COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. ?Der Depression entlaufen? Sport gegen das Stimmungstief Ein Nachspiel von Gerd Michalek Sendung am 30.9.07 Atmo 1: Radfahr- und Nordic-Walker-Atmo O-Ton 1 (w1) Wenn ich nicht morgens meine Runde mit dem Rad gedreht habe, dann bin ich einfach nicht fit genug, das macht mich wach, das brauche ich einfach. (w2) Walken blässt mir wirklich den Kopf frei. Wenn ich raus gehe, sobald ich die Natur sehe, den Sauerstoff einatme, einfach mir nur dem Rhythmus meiner Füße hingebe, und wirklich nur laufe merke ich, wie alle Sorgen, wie alle Nöte förmlich aus dem Kopf geblasen werden. Das ist so. SPRECHER Sport vertreibt Kummer und Sorgen, sagt man. Das Gefühl, schlecht drauf zu sein, kennen viele und versuchen deshalb, durch Walken oder Joggen in Schwung zu kommen. Der motorische Muntermacher wird oft zu einem unverzichtbaren Teil des Alltags. Musik 1: schwermütiges Tom Waits-Stück (kurz freistehend) O-TON 2 (Klaus) Es gibt Tage, da bin ich sehr platt von den Depressionen, dann kann ich mich mal nen Tag nicht so aufraffen zum Joggen oder Radfahren, oder zum Schwimmen gehen. SPRECHER Klaus ist 36 und leidet seit zehn Jahren unter Depressionen. Doch inzwischen geht es mit ihm bergauf - auch dank seines Sportes. O-Ton 3(R 21: 30) Ich konzentriere mich auf die Atmung dann. Auf das, was ich so sehe links und rechts herum, auf die Glücksgefühle, dass das jetzt Spaß macht, dass ich Energie habe und noch etwas vor mir habe ? noch ein Stückchen an Laufen. Atmo 2: Laufen durch den Wald SPRECHER Klaus läuft oft mit Freunden und Bekannten. Rainer hingegen ist fast jeden Tag als Einzelkämpfer unterwegs: O-Ton 4 Ich bin immer noch der depressiv veranlagte Mensch. Aber es ist nicht mehr so, dass ich dem nichts mehr entgegensetzen könnte. SPRECHER Der 56jährige Rainer mag besonders das lange Laufen, Klaus radelt genauso gern wie er joggt. Um den Depressionen zu begegnen, gibt es auch andere Wege: Atmo 3: Tanztherapie mit afrikanischer Instrumental-Musik O-Ton 5 Ich tanze eigentlich auch sehr gerne so für mich und habe das auch ne zeitlang gemacht. Ich habe zuhause das Problem. wenn ich mich alleine bewege, dass ich das relativ schnell wieder aufgebe, weil die negativen Gedanken ganz schnell wieder kommen. Und da hilft die Gruppe. SPRECHER Ulla, 41 Jahre alt, nimmt an einer Tanztherapie teil. Im Gegensatz zu Klaus und Rainer kam ihr Laufen und Radeln wie eine Sackgasse vor. Es brachte sie überhaupt nicht aus ihren düsteren Gedanken heraus. Eine Typfrage? Je nach Lebensgeschichte, Naturell und individueller Energie setzen Menschen unterschiedliche Mittel ihren Depressionen entgegen: Manche beschränken sich darauf, Antidepressiva zu schlucken. Andere gehen zur Psychotherapie - oder kombinieren beides. Es gibt unzählige, die zusätzlich Sport treiben - ob Tanzen, Laufen und Rennradfahren. MUSIK 2: Tom Waits (= M 1) SPRECHER Ganz herbe Zeiten haben sie erlebt: Klaus fühlte sich eingeengt in seiner Ehe. Unter einem Dach mit den Schwiegereltern wusste er bald weder aus und noch ein - und beging einen Selbstmordversuch. Der schlanke Mechaniker kam in psychiatrische Behandlung und nahm Antidepressiva. Heute geht es ihm erheblich besser, wenn er auch jeden Monat depressive Schübe erlebt. Langläufer Rainer befand sich ebenfalls in einem tiefen seelischen Loch. O-Ton 6 (Rainer) Da bin ich dann einen morgen hingegangen in völliger Verzweiflung und habe gesagt: ?So Herr Doktor, ab heute nehme ich kein einziges Medikament mehr.? Ich habe damit die Psychopharmaka gemeint. Er hat mich dann belehrt, da kann man bei sterben, aber das war mir alles egal, so leben wollte ich nicht mehr. SPRECHER Der 56jährige Rheinländer war am absoluten Tiefpunkt angekommen - eine regelrechte Kranken-Odyssee lag hinter ihm: Schon Mitte der Siebziger verfiel Rainer während seiner Bundeswehrausbildung dem Alkohol. Irgendwann wurde er auch Medikamenten-abhängig, erlitt epileptische Anfälle. Später geriet er in eine Bulimie-Phase. Nach etlichen Klinikaufent- halten, die ihm nichts gebracht hatten, konnte der gelernte Altenpfleger einfach nicht mehr. Er entschied sich eines Tages trotz seiner Verzweiflung gegen weitere Pillen: O-Ton 7 Von dem Moment an habe ich mich dann fast drei Monate lang völlig durchgebissen, hab gedacht: ?Du musst einfach nur jeden Tag aushalten.? Ich merkte dann nach drei Monaten, dass ich ruhiger wurde, und habe auch keine Krampfanfälle mehr gezeigt, die Hand wurde wieder ein bisschen ruhiger. SPRECHER Dagegen nimmt Ulla, wenn auch nicht restlos überzeugt davon, ihre vom Klinik-Arzt verordneten Antidepressiva. Die 41jährige hat von Geburt an ein verkrümmtes Rückgrat - eine Skoliose. Sie leidet unter dem Gefühl, von anderen nicht angenommen zu werden. Die Telefonistin hat zwei Studienabbrüche hinter sich und viele dunkle Tage. O-Ton 8 (Ulla) Weil ich auch so ein dynamischer Typ war, habe ich gedacht: ?Stell dich nicht so an. Mensch du bist 41 ? was liegst du noch im Bett und stehst nicht auf.? MUSIK 3: TOM WAITS (= M 1) SPRECHER Es gab Tage, an denen sie einfach nur die Bettdecke über den Kopf ziehen wollte. Dann versuchte sie es wieder mal mit Aktivitäten - sie fuhr ans Meer, um Natur ?zu tanken?. Vergeblich. Oft radelte sie los und hörte dabei auf die Ratschläge anderer: O-Ton 9 Der Satz, der von außen kommt: ?Mach doch mal was, lenk dich doch mal ab!? Aber wenn so den Gedanken hat, die ganze Welt ist beschissen, und ich kriege nichts hin und es hat ja nichts geklappt, kann man sich nicht mal eben so von nem Gedanken ablenken. Das funktioniert einfach nicht. Aber der überwiegende Teil der Leute denkt, das geht. Und wenn Leute glauben und sagen, dass sie sich durch Jogging oder Fahrradfahren ablenken können, habe ich Schwierigkeiten, das zu glauben - wenn sie wirklich depressiv sind. SPRECHER Aus ihrer Skepsis heraus hat Ulla ihre Schlüsse gezogen: Sie braucht Sport ? und zwar in der Gruppe. Ulla besucht außerdem eine Gesprächstherapie, denn Sport ist kein Allheilmittel. So der Kölner Psychotherapeut Herbert Mück. O-Ton 10 (H. Mück) Der Schwerpunkt meines Angebots ist das Gespräch, in denen ich den Menschen auch aufzeige, wo vielleicht krankmachende Muster sind. So etwas kann ein Sport ja nicht aus der Welt bringen: Wenn ich ungünstige soziale Beziehungen pflege und nicht konfliktfähig bin, dann wird das durchs Joggen nicht anders. SPRECHER Mück kennt viele Patienten, denen es ähnlich geht wie Ulla. Sie möchte sich sowohl von ihrer düsteren Gedankenwelt befreien, als auch Spaß an Bewegung haben. Daher geht sie zweimal pro Woche zur Tanztherapie, die von Körpertherapeutin Ute Össenich-Lücke geleitet wird: O-Ton 11 Wir Tanztherapeuten verstehen Tanz innerhalb eines therapeutischen Kontextes als eine Symbolsprache. Also über das Tanzen kann ich Gefühle zum Ausdruck bringen ? ich kann auch einen Zugang finden zu meinem Gefühl. Manchmal weiß ich nicht so recht, was geht denn in mir vor? Und wenn ich mal ausprobiere, meinetwegen die Tanztherapeutin bietet an eine dynamische stampfende Bewegung und dazu im Kontrast eine weiche fließende Bewegung, dann macht es etwas mit mir. Was macht eine stampfende Bewegung mit mir? Manchmal löst es Widerstände aus, dass der Patient sagt: ?Damit will ich nichts zu tun haben. Damit kann ich nichts anfangen?. Atmo 4: aus Tanztherapie afrikanische Musik (kurz frei, dann unterlegt) SPRECHER Die Therapeutin übt mit fünf Frauen und drei Männer in einem kreisrunden Raum. Aus den Gesten, mit denen sich die Patienten beim letzten Mal verabschiedet haben, sollen sie einen individuellen Tanz entwerfen. Sie winken sich zu, nicken mit dem Kopf und machen daraus ein tänzerisches Spiel, das ihnen Nähe wie auch Distanz gestattet. Manche Patienten schauen sich erstmal den Tanz der anderen an, bevor sie eigene Schritte wagen. In ihrer größten Niedergeschlagenheit hatten sie die Schotten dicht gemacht. Nun gilt es, Mut aufzubringen, um wieder auf andere zuzugehen. O-Ton 12 (Patient)Und fügt sich rein und fühlt sich wohl. Wenn ich alleine durch den Wald laufe oder walke, könnte ich mir nicht vorstellen. (Patientin B) Bei mir war das so, ich war heute nicht gut drauf und durch die Tanztherapie bin ich Gottseidank wieder gut drauf. Atmo 5: afrikan. Musik SPRECHER So geht es auch den anderen Patienten. Sie lächeln sich zu, werden lockerer und genießen den Moment. Macht es allein der Gute-Laune-Faktor? O-Ton 13 (Patientin B) Ich habe auch schon Tage gehabt, dass, wenn wir Musik hatten, die sehr traurig war, dass ich dann auch traurig wurde. Das war schon nicht so positiv. Obwohl positiv, weil man dann ja auch bei seinem Thema war: Thema der Depression, warum man so traurig ist und keinen Elan hat, keine Zukunftsaussichten hat? Das ist schon so, dass man durch die Traurigkeit wieder näher ran kommt. Aber wenn man dann wieder in der Tanztherapie umgeschwenkt wird, und mehr Aktion kommt, dann ist es so, dass man wieder aufgefangen wird durch die Gruppe oder durch eine andere Musik auch. SPRECHER Vielen hilft der tänzerische Versuch, aus dem Stillstand der Depression auszubrechen. Was versteht man überhaupt unter einer Depression? Sportpsychologe Andreas Malovits: O-Ton 14 Die klassische Depression ist ? wenn man sie psychodynamisch anschaut ? eine nach innen gerichtete Aggression, die einen hemmt, die einen nicht laufen lässt ? das ist wie ein Nein zum Leben. Und das Laufen ist genau das Gegenprinzip: In dem Moment, wo man läuft, sagt man ?Ja? zum Leben, wo man Schritte nach außen tut und auch ne bestimmt Form der Aggression nach außen bringt. So stehen sich diese zwei - auf der einen Seite das Krankheitsbild und auf der anderen Seite das Laufen fast konträr gegenüber. SPRECHER Den Körper zu bewegen und ? im Tanz beispielsweise - dem Rhythmus der Musik zu folgen, bedeutet mehr als die bloße Ablenkung von trübsinnigen Gedanken. Bewegungen wirken auf das seelische Erleben ein. Dabei hilft so etwas wie ein Körpergedächtnis. O-Ton 15 (Fr. Össenich) Dieses, was im Köper abgespeichert wird, ist auch wieder abrufbar. Wenn ich aufmerksam werde, für das, was mit meinem Körper ist, habe ich auch eine größere Chance, mehr über mich zu erfahren. Wo kommt der Schmerz her, was ist mit meinen verspannten Schultern? Und die Bewegung und der Tanz hilft, das aufzulösen. Atmo 6: afrikan. Musik SPECHER Bewegungen können also nicht nur die unterschiedlichsten Gefühle, sondern auch alte Erinnerungen zutage bringen. So wurde Ulla in der Tanztherapie schlagartig bewusst, dass sie noch als dreijähriges Kind nur auf Dinge zeigen konnte, während andere Kinder schon viel weiter waren. Die kleine Ulla hat erst mit drei Jahren das Sprechen gelernt. Der Tanz ist somit weitaus mehr als pure Bewegung: Er hilft, Verschüttetes bewusst zu machen. Musik 4: Hoop Dreams, St. 7, Low Post,0- 0`50, 1994, GEMA: LC 6713 SPRECHER Eine ganz andere Erinnerung an das frühere Leben bewirkte Sport bei Rainer: Der 58 Kilo leichte Mann mit den millimeterkurzen Haaren verbindet mit Langlauf bessere Zeiten. Doch wegen einer Arthrose im Knie sollte er den Langlauf aufgeben. Und fast hätte er es auch gemacht! O-Ton 16 Wie findest du jetzt den Absprung? Dann habe ich mir die Laufschuhe, mit dem ich den letzten Marathon gelaufen bin, die habe ich sauber gemacht, einen Nagel in die Wand gehauen und in eine Ecke so dahin gehängt. (..) Dann hingen die in dem kleinen Zimmer. Ich guckte immer wieder da hin, das ging lange Zeit so, und ich dachte, dass die wirklich da hängen müssen? Dafür gibt es eigentlich keinen Grund mehr. Der einzige Grund war, den ich noch so hatte, war immer der, dass die Ärzte sagten, laufen dürfte ich nicht mehr mit den Knien. Das ist zehn Jahr her. Welcher Arzt kann so lange eine Prognose stellen. Dann habe ich heimlich in so einem kleinen Wäldchen Laufversuche gemacht. MUSIK 5: James Brown: The Very Best Of J.B., 1991, St. 6 ?I got You (I feel good) 0- 0´40, GEMA LC 0309 SPRECHER Es hat sich gelohnt: Die heimlichen Laufversuche waren für Rainer der Beginn einer Lauf-Renaissance: Er konnte wieder schmerzfrei laufen und die Hoffnung wuchs, auf Medikamente künftig verzichten zu können. Rainer steigerte seine Strecken und setzte sich allmählich sportliche Ziele. (MUSIK Ende) Was nicht heißt, dass alles völlig reibungslos ablief ? und das Joggen sozusagen zum Selbstläufer wurde. Denn: Sich aufzuraffen, ist für Menschen mit Depressionen an manchen Tagen ungleich schwerer, als die Rede vom ?inneren Schweinehund? suggeriert. Atmo 7: Laufen Der normale Jogger beginnt mit dem Laufen, wenn er abnehmen will, den täglichen Stress spürt oder Frust hat: Mit Wut auf den Chef läuft es sich fast von allein. Und manche Jogger scharren regelrecht mit den Hufen, wenn sie termin- oder verletzungsbedingt gehindert werden zu laufen. Wer jedoch unter Depressionen leidet, der hat oft gar keinen Antrieb und muss sich die Vorzüge der Bewegung eigens vor Augen führen: O-Ton 17 Ich zeige die ganzen Zusammenhänge auf, erkläre den Patienten, dass Sport in der richtige Dosis angewandt genauso wirksam ist wie manches bewährte Anti-Depressivum. Dass eine Fülle von Studien das belegen, dass es für den Patienten vielleicht einfacher klingt, ein Medikament zu nehmen, dann hellt sich seine Stimmung vielleicht auf, wenn er aber gleichzeitig oder stattdessen Sport machen würde, würde sich nicht nur die Stimmung aufhellen, sondern gleichzeitig würde er dann fit und sicher besser fühlen. Er hätte sehr viel mehr Vorteile als bei einer rein medikamentösen Maßnahme. Es kommt hinzu: Das überzeugt die Patienten auch häufig, dass Medikamente ihre Zeit brauchen um zu wirken, während man bei Sport direkt nach der Sporteinheit besser fühlt. SPRECHER Psychotherapeut Herbert Mück ist selbst begeisterter Hobby- sportler und weist bereits in der ersten Sitzung auf die wohltuende Wirkung von Bewegung im Heilungsprozess hin. Wer läuft, kann in der Regel nicht nur die Pillendosis reduzieren, er vermindert auch die häufigen Stressgefühle depressiver Patienten. Und doch blocken viele Patienten erst mal ab: O-Ton 18 (Mück) Standardmäßig kommt dann die Entgegnung: ?Ja selbstverständlich, das leuchtet mir ein, ich werde das auf jeden Fall machen, wenn es mir besser geht.? Aber das ist ja das Dilemma: Dass, wenn es einem besser geht, braucht man praktisch den Sport und die Medikamente nicht. Aber Sport ist eben das Medium, wie die Medikamente oder die Psychotherapie sind der Weg, damit es besser geht. Es besteht die Kunst darin, die Patienten zu motivieren, es einfach mal auszuprobieren, damit sei merken, dass es ihnen durch das Tun besser geht. Notfalls gehe ich dann mit dem Patienten auch selbst joggen. SRPECHER Depressiv gestimmte Menschen wie Klaus und Rainer, die sich ohnehin gerne bewegen, haben den Weg zum Sport aus eigener Überzeugung eingeschlagen. Das ist keinesfalls die Regel. Das merkt Klaus jedes Mal, wenn er sporadisch seine alte Selbsthilfegruppe besucht. O-Ton 19 Die meisten reden nur theoretisch drüber in meiner Gruppe. Eine ist sehr viel Rad gefahren, aber sonst der größte Teil, der unter Depressionen leidet, die lassen nur mit Tabletten behandeln und legen sich dann ins Bett und grübeln drüber. Ich war noch ein Glückspilz, und wenn man über Sport redet, dann kommt nichts von den anderen, die leiden unter Bewegungsmangel. Musik 6: Hoop Dreams, St. 7, Low Post,0- 0`50, 1994, GEMA: LC 6713 SPRECHER Wer sich dem Sport ein wenig öffnet, hat es in der Therapie meist leichter als jemand, der im Stillstand verharrt. Es gibt viele depressive Menschen: Experten schätzen, dass etwa jeder zehnte Mann und nahezu jede vierte Frau im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an einer behandlungsbedürftigen Depression erkranken. Das Bewusstsein, Sport in der Therapie einzusetzen, hat sich inzwischen verbreitet: Heute bieten viele psychiatrische Kliniken Bewegungsangebote an. Warum Sport hilft, Depressionen in den Griff zu bekommen, ist wissenschaftlich nicht restlos geklärt. Jedenfalls liegt es nicht an den viel zitierten Endorphinen. Sportpsychologe Andreas Malovits: O-Ton 20 Davon sind wir früher auch ausgegangen, zu sagen: ?Wir möchten die Endorphine nutzen, um einen anderen Hormonhaushalt herzustellen, der die Patienten langfristig stabilisiert. Diese Idee hat sich fast obsolet geführt, weil die Forschung gezeigt hat, dass die Endorphine erst nach einer längeren intensiven Ausdauerbelastung gebracht werden. An eine intensive Ausdauerbelastung ? da dachten wir damals bei fünf, sechs Kilometern, wo man Depressive vielleicht in ihrer Hochzeit hinbekommen hätte, diese Distanz zu laufen. Endorphine werden aber in der Regel erst nach 30 bis 35 Kilometern ausgeschüttet. Als von daher kann es nicht das Endorphin sein, was die Depression hilft zu behandeln, sondern es ist dann eher so ein Moment des erlebten Hinaustretens und Ja-Sagens zum Leben. SPRECHER Naturwissenschaftlich erklärt es Psychologie-Professor Jens Kleinert von der Sporthochschule Köln. Er setzt bei den biochemischen Stoffen des Gehirns, den sogenannten Transmittern an. O-Ton 21 Es gibt verschiedene Transmitter, beispielsweise das Serotonin, was im Gehirn wirksam ist. Bei Depressionen sind diese Transmitter zum Teil nicht genügend vorhanden. Jedenfalls kann man das nachweisen. Bis heute weiß man nicht, ob das die Ursache der Erkrankung ist, aber es ist eine Begleiterscheinung. Und man weiß auch, dass bei bestimmter Substitution, also Gabe bestimmter Stoffe - Dopamin gehört dazu - bestimmte Zustände, beispielsweise bei der Depressivität, geringer auftreten. Auf der anderen Seite weiß man, dass solche Transmitter auch reagieren, wenn man sportlich aktiv ist, dass die dann ausgeschüttet werden vermehrt, dass Systeme, die solche Transmitter bereitstellen oder auch verarbeiten, besser ausgelastet sind. Beide Dinge weiß man, das bringt man zusammen, aber diese Dinge wirksam sind im Rahmen der Sporttherapie von Depressiven, das weiß man bislang noch nicht. SPRECHER Die Sportwissenschaft tappt also immer noch im dunkeln bei der Frage, woran es denn genau liegt, dass Sport wirkt. Das Laufen hat man zwar in seiner Wirkung auf Depressive am häufigsten untersucht. Ihm deshalb einen ?Sonderstatus? einzuräumen, wäre jedoch falsch. O-Ton 22 (J. Kleinert) Nahe liegen zum Beispiel Sportaktivitäten, die neben dem typischen Laufen eine ganz andere Erlebnisqualität haben - wie Sportspielarten, also Spiele in jeglicher Form, das hat zwei Effekte: Zum einen hat es diesen stimmungsaufhellenden Effekt, dass wir bei den Sportarten sehen, dass Menschen sich besser fühlen, glücklicher fühlen, was beim Laufen nicht immer unbedingt gegeben ist. Da muss man sehr aufpassen. Das heißt, dieser psychische Effekt des besseren emotionalen Befindens, der ist bei diesen Sportarten stärker. Und wir haben zum zweiten den Effekt, dass Spiele meist mit anderen zusammen gemacht werden. Und das ist bei der Depression auch ein Problem, dass sie ein stückweit vereinsamen, für sich sind, wenige soziale Kontakte haben, und sind die Dinge, die wir in der Sporttherapie, wenn wir spielerisch herangehen, fördern können. Alles nichts, was man typischerweise beim Laufen erfährt. Deswegen rein körperlich betrachet: Laufen - ganz gut, anderseits aus der psycho-sozialer Sicht wären andere Sportarten genauso gut. SPRECHER Auch Krafttraining hat seine Vorzüge: Natürlich gehen Depressive nicht wegen riesiger Muskelpakete ins Fitness- Studio. Doch wer spürt, dass sein Körper kräftiger wird, unterstützt sein Selbstbewusstsein ? und daran mangelt es depressiv gestimmten Menschen häufig. Das bestätigt Psychotherapeut Herbert Mück: O-Ton 23 Also, wenn es mir irgendwie möglich ist, motiviere ich Patienten ergänzend zu dem Laufen auch ein Krafttraining zu machen. Tatsache ist, dass Depressive ja darunter leiden, dass sie antriebsarm sind, zusätzlich auch schwach, energiearm und kraftlos. Und diese ?Sachen? werden nicht so stark durch Ausdauersport wie durch Kraftsport gestärkt. Wenn man sich kräftiger fühlt, wenn man anders Treppen steigt und sich wieder aufrecht durch den Alltag bewegen kann, dann strahlt das zwingend auf die Psyche aus. Meine Empfehlung wäre, um es zusammenzufassen - grundsätzlich anfangen mit Ausdauersport - laufen und wer es noch nicht so gut kann walken - aber bitte alles in Anleitung und bei älteren nach einer ärztlichen Untersuchung. Und wenn es irgendwie geht, dann zusätzlich noch ein Krafttraining. SPRECHER Jeder Mensch muss die für ihn günstige Mischung an Bewegung und Reflexion finden. Klaus zieht es nicht zum Krafttraining, er macht lieber Ausdauersport. In seinem Job müssen seine Armmuskeln ohnehin einiges leisten: Als Mechaniker montiert er täglich oft zehn Stunden lang Kälteanlagen. Er mag es am Feierabend abwechslungsreich: mal joggen, mal Inline-Skaten. Oder er fährt mit dem Rennrad durch die Natur. Mal allein, mal mit Freunden und Bekannten. Geselligkeit und Musik gehören dazu: O-Ton 24 Nach dem Joggen bin ich auch in die Tanzschule gegangen, (?) das ist auch Lebensfreude, wenn man schöne Tänze beherrschen kann. Einen Tango, Walzer, Rumba. SPRECHER Wer Sport in der Gruppe macht, erfährt auch eine wichtige Stütze, wenn es mit der Motivation nicht so weit her ist. Dem Langläufer Rainer fällt es zwar nach wie vor schwer, sich einem Lauftreff anzuschließen, weil er viel Zeit und Ruhe für sich haben möchte. Wegen seines Nebenjobs bei einem Fahrdienst möchte er ungern weitere feste Termine haben. Doch ganz allein durch eine abgeschiedene Landschaft zu joggen, wäre für ihn undenkbar. Völlig einsam war er nur am Anfang seiner Lauf- Renaissance unterwegs: O-Ton 25 Das hab ich auch ein ganzes Jahr gemacht und war nach einem Jahr soweit, dass ich mich im Oktober 2001 zum Köln-Marathon anmeldete. Kurz bevor es zum Marathon gehen sollte, habe ich auch gesagt, was ich vorhabe. Meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Schwager. Atmo 8: LAUF durch die Großstadt ? ?Bad in der Menge? (kurz freistehend - unterlegt) O-Ton 26 Und hab ihn auch durchgelaufen ? in 4:40 Stunden. Und war natürlich stolz wie Oskar, und ich sagen konnte, so das geht jetzt wieder. SPRECHEN So ist es bis heute geblieben. Das lange Laufen hat Rainer viel zuversichtlicher und kontaktfreudiger gemacht: Inzwischen ist er an die Öffentlichkeit gegangen, um Leidensgenossen Mut zu machen: Mit dem Begleiteffekt, dass ihn auf der Straße wildfremde Menschen, die von seinem Werdegang erfahren, ansprechen und loben. Seine Maxime: O-Ton 27 Du lässt in Zukunft halt alles sein, was dich geistig beeinflusst oder die Persönlichkeit verändert, und die körperliche Variante behältst du bei, damit der Körper fit wird. Ich habe gemerkt, dass ich damit ne Chance habe, all das, was in den Jahren vorher war an Krankheiten, möglicherweise auszuschalten. Und bis heute ist es so. SPRECHER Therapeut Herbert Mück empfiehlt Patienten mindestens viermal die Woche eine halbe Stunde zu walken oder zu joggen. Rainer läuft sechsmal die Woche, von Frühling bis Herbst. Im Winter nur viermal, weil er bei schlechtem Wetter eine Bronchitis fürchtet. Er hat noch klare sportliche Ziele. Die haben sich zwar im Lauf der Jahre altersbedingt geändert: Seine Marathon-Bestzeit aus den 80er Jahren steht bei 2:48 Stunden. Auf 3:30 Stunden kann der Mittfünfziger vielleicht wieder kommen. Aber sich deswegen abzurackern und Tempotraining zu machen, ist für ihn unwichtig. Ähnlich sieht es Klaus: Er peilt einmal im Jahr den Kölner Brückenlauf über 15 Kilometer an, aber zum ?Fitness-Fanatiker? wird er deshalb nicht. Er und Rainer möchten langfristig ihre Gesundheit bewahren. Auch wenn mitunter die Leidenschaft fürs Laufen starken Schwankungen unterworfen ist. Da muss Rainer bewusst gegensteuern: O-Ton 28 Weil es mir Spaß macht, möchte ich es eigentlich jeden Tag machen. Aber an den Tagen, wo ich es als Mittel einsetze, ist der Faktor, dass es mir Spaß macht, merkwürdigerweise nicht mehr dabei. Da zwänge ich mir das als Regel auf (..) da hab ich auch keine Lust zu laufen, da muss ich wie es so schön heißt, den inneren Schweinehund überwinden. Ein bisschen unterstützt es natürlich auch, dass man es gewohnt ist zu laufen. SPRECHER Sport wirkt als Stabilisierungsmittel, das man sich kostengünstig selbst verabreicht! Für Psychologen besteht kein Anlass, vor besonderen Nebenwirkungen zu warnen - sieht man von gefahren-geneigten Disziplinen ab. O-Ton 29 (Herbert Mück) Wenn es irgendeine Sportart gibt, ich nehme vielleicht das Schachspiel aus, weil man sich zuwenig bewegt, dann ist eigentlich alles, was einen Depressiven in Bewegung bringt, gut. Da muss man in einem weiteren Schritt überlegen, ob manche Sportarten den Betreffenden oder seine Umwelt gefährden können. Vielleicht manche Mannschaftssportart, wo man noch unkonzentriert ist, würde ich erstmal seinlassen. Ich würde kein Fallschirmsport und kein Klettern machen. (Jens Kleinert) Ich denke, Menschen mit Depressionen, solange sie Sportaktivitäten unter einer gewissen Betreuung machen, können davon nur profitieren. Das heißt, wenn ich das unter der Aufsicht eines Sporttherapeuten mache, kann ein depressiver Mensch oder einer mit einer psychischen Beeinträchtigung keinen Schaden haben bei Sportaktiviät. SPRECHER Übrigens hat sich Rainer mit Langlauf einen Herzenswunsch erfüllt. Atmo 9: Stadtmarathon-Atmo mit Trommeln (kurz freistehend) Im Herbst wird er voraussichtlich erstmals beim Honolulu- Marathon starten. Dank seiner neu gewonnenen Lebensenergie hat er sich getraut, Sponsoren anzusprechen für seine kostspielige Reise. Und er hat Erfolg gehabt. Rainer ist ein leuchtendes Beispiel ? doch nicht der Normfall! Als Startmotivation für andere Depressive sollte man die Trauben des Erfolges nicht allzu hoch hängen, unterstreicht Jens Kleinert: O-Ton 30 Ich denke, entscheidend ist erstmal, dass man versucht, kleine Schritten zu gehen, und sich nicht orientiert an Menschen, die schon übermäßig viel geschafft haben, sondern erst einmal zu sagen: Mir reicht es aus, wenn ich zwei oder dreimal an festen Terminen meine Viertel Stunde Walken gehe, und es in meinen Lebensalltag, egal wie das Wetter ist, einzubinden. Eher erst mal den Anspruch gering setzen, denn dann sind die Ziele erreichbar. Und wenn die Ziele erreicht werden, dann schaffen wir nicht nur der Depression ein Stück weit entgegen zu wirken, sondern auch dem längerfristigen Sport treiben zu helfen. SPRECHER Für die kleinen Schritte zurück ins Leben bietet Sport depressiven Menschen vielfältige Wege. Ob in der Gruppe oder im Alleingang, ob mehr ausdauer- oder kraftbetont - Bewegung ist ? wenn auch nicht unbedingt ein Rettungsanker ? so doch ein guter Haltegriff. Und was Außenstehende darüber sagen, sollte sekundär sein: O-Ton 31 (Rainer) Ich denke nicht, dass ich eine Sucht gegen ne andere ersetzt habe. Selbst wenn ich ein bisschen abhängig laufe, dass es immer noch der gesündere Weg ist, sein Leben so zu bewältigen, als mit der Sucht nach irgendeinem Stoff, oder irgendwo in der Gosse, in der Klinik oder im Heim zu enden. Wenn ich mein Leben bis zum Ende damit bewältige, dann ist es mir egal, ob Außenstehende sagen, der macht jetzt nur ne andere Sucht. Sondern dann ist es für mich okay. Abspann mit Instrumental-MUSIK ?A grand love theme? Interpret: Kid Loco Komp. Kid Bravo 15