreisläufe warnt. So auch in einem Interview mit der Kanadischen CBS. 10. O-TON Carson: "To these people, apparently, the balance of nature was something that was repealed as soon as man came on the scene. You might just as well assume that you could repeal the law of gravity." Zitatorin Carson: Overvoice Für diese Leute ist das Gleichgewicht der Natur offenbar in dem Moment abgeschafft worden, als der Mensch auf den Plan trat. Da könnte man genauso gut die Schwerkraft abschaffen. (Atmo: Mücken, Spraydose, Fliegenklatsche) Zitator Kapitel vier: Vom Zweifel zum Verbot. Oder: Die Gründe hinter den Gründen Sprecher Nach Carsons Buch begann eine Zeit der Expertisen. Wissenschaftler wurden zu politischen Akteuren. Präsident Kennedy wies seine Berater an, einen Bericht zu den aufgeworfenen Fragen auszuarbeiten. Der Historiker Christian Simon schreibt. Zitator (Simon S. 163) "Der Bericht "Use of Pesticides" bestritt, das DDT Gefahren für Menschen berge, und unterstrich, dass biologische Methoden chemische nicht ersetzen könnten. Aber der Bericht gestand zu, dass Pestizide ein Umweltproblem seien. Trotz lokal beschränkter Anwendung hätten sie überregionale Auswirkungen, zu denen namentlich eine hohe Sterblichkeit in der Fauna gehöre." Sprecher Das Verbot schließlich kam aus dem Bundesstaat Wisconsin. Dort sollte in einem Gerichtsverfahren geklärt werden, ob DDT für Mensch und Tier sicher sei. Die Anhörung im Oktober 1968 wurde zum Desaster für die Behörden: Im Kreuzverhör mussten Vertreter des Landwirtschaftsministeriums zugeben, dass sie keine unabhängigen Tests durchführten, um die Angaben der Industrie zu kontrollieren. Das Gericht empfahl schließlich, auf den weiteren Gebrauch von DDT in Wisconsin zu verzichten. Sieben Jahre nach dem Erscheinen von "Der Stumme Frühling" erließ Präsident Nixon 1969 schließlich ein Amerikaweites Verbot von DDT. Der Basler Historiker Christian Simon hält es allerdings für unzutreffend, "das mit dem DDT-Verbot absolut zentrale wirtschaftliche Interessen gegenüber reinen Umweltanliegen den Kürzeren gezogen hätten": Zitator (Simon S. 165) "Die DDT-Kritik fand nämlich erst zu einem Zeitpunkt offiziell Gehör, als die DDT- Verwendung in den USA um die Hälfte zurückgegangen war. Die Wirksamkeit von DDT war um 1970 längst nicht mehr so überragend wie 1945: 89 Arten waren bereits als DDT-resistent bekannt. Sprecher DDT war also längst kein Kassenschlager mehr. Neue Pestizide, moderner und wirksamer, sollten die Gewinne wieder steigern, so die kühle Berechnung der Unternehmen. Überhaupt war das DDT-Verbot von fragwürdigen machtpolitischen Entscheidungen begleitet. So ist eine Rede von Alexander Klein belegt, damals Wissenschaftsdirektors der OECD und maßgeblich am DDT-Verbot beteiligt. Vor Vertretern der NATO sagte er: Zitator "Bei mir meldeten sich erst Zweifel, als man DDT auch im zivilen Leben einzusetzen begann. In Guayana gelang es damit, in fast nur zwei Jahren die Malaria auszumerzen. In der gleichen Zeit verdoppelte sich dort die Geburtenzahl. Rückblickend werfe ich hauptsächlich DDT vor, einen großen Beitrag zum Problem der Überbevölkerung beigesteuert zu haben." Sprecher In einer ähnlich menschenverachtenden Richtung äußerte sich Malcolm Donald, 1971 Bevölkerungsbeauftragter im Außenministerium der USA: Zitator "Mit DDT haben wir eine der größten Dummheiten angerichtet. Malaria, eine der schlimmsten Krankheiten, wurde praktisch ausgerottet. Das war falsch. Damit haben wir das natürliche Gleichgewicht erschüttert. Zu viele Menschen blieben am Leben. Vielleicht haben wir Glück und es tritt ein anderer großer Killer auf." Sprecher Sollte also das amerikanische Verbot von DDT auch aus wirtschaftlichen und geopolitischen Erwägungen heraus erklärbar sein? Kam Rachel Carsons Buch und die Umweltdebatte nur zum richtigen Zeitpunkt, sozusagen als Feigenblatt für eine ethisch bedenkliche Diskussion? Rachel Carson selbst wurde heftig beschimpft: sie sei schuld daran, dass zukünftig mehr Menschen an Malaria sterben müssten. Denn das DDT-Verbot setzte sich immer mehr durch. Die Bundesrepublik Deutschland etwa stellte 1972 die Anwendung von DDT ein, fünf Jahre später auch die Herstellung. Und doch wirkt das Mittel bis heute. (Atmo: Mücken, Spraydose, Fliegenklatsche) Zitator Kapitel fünf: Der Fluch der langen Haltbarkeit 11. O-Ton Karsten Püschner 0.14 Also, begegnet ist mir das bereits zu DDR Zeiten. Sprecher Karsten Püschner. Restaurator im sächsischen Erzgebirge. , 12. O-Ton Karsten Püschner Da habe ich im VEB Denkmalpflege gearbeitet in Dresden und wir hatten ein großes Restaurierungsprojekt in Görlitz in der Peterskirche, St. Peter und Paul, und da ging es um das Orgelprospekt, was stark wurmgeschädigt war also von Anobienfraß geschädigt und wir haben damals noch von Chemikern reines DDT bekommen, um das direkt im Holzfestiger zu mischen nach Bedienungsanleitung sozusagen nach ganz strikten Programmen, wie viel Milligramm auf das Kilo zugesetzt werden und ich habe es damals noch selber verarbeitet in dem guten Glauben, dass es den Objekten hilft. Sprecher In Ostdeutschland war DDT bis 1991 im Gebrauch. In jeder Drogerie konnte "Hylotox 59" erworben werden - ein Holzschutzmittel auf der Basis von DDT. In Westdeutschland war nach dem DDT-Verbot vor allem "Lindan" gebräuchlich - auch dieses Mittel enthält chlorierte Kohlenwasserstoffe, in dem Fall PCB. Die weite Verbreitung von "Hylotox" und "Lindan" sorgt heute für große Probleme - vor allem im Bereich der Altbausanierung und in den Depots der Museen. 13. O-Ton Karsten Püschner 7.02 DDT wie PCP sind beides Gifte, die in die Giftklasse zählen. PPC in die Giftklasse 1, in die Höchste, DDT in die Giftklasse 2 und sind aber beides Stoffe die gleichzeitig, das ist medizinisch erwiesen Krebsfördernd sein sollen. An der Ratte eindeutig nachgewiesen und damit muss man davon ausgehen, dass diese Gefahr für den Menschen auch besteht und speziell, wenn man ständig mit solchen Sachen zu tun hat. Also wenn ein Museumsbesucher mal zwei Stunden durch ein Museum geht und dort ein paar Objekte stehen, die belastet sind, dann wird er davon keine gesundheitlichen Schäden bekommen, aber für den Restaurator, der Woche für Woche, Jahr für Jahr mit den Objekten zu tun hat oder für den Depotarbeiter, der da tagtäglich drin arbeitet, dort entstehen wirklich akute Gesundheitsgefahren, dessen muss man sich bewusst sein. Sprecher Karsten Püschner ist an einem Forschungsprojekt des Umweltbundesamtes beteiligt, dass sich mit den Möglichkeiten zur Dekontamination von Kunstgut beschäftigt. In der Werkstatt des Restaurators steht ein historisches Klavier aus dem Händelhaus Halle - deutlich sichtbar sind kleine weiße Kristalle im Innenraum des Resonanzkörpers. Ausgeblühtes DDT. 14. O-Ton Karsten Püschner So, ich schalte den Laser jetzt ein, da gibt es so eine Kotrollmeldung immer und irgendwann, fängt dieser gepulste Laser an zu tackern. Man hört es noch. Sprecher In Püschners Werkstatt sieht es fast aus wie beim Zahnarzt. Am Ende eines beweglichen Arms hängt eine Laserpistole, darüber eine Absaugvorrichtung. Zentimeter für Zentimeter wird das Holz behandelt - der Laser löst die an der Oberfläche konzentrierten Gifte, man kann zusehen, wie die Kristalle entschwinden: 15. O-Ton Karsten Püschner 1.08.39 Es ist ja so, dass ein Musikinstrument, also wie ein Klavier oder ein Flügel ja aus Holz bestehen und damit natürlich auch wieder anfällig sind gegen Anobien, also gegen Wurmbefall. Und auch dort hat man also diesen Stoff DDT als Holzschutzmittel eingesetzt und hat also die Objekte damit eingestrichen also wie gesagt, ganze Klavierunterböden, Schallböden innen drin: Und DDT blüht eben dort aus, bildet Kristalle, solche weißen Oberflächen, das ist das eine. Das zweite ist, dass diese kristallinen Ausblühungen auch eine Erhöhung der Luftfeuchte bringen, also die wirken hygroskopisch und damit natürlich auch die Saiten anfangen zu korrodieren, dass also die Korrosion och die Bespielbarkeit an sich verschlechtert und diese wertvollen Saiten angreift. Und das andere ist die Raumluftbelastung. Sprecher Das von Püschner miterprobte Verfahren zur Dekontamination von Kunstgütern hat sich schon mehrfach bewährt. Inzwischen läuft ein neues Forschungsprojekt: In einer Unterdruck-Kammer wird lösemittelhaltiger Dampf in verseuchtes Kunstgut eingetragen. Der Dampf soll schonend die Öle lösen, in denen seinerzeit das DDT gelöst war. Es tropft dann - so zeigten erste Versuche - tatsächlich aus. Im Idealfall, ohne die alten farbigen Fassungen beispielsweise von gotischen Holzplastiken zu schädigen. 16. O-Ton Karsten Püschner Bei diesen Fassungsresten stellte sich raus, dass eine ölige Überfassung da war aus späteren Jahren, die sich in diesem Prozess sogar noch von der Originalfassung gelöst hat und wir gleichzeitig sozusagen die Originalfassung bedingt mit frei gelegt haben. Das war natürlich ein Effekt, der jeden Restaurator irgendwo glücklich macht. Sprecher Keine 50 Kilometer von Püschners Werkstatt entfernt liegen die Labore der "Sächsischen Landesuntersuchungsanstalt für das Gesundheits- und Veterinärwesen". Auch dort plagt man sich bis heute mit DDT herum. Regelmäßig untersucht Fachbereichsleiter Thomas Frenzel Proben auf das langlebige und fettlösliche Gift hin. 17. O-Ton Thomas Frenzel Im Jahr 2011 mussten zwei Proben beanstandet werden aufgrund einer Überschreitung. Das betraf zum einen eine Minze und zum anderen, was typisch ist, eine Probe Wildschwein. Sprecher Bis heute finden sich DDT und ähnliche Gifte in den Fischen der Elbe. 1994 waren noch neun von zehn Proben mit Pestiziden belastet. 18. O-Ton Frenzel: "Und auch hier zeigt sich, dass die Belastung über die Jahre stark zurückgegangen ist und es zeigte sich auch, dass die Zahl der Höchstüberschreitungen auch für DDT über die letzen Jahre deutlich zurückgeht. Trotzdem gilt auch heute noch in Sachsen eine Verzehrempfehlung für sächsische Elbfische, die eben besagt, dass eben nicht mehr als 2 Kilogramm pro Person und Monat verzehrt werden dürfen." Sprecher Was für Sachsen gilt, kann einige Kilometer flussabwärts schon wieder ganz anders aussehen. In Niedersachsen warnte im Mai 2011 das Umweltministerium vor dem Verzehr von Aalen, denn in der Hälfte dieser besonders fettreichen Fische fanden sich alarmierend hohe Spuren von Stoffen wie DDT. (Atmo: Mücken, Spraydose, Fliegenklatsche) Zitator: Kapitel sechs: Das Comeback des Wundergiftes 19. O-Ton Jürgen May: "Afrika südlich der Sahara ist die Region, wo die weltweit meisten Malariafälle auftauchen und auch die meisten Todesfälle wegen Malaria auftreten. Und in dieser Region sind Erwachsene nicht so sehr betroffen, sondern vor allem Kinder, junge Kinder. Kinder unter fünf Jahren, die den ersten oder zweiten Kontakt mit Malariaparasiten haben." Sprecher Jürgen May leitet eine Arbeitsgruppe zur Malariaforschung am Bernhard-Nocht- Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Als im Jahr 2007 die Diskussion um DDT in der Malariabekämpfung neu entflammte, sagte er im Deutschlandradio: 20. O-Ton Jürgen May: "Es ist eine Güterabwägung am Ende. Wenn man von 2-3 Millionen Kindern spricht, die sterben durch Malaria, dann muss man überlegen, welchen Schaden kann DDT anrichten. Einmal beim Menschen und in der Umwelt. Das große Umweltproblem war eigentlich durch den riesigen Einsatz in der Landwirtschaft, das war das Hauptproblem, was auch zu Resistenzen geführt hat. Aber nicht so die direkte Schädigung von Menschen." Sprecher Die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, äußert sich da zurückhaltender: Zitat WHO: "DDT hat eine geringe akute Toxizität. Trotzdem, aufgrund der chemischen Stabilität, akkumuliert sich DDT in der Umwelt über Nahrungsketten und im Gewebe von Organismen, die mit DDT in Kontakt kommen, inklusive der Menschen, die in behandelten Häusern leben. Während viele Effekte in Bezug auf Labortiere bekannt wurden, gibt es bisher keine epidemiologischen Daten, die gleiche Effekte für den Menschen beschreiben. Sprecher Im Zuge der von der WHO empfohlenen Malariabekämpfung wird DDT nur in Innenräumen versprüht. Damit - so die Hoffnung - soll eine Kontamination der Umwelt verhindert werden. Für Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace stellt das Comeback von DDT ein doppeltes Problem dar. Manfred Santen von Greenpeace Deutschland. 21 O-Ton Santen: "In der Frage des DDT und anderer Substanzen weiß man, dass diese Chemikalien zu Spätfolgen führen können und dann gilt es das zu verhindern und auch dafür zu kämpfen. Ob das jetzt eurozentristisch genannt wird oder nicht, das ist egal, weil es geht da um Umweltbewusstsein. Andererseits - und da würde ich jedem afrikanischen Bürger recht geben: Wir haben dieses Problem nicht mehr, wir haben es ausgerottet durch den Einsatz bestimmter Chemikalien, und warum wollen wir diese Möglichkeit den afrikanischen Völkern verwehren? Das geht nicht, das ist ganz klar." Sprecher Der Basler Historiker Christian Simon schreibt dem in der Schweiz erfundenem Insektizid eine katalytische Funktion für die Menschheitsgeschichte zu. In seiner Kulturgeschichte des DDT kommt er zu dem Fazit, DDT habe sowohl eine weltweit zusammenhängende, technische Zivilisation vorangetrieben als auch die moderne Technikkritik, die den Zivilisationsprozess begleite. Zitator Sollte sich aber DDT von der moralischen Stigmatisierung als Teufelszeug je befreien, dann können wir sicher sein, dass es im Wechsel mit biologischen Methoden und im Wechsel zwischen verschiedenen Pestizidfamilien bald wieder einen Platz erhielte. Nicht nur im Süden, auch in Europa. ENDE