Das verunsicherte Paradies Eine Lange Nacht über Georgien Autoren: Brigitte Baetz und Uli Hufen Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Klaus Michael Klingsporn Sprecher: Erzähler Zitator Zitatorin OV-Sprecher OV-Sprecherin Vorproduktion: 17. - 21.09.2018 B-S7 Sendetermine: 6. Oktober 2018 Deutschlandfunk Kultur 6. / 7. Oktober 2018 Deutschlandfunk 1. Stunde Musik: Ensemble Georgika, Take 5 Tushuri (Hirtenlied aus Tuschetien) (stehen lassen bis ca. 0´58, dann darüber) Zitator: Als Gott die Länder verteilte und alle Völker dafür zusammen kamen, feierten die Georgier gerade mal wieder ein Fest. Sie tranken und sangen und vergaßen ihre Verabredung mit Gott. Doch der war von ihrer Fröhlichkeit und ihre Lebensfreude so gerührt, dass er ihnen das Gebiet schenkte, das er eigentlich für sich reserviert hatte. Und so kam das georgische Volk zu seinem Land, das es Sakartvelo nannte - das Land der Kartvelier. (Musik noch einmal hoch, am besten ab 1´33, dann ca. 30 Sekunden stehen lassen, dann darüber und irgendwann wegziehen) Erzähler: Die Georgier sind passionierte Erzähler - und dieser Gründungsmythos ist ihre Lieblingsgeschichte. So sehen sie sich selber gern - und sie haben viele Gründe auf ihrer Seite: ihren Gesang, ihren Wein, ihre Kochkunst, ihre Lebensfreude und die Schönheit ihrer Natur. Doch würde man hierzulande eine Straßenumfrage wagen, wer wüsste schon zu sagen; wo es liegt, dieses Georgien, das in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist? Wer wüsste darüber hinaus, was ein Name wie Sakartvelo bedeutet oder: dass die Hauptstadt Tiflis eigentlich Tbilissi heißt? Nur wenige Deutsche haben überhaupt Bilder vor ihrem geistigen Auge, wenn sie "Georgien" hören. Am ehesten noch wissen sie, dass das Land im Kaukasus liegt, in der Nähe Armeniens und Aserbeidschans und im Westen an das Schwarze Meer grenzt. Das ist in Russland ganz anders. Als der amerikanische Autor und Journalist John Steinbeck kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion reiste, machte er folgende Erfahrung: Zitator: Steinbeck Wo wir auch in Russland waren (...), stets fiel der magische Name Georgien. Menschen, die niemals dort gewesen waren und die wahrscheinlich niemals würden dorthin gehen können, sprachen von Georgien mit einer Art Sehnsucht und mit großer Bewunderung. In ihren Erzählungen waren die Georgier Übermenschen, große Trinker, große Tänzer, große Musiker, große Arbeiter und Liebhaber. Und sie sprachen von dem im Kaukasus und am Schwarzen Meer gelegenen Land als einer Art zweiter Himmel. Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hoffen, wenn sie ein sehr anständiges und tugendhaftes Leben führten, kämen sie nach dem Tod nicht in den Himmel, sondern nach Georgien. Erzähler: Doch es ist eine einseitige Liebe, die der Russen zu den Georgiern. Das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn wird uns in der zweiten Stunde dieser Langen Nacht beschäftigen. Erstmal müssen wir klären: was ist das eigentlich für ein Land, dieses Georgien? Was ist seine Geschichte? Musik: Ensemble Georgika, Take 19, Imeruli Mgzavruli (Wanderlied aus Imeretien), ist nur 2 Minuten lang, in Gänze stehen lassen Erzähler: Fangen wir doch einfach ganz von vorne an. Wobei: einfach ist hier gar nichts. Da wäre beispielsweise der Name. Für die Autoren der griechischen und römischen Antike bestand das heutige Georgien aus zwei Ländern, Iberien im Osten und Kolchis im Westen, dem sagenhaften Land des Goldenen Vlieses und der so heilkundigen wie rachsüchtigen Medea. Der Name Sakartvelo, den die Georgier selbst bis heute benutzen, kommt im frühen Mittelalter auf und leitet sich vom mythischen Gründervater Kartlos ab, einem Nachkommen von Noahs Sohn Japheth. Und "Georgien", der Name, der sich weltweit durchgesetzt hat, geht auf das Persische zurück und bedeutet ursprünglich: "Das Land der Wölfe". Daraus machten die Kreuzritter Georgien, das Land des heiligen Georg. Sie dachten fälschlicherweise, dass dieser Heilige, der dort sehr verehrt wird, das Land christianisiert habe. Ähnlich fehlgeleitet, vermuteten europäische Reisende des 17. Jahrhunderts, der Name ginge auf das Griechische georgos, den Ackerbauern, zurück. In all diesen Bezeichnungen und Erklärungen, ob wahr oder nicht, versteckt sich jedoch ein tieferer Sinn: Die grandiose Wildheit der Berge des Kaukasus im "Land der Wölfe", die Fruchtbarkeit mit ihren Obstgärten und dem Weinbau im "Land der Bauern" und die christliche Tradition im "Land des Heiligen Georg" oder dem "Land der Kartvelier". Musik: Ensemble Kereoni, Take 10, Simgera Sakharveloze (Lied über die Schönheit Georgiens), bei ca. 1´35 mit Erzählertext drüber gehen, wenn es die Zeit erlaubt, auch später Erzähler: Um mehr über die frühe Geschichte der Georgier und ihre Kultur zu erfahren, treffen wir uns mit Zaal Andronikashvili. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und Professor an der Staatlichen Ilia-Chavchavadze-Universität von Tiflis, oder, wie die Georgier selber sagen: Tbilissi. Die frühe Entscheidung für das Christentum im vierten Jahrhundert sei für die Identität und Kultur seines Landes prägend gewesen, sagt er, denn das kleine Georgien musste sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder überlegen, in welche Richtung es sich auf dieser Landbrücke zwischen Europa und Asien orientieren wollte, auf der es nun mal liegt. O-Ton 1-01: Zaal 2´45 Das war eine dieser geschichtsträchtigen Auswahlentscheidungen zwischen Persien und Byzanz, also den damals beiden Großreichen. (...) Und das Christentum hat im Grunde genommen georgische Kultur sehr tief geprägt, weil wir unsere Schrift dem Christentum verdanken. Diese Schrift ist entstanden überhaupt, um die Bibel ins Georgische zu übersetzen. Und es hat natürlich die Kultur dann mehr oder weniger nicht nur beflügelt, sondern überhaupt erst begründet. Erzähler: Die georgische Schrift, von der es im Übrigen drei Varianten gibt, ist ebenso wie die georgische Sprache ziemlich ungewöhnlich, mit keiner anderen Schrift vergleichbar - und geheimnisumwittert. Vermutlich ist sie noch älter als das Christentum, hat aber ihre heutige Form der Notwendigkeit zu verdanken, die christliche Überlieferung schriftlich niederzulegen. Deshalb orientiert sich das georgische Alphabet am griechischen Alphabet, so wie sich die georgische Orthodoxie parallel zur Ostkirche von Byzanz entwickelt hat. Dem Nichtkundigen wird sich aufgrund der Linien und Bögen überhaupt kein Sinn erschließen - und auch die Sprache ist eine Herausforderung. Zitator: Deda - die Mutter Mama - der Vater Erzähler: Das Georgische gehört zur so genannten Kartwelischen Sprachgruppe, zu der nur noch das Mengrelisch-Lasische und das Swanische gehören, die auch in Georgien zu Hause sind. Woher sie stammt, ist unklar. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, werden im Land noch mehr als 20 weitere Sprachen gesprochen - was mit der Vielfalt der Volksgruppen und den abgelegenen Tälern des Kaukasus zu tun hat. Nicht umsonst nannte man den Kaukasus schon in der Antike den "Berg der Sprachen". Der Historiker Plinius berichtete, dass die Römer mehr als hundert Übersetzer benötigt hätten, um ihre Geschäfte im alten Kolchis abzuwickeln. Also: ein homogenes Gebilde war Georgien nie und wird es vermutlich auch nie werden. Ungefähr seit dem 11. Jahrhundert lässt sich Georgien als Georgien bezeichnen. Der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili: O-Ton 1-02: Zaal Andronikashvili Es war ein Zusammenschluss aus drei unterschiedlichen Königreichen: Abchasien, Karthli und Tao, also im südlichen Georgien. Und die Sprache dieses Reiches, also die Kirchensprache, in der die Bibel übersetzt wurde und die für alle diese Länder gemeinsam war, hieß Kartuli, also georgisch. Und irgendwann taucht dann der Name Sarkatwelo auf, also als Gesamtname für diese drei Königreiche, die sich dann weiter expandierten im Laufe des Mittelalters. Erzähler: Und so bekam Georgien, wenn wir es denn jetzt schon so nennen wollen, seine populären Königsgestalten, die in den vielen Kirchen des Landes auch als Heilige verehrt werden: König Davit den Erbauer und Königin Tamar - bis heute, bzw. heute wieder Kristallationspunkte der nationalen Selbstvergewisserung. Musik: Soinari, Take 1, Akh Mezurnev, (ab ca. 1´08 darüber) Erzähler: Königin Tamar beschäftigt die Phantasie - eine jener starken Frauen der Geschichte, vergleichbar mit einer Regentin vom Schlage Elisabeths I. von England, machtbewusst, umsichtig und, wie man es heute nennen würde: emanzipiert. Sie verstieß ihren ersten Mann, einen russischen Prinzen, als der Nachwuchs ausblieb und besiegte ihn auf dem Schlachtfeld. Sie schaffte die Verstümmelung von Straftätern und die Todesstrafe ab, ließ ein differenziertes Verwaltungssystem errichten und ein Adelsparlament einsetzen. Unter ihrer fast drei Jahrzehnte dauernden Herrschaft erreichte Georgien seine größte Ausdehnung: vom Schwarzen Meer bis zum Kaspischen Meer. Sie förderte die Künste und die Wissenschaften. Und: in ihren Diensten stand der Mann, der nicht nur als Gründervater der weltlichen georgischen Literatur gilt, sondern als einer der wichtigsten Literaten des Mittelalters überhaupt: Shota Rustaveli. Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, haben den Namen vielleicht noch nie gehört - in Georgien ist er bis heute allgegenwärtig: auf Geldscheinen und als Statue, als Namensgeber von Universitäten, Straßen und Auszeichnungen. Er war Tamars Finanzminister und die Legende will es, dass er auch ihr Geliebter war. Beweisen lässt sich das bis heute nicht, aber er ging ins Exil nach Jerusalem, nachdem seine Königin zum zweiten Mal geheiratet hatte. Die Heldensaga, die er Georgien und der Welt hinterlassen hat, ist mit keinem westlichen Werk vergleichbar, sagt Zaal Andronikashvili, auch wenn sie, ähnlich den Liedern der Minnesänger, Werte wie Ritterlichkeit und Edelmut besingt. Sie heißt "Der Recke im Tigerfell". O-Ton 1-03: Zaal, ca. 4´25 Das ist nicht nur ein Epos, das ist nicht nur Literatur, sondern darin hat er im Grunde genommen so etwas wie einen weltlichen Ethos mitbegründet. Und zwar einen weltlichen Ethos, der dem christlichen, also dem christlichen Imitatio Christi, die bis dahin als einzige und überhaupt unanfechtbare Weltanschauung galt, ebenbürtig war. Also dieser weltliche Ethos, den Rustaveli mehr oder weniger durch sein Epos kreierte, begründete im Grunde genommen die Kultur, die wir z.T. auch heute leben: mit den Werthierarchien der Freundschaft, der erfüllten Liebe, also der monogamen Liebe. Also es ist schon etwas, was die Kultur über viele hundert Jahre geprägt hat. Und interessant in diesem Zusammenhang war, dass um diese weltliche Literatur zu begründen, mehr oder weniger oder zu verankern, hat Rustaveli und haben die anderen Autoren nicht auf die Antike geguckt, wie die Renaissance-Autoren in Westeuropa gemacht haben, sondern sie haben nicht Vergil oder Homer rezitiert, sondern die haben geschaut auf die persische Literatur. Und die persische Literatur hat hundert Jahre zuvor ihre eigene Renaissance erlebt, d.h. die vorislamische persische Literatur wieder entdeckt und im 10. Jahrhundert kamen die großen persischen Epen wie Ferdousi und Gorgani und vielen anderen Autoren. Und die wurden in Georgien eben rezipiert und die georgische weltliche Literatur entstand eben aus der Sprache, die sehr christlich geprägt war, also durch Bibelübersetzungen, Übersetzungen der Kirchenväter, liturgischen Texten und den persischen Plots, also den persischen Ritterepensujets. Aus dieser Mischung sozusagen entstand die georgische weltliche Literatur. Erzähler: Die georgische Kultur, meint Zaal Andronikashvili, musste sich schon immer im Spannungsfeld zwischen dem christlichen Byzanz, dem es aufgrund der Religion am nächsten stand, und dem muslimischen Persien, den Arabern und den Mongolen, die immer wieder ins Land einfielen, behaupten. Shota Rustavelis Epos mit seinen beiden Liebespaaren, der arabischen Prinzessin Thinathin und dem georgischen General Awthandil sowie der indischen Prinzessin Nestan Daredschan und dem georgischen Prinzen Tariel, dem Recken im Tigerfell, zeige die tiefen kulturellen Verbindungen, die das Land auch in den Osten hinein besitzt. Bis ins 20 Jahrhundert hinein wurde die Geschichte um Prinz Tariel vor allem mündlich von Generation zu Generation weitergetragen, ist also nicht nur höfische, sondern auch wahre Volksdichtung. Und wer heute den Prolog Rustavelis liest, kann sich nur schwer vorstellen, dass der Dichter seiner Königin nur schmeicheln wollte, ihr, der "Sonnenschönen". Zu leidenschaftlich sind diese Verse: Zitator: (aus Der Recke im Tigerfell) "Ich, Rusthweli, ein Besessner, setzt der Töne Satz mit Kunst: Herrscherin der großen Heere, sieh den Wahnwitz meiner Brunst! Ich vergeh, und keine Heilung bannt den giftig-süßen Dunst. Lass dem Grabe mich geweiht sein oder heile mich durch Gunst! In georgischer Wiedergabe sah ich unter Persiens Sagen diese Perle sanft durch unsre Hände rollendes Behagen. Hab sie in gediegne Verse ohne Tadel übertragen, dass der Schönen sie gefiele, die die Wunde mir geschlagen." Erzähler: Doch das Reich der schönen und klugen Tamar, es konnte sich nicht lange halten. Unter ihren Nachfolgern schrumpfte es und zerfiel in unterschiedliche Königreiche und Fürstentümer, die durch Sprache und Kultur allerdings eine Gemeinsamkeit behielten. So habe Georgien ideell weiter existiert, die Pest und den Mongolensturm überlebt, die Übergriffe der Perser und Osmanen, die Eingliederung der georgischen Reiche und Fürstentümer in das Russische Reich nach 1801 und die Jahre der Sowjetunion. Zaal Andronikashvili: O-Ton 1-04: Zaal 11´32 Ich bin kein großer Freund der Identität eigentlich, des Wortes Identität. Weil dieses Wort zu sehr abgrenzt. Es gibt so bestimmte Mechanismen in der Kultur, bestimmte Ordnungen, die manchmal längere, manchmal kürzere Dauer haben. Und die wirken natürlich in Georgien manchmal stärker, manchmal schwächer. Ja, und dann gibts so ein paar Punkte, an denen man vielleicht eine viel zu gewagte Theorie entwickeln kann. Die würde ich jetzt nicht so ins Buch schreiben, aber sagen darf mans glaub ich in sehr allgemeinem Sinne: was für georgische Kultur in diesem Sinne vielleicht etwas typisch ist, ist eine Weltgewandheit. Also georgische Kultur ist lange Zeit, seit Rustaveli vielleicht, der Welt zugewandt, sehr weltbejahend. Und das hat Georgien z.T. geholfen, manchmal auch gestört, aber im Wesentlichen würde ich sagen geholfen. Es gibt einen gewissen Zug des Optimismus in jeder erdenklich schrecklichen Situation. Mich hat z.B. immer verblüfft, als ich die Memoiren aus den sowjetischen Gulags gelesen habe. Und Sie kennen die russischen Sachen daraus, also wenn Sie Warlam Schalamow lesen, der beschreibt die Hölle. Das ist wirklich ein Bericht aus der Hölle. Und dann gibts so ein paar georgische Aufzeichnungen, Briefe, die dann nach Hause schreiben, das ist eine völlig andere Welt. Die versuchen sozusagen diese Hölle, die sie natürlich auch gesehen haben, runterzuspielen und dort vielleicht auch etwas Positives sogar zu entdecken, worüber sie dann ihren Verwandten in Georgien schreiben. Es gab einen sehr guten georgischen Philosoph, georgisch-russischen, sowjetischen kann man auch so sagen: Merab Mamardashvili. Der hat diese Facette der georgischen Kultur "Talent der illegitimen Freude" genannt. Das ist etwas, das über die lange Dauer, ich würde sagen über 800 Jahre, 900 Jahre immer wieder in der georgischen Kultur auftaucht und dafür, was es z.B. nicht gibt: es gibt kaum einen Sinn des Tragischen. Also es gibt keine georgische Tragödie. Anders als Griechen: sie sehen die Welt, also die Georgier sehen die Welt etwas untragisch. Ich würde nicht sagen komisch, also im Sinne der Komödie, aber es gibt immer so einen Grenzfall, der zwischen dem Tod und Leben, und auf diesem schmalen Grat sozusagen, versucht diese Kultur durchzugehen. Erzähler: Diesen heiteren, weltzugewandten Sinn der Georgier hat auch John Steinbeck erfahren. Der amerikanische Nobelpreisträger reiste 1947 mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion. Zitator: Steinbeck Wir fuhren über die flache, dürre Ebene zu einem Paß in den Bergen. Und in diesem Paß befindet sich Tiflis, eine wunderschöne Stadt, die seit vielen Jahrhunderten am Hauptreiseweg von Süd nach Nord liegt. Die Hügelketten auf beiden Seiten sind von historischen Befestigungsanlagen gesäumt, und sogar die Stadt wird von einer auf einem Hügelkamm liegenden Burg beherrscht. Auch auf der anderen Talseite liegt eine Festung, denn durch diesen schmalen Paß zwängten sich alle Volksgruppen hindurch - Perser, Iraner, Iraker aus dem Süden und Tataren und andere Marodeure aus dem Norden. (...) Die Sommernächte in Tiflis waren wunderbar, die Luft mild und leicht und trocken. Junge Männer und Frauen schlenderten ziellos durch die Straßen und amüsierten sich. (...) Von den hohen Balkonen der alten Häuser konnten wir in der Nacht seltsame Musik erklingen hören, leisen Gesang, von einem Zupfinstrument begleitet, das wie eine Mandoline klang, und gelegentlich ertönte in einer dunklen Straße eine Flöte. Die Georgier schienen uns entspannter zu sein als alle Menschen, die wir hier bisher erlebt hatten, entspannt und leidenschaftlich und voller Lebensfreude. Erzähler: Vielleicht war es ja eine Panduri, die Steinbeck dort in den lauen Sommernächten von Tiflis vernommen hat, eine orientalische Laute, typisch für die Musik Ostgeorgiens. Hier erklingt sie in einem Liebeslied aus den Bergen, gesungen von Hamlet Gonashvili, einem der Helden des georgischen Gesangs: Musik: Hamlet Gonashvili, Take 1, Satrpialo, 3´55 Zitator: Strawinski "Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas Besseres gehört", Erzähler: meinte der russische Komponist Igor Strawinski. Damit meinte er weniger die einstimmig gesungenen Lieder eines Hamlet Gonashvili, den wir eben gehört haben, sondern den mehrstimmigen Gesang, der sich in Georgien über die Jahrhunderte entwickelt hat. Dieser polyphone georgische Gesang, ob in der Kirche oder bei Volksfesten und in der Familie gepflegt, gehört zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Musik: Ensemble Kereoni, Take 3, Tskarostan, ca. 0´27 drüber gehen Erzähler: Das Besondere am georgischen Musiksystem: die Melodien unterliegen keiner bindenden Tonart und kennen eine größere Bandbreite von Zwischentönen als wir sie haben. Über Jahrhundert fast nur mündlich tradiert, verlangen Sie von den Musikern ein starkes Einfühlungsvermögen. Die einzelnen Sänger müssen sich in viel stärkerem Maße "aufeinander einlassen" als es in westlichen Chören der Brauch ist, denn es geht nicht darum, im Einklang zu sein, sondern den jeweils anderen Gesang passend zu begleiten ohne die Eigenständigkeit zu verlieren. Für "westliche" Ohren kann sich das ab und an auch dissonant anhören, sagt Rezo Kiknadze, Leiter des Tifliser Konservatoriums: O-Ton 1-05: Reso 14´02 Georgische Polyphonie ist modal, hat keine funktionelle und tonale Eigenschaften, so ist sie eher mit der älteren Zeit der europäischen Polyphonie ziemlich gut zu vergleichen. Es gibt sogar Neigung manchmal zu denken, dass dies alles, die Entwicklung, zusammen passierte. Nur dann blieb Georgien isoliert und musste mit eigenen, anthropologisch bedingten Neigungen zur Polyphonie und eigenen Vorstellungen über Harmonie weiterkommen, weil der Austausch nicht mehr stattfand durch politische Isolierung, also kochte es in eigener Soße, quasi. Daher haben wir nicht solche Harmonien (spielt), sondern eher (spielt). Erzähler: Georgien ist ein reiches Land - nicht nur an Kultur, sondern auch an Natur. Subtropische Niederungen wechseln sich ab mit Halbwüstengegenden, der Strand des Schwarzen Meeres kontrastiert mit der Gletscherwelt des Großen Kaukasus. Es gibt Palmen, Eukalyptusbäume und Oleanderhaine. Es gibt Wälder aus Buchen und aus Nordmanntannen. Es gibt Obstgärten, Weinfelder und Teeplantagen. Erinnern wir uns an John Steinbecks Worte, dass den Russen Georgien als eine Art Paradies erschien: Sollte man das Paradies gleichsetzen mit Musik, Tanz und gutem Essen und Trinken, dann hätten Steinbecks Russen durchaus Recht. Schließlich ist nicht nur die polyphone georgische Musik einzigartig, sondern auch der traditionelle Weinbau, bei dem die Trauben, in Amphoren in der Erde zu Wein reifen. Im Nationalmuseum in Tiflis lassen sich Tonscherben aus dem 4. Jahrtausend vor Christus betrachten, die zusammen mit Traubenkernen gefunden wurden und als einer der weltweit ältesten Beweise für Weinbau gelten. In den vielfältigen Trink- und Tafelliedern Georgiens gehen die Weinbaukultur und die Polyphonie eine kulturelle Symbiose ein - wie hier in dem Stück Diambego, gesungen vom Tsinandali Chor Musik: Tsinandali Chor, Diambego (darüber) Zitator: Steinbeck Die Georgier, die wir trafen, ähnelten den Walisern. Erzähler: Noch einmal der Schriftsteller John Steinbeck. Zitator: Steinbeck (weiter) Jede zehnköpfige Männergruppe verfügte über mindestens sieben schöne Singstimmen. Und nun brach an diesem Tisch der Gesang aus, großartiger Chorgesang. Sie sangen die Lieder der georgischen Bergschäfer und alte Kampflieder. Und die Stimmen waren so gut, und der Chor war so gut, dass sie beinahe wie ein Profichor klangen. Und dann steigerte sich das Tempo, und zwei Männer ergriffen Stühle und drehten sie um, die Sitzflächen auf die Knie, und benutzten sie als Trommeln, und dann wurde getanzt. Musik: Ensemble Georgika, Take 22, Dzveli kartuli satsek´vao, Länge 1´18 Erzähler: Der musikalische Georgier, immer bereit zu Gesang und Tanz, ist das aber nicht auch ein Klischee? Das fragen wir Rezo Kiknadze, der nicht nur der Rektor des Tifliser Konservatoriums ist, sondern auch ein international anerkannter Saxophonist. O-Ton 1-06: Reso, 0´35 Es ist ein Klischee, aber kein so schlechtes. Das heißt, wenn irgendein Starregisseur plötzlich irgendwo im Ausland mit diesem Satz prahlen darf, ist doch gar nicht Schlechtes dran. Ich war noch Teenager, glaub ich, oder vielleicht schon Student, weiß nicht mehr, als sehr sehr erfolgreiches Tournee von dem Rustaveli-Theater unter der Führung von Robert Sturua in England Furore gemacht hat, und da hat man gefragt, wie können alle Eure Schauspieler so gut singen und tanzen, usw.? Und er sagt, ja, Georgier singen alle und das gehört zu ihrem Alltag. Wenn man jetzt georgische Volksmusik - und das ist ein völlig anderer Begriff als der für Deutschland, ja? - wenn man georgische traditionelle Musik anguckt, sich ansieht, sieht man, dass wirklich jeder Lebensumstand mit der Musik begleitet wurde, aus dem Repertoire jetzt heraus. Vielleicht nicht alle heute in Tiflis, nicht alle singen ein "Sari" - das ist so ein Klagelied, im georgischen Gebirge, in Westgeorgien - oder manche "Lamenti", das ist dann vergleichbare Tradition in Ostgeorgien. Es wird vielleicht nicht überall gemacht, in jeder Familie in Tiflis, aber in den Dörfern ist diese Tradition noch sehr stark, immer noch sehr stark. Und georgische Ethnologie- Studenten und unsere Ethnologie-Abteilung hat jedes Jahr alle Handvoll zu tun, weil in den Dörfern kann man immer noch Varianten und Beispiele herausfischen, die noch nicht bekannt waren. Erzähler: Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts, sagt Rezo Kiknadze, hatten einige hingebungsvolle Priester, Musiker und Wissenschaftler damit begonnen, die traditionelle Musik mittels Phonographen zu dokumentieren. Und auch außerhalb Georgiens und Russlands interessierte man sich für diese Musik. Deutsche Forscher nahmen während des Ersten Weltkriegs die Lieder georgischer Kriegsgefangener auf Wachszylinder auf: Musik: Erzähler: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den georgischen Liedern sei wichtig gewesen, um ihre Vielfalt zu bewahren, so Rezo Kiknadze - nicht nur vor dem Zahn der Zeit, der in jedem Land Traditionen in Gefahr bringt, sondern auch vor der Unterdrückung der georgischen Kirche durch Russland. Der Kirchengesang war, wie der Volksgesang, polyphon und nur bruchstückhaft schriftlich niedergelegt. 1811 hatte man die Eigenständigkeit der georgisch-orthodoxen Kirche abgeschafft und sie der russisch-orthodoxen zugeschlagen. Auf der Strecke blieb die georgische Liturgie - und viele der farbenfrohen Fresken in den georgischen Kirchen, die weiß übertüncht wurden. Eines dieser betroffenen Gotteshäuser war die Kirche Maria Himmelfahrt in der Festung Ananuri an der so genannten Georgischen Heerstraße, dem historischen Fernweg nach Russland. Da wirkt es wie ein kleiner Treppenwitz der Geschichte, dass just in dem Moment, als Besuchern erläutert wird, wie die Kirche 1829 zum Besuch von Zar Nikolaus I. frisch gekalkt wurde, eine Prozession um die Kirche herumzieht. O-Ton 1-07: 006 Prozession ab 1´28 (Glöckchengebimmel) Der Kalk geht durch die Farbe durch und das kann man nur chemisch wieder rausnehmen. (von hinten kommt leiser Gesang). Also, einfach so sauber machen, das geht hier gar nicht mehr. Da werden wir jetzt noch so zwei, drei Fresken sehen, die in den 80er Jahren und später, so 2005 dann, vom Kalk befreit wurden. (Gesang kommt näher, Reiseführer verstummt) ab 3´40 (Gesang verstummt, Glocken hören langsam auf zu schlagen) Erzähler: Die Szene erinnert mehr an ein Ritual aus dem Urchristentum als an eine orthodoxe Prozession. Mehrere Männer ziehen voran, können die schwere Ikone kaum tragen. Der Bischof, ein alter Herr mit weißem Bart und Haar, wirkt besonders ehrwürdig mit seiner goldenen Mitra. Er besprengt die Umstehenden mit Weihrauch. Ihm folgen die Gläubigen, die Frauen die Haare traditionell mit einem Kopftuch bedeckt und in langen Röcken, Kinder, junge und alte Männer, Mönche mit langen Bärten. An einer kleinen Anhöhe knien sie alle vor ihrem Bischof nieder. O-Ton 1-07 noch mal hoch, Prozession, 4´04 (liturgischer Gesang beginnt, später lebensnah mit Baby) Erzähler: 1917, kurz vor Ende des 1. Weltkrieges, hatte sich die georgische Kirche wieder für unabhängig erklärt, nahezu parallel zur ersten Deklaration einer demokratischen Georgischen Republik im Jahr 1918. Doch anders als diese überlebte die orthodoxe Kirche die Bolschewisierung und die Eingliederung des Landes in die Sowjetunion - auch wenn es Schikanen gab, die die kirchlichen Traditionen allerdings nie gänzlich zum Erliegen brachten. Reso Kiknadze: O-Ton 1-08: Reso, 4´31 In der Sowjetzeit Kirche war allgemein sehr schlecht angesehen. Ich erinnere mich an zwei ganz blöde und teilweise sehr naive Versuche der Regierung, den Jugendlichen hauptsächlich und den Leuten überhaupt den Gang der Leute zur Kirche, zu Ostern z.B. zu verhindern. Einmal war mit Gewalt, da standen überall normal gekleidete oder verkleidete Polizisten und hin und wieder Provokateure auch, die an unserer Seite plötzlich auftauchten. Diese Methode war gewalttätig, aber hat nicht viel erreicht. (...) Die zweite Methode war ein bisschen zum Schmunzeln. Immer zu Ostern und solchen kirchlichen Feiertagen oder Feiernächten liefen supergute Sportsendungen, superinteressante Filme und Blockbuster und Highlights sämtlicher Fernsehkultur, damit die Leute noch zu Hause blieben. Und damals war es noch nicht möglich - es war noch kein Digitalfernsehen - man konnte auch noch nicht unbedingt aufzeichnen, was da alles lief. Aber manche haben dann doch bevorzugt, zuhause zu bleiben und nicht zur Kirche zu gehen. Erzähler: Seit dem Ende der Sowjetunion lebt der georgische Kirchengesang wieder auf - befördert durch viele Einzelinitiativen - wie dem Anchiskhati-Chor aus Tbililisi, sprich Tiflis, benannt nach einer kleinen Kirche in der Altstadt, in der die Sänger regelmäßig auftreten. Seine Mitglieder, allesamt Berufsmusiker, haben sich die Pflege nicht nur der sakralen Chormusik, sondern auch der Volkslieder zur Aufgabe gemacht - mit internationalem Erfolg. In diesem Jahr traten sie u.a. auch in der Hamburger Elbphilharmonie auf. Hier singen sie uns ein lyrisches Lied aus Megrelien: Masi Vardi Musik: Anchiskhati-Chor, Masi Vardi, Länge 2´14, Dila Erzähler: Rezo Kiknadze, der Leiter des Tifliser Konservatoriums, war selbst in den Anfängen einer der Sänger im Anchiskhati-Chor und betont neben der Vielfalt des kulturellen Lebens im ländlichen Georgien auch die multikulturelle Musiktradition der Hauptstadt. O-Ton 1-09: Reso, 57´52 Ja, die ist sehr bunt, wie sie auch sein sollte, weil Tiflis war so eine komische, so ein komische Ort, wo sehr viele Kulturen sich ständig trafen. Kein Unterschied, ob es Krieg war oder Friede, es war so ein Handelsweg, so ein Knotenpunkt. Und es war auch Zeit - 200 Jahre lang - Tiflis war von den Arabern besetzt und nur der so stark genug gewordene König Georgiens Dawit, der Erbauer, konnte Tiflis befreien. Und 200 Jahre total andere Verhältnisse. Also: es ist total logisch, dass hier Moschee und Synagoge und christliche Kathedrale wirklich in unmittelbarer Nähe zueinander stehen. Nicht einmal hundert Meter sind sie voneinander entfernt. In dieser Situation kann ich mir vorstellen, dass ich total gerne so eine Musik anhören kann: irgendwelchen Sufi-Derwischen zusehen kann und irgendwelche Elemente werden mein musikalisches Verhalten als Georgier auch beeinflussen und umgekehrt. Also hier wurden total interessante Stile und sehr sehr schön klingende asiatische Motive entwickelt, (...) die ich heute vermissen würde. (...) Und so sind auch diverse soziale Schichten entstanden, auch die von Handwerkern, die von komischen, artistisch veranlagten Tänzern und so. Also, es muss sehr interessant gewesen sein. Ich bedauere nur, dass dieses Gebiet nicht genug erforscht ist. Erzähler: Heute boomen in Tiflis die Jazz- und die Elektroszene. Und mit dem Bassiani- Club hat das Berghain in Berlin ernsthafte Konkurrenz im Kampf um die Aufmerksamkeit der internationalen Hipsterszene bekommen. Das Georgien von heute wollen wir aber erst in der dritten Stunde der Langen Nacht genauer unter die Lupe nehmen. In dieser Ersten Stunde noch ein kleiner Blick zurück. Denn wie Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, bereits bemerkt haben werden: unsere georgischen Gesprächspartner sprechen ziemlich gut Deutsch. Maia Panjikidze, zwei Jahre lang Außenministerin ihres Landes gewesen, tut das schon von Berufs wegen: sie ist Übersetzerin und hat u.a. Stücke von Thomas Bernhardt ins Georgische übertragen. Wie kam Sie zur Deutschen Sprache? O-Ton 1-10: Maia 2´50 Das hängt mit meiner Familie zusammen und auch der Tradition, die es in meiner Kindheit in Georgien gab. Sie wissen wahrscheinlich: vor 200 Jahren sind viele Deutsche, vor allem Schwaben, nach Georgien gekommen und die haben sich niedergelassen hier und sie hatten einen sehr guten Ruf, weil sie sehr schön gewirtschaftet haben hier, Straßen gebaut haben und Häuser und so. Die sich sehr von den Häusern und den Straßen usw. und dem Lebensstil im Allgemeinen der Einheimischen unterscheidet hat und die Enkelkinder und die Urenkelkinder von den ersten Aussiedlern, das waren v.a. Frauen, die natürlich noch sehr gut Deutsch sprachen und sie haben Privatunterricht gegeben hier. Erzähler: Unter anderem dem Vater von Zaal Andronikashvili, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und Professor an der Staatlichen Ilia-Chavchavadze-Universität von Tiflis: O-Ton 11, Zaal ca 30 Bis zum 2. Weltkrieg gab es ja ungefähr 40.000 Deutsche. (...) was sehr wichtig war: Sie haben deutsche Sprache vermittelt und dadurch deutsche Kultur. Als Privatlehrer oder Privatlehrerinnen. Die hießen "Tanten". (...) Mein Vater hatte eine solche Lehrerin, ich hatte eine solche Lehrerin. Deutschlandbezug in meiner Familie ist erst über diese Beziehung entstanden. Bei vielen Familien in Georgien. Und da ist mein Vater keine große Ausnahme. Und so war Deutschland aus diesen sehr vielfältigen Gründen ein Bezugsland. Wenn man an Europa dachte, dachte man vielleicht vor allem an Deutschland. Leider wurden die meisten Deutschen im Krieg von Stalin deportiert. Es ist nur ein Bruchteil geblieben. (...) Die Deutschen in Georgien sind kaum 2.000 wahrscheinlich, aus diesen 40. bis 50.000, die es noch 1940 gab. Das ist natürlich schade. Denn sie haben einen großen Beitrag geleistet und man erinnert sich oft und gern an sie. Erzähler: Ihre Dörfer hießen Elisabethtal, Katharinenfeld und Marienfeld. Von ihrem Erbe ist kaum etwas geblieben - und auch im ehemals deutschen Viertel von Tiflis erinnern nur noch ein paar Namen an die dort ansässigen Händler und Kaufleute. Manch älterer Tifliser geht allerdings immer noch "zum Semmel", wenn er sagen will, dass er zur Apotheke geht. Eugen Semmel hieß einer der ersten Apotheker der Stadt. O-Ton 12: Zaal Letztes Jahr wurde ja gefeiert das 100. Jahr der schwäbischen Kolonisten. Und das hat so ein bisschen engere Beziehung mit begründet. Es gab deutsche Dörfer. Es gab ein deutsches Viertel in Tbilisi. Das war vielleicht so der erste Schritt. Der zweite Schritt war, dass sehr viele georgische Intellektuelle im 19. Jahrhundert in Deutschland studiert haben: Begründer der modernen georgischen philosophischen Schule, Begründer der modernen Historiographie, der hat hier in Berlin bei Harnack studiert, Begründer der georgischen Psychologie, usw. Also die Gründungsväter der Universität mehr oder weniger, die 1918 gegründet wurde, haben fast alle deutsche Erfahrungen. Für die war Deutschland, wie soll ich das sagen, akademisches Bezugsland. Deutsch war ihre akademische Sprache und sie haben im Grunde das deutsche Universitätsmodell übernommen. Das war der zweite große Link. Der dritte große Link war, dass es Georgien als Land, also die Georgische Demokratische Republik 1918 nicht gegeben hätte ohne die damalige Unterstützung des Deutschen Reiches. Das Deutsche Reich hat im Grunde genommen die Gründung Georgiens anerkannt, unterstützt gegenüber dem damaligen Verbündeten Türkei und es auch durchgesetzt. Erzähler: Der Erste Weltkrieg ging zu Ende. Das Engagement des Deutschen Reiches war natürlich nicht uneigennützig. Es verlangte als Gegenleistung für die Unterstützung der ersten georgischen Demokratie Zugang zu den Bodenschätzen des Landes. Dabei ging es um den Abbau von Kupfer und Mangan sowie den Transit von Erdöl aus den Ölfeldern im Kaspischen Meer. Zerschlagen hatte sich die Kooperation aber bereits mit der Kapitulation des Deutschen Heeres Ende 1918. Britische Verbände ersetzten die deutschen Truppen im Kaukasus - und verhinderten knapp zweieinhalb Jahre später nicht, dass bolschewistische Einheiten der sozialdemokratisch regierten Republik ein Ende bereiteten. Mehr als 30.000 Georgier wurden in den Jahren 1921 bis 1924 ermordet oder in sowjetische Straflager verschleppt. Betroffen von diesen Säuberungen waren vor allem Adlige, Großgrundbesitzer und Mitglieder der politischen und sozialen Elite des Landes. Verantwortlich: ein Georgier, Jossif Dschugaschwili, der noch weitere Wellen von Säuberungen in den Jahren darauf durch Georgien und den Rest der Sowjetunion rollen ließ. Die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik sollte rund siebzig Jahre existieren - eine durchaus ambivalente Zeit, wie wir in der nächsten Stunde dieser Langen Nacht erfahren werden. Musik: Katie Melua und der Gori Frauen Chor, If you are so beautiful (auf georgisch) Erzähler: Katie Melua haben wir hier gehört, in einer Aufnahme mit dem Frauen Chor aus Gori, Stalins Heimatstadt. Georgiens bekannteste Popsängerin lebt schon seit mehr als zwei Jahrzehnten im Ausland, ist auch britische Staatsbürgerin. Die "schlimmen Jahre", wie die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion von vielen Georgiern genannt wird, die Jahre von Rechtsunsicherheit, Bürgerkrieg und der Auseinandersetzung um Abchasien und Südossetien, haben viele Georgier ins Ausland geführt. So auch den Leiter des Tifliser Konservatoriums Rezo Kiknadze, der in Lübeck in den 90er Jahren Komposition studiert hat. Wenn er über die Musikbegeisterung der Georgier spricht, merkt man ihm immer noch sein Unbehagen darüber an, dass er diese Zeit nicht in Tiflis verbracht hat. O-Ton 1-13: Reso, 29´45 Die Musikszene in Georgien ist sehr vital. In jeder Zeit, auch in den schlimmsten Zeiten, wo es keine Gagen gab und wo es so viel Kriminalität vielleicht darum herum gab, trotzdem war es voller Clubs. Man hat jegliche Musik gespielt und es waren auch Konzerte, akademische Konzerte sozusagen, im Konservatorium, in den Sälen, wo vielleicht keine Heizung an war und wo Leute zusehen mussten, dass sie nicht zu spät nach Hause kommen. Also fingen Konzerte um fünf oder sechs an. Und diese Orchester und diese Ensembles waren manchmal in Europa irgendwo eingeladen, wo ich lebte und wo ich schlechtes Gewissen habe, dass ich nicht zu Hause bin, wo manchmal Krieg ist, Abchasienkrieg, wo Russland alles platt macht. Oder wenn so viele Leute sterben in Tiflis. (...) Musik: Bindis Peria Sopeli, Zitator (darüber): Die Welt hat die Farbe von Sonnenuntergang. Sie wird dunkler und dunkler. Was ist unser Leben? Es wird von uns davon fliegen wie ein Vogel. Das Gras wird über unseren Siedlungen wehen.... (Musik noch einmal hoch, darüber) Erzähler: Ein Fünftel der georgischen Bevölkerung lebt im Ausland - und das bei einer Einwohnerzahl von nur 3,7 Millionen Menschen. Der Exodus hat viele Gründe: Massenarbeitslosigkeit z.B. und die Ungewissheit, wie es im Land weitergeht. Dafür haben fast sechs Millionen Touristen Georgien im letzten Jahr besucht, davon ein großer Teil Russen. Nicht wenige Georgier glauben, dass es ihrem Land besser ginge, wenn die russische Politik eine andere wäre und weigern sich, das Erbe der Sowjetunion auch als ihr Erbe anzunehmen. Das schwierige Verhältnis der beiden Nachbarn wollen wir gleich nach den Nachrichten näher beleuchten - im Zweiten Teil unserer Langen Nacht über Georgien. Musik 2. Stunde Georgien und Russland Musik instrumental Erzähler Auf dem Weg vom Flughafen hinein in die georgische Hauptstadt Tbilisi fährt man an einer riesigen, 80 Meter hohen Skulptur vorbei. Auf einer schmalen Säule steht da in luftiger Höhe ein Mann, der in seinen ausgestreckten Händen eine Sonne dem Himmel entgegen reckt. Vielleicht pflückt er sie auch vom Himmel. Gut möglich, dass das Denkmal eine Ode an menschliche Schaffenskraft und Forschergeist ist. Den Taxifahrer aber erinnert es an einen berühmten Ausspruch von Eduard Schewardnadse. Bevor der 1985 Michail Gorbatschows Außenminister wurde, bekleidete er über Jahrzehnte höchste Parteiämter in Georgien. Auf dem 25. Parteitag der kommunistischen Partei 1976 in Moskau prägte Schewardnadse einen Satz, der in die georgische Folklore eingegangen ist: Für Georgien gehe die Sonne nicht im Osten auf, sondern im Norden: in Russland. Das Zitat ist verbürgt, der Taxifahrer erzählt: das Denkmal sei 1981 erbaut worden, um Schewardnadse die Möglichkeit zu geben, Parteichef Breschnew auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt damit zu beeindrucken und seinen Satz von der Sonne, die im Norden aufgehe, zu illustrieren. Breschnew war nach Tbilisi gekommen, um den 60. Jahrestag der Sowjetrepublik Georgien zu feiern. Musik Erzähler Ob die Legende um das Denkmal stimmt oder nicht, ist unklar. Aber eins steht fest: wer nach Georgien reist, wird umgehend mit dem Thema konfrontiert, dass die georgische Geschichte der letzten fast 250 Jahre mehr als irgendein anderes geprägt hat: das Verhältnis zu Russland. Von 1801 bis 1991 gehörte Georgien erst zum russischen Reich und dann zur Sowjetunion. Unterbrochen von einer kurzen Phase der Unabhängigkeit zwischen 1918 und 1921. Seit 1991 ist Georgien erneut unabhängig. Doch das Verhältnis zu Russland bleibt schwierig. Vor allem deshalb, weil Moskau die beiden von Georgien abtrünnigen Republiken Süd-Ossetien und Abchasien unterstützt. Oder, um es im offiziellen georgischen Duktus zu formulieren: Weil Russland mit Abchasien und Süd- Ossetien gut ein Drittel des georgischen Staatsgebietes besetzt hält. Allerdings sind der Streit um Abchasien und Süd-Ossetien und der Krieg von 2008 nur die letzten Glieder in einer langen Kette von historischen Ereignissen, die die beiden Länder verbinden und trennen. In der 2. Stunde der Langen Nacht soll es genau darum gehen: die komplexen Beziehungen zwischen Georgien und Russland. Herzlich willkommen! Musik Nani Bregvadze: Tbiliso Erzähler Als Leonid Breschnew 1981 nach Tbilisi kam, um 60 Jahre sowjetisches Georgien zu feiern, gab es natürlich auch ein großes Kulturprogramm. Viele der großen georgischen Stars jener Zeit traten beim Festakt in der Philharmonie der Hauptstadt auf, unter ihnen die Sängerin Nani Bregvadse. Wahrscheinlich hat sie damals auch dieses Lied gesungen. Es ist das wohl berühmteste aller Lieder über Tbilisi: Musik Nani Bregvadze: Tbiliso Erzähler Vielleicht haben sie gemerkt, dass Nani Bregvadse zuerst Georgisch und dann Russisch gesungen hat. Das liegt daran, dass Bregvadse nicht nur in Georgien ein Star war, sondern in der ganzen Sowjetunion. So wie viele ihrer Landsleute: Bildhauer, Regisseure, Filmschauspieler, Opernsänger, Tänzer und klassische Musiker aus Georgien waren in der ganzen Sowjetunion bekannt und erfolgreich. Genau wie die georgische Küche, georgischer Wein und die georgischen Strände und Berge. Nani Bregvadse, die heute 82 Jahre alt ist, gehörte in den 60er Jahren mit ihrer Band Orera zu den ersten Popstars der Sowjetunion. Später wurde sie zu einer der wichtigsten Interpretinnen russischer und georgischer Romanzen. Ihre Karriere zeigt beispielhaft, dass die Verflechtungen der russischen und georgischen Geschichte mit Begriffen wie Okkupation, Unterdrückung, Kolonialismus unzureichend beschrieben sind. Heute jedoch geht Im Norden nicht mehr die Sonne auf für Georgien, wie Eduard Schewardnadse behauptete. Im Norden liegt jetzt für viele Georgier die Quelle allen Übels, das die georgische Nation in den letzten 200 Jahren befallen hat. Der georgische Staat verbreitet dieses Geschichtsbild eines ewigen ethnischen Konfliktes zwischen Georgiern und Russen auch offiziell. Im Nationalmuseum auf dem Rustaweli-Boulevard in Tbilisi gibt es eine Abteilung, die sich mit der Geschichte Georgiens als Teil der Sowjetunion befasst. Sie heißt Okkupationsmuseum, stellt die sowjetischen Jahre als ununterbrochene Folge von Terror und politischer Verfolgung dar und suggeriert, dass es sich dabei stets um die Verfolgung von Georgiern durch Russen gehandelt habe. OT 2-01: Bakradse 1921 war natürlich Annexion und Okkupation, aber die ganzen 70 Jahre als nur Okkupation darzustellen, ist nicht richtig. Ich habe das Okkupationsmuseum für diese Einseitigkeit sehr kritisiert. Es ist nach baltischem Muster gemacht, das Museum. Ich finde wenn man über Besatzung, wenn man über das sehr harte totalitäre Regime spricht, muss man auch sehr viel über Kollaboration berichten. Das ist eine sehr interessante Sache und das muss man aufarbeiten. Ohne Kollaboration hätte dieses Regime nicht 70 Jahre gehalten. Nicht hier und nicht in Russland. Erzähler Regime. Kollaboration. Besatzung. Totalitarismus. Okkupation - das Vokabular, das der Historiker Lasha Bakradse, Direktor des Georgischen Literaturmuseums in Tbilisi verwendet, lässt keinen Zweifel daran, wie er über die Sowjetzeit denkt und über die Rolle, die Georgier darin spielten. Unfreiheit, politische Gewalt und Diktatur sind die Leitthemen. Einen ganz anderen Aspekt des Verhältnisses zwischen Russland und Georgiern nimmt der Schriftsteller Guram Dotschanschwili in den Blick, der zur selben Generation wie Nani Bregvadse gehört: OT 2-02: Dotschanaschwili (russ.) VO Sprecher: Ein alter Freund von mir ist ein Diplomat, der in Moskau ausgebildet wurde, ein wunderbarer, sehr kluger Mann. Er fragte mich mal: "Guram sag mal, sind wir von den Russen abhängig?" Das war in den 70er Jahren. Ich sage: "Natürlich!" Und er: "Wieso?" Darauf ich: "Wenn bei uns Dissertationen geschrieben werden, müssen sie in Moskau bestätigt werden. ... Also, wir sind abhängig, sie zwingen uns dazu. Schau es dir doch an: Auf dem Geld ist Lenin, überall Denkmäler für Lenin und Chruschtschow. Die Portraits. Die Paraden." Erzähler: Guram Dotschanaschwili hat selbst genug unschöne Erfahrungen gemacht mit dem sowjetischen Staat: Als Schüler entgingen er und einige Freunde nur knapp einer Haftstrafe, nachdem sie gegen den Einmarsch der roten Armee in Ungarn protestiert hatten. Seit den 70er Jahren ist Dotschanaschwili einer der angesehensten georgischen Schriftsteller. Obwohl er offiziell nie besonders gewürdigt wurde, konnten seine Werke in der Sowjetunion erscheinen. In Georgisch und in russischer Übersetzung. Einige wurden auch verfilmt. Sein Meisterwerk "Das erste Gewand", das jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, erschien damals auf Russisch in einer Auflage von mehreren Hunderttausend Exemplaren. OT 2-03 Dotschanaschwili (russ.) VO Sprecher Aber dann sagte mein Freund: "Hast du schon mal irgendwo einen russischen Bettler gesehen?" -- "Ja sicher, sag ich, die sind doch überall." Es gab mal einen Brief von einem russischen Bettler, der schrieb: "Komm nach Georgien, die Georgier sind solche Trottel, da können wir sogar als Bettler reich werden! Das ist so ein dummes Volk." Also jedenfalls: russische Bettler sind überall. Und dann sagt er: "Ja, gut, aber dann sind wir doch keine Kolonie! Als Indien eine englische Kolonie war, konntest du in Indien keinen englischen Bettler finden auf der Straße, der um ein paar Rupien bittet. Dann sind wir wohl doch keine richtige Kolonie!" (lacht) - da haben sie's: ein kluger Diplomat war das! Musik Erzähler: Wie Georgien zu Beginn des 19.Jahrhundert zu Russland kam, ist nicht ganz leicht zu begreifen oder zu erzählen. Einen einheitlichen, starken georgischen Staat hatte es zuletzt im Mittelalter gegeben. Seit dem 13.Jahrhundert lagen verschiedene Königreiche und Fürstentümer fast durchgängig miteinander in blutigem Zwist. Zudem waren sie alle beinah immer in Abhängigkeit von mongolischen oder persischen Herrschern, die regelmäßig in Georgien einfielen und die Hauptstadt Tbilisi verwüsteten. Um eben das für die Zukunft zu verhindern, wandte sich der ostgeorgische König Erakli der II. 1783 mit der Bitte um Schutz an die russische Zarin Katharina II. Katharina, immerhin eine Schwester im orthodoxen Glauben, sollte Georgiens Sicherheit garantieren, die georgischen Herrscher aber auf ihrem Thron lassen. Ein Vertrag wurde unterzeichnet, doch seine Umsetzung erwies sich als schwierig. Zur Strafe für die Hinwendung zu Russland eroberte der persische Herrscher Aga Mohammed Khan Tbilisi 1795 ein letztes Mal. Er brannte die Stadt nieder und entführte 20.000 Menschen in die Sklaverei. 1801 ergriff Zar Alexander I dann die Gelegenheit und verleibte sich das schutzlose Ost-Georgien ein. OT 2-04: Zaal Andronikashvili Es war ja eine Annexion. Erzähler: Zaal Andronikashwili, Literaturwissenschaftler OT 2-05: Zaal Andronikashvili Der Kaiser, der damalige Kaiser Alexander I. hat sich über den Vertrag, den es gab, den Katharina II. mit Erakli II., dem König von Kartli und Kacheti schloss, hinweggesetzt und ein Kernkönigreich, von Kartli und Kacheti, angeschlossen. Und dann folgten 1810 Imereti und dann folgte Megrelien, Abchasien, Swanetien usw. Bis das ganze Georgien vom Russischen Reich, also vom Zarenreich, mehr oder weniger wiedervereinigt wurde, d.h. wiedervereinigt ist falsch, es gab zwei Gouvernements, in die Georgien aufgeteilt war: Kutaissi und Tbilisi. Und das ist richtig, wir wurden da nicht okkupiert, sondern damals wurde Georgien oder die georgischen Königreiche annektiert. Erzähler: Militärische Gewalt war für den Anschluss kaum nötig. Trotzdem begann die Zaren-Herrschaft mit Gewalt und mit Versuchen, die georgische Kultur und Kirche zu unterdrücken. Die georgische Königs-Dynastie wurde abgesetzt und nach Russland deportiert, die Autonomie der georgisch-orthodoxen Kirche aufgehoben und die Verwendung der georgischen Sprache eingeschränkt. Mit dem Amtsantritt des aufgeklärten Generalgouverneurs Michail Worontsow 1845 änderte sich die rabiate russische Politik. Die georgische adlige Oberschicht wurde nun immer besser in die russische Oberschicht und ihre höfische Kultur integriert und schon bald waren die meisten georgischen Adligen nicht mehr widerstrebende Untertanen des russischen Zaren, sondern vollwertige und nützliche Akteure des Imperiums. Zum Beispiel waren georgische Soldaten und Offiziere unverzichtbar bei der Unterwerfung der widerständigen muslimischen Völker des Nordkaukasus nach 1850. Gleichzeitig entstand das moderne Tbilisi, die Stadt, wie wir sie heute kennen: Der Historiker Charles King beschreibt das so: Zitator: Charles King Worontsow war überzeugt davon, dass der Kaukasus ein wirkliches politisches, kulturelles und ökonomisches Zentrum brauchte und das sollte in Tiflis liegen. Teile der Stadt lagen seit dem persischen Angriff von 1795 noch immer in Ruinen. Worontsow entwarf Pläne für den Wiederaufbau und schuf breite Boulevards und neue Wohnbezirke auf beiden Seiten des Flusses Kura. Die ersten Theater wurden 1850 und 51 eingerichtet, eins für georgische Stücke und eins für russische. Bald darauf eröffnete die berühmte Oper, in der eine italienische Truppe bekannte Stücke aufführte. Tiflis war nicht unbedingt auf europäischem Standard, aber das boomende Kulturleben in Worontsows Tiflis zeigte, das sich die Stadt erhob vom Status einer Garnison zu einem urbanen imperialen Außenposten. Erzähler: 1876 hatte Tiflis, wie die Stadt damals hieß, 100.000 Einwohner. Allerdings: nur 20% davon waren Georgier. OT 2-06: Mühlfried Tbilisi ist ganz lange Zeit eine armenisch geprägt Stadt gewesen, bis Anfang des 20.Jahrhunderts haben Armenier die Bevölkerungsmehrheit gestellt. Erzähler: Florian Mühlfried, Sozialanthropologe und Georgienforscher. OT 2-07: Mühlfried Sie waren dort als Händler tätig, sie haben sozusagen die städtische Mittelschicht gebildet und waren dementsprechend auch repräsentiert im 19.Jahrhundert in der Stadtversammlung. So erklärt es sich, dass Georgier bis ins 20.Jahrhundert Tbilisi eigentlich eher argwöhnisch betrachtet haben, als nicht genuin georgische Stadt, als eben die Stadt, in der überwiegend Armenier lebten, wo Handel getrieben wurde, wo eigentlich so im georgischen Nationalnarrativ immer behauptet wird, dass Georgier eben nicht Händler sind, sondern entweder Bauern oder Aristokraten. Das heißt als Heimat der georgischen Nation wurde eigentlich immer das Land betrachtet und nicht das städtische Tbilisi auf Grund der armenischen Bevölkerungsmehrheit. ... Im 19.Jahrhundert kann man wirklich von Tbilisi als einer kosmopolitischen Stadt sprechen. Erzähler: Es ist dieser kosmopolitische urbane Außenposten des Imperiums, dieses russisch regierte und von armenischen Händlern dominierte Tbilisi, in dem die moderne georgische Kultur nach und nach entsteht: in engem Kontakt mit der russischen imperialen Hochkultur und genährt von deren Institutionen. Gerade wegen des Kontakts mit anderen Kulturen wächst unter georgischen Intellektuellen im späten 19.Jahrhundert das Interesse an der eigenen, georgischen Kultur, an polyphonem Gesang, mittelalterlicher Literatur und kirchlichen Traditionen. Es ist die für viele noch neue Umgebung der armenisch und russisch dominierten Städte, die das erwachende Nationalbewusstsein fördert. Gleichzeitig nutzen immer mehr Georgier die Möglichkeiten, die die Zugehörigkeit zum Imperium bietet: sie studieren in den russischen Metropolen Petersburg oder Moskau, machen sich vertraut mit der russisch-imperialen Kultur und mit neuesten europäischen intellektuellen und kulturellen Moden. OT 2-08: Reso Kiknadse Es ist totale Katastrophe, was die russische Politik Georgien gegenüber anbetrifft, aber Freundschaft und kulturelle Beziehungen haben Georgien genauso bereichert wie umgekehrt Russland wurde davon bereichert. Erzähler: Reso Kiknadse ist der Direktor des Konservatoriums in Tbilisi. OT 2-09: Reso Kiknadse Und das ist immer so gewesen: persische Einflüsse in der Poesie und in der Musik sind genauso wertvoll für georgische Kultur, persische Politik eben zerstörerisch. Und russische Politik ist ein bisschen heftiger, weil sie immer noch aktuell ist. In 300 Jahren wird man, bin ich mir sicher, von den kulturellen Beziehungen zwischen beiden Ländern sprechen und nicht von den imperialistischen und von den kriegsführerischen oder so was. Und was das Konservatorium betrifft: die ersten Rektoren waren russischer Abstammung. Die ersten Mäzene, die das hier angefangen haben, waren nicht nur Georgier, sondern auch Russen dabei. (...) Im Museum steht das Klavier von Sergej Rachmaninow. ... Und die ganze georgische, z.B. Klaviertradition, Pianismus, georgischer Pianismus, das ist totaler Abzweig oder Abzweigung von russischem Pianismus. (...) Sehr vieles von georgischer Staatlichkeit wurde mit der Reibung an Russland stärker gemacht. (...) Die nationale Identität wurde stärker, glaube ich, als je zuvor, weil uns Russland so auf einmal usurpiert hatte. Zuerst Ostgeorgien und dann Westgeorgien. Erzähler: Russland und besonders seine Metropolen repräsentieren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für junge Georgier die Moderne, eine Verbindung nach Europa und eine reiche, vielfältige Kultur auf der Höhe der Zeit. Georgien war im Vergleich ein rückständiges Land. Gleichzeitig ist Russland ein repressiver Staat, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von einer Minderheit unterdrückt wird: russische Bauern und Arbeiter genauso wie georgische. Genau wie für russische Altersgenossen sind es auch für georgische Studenten, Intellektuelle und Arbeiter immer häufiger sozialistische Ideen, die die besten Antworten auf die Probleme der Zeit zu bieten scheinen. Als Georgien 1918 mitten im Chaos von Weltkrieg und russischer Revolution die Chance ergreift und sich zu einer unabhängigen Republik erklärt, stecken dahinter ganz andere Ideen als 70 Jahre später am Ende der Sowjetunion. Es geht nicht um georgischen Nationalismus und nationale Unabhängigkeit, es geht um Sozialismus. Der Historiker Charles King: Zitator: Charles King Obwohl Georgier das soziale und politische Leben der Republik dominierten, wurde die georgische Unabhängigkeit nicht in die Sprache historischer Schicksalhaftigkeit oder nationaler Selbstbestimmung gekleidet. Die sozialdemokratischen Menschewiki waren denkbar ungeeignet als Schöpfer einer Nation, weil Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Klassenbeziehungen sie viel mehr interessierten als ethnischer Nationalismus. Noe Jordania, der Vorsitzende des Parlaments bemerkte damals, die Unabhängigkeit sei "ein historischer und tragischer Vorgang". Sie war nicht die Folge einer kollektiven Hinwendung zur nationalen Souveränität, sondern bedingt durch die Notwendigkeit, Georgien "in den aktuellen historischen Stürmen zu bewahren". In der Präambel der Unabhängigkeitserklärung von 1918 hieß es, die Entscheidung Teil des Russischen Imperiums zu werden sei mehr als ein Jahrhundert zuvor freiwillig getroffen worden: aus der strategischen Notwendigkeit heraus, das Überleben des Landes im Angesichts äußerer Feinde zu sichern. Ähnliche Umstände führten nun dazu, die russische Umarmung zu verlassen. Erzähler: Im Juni 1919 veröffentlicht der Schriftsteller Grigol Robakidze in der Zeitung "Neuer Tag" ein künstlerisches Manifest, das den Geist der Zeit und die vorherrschenden Ideen und Überzeugungen hervorragend einfängt. Robakidze hatte in Deutschland studiert und nahm für die neue sozialistische Regierung Georgiens auch an der Pariser Friedenskonferenz von1919 teil. Zitator: Das künstlerische Tiflis Tiflis ist geheimnisvoll. Es ist nicht einfach ein geografischer Punkt. Man spürt dort die "Historie". Sein "Boden" ist von historischem "Pathos" gesättigt. Das Grau und das Ziegelrot seiner Kuben wurden von der Geschichte eingebrannt. Wenn man durch Nürnberg geht, glaubt man manchmal, aus jeder Ecke käme ein mittelalterliches Gesicht herausgeflogen. Die Sadowaja, die Gorochowaja-Straße, die Sobatschij-Gasse sind nicht nur lineare Seinsform von Petersburg: auf ihnen hat die entzündete Mystik Dostojewskijs ihren Abdruck hinterlassen. Wo "Historie " ist, da ist "Mystik ". Tiflis ist mystisch. Es kennt Dschingis Chan, Timur Leng, Schah Abbas, Aga Mohammed Chan, es kennt auch andere rasende Mordbrenner. Doch Tiflis ist ewig neu. Der "Einmarsch" der Eroberer macht ihm keine Angst: die einen kommen, andere gehen: Für sie werden nur "Paraden" veranstaltet. Es ist in seiner Selbstbeherrschung ein Bollwerk. Sein ehernes Profil lächelt leicht, wenn es diese "Paraden" betrachtet. Tiflis glaubt an sich, was auch immer geschehen mag, es bleibt, was es war. Bezeichnend, dass im ganzen früheren russischen Imperium nur Tiflis allein unversehrt geblieben ist. Städte stürzten ein, Tiflis blieb unbeschädigt. Möglich, ein "finaler Schlag" trifft es. Fragt sich nur, für wen dies der finale Schlag sein wird. Tiflis - das sind Kreuzungen. Rassen, Völker, Kulturen sind in ihm verschmolzen. Hier sind Gesichter jeder Art: assyrische, ägyptische, indische, griechische. Im iverischen Blick des Grusiniers nimmst du oftmals das Aufscheinen ferner Rassen wahr. Tiflis ist künstlerisch. Als Materie künstlerischer Energie ist es wohltuend, als formender Künstler ist es genial. Tiflis lebt durch die ästhetische Wahrnehmung der Welt. So war es in der Vergangenheit. So ist es heute. (...) Die Internationale der Arbeitermassen ist eine große Sache. Sie birgt die gesunden Samen sozialen Schaffens in sich. Die Bourgeoisie hat sich erledigt. Sie ist endgültig verspießert. Das Proletariat muss die Weltgeschichte bereinigen. Doch in ihm ist das Bewusstsein noch nicht stark genug: es reift, in ihm ist die "Biologie" rassischer und nationaler Bestimmungen noch zu sehr zu spüren. Die Welt der Künstler (im weit gefassten Sinn des Wortes) - das ist die Internationale des Geistes. Das Unglück der europäischen Kultur zeigte sich darin, dass Menschen, einig im Geiste (zumindest sollten sie das sein), einander durch den Weltkrieg plötzlich zu hassen begannen. Wäre es nicht der Bankrott der Kultur, wenn Menschen, die mit Nietzsche leben, Menschen, die mit Dostojewskij leben, einander in einem, sagen wir imaginierten "deutsch- russischen Krieg" hassen würden!? Leider geschah das in diesem Krieg. In dieser Beziehung hat kaum jemand das Examen in puncto Kultur bestanden. (...) Im Namen der Internationale des Geistes müssen wir uns zu einem einigen starken Kreis zusammenschließen. G. R. Tbilissi, 2. Juni 1919 Musik Erzähler: Das Experiment einer unabhängigen sozialistischen Demokratie in Georgien wurde international aufmerksam beobachtet. Ihr gewalttätiges Ende durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Roten Armee 1921 bestärkte u.a. den deutsch-tschechischen Sozialdemokraten Karl Kautsky in seiner Überzeugung, dass mit Kommunisten eine Zusammenarbeit grundsätzlich nicht möglich sei. Noch ein Jahr zuvor hatte die Regierung in Moskau das unabhängige Georgien per Vertrag anerkannt. Andere Länder standen offenbar vor einem ähnlichen Schritt. Doch es kam anders: OT 2-10: Zaal Andronikashvili Die Okkupation und die Besatzung folgte, und das ist auch eine schwierige Geschichte, 1921, als die georgische demokratische Republik, also die erste Republik, von den sowjetisch-russischen Truppen besetzt wurde. Erzähler: Zaal Andronikashwili, Literaturwissenschaftler OT 2-11: Zaal Andronikashvili Diese Entscheidung war maßgeblich von Stalin, also einem gebürtigen Georgier und Ordschonikidze, einem weiteren gebürtigen Georgier, getragen. Die haben diese Armee mehr oder weniger angeführt, die Georgien besetzt hat und dann wurde Georgien 1922 zusammen mit Armenien und Aserbaidschan zu einem Teil der Sowjetunion gemacht. Das war nicht eine Entscheidung des Georgischen Volkes, es war eine Annexion, die einer militärischen Besatzung folgte. (...) es gab einen Aufstand 1924, aber es war jetzt keine große Resistance, später folgte dann der Stalin-Terror, da konnte man dann an Widerstand überhaupt nicht denken. ... Und diese Erste Republik, die war schon sehr fortschrittlich, weil sie dann im Grunde genommen eine sozialistische Alternative zur Diktatur des Proletariats war. Ein sozialdemokratischer Staat, der eigentlich ein sehr großes Potential hatte - in vielen Hinsichten war die damalige Republik sehr viel basisdemokratischer als wir heute sind. Erzähler: Die gewählte georgische Regierung musste ins Ausland fliehen. Grigol Robakidse beteiligte sich am Widerstand gegen die neuen kommunistischen Machthaber, der noch einige Jahre lang immer wieder aufflammte. Aber es nützte nichts: Georgien war wieder Teil eines Imperiums. Dessen Zentrum lag nicht mehr in St.Petersburg, sondern in Moskau. Doch ein ethnisch russisch dominiertes Imperium war auch die neue Sowjetunion nicht. Zu ihrer Führung gehören von Anfang sehr viel Georgier, allen voran Josef Stalin. Die georgische Sowjetrepublik selbst wurde ohnehin immer von Georgiern regiert. Georgisch war offizielle Amtssprache und auch die Schlächter, die 1937 in Georgien wüteten und große Teile der georgischen Intelligenz töteten, waren Georgier. OT 2-12: Bakradze Natürlich ist das unsere Geschichte, auch wenn es unangenehme Geschichte ist, dann muss man der Vergangenheit in die Augen schauen. Selbstverständlich ist das unsere Geschichte - unglaublich viele georgische Kommunisten haben natürlich teilgenommen, auch wenn das für mich nicht so ausschlaggebend ist, an diesem System. Und besonders stark noch nach dem z.B. Beria von Tiflis nach Moskau geholt wurde, hat er fast den ganzen Repressionsapparat mit eigenem Leuten aus dem Kaukasus besetzt. Nicht ausschließlich Georgier übrigens. Andererseits muss man auch sagen: Viele denken, dass Stalin vielen Georgiern geholfen hat hoch zu steigen. Aber man muss auch sagen, dass viele bedeutende georgische Bolschewiki einflussreich waren in der gesamtrussischen bolschewistischen Bewegung. Auch vor Stalin. Musik Erzähler: Leben und Tod des georgischen Dirigenten Jewgeni Mikeladze illustrieren anschaulich, welche Chancen und Gefahren die junge Sowjetunion jungen Georgiern bot: Mikeladse hatte am Leningrader Konservatorium studiert und machte eine steile sowjetische Karriere. 1933, mit kaum 30 Jahren begründete er in Tbilisi das Nationale Sinfonieorchester, das heute seinen Namen trägt. Nicht ganz unwesentlich für Mikeladses Karriere war sicher auch der Umstand, dass seine Frau Ketewan die Tochter des georgischen Kommunisten Iwan Orachelaschwili war. Doch 1937 führte eben dies zu seinem frühen Tod. Als Stalin und sein Henker Beria nach und nach sämtliche Augenzeugen ihrer frühen Jahre im Kaukasus ausschalteten, wurden erst Mikeladzes Schwiegereltern und dann auch er selbst verhaftet, gefoltert und erschossen. Wie es heißt habe Beria ihn persönlich geblendet und das Gehör zerstört, bevor er erschossen wurde. Musik Erzähler: Die sowjetisch-russisch-georgische Geschichte von Jewgeni Mikeladze war 1937 jedoch nicht zu Ende. Jewgenij Mikeladses Sohn Wachtang, geboren 1937 in Moskau, studierte nach Jahren in der Verbannung ab 1965 am legendären Moskauer Filminstitut VGIK. Dmitrij Schostakowitsch, ein Freund des Vaters, soll ihm geholfen haben, dort aufgenommen zu werden. Später wurde Wachtang Mikeladze zu einem der bekanntesten Dokumentarfilmer der Sowjetunion und des postsowjetischen Russlands. Er gehörte zu jener georgischen intellektuellen, künstlerischen und auch wirtschaftlichen Elite, die in der Sowjetunion eine so überaus prominente Rolle spieltei. Und damit sind wir wieder in jenem Moment im Frühjahr 1981, als Nani Bregvadse in Tbilisi für Generalsekretär Breschnew sang und für den georgischen Parteichef Eduard Schewardnadse. Musik: Nani Bregvadse - Suliko Erzähler: "Suliko", die kleine Seele, angeblich war das Stalins Lieblingslied. Die Sowjetunion war eine Supermacht und Georgien ihr lokales, tropisches Paradies. OT 2-13: Mühlfried Es ist die Sehnsuchtslandschaft der Russen, kultiviert auch durch literarisch Produktion des 19.Jahrhunderts und perpetuiert durch den Massentourismus in der Sowjetzeit, besonders in Abchasien. Der Teil Georgiens, der sich jetzt abgespalten hat, galt als die sowjetische Riviera, die Parteigranden hatten dort ihre Datschen, durchgängig eigentlich von Stalin über Chruschtschow bis hin zu Gorbatschow. Für viele Werktätige Sibiriens war das das Paradies, wo sie sich einmal oder wenn sie Glück hatten mehrmals in ihrem Leben staatlich organisiert unter Palmen erholen konnten. Erzähler: Keiner der Gäste des Festaktes im Frühjahr 1981 konnte ahnen, dass das Paradies Georgien zehn Jahre später in einem Bürgerkrieg versinken würde. Dass mitten im Zentrum Tbilisis, genau da wo Bregvadse gerade sang, Kugeln fliegen würden. Dass Abchasen, Osseten und Georgier blutige Kriege miteinander ausfechten würden. Dass die viel beschworene und scheinbar unverbrüchliche Liebe zwischen dem georgischen und dem russischen Volk Geschichte sein würde und Georgien ein unabhängiger Staat. Musik Nani Bregvadse - Suliko (endet) Erzähler: Wenn allerdings vor oder nach dem Festakt jemand mit offenen Augen durch Tbilisi gegangen wäre, hätte er vielleicht ahnen können, warum die Sowjetunion zerbrechen würde und wie das geschehen würde. Allerdings hätte man sich dafür daran erinnern müssen, wie Tbilisi zu Beginn des 20.Jahrhunderts ausgesehen hatte. Der Kaukasologe Florian Mühlfried hat es beschrieben: Tbilisi war noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts eine multikulturelle Stadt, in der Georgier nur ein Drittel der etwa 200.000 Einwohner ausmachten. 1981 hatte Tbilisi eine Million Einwohner und zwei Drittel von ihnen waren Georgier. OT 2-14: Mühlfried Man findet Anhaltspunkte, die einem deutlich machen, dass Tbilisi besonders durch die Sowjetzeit ganz stark geprägt wurde und zwar auf eine Art und Weise, die das Georgische immer stärker gemacht hat und das Nicht-Georgische an den Rand gedrängt hat. ... Im 19.Jahrhundert kann man wirklich von Tbilisi als einer kosmopolitischen Stadt sprechen. Dieses Kosmopolitische und das Internationale wird geringer und das Georgische nimmt zu. Erzähler: Die Sowjetunion war kein Imperium, in dem die Interessen und die Kultur nationaler Minderheiten zugunsten der russischen Mehrheit unterdrückt wurden. Eher trifft das Gegenteil zu, zumindest für Völker wie die Georgier, die über eine eigene Republik verfügten und anders als z.B. die Wolgadeutschen im 2.Weltkrieg nie im Verdacht standen, eine Gefahr für die sowjetische Ordnung zu sein. Die georgische Nation war kein Opfer des sowjetischen Imperiums, sie war in vielem erst sein Produkt. Der Historiker Eric Scott beschreibt das so: Zitator: Eric Scott Die Sowjetunion hatte eine ländliche, weitgehend analphabetische Gesellschaft verwandelt in eine der am besten gebildeten Nationen der Welt. Aber die Errungenschaften der sowjetischen Intelligenzija steigerten nur ihre Unzufriedenheit mit den Parteibürokraten, die das Land regierten und auch in intellektuellen Fragen die letzten Entscheidungen trafen. ... Georgiens zahlenmäßig große Intelligenz war ein Produkt des sowjetischen Staates, doch ihre Ambitionen provozierten Ende der 80er Jahre eine machtvolle Bewegung gegen das Imperium. Erzähler: Die Hoffnung der sowjetischen Führung, dass es gelingen würde, die nationale Kultur der Georgier in den Dienst ihrer Ziele zu stellen, verkehrte sich genau in dem Moment in ihr Gegenteil, als das sowjetische Projekt in sich zusammenfiel. Die entscheidende Rolle spielte dabei das Geschichtsbild, dass die offizielle Sowjetunion für beinah jedes der in ihr lebenden Völker entwickelt hatte. Charles King, Historiker: Zitator: Charles King Die Details unterschieden sich, aber die Art, wie die Völker des Kaukasus über ihre Geschichte sprachen, ähnelte sich strukturell. ... Der Kaukasus erreichte die 1980er Jahre mit Geschichtsversionen, die die Nation privilegierten, ihre Verbindung zu einem bestimmten Territorium betonten und andere Arten historischer Wahrheit fundamental ausschlossen. Und all das passierte in Städten und Republiken, die demographisch betrachtet sehr viel nationaler waren, als je zuvor in der jüngeren Vergangenheit. Erzähler: Die von Michail Gorbatschows Perestroika ausgelösten Demokratiebewegungen in den verschiedenen Sowjetrepubliken verwandelten sich nicht deshalb schnell in nationale Unabhängigkeitsbewegungen, weil die Sowjetunion ihre nationalen Minderheiten so massiv unterdrückt hatte. Die Demokratiebewegungen verwandelten sich in nationale oder nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen, weil die Nation eine Kategorie des Denkens war, die von der sowjetischen Kultur- und Geschichtspolitik über Jahrzehnte kultiviert worden war. Die Nation erschien als einzige Alternative zum verhassten sowjetischen System, der unabhängige Nationalstaat als Alternative zum Imperium. Wie stark das Denken in Kategorien von Nation und Volk Ende der 80er Jahre war, verdeutlicht eine Erzählung der Schriftstellerin Lana Gogoberidse. Gogoberidse war am 9. April 1989 Augenzeugin, als das sowjetische Militär eine friedliche Demonstration brutal auflöste. 19 Menschen starben in einer Massenpanik, die von mit Spaten bewaffneten Soldaten und dem Einsatz von Giftgas ausgelöst wurde. Zitatorin: Lana Gogoberidse Der 9. April 1989. Die Geschehnisse jener Nacht sind noch nicht verblasst. In meine Seele haben sich einzelne Bilder tief eingeprägt, vor allem die Heftigkeit verwirrter Gefühle: Erregung, Freude, Entsetzen, Verzweiflung, Stolz. Und doch gab es etwas, das alles bestimmte - ein Gefühl von Einheit, das wir vorher nicht hatten (leider auch nachher nicht). Damals waren wir alle von diesem ungewöhnlichen und berauschenden Gefühl durchdrungen. Das spürten sogar Landsleute, Tausende Kilometer von Georgien entfernt. Mein Onkel Bagrat aus Paris rief an: "Heute Abend haben wir uns, Leute verschiedener politischer Anschauungen, im ›Goldenen Vlies‹ versammelt. Wir möchten euch sagen, wie glücklich wir sind, dass auch ihr alle zusammen seid und das georgische Volk heute so einig ist." Hätten wir diese Einheit bewahrt, gäbe es für alles eine Rechtfertigung - selbst für die Opfer. Der 9. April war nicht allein Folge jener letzten Tage oder Monate. Seit Jahrhunderten hatte sich im Volk der Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit angestaut, es hatte Ilia Tschawtschawadses Wendung man solle sich selbst gehören verinnerlicht. Es hatte ausgereicht, das Gewaltsystem zu lockern, und schon brach ein unbändiger Freiheitswille durch. So konnte die Nationale Bewegung, bald Zehntausende mobilisieren. Doch bereits in jener Frühphase friedlicher Volksbewegung waren Momente von Wut und Extremismus zu spüren - es traten Einzelne oder Gruppen auf, die dem Lande nie Gutes gebracht hatten. Die Zelte und Matratzen vor dem Regierungsgebäude waren Symptome dieses Extremismus, aber das war damals nicht entscheidend. Die Hauptsache war das Gefühl der Einheit von Volk, Führern der Nationalen Bewegung und Intelligenz. Erzähler: Als Folge der blutigen Ereignisse vom 9.April radikalisierte sich die georgische Unabhängigkeitsbewegung weiter. Während zu Beginn der Perestroika noch liberale Intellektuelle wie z.B. der Filmregisseur Tengis Abuladse mit seinem berühmten Film "Reue" die Diskussionen im Lande dominiert hatten, übernahmen nun zunehmend nationalistische Hardliner das Ruder. Die Führer der georgischen Unabhängigkeitsbewegung waren zwei Intellektuelle: der Literaturwissenschaftler Zviad Gamsachurdia und Merab Kostava, der am Konservatorium studiert hatte. Für beide gab es nur einen Ausweg aus der spätsowjetischen Krise: eine Rückkehr zum angeblich reinen, uralten kulturellen Erbe Georgiens, zu dessen Inbegriffen der polyphone Gesang, Rustaweli und vor allem die orthodoxe Kirche wurden. Die Nation sollte die Zukunft sein. Verstanden allerdings nicht als modernes, inklusives politisches Projekt, sondern als eine durch uralte Blutsbande unverbrüchlich existierende biologische Volksgemeinschaft. Das richtete sich nicht nur gegen die Sowjetunion und nicht nur gegen Russen, sondern gegen jede andere Volksgruppe, die in Georgien lebte. Hunderttausende Nichtgeorgier verließen in den folgenden Jahren das Land. Wie extrem Gamsachurdias Nationalismus war, macht eine Reaktion von außen deutlich. Der amerikanische Präsident Bush, gewiss kein Freund des sowjetischen Imperiums, erklärte im Sommer 1991 bei einer Rede in Kiew mit Blick auf den damals schon zum georgischen Präsidenten avancierten Gamsachurdia: Zitator: George Bush "Die USA werden niemanden unterstützen, der versucht, eine ferne Tyrannei durch lokalen Despotismus zu ersetzen. Wir werden niemandem helfen, der selbstmörderischen Nationalismus auf Basis von ethnischem Hass propagiert." Erzähler: Es war schwer, die chauvinistischen und faschistischen Untertöne in Zviad Gamsachurdias Reden zu überhören. Gamsachurdia forderte offen ethnische Säuberungen und verunglimpfte ethnische Minderheiten in Georgien. Zitator: Gamsachurdia Georgien ist in Gefahr, von anderen Nationalitäten absorbiert zu werden, die vom Kreml hierher gebracht wurden, von Russland, vom Imperium: die Aserbaidschaner, die Armenier und auch die Osseten. Erzähler: Nicht alle Georgier waren damit einverstanden, vor allem die intellektuelle Elite des Landes nicht. Viele verließen das Land. Aber im Mai 1991 wählten 87% der Georgier Zviad Gamsachurdia zu ihrem Präsidenten. Dabei war schwer zu übersehen, dass seine Ideen in einer Vielvölkerregion wie dem Kaukasus ein Rezept für Krieg und Chaos waren. Und genau so kam es. Lasha Bakradse: OT 2-15: Bakradse Diese Patriotismen oder Nationalismen oder Chauvinismen haben auch dazu geführt zu den ethnischen Konflikten, die am Ende der Sowjetzeit stattgefunden haben. Weil jedes noch so kleine Volk hat sich seine eigene Lügengeschichte ausgedacht. Was wirklich gefördert wurde wunderschön von genauso legendenumwobener mythologischer sowjetischer Geschichtsschreibung. Erzähler: Im Kaukasus hatten sich Völker, Identitäten, Religionen und Ethnien über Jahrhunderte gemischt wie kaum irgendwo sonst in der Welt. Aber am Ende des 20.Jahrhunderts zerfiel die fragile Gemeinschaft der Völker, in einem Alptraum aus Bürgerkriegen und Chauvinismus. Plötzlich schien es Menschen, die so lange weitgehend friedlich zusammen gelebt hatten, das sie genau das nicht mehr können: keinen einzigen Tag mehr. Von den Massakern an Armeniern in Baku über die Kriege in Berg-Karabach, Abchasien und Ossetien bis hin zum Russisch-Georgischen Krieg 2008: bis heute hat der Kaukasus nicht herausgefunden aus jener Falle, die eine ethnisch-exklusive, patriotische Geschichtsauffassung gestellt hatte und in die alle Völker des Kaukasus ohne Ausnahme getappt sind. Wobei eines entscheidend ist, wie der Historiker Charles King betont: Zitator: Charles King Es hätte keine postsowjetischen Kriege im Kaukasus gegeben, wenn die Eliten auf der Ebene der Republiken nicht versucht hätten, den Eliten auf regionaler Ebene die Rechte auf Sezession und Souveränität zu verwehren: die selben Rechte, die sie selbst gegenüber Moskau beanspruchten. In keinem Fall brach Krieg aus, weil eine ethnische Gruppe urplötzlich beschloss, eine andere abzuschlachten. Massive Gewalt brach aus, weil der sowjetische Staat geschwächt war und weil die Nachfolgeregierungen auf Gewalt setzten, um ihre Ziele zu erreichen. Bei diesen Kriegen ging es letztlich immer um die Kontrolle über Territorien und nicht um feinere Dinge wie Geschichte, Identität oder Nationale Bestimmung. Musik Erzähler: Die verheerenden Kriege um Abchasien und Süd-Osstetien vom Beginn der 90er Jahre und der Krieg von 2008 prägen Georgien und das Verhältnis zu Russland bis heute. Die Situation ist verfahren, an den Grenzen kommt es häufig zu Entführungen und kleineren Konflikten, gegenseitige Schuldzuweisungen sind Routine. Eines scheint offensichtlich: Wenn Russland die beiden abtrünnigen Republiken nicht unterstützen würde, wäre es Georgien wohl schon gelungen, das wieder herzustellen, was es als seine rechtmäßige territoriale Integrität betrachtet. Doch auch unabhängig von russischen Provokationen sind die Unabhängigkeitsbestrebungen von Abchasen und Osseten kein Phänomen der nachsowjetischen Ära und können nicht nur mit russischem Imperialismus erklärt werden. Zumal der Konflikt auch den georgischen Eliten nützt: Antirussische Rhetorik eignet sich als Bindemittel für die eigene Gesellschaft und als Begründung für die vielen Probleme, die es beim Nation-Building gibt. Und Russland tut, was es immer schon gut konnte: Es liefert Gründe für antirussische Ressentiments. Aber bringt der scheinbare endlose Konflikt Georgien und seine in der großen Mehrheit bettelarme Bevölkerung voran? Musik Erzähler: Der Bildhauer, der 1981 den Mann mit der Sonne errichtete, den man auf dem Weg vom Flughafen hinein nach Tbilisi sieht, hieß übrigens Surab Zereteli. Er ist heute 84 Jahre alt. Vielleicht bietet seine erstaunliche Karriere Hoffnung auf Versöhnung und Ausgleich. So wie die der Sängerin Nani Bregvadse, deren Lieder wir in dieser Stunde mehrfach gehört haben. 1983 errichtete Surab Zereteli gleich zwei riesige Monumente, die anlässlich des 200. Jahrestages des Vertrages von 1783 die georgisch-russische Freundschaft feiern sollten. Eins in Moskau und eins am Rand von Tbilisi. Das Moskauer Denkmal steht bis heute, das georgische wurde 1991 auf Anweisung von Zviad Gamsachurdia zerstört. Aber die Geschichte ging weiter. In den 90er Jahren wurde der als Kitsch-König verschriene Georgier Zereteli zum Lieblingsbildhauer des Moskauer Bürgermeisters Luschkow und zum Präsidenten der russischen Akademie der Künste. Doch seit einigen Jahren ist Zereteli auch wieder in seiner Heimat aktiv. Vor den Toren Tbilisis steht auf einem Hügel seine gigantische Komposition zur Geschichte Georgiens. Manche Besucher erinnert sie an Stone Henge. Und mitten im Zentrum von Tbilisi auf dem Freiheitsplatz steht Zeretelis Heiliger Georg. Dort, wo früher Lenin stand, das zentrale Symbol sowjetischer Macht. Musik: Bregvadse Erzähler: Damit geht die 2.Stunde der langen Nacht über Georgien zu Ende. In der dritten blicken wir auf die Rolle der georgischen Frau in der städtischen Moderne und auf das immer noch recht archaische Leben auf dem Lande - und wir machen eine Reise in die legendäre georgische Bergprovinz Tuschetien. Bleiben Sie dran! Musik 3. Stunde Musik: Ensemble Georgika, Take 5, Tushuri, Länge ca. 0´10 (Darüber) OT 3-01: Mädchen: Gamerdschobad Erzähler: Gamerdschobad heißt Hallo. Wer uns hier auf einem YouTube-Video so nett begrüßt, sind die drei Mädchen vom Trio Mandili. Musik: Trio Mandili, Apareka, nach ca. 0´52 Sekunden übersetzen Zitator/Zitatorin: (Sie:) Schau Dir den Himmel an, lieber Apareka, der Mond steht über dem Datvisjvari. (Er: )Warum schaust Du mich so an mit Deinen schwarzen Augen, Mädchen? Warum folgst Du mir auf den Dachboden? (Sie:) Weil wir heute "Gleiche" sein werden, damit wir die Nacht mit inspirierenden Gesprächen verbringen können. Erzähler: Ein Mädchen versucht einen Jungen zu verführen. Und es bleibt offen, ob es ihr gelungen ist oder nicht. Das Trio Mandili, deren Mitglieder damals alle noch keine 20 waren, haben mit ihrem Selfievideo vor vier Jahren einen veritablen YouTube-Hit mit inzwischen fast sechs Millionen Abrufen gelandet. Dabei zeigt das Video nicht mehr als drei junge hübsche Georgierinnen, die eine Landstraße entlanglaufen und singen. Die eine filmt und singt die Hauptstimme, die zweite spielt eine Laute, die dritte hält ein kleines, hüpfendes Kind an der Hand. Es ist nicht die Machart des Videos, es sind die Stimmen, die begeistern - und die Musikalität des Trios. Besungen wird die chewsuretische Tradition des Scorproba, einer legalisierten Form der vorehelichen Beziehung. Der Junge im Lied verlässt den Treffpunkt mit schlechtem Gewissen, doch das Mädchen scheint, wie auch immer, auf seine Kosten gekommen zu sein. Musik wieder hoch, endet mit "Yeah Erzähler: Und damit zur letzten Stunde der Langen Nacht über Georgien - einem Land zwischen Tradition und Moderne. In Mittelalter und früher Neuzeit galt es als Scharnier zwischen Orient und Okzident. In sowjetischer Zeit war es eine Art Côte d'Azur des Ostens. Und heute? Immer noch ist es ein Paradies - vor allem für die Touristen, die in stetig steigender Zahl ins Land strömen. Georgiens Natur und Kultur, das außergewöhnliche Essen und Trinken - das alles ist für Ausländer für recht wenig Geld zu haben. Doch dieses Paradies wird gerade umgebaut und viele seiner Einwohner überlegen, wo ihr Platz dort künftig sein wird. Das betrifft vor allem die Frauen. Wie die jungen Mitglieder des Mandili- Trios wirken sie selbstbewusst und selbst bestimmt. Und doch leben sie in einem Land, das seine patriarchalen Strukturen jetzt erst abzustreifen beginnt. Eine jener modernen, international orientierten georgischen Frauen, die man in Tiflis überall trifft, ist Tamar Tandashvili. Sie ist Psychologin, Buchautorin und Aktivistin für die schwul-lesbische Szene. In ihren viel beachteten Romanen verarbeitet sie das, was sie in ihrer psychologischen Praxis erzählt bekommt - oft genug ist und war das Gewalt gegen Frauen. "Löwenzahnwirbelsturm in Orange" hieß ihr erstes Buch: OT 3-02: Tamar Tandashivili Dandalion is a very interesting plant of flower for me... OV-Sprecherin: Der Löwenzahn ist eine sehr interessante Blume. Er hat eine wunderbare Struktur. Die reife Blüte sieht zunächst stabil aus, ist aber fragil. Sie ist wie ein Dom, der von allen Teilen gehalten wird, doch wenn man sie anbläst, löst sie sich auf und ihre Einzelteile sind kaum noch sichtbar. Der Löwenzahn steht für einen geschichtlichen Bruch. Und für mich ist er vor allem ein Symbol dafür, wie Frauen in meinem Land wahrgenommen werden. Wissen Sie, hier gibt es diese Kategorie dafür, wie eine Frau zu sein hat. Sie wirkt auf den ersten Blick handfest und sehr stabil, doch wenn das Patriarchat entscheidet, dass es dich nicht in einer stabilen Position haben möchte, dann kann sich diese in Millisekunden in Luft auflösen - und keiner weiß mehr, wie Du eigentlich mal ausgesehen hast. Ich spreche hier über alle möglichen Formen von Gewalt, die Frauen gegenüber begangen wurden und immer noch begangen werden. ... I talk about every sort of violence what had been committed and is continuing being committed towards women in Georgia. Erzähler: Internationale Statistiken sagen, dass die Gewalt gegenüber Frauen in Georgien nicht größer ist als in anderen Ländern. Aber in der Zeit des Umbruchs, die das Land seit dem Ende der Sowjetunion immer noch durchlebt, ist das Thema öffentlich präsent - und die Scham, darüber zu reden, nimmt immer mehr ab. Viele georgische Frauen, vor allem die Gut-Ausgebildeten, sehen die gesellschaftliche Unruhe als Chance, sich nachdrücklicher für ihre Rechte einzusetzen. Die wichtigste Archäologin des Landes ist eine Frau. Frauen sind Institutsdirektorinnen, Regisseurinnen, Schriftstellerinnen. Eine ehemalige Außenministerin hatten wir in der ersten Stunde der Langen Nacht vorgestellt. Daneben gibt es natürlich auch eine Gruppe von aufstrebenden jungen Männern. Das sind vor allem die, die sich dem Gedanken verschrieben haben, dass Georgien zu Europa gehört und die ihren Platz in Diplomatie und Politik suchen. Einer von ihnen ist Levan Bodzashvili. Der Jurist hat an Universitäten in Westeuropa studiert, war Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat und ist heute unter anderem Hochschullehrer für internationale Politik. OT 3-03: Levan 45´10 Women are more open-minded. Men tend to keep the traditions of dominance.... OV-Sprecher: Frauen sind einfach offener. Männer wollen die Traditionen der Dominanz behalten. Doch die Welt hat sich verändert, unsere Welt hat sich verändert. Wenn ich mir meine Studenten ansehe: Die Mädchen sind aktiver, sie recherchieren mehr, machen überhaupt mehr. Ich glaube, wir müssen die Frauen mehr fördern. Wenn man über die Notwendigkeit des Wandels spricht, dann gibt man zu, dass einem etwas nicht gefällt, dass man etwas ändern will. Aber wer soll sich ändern? Wenn man über Gleichheit spricht, kann man die nur gemeinsam erreichen. Wir müssen die gesellschaftlichen Werte irgendwie angleichen. So viele Trends sind ins Land gekommen. Westliche, arabische, russische. Die Leute sind mehr oder weniger verwirrt. Sie wissen, was sie mögen. Sie wissen, was nicht geändert werden sollte. Und sie wissen auch, was geändert werden muss - nämlich: unsere Lebensweise, wie die in Europa, dazu gehören Standards, Regeln, Kultur und Umgang. ... ...standards, rules, respect, culture, care. Erzähler: In Georgien sind die Frauen aus Europa und die Männer aus Asien, so ein beliebter Spruch im Land. Will heißen: die Männer halten gerne an der Tradition des Paschas fest und an der der Großfamilie. Was aber passiert, wenn Frauen sich von diesen Ansprüchen überfordert fühlen? Im Film "Meine glückliche Familie", mit der die Berlinale 2017 eröffnet wurde, zieht die 52-jährige Manana einfach von zu Hause aus. Der konsternierten Verwandtschaft, die noch den kleinsten Winkel der gemeinsamen Wohnung belegt hat, verweigert sie jegliche Erklärung. Man muss dazu wissen, dass zu einer "richtigen" georgischen Familie nicht nur Vater, Mutter, Kind gehören, sondern auch Oma, Opa, Tanten, Onkel, Verlobte und natürlich sämtliche Freunde. Und alle haben selbstverständlich zu allem eine Meinung - die auch jederzeit geäußert werden muss. Vor allem die Männer, in jeder Lebenslage zu einem Gesangs-Ständchen bereit, wollen immer nur ihr Bestes, nämlich sie vor anderen Männern beschützen. Manana aber will doch einfach nur ihre Ruhe. Auf einer Familienfeier singt sie - ganz allein mit ihrer Gitarre - ein bittersüßes Liebeslied: Musik: aus "Meine glückliche Familie", (nach 0´20 darüber) Zitatorin: Ach, wie sehr er Dir steht Der Leberfleck auf Deiner Wange Komm, setz Dich zu mir Und schmück meine Seite Oh, wie gut Du bist Voll Leidenschaft und Feuer Liebste, wenn ich sterbe Sei mein Grabstein Musik wieder hoch (darüber) Erzähler: Die Liebe, sie ist für die Frauen Schutz und Gefängnis zugleich. Die Schauspielerin Ia Shugliashvili übrigens, die die Rolle der Manana spielt, ist die Tochter von Inola Gurgulia, der bedeutendsten georgischen Volkssängerin des letzten Jahrhunderts. Ihre Mutter hatte dieses Lied geschrieben. Hier das Original aus den 60er Jahren: Musik: Inola Gurgulia, Ra kargi xar, Länge 2´57, (bei ca. 2´ drüber) Erzähler: Doch nicht nur die Liebe der Männer kann Frauen erdrücken. Auch die Kirche spricht immer wieder von Liebe, verhindert aber, wie progressive Georgier meinen, die Entwicklung des Landes hin zu einer offenen Gesellschaft nach westlichem Muster. Wir fragen die Schriftstellerin Tamar Tandashvili, für wie gravierend sie die Rolle der orthodoxen georgischen Kirche hält: OT 3-04 Tamar, 23´14 Huge! (lacht) They are trying very hard to keep Georgia from modernity OV-Sprecherin: Oh, die ist riesig. Die versuchen wirklich, Georgien von der Moderne in jeder möglichen Art und Weise abzuhalten. Das hat seinen Grund. Hinter religiösen Institutionen gibt es immer so einen theologischen, metaphysischen Teil, der jedermann daran hindern möchte, seine eigenen Urteile zu fällen. Die georgische Kirche ist eine der reichsten Institutionen hier. Ihr gehört fast alles, viel Land. Ihr gehören vielerlei Firmen. Sie zahlt keine Steuern. Ich wäre nicht überrascht, wenn dieses Gebäude, hier, im teuersten Teil von Tbilissi, für wenig Geld bald an die Kirche ginge. Die Regierung will wiedergewählt werden und die Kirche ist einflussreich. Sie verkauft diese Immobilie und Land und Geschäfts- möglichkeiten, damit sie wiedergewählt wird. Die kaufen Stimmen. Das ist früher passiert, das passiert heute noch. ...They are buying votes. So that´s happening before, it is happening now. Erzähler: Das Vertrauen der Georgier in ihre staatlichen Institutionen und in die Politik ist nicht besonders groß. Bei der Kirche aber sieht das anders aus. Und das bewirkt einen Teil ihrer Macht. Der Jurist und Diplomat Levan Bodzashvili: OT 3-05 Levan, 19´20 Church has always been a very important factor... OV-Sprecher: Die Kirche hat hier schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl wir gerade einen sicheren Staat aufzubauen versuchen, war die Kirche immer der Orientierungspunkt für eine größere Öffentlichkeit - wegen der Einstellung der Leute und weil unser Land wirtschaftlich so schwach ist. In unserer Verfassung steht geschrieben, dass die Georgisch-Orthodoxe Kirche der wichtigste Teil der georgischen Gesellschaft ist und seine Rolle und seine Taten in der Geschichte immer anerkannt werden sollen. Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Bürger sich mit ihrer Kirche identifizieren. Das ist auch einer dieser Gründe, warum wir Europäer sind, auch wenn wir geographisch so weit weg sind. In unserer Seele und in unserem Geist sind wir Christen und Europäer. ... but still in our soul and mind we are Christians and we are Europeans. Erzähler: Doch zu den westlich-europäischen Standards - wenn wir denn den Begriff westlich-europäisch mit dem der Europäischen Union gleichsetzen - gehört auch die Gleichstellung von Mann und Frau. Hier vertritt die Kirche eine nicht ganz eindeutige Haltung und das, obwohl die Heilige Nino, die Urmutter des georgischen Christentums, als Heilerin und Missionarin eine durch und durch emanzipierte Frau war. Frauenrechtlerinnen beklagen: geht es um Gewalt in der Ehe, dann ziehen sich die Priester gerne auf den Satz zurück "Der Mann gehorcht Gott, die Frau gehorcht dem Ehemann". Dawit Tavadze ist Priester in einer kleinen Gemeinde am Rande von Tiflis. Sie heißt: OT 3-06a: (der Name kommt im O-Ton, für uns nicht aussprechbar) OT 3-06 Pope, 15´33 (russisch) OV-Sprecher: Angst und Gehorsam werden heute anders verstanden als es in der Bibel steht. Die Hauptquelle unseres Glaubens ist die Bibel. Wenn in der Bibel steht, dass die Frau dem Mann Gehorsam schuldet, wenn in der Bibel steht, dass man auch Angst haben soll: das bedeutet nicht Sklave zu sein oder direkt Angst zu haben. Das bedeutet für uns die Liebe. Das ist ABC des Christentums. Ich habe Angst vor Gott, weil ich fürchte, seine Liebe zu verlieren. Gehorsam zu sein, Gott gegenüber, das haben nicht wir erfunden, sondern das kommt von Gott. Der gläubige Mensch sieht darin keine Sklaverei. Das verstehen nicht-Gläubige nicht.... (russisch) Erzähler: In Georgien ist die Religion präsenter als in Deutschland und das zeigt sich auch an der Zahl der Gotteshäuser. Wer als Georgier eine Kirche betritt, wird sich spätestens vor einer der Ikonen bekreuzigen. Frauen zünden Kerzen an, obwohl sie eigentlich nur auf dem Weg zum Einkaufen vorbei gekommen sind. Musik: Ensemble Georgika, Take 12 Tsmindao Ghmerto, nach ca. 40 Sekunden (drüber) Erzähler: Selbst Georgier, die sich als nicht-religiös bezeichnen, haben Tränen in den Augen, wenn der polyphone Kirchengesang anhebt. Ohne Frage: das georgisch- orthodoxe Christentum bildet die "innere Mitte" des Landes. (Musik noch mal hoch, nach 20 Sek. eventuell noch mal drüber) Erzähler: Von außen betrachtet wirken die typischen, leicht gedrungenen Kreuzkuppelkirchen wie Wehranlagen einer kämpferischen Religion. Über den Hügeln der Hauptstadt Tiflis thront, mit goldenem Dach, die riesige Sameba- Kathedrale, 2004 fertiggestellt und finanziert vom reichsten Mann des Landes, Bidsina Iwanischwili - ein Symbol für die enge Verflechtung von Kirche und Politik. Von 2012 bis 2013 war Iwanischwili auch Präsident und manche Georgier meinen, dass er in vielerlei Hinsicht immer noch die Strippen zieht. Es ist einer dieser georgischen Widersprüche: hier der westlich orientierte Mulitmilliardär mit französischem Pass, ein Förderer von modernem Design und Kunst, und dort eine gut 1.500 Jahre alte kirchliche Tradition, die nie von irgendeiner Form von Reformation herausgefordert worden ist. Die Gegner kamen immer von außen: erst vom religionsfeindlichen Sowjetsystem und heute von der westlich geprägten Moderne, die andere Werte als die der orthodoxen Kirche hat. Der Priester Dawit Tavadze: OT 3-07: Dawit Tavadze 21`40 (Georgisch...) OV-Sprecher: Wenn die Werte sind Freundschaft, Liebe, Bildung sind, dann sehe ich da keine Bedrohung. Wenn der Mensch sündigen möchte, kann er das hier tun und auch im Westen. Das spielt hier keine Rolle. Der Liberalismus und der Neochristianismus, das sind für uns schwierigere Problem als der dialektische Materialismus. Was ich genau meine? Z.B. die Modernisierer, die hier in Georgien zielgerichtet gegen Christen kämpfen. Da spielt keine Rolle, in welchem Land die sich befinden. Damit meine ich dieses rosagefärbte Christentum. Als Hauptdoktrin haben sie die Freiheit, aber ich möchte das irgendwie richtig erklären, was sie unter Freiheit verstehen: Sie sagen: Jesus ist Liebe und Jesus wird allen alles verzeihen. Natürlich hat Jesus den Sündern verziehen, aber sie mussten auch bereuen. (...georgisch. ) Erzähler: Die Jugendlichen, die in der inzwischen international berühmten Tifliser Clubszene feiern, wirken auch nicht reumütig. Das Bassiani beispielsweise gilt als das neue Berghain. Dort legen längst die gleichen Djs wie in Berlin auf und sorgen auch bei der Jugend aus dem Iran, die visafrei nach Georgien einreisen darf, für eine nie erlebte Freiheit, diverse Drogenexzesse inklusive. Nicht reumütig tritt auch die schwul-lesbische Community auf, die vor allem in Tiflis zunehmend offensiver an die Öffentlichkeit geht. Der Kirche gefällt das gar nicht. Die Schriftstellerin und Psychologin Tamar Tandashivili hat längere Zeit in den USA verbracht: OT 3-08: Tamar, 1´15 I arrived in Georgia after a long stay... OV-Sprecherin: Als ich wiederkam, feierte die LGTB-Community gerade die Meinungsfreiheit in einer Demonstration. Ich nahm da eher zufällig teil. Ich wusste gar nicht, was in Georgien in dieser Hinsicht gerade so passierte. Ich ging hin, weil eine Freundin hinging und so wurde ich fast getötet. (lacht) Das ist keine Übertreibung. Die Leute sind wirklich unangenehm geworden. Unsere Leute wurden zusammen geschlagen, wenn man ihrer habhaft wurde. Es wurden Steine geworfen. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, dass so etwas in Tbilisi passieren konnte. Und ich konnte kaum glauben, wie viele Geistliche daran beteiligt waren, die hyperaktiv einfachen Leute wie mir nachjagten. Es war surreal. .. persecuting ordinary folk like me and it was surrealistic. Erzähler: 28 Menschen wurden teils schwer verletzt. Die Anführer des Mobs, darunter ein leitender Geistlicher der Hauptstadtkathedrale und der Abt eines Klosters, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Am Tag davor hatte Patriarch Ilja II. öffentlich erklärt, Homosexualität sei abnormal und eine Krankheit. Die gewalttätigen Krawalle schockierten nicht nur die Gemeinschaft der Schwulen und Lesben. Reso Kiknadze, Musiker und Leiter des Tifliser Konservatoriums OT 3-09 Reso, 49´22 Wenn plötzlich (...) eine Schar von georgischen Geistlichen, angeführt von einem blöden Gedanken, dass diese da in diesem gelben Bus, (...) und das sind NGOs und Jugendliche, die gegen Homophobie demonstriert haben, im Mai 2013 glaub ich, und plötzlich diese Schar von Idioten(...) Die sind gekleidet wie Priester, sind sie aber nicht, und sie laufen denen hinterher, um Moral und Anstand in Georgien zu manifestieren. Solche Sachen machen mich nicht nur traurig, sondern bringen mich manchmal auch auf dumme Gedanken: vielleicht war es doch ein Fehler, zurückzukehren. Erzähler: Reso Kiknadze hat 20 Jahre lang in Deutschland studiert und als Musiker und Komponist gelebt. Und er ist beileibe kein Einzelfall. 1/5 der georgischen Bevölkerung lebt nicht in Georgien. Die wirtschaftliche Lage und Perspektivlosigkeit führt dazu, dass immer mehr ihr Glück im - vor allem westlichen - Ausland suchen. Etwa 100.000 Menschen verlassen Georgien jedes Jahr. Die meisten Emigranten gehen nach Russland. Hingegen boomt der Tourismus. Die absolute Visa-Freiheit, die das Land gewährt, macht es möglich. Nicht nur die immer noch in Georgien verliebten Russen, auch Iraner, Armenier, Araber, Inder, Pakistani, Israelis und Europäer strömen ins Land, besuchen die Ausgrabungsstätten der ersten Hominiden des Kontinents, wandern im Kaukasus, baden an der Schwarzmeerküste, zocken in den Spielcasinos oder besuchen die unterirdischen Schwefelbäder, von denen schon Puschkin schwärmte. Zitator: Puschkin Von Kind an habe ich weder in Russland noch in der Türkei etwas Herrlicheres erlebt als das Bad von Tiflis. Erzähler: Doch zu Puschkins Zeiten gab es noch keinen Tourismus. Und der tendiert dazu, dass zu töten, was er doch eigentlich liebt: unberührte Natur und eigenständige Kultur. Ia Tabagari ist Vorsitzende der georgischen Reiseveranstalter: OT 3-10: Ia Tabagari 8´50 Georgia opened borders... OV-Sprecher: Georgien hat seine Grenzen für alle geöffnet, jetzt haben wir eine Menge Touristen, doch das Land ist dafür überhaupt nicht bereit, weder was Ökologie, noch Service noch Umweltschutz betrifft. (0´57) Georgien braucht nachhaltige Entwicklung und vor allem eine Strategie - kurz- und langfristig. Doch unglücklicherweise ändert sich die Meinung der Regierung jedes Jahr aufs Neue. Das ist wirklich eine Tragödie. Statt uns geradlinig nach vorne zu entwickeln, entwickeln wir uns rückwärts. Das ist mein Eindruck, leider. .. we are going back. This is my imrpression, unfortunately. Erzähler: Georgien droht die Fehler zu wiederholen, die andere Urlaubsgegenden längst bereuen: u.a. die Natur und die gewachsene Kultur durch unkanalisierten Tourismus und Zersiedelung zu zerstören. Auch die traditionelle Form der Landwirtschaft mit kleinen Äckern und wasserschonender Bewirtschaftung ohne Monokultur ist in Gefahr. OT 3-11: Atmo Erzähler: Ein Besuch bei Biobauer Lewan in Bolnissi, im Süden des Landes. Hier werden die Kartoffeln noch per Hand geerntet, sieht man Pferdefuhrwerke fahren. Immer mehr Aserbaidschaner übernehmen hier Höfe, die früher Georgiern gehört haben. Die wandern ab in die Städte oder ganz ins Ausland. Für Besucher ist Lewans Areal das reinste Paradies, wirkt weniger wie ein Bauernhof, sondern wie ein großer idyllischer Schrebergarten. Hier wächst alles, was der Boden Georgiens hergibt. Lewan hält Bienen und beliefert einige Bioläden in Tiflis mit seinen Produkten. Seine Kinder servieren frische Wassermelone und die Katzen streifen um die Beine der Gäste. Lewan plant, einen Teil seines Hauses für zahlende Gäste herzurichten. Ein schwieriges Unterfangen, da er mit der Landwirtschaft nicht viel verdient und der Staat nicht hilft. OT 3-12: - 479, Bauer, ca. 3´50 (Georgisch...) OV-Sprecher: Die Regierung tut nichts, zumindest nicht für diese Gegend. Es entstehen viele Projekte, aber man darf nicht über 35 Jahre alt sein. Mein Sohn muss das jetzt machen. Ich war einmal in Holland, auch schön, aber da hört man nicht mal Vögel. Hören Sie doch, wie schön es hier ist! (... Georgisch) OT 3-13 - 479, Atmo, 11´30 Erzähler: Der älteste Sohn soll einmal die väterliche Landwirtschaft übernehmen, die älteste Tochter aber macht bald ein Praktikum bei der Deutschen Bank in Frankfurt. Lewan weiß, dass andere Zeiten anderes Denken erfordern, doch er möchte die herkömmlichen Traditionen der Bewirtschaftung bewahren, deshalb hat er sich einem Verband für ökologische Landwirtschaft angeschlossen. Unterstützt werden solche Vorhaben auch von Ia Tabagari, der Vorsitzenden der georgischen Reiseveranstalter: OT 3-14: - Ia, 5´30 (Georgische Art der Landwirtschaft) This is heritage of the world ... OV-Sprecher: Das ist das Erbe der ganzen Welt und wenn wir näher bei Europa und näher an modernen Ideen sein wollen, müssen wir dieses Erbe bewahren und unser Wissen und unsere Erfahrung weitergeben. Wir brauchen Naturparks, geschützte Regionen. Das ist meiner Meinung nach die Zukunft Georgiens. Wir brauchen Tourismus, der auf Ökologie basiert. Wir brauchen Natur, saubere Lebensmittel und unsere Küchentraditionen. Wir verlieren das so schnell, das passiert unglücklicherweise so rasant, dass ich Angst habe, dass wir innerhalb der nächsten zehn Jahre sogar unsere Kultur verlieren.... ... we will loose even culture. Musik Kesane Quartett: Ra lamazia Tuscheti Erzähler: Eine der abgelegenen georgischen Hochgebirgsregionen, die schon heute Touristen anziehen und um deren Traditionen sich Ia Tabagari sorgt, ist das im ostgeorgischen Hochland gelegene Tuschetien. Das Versprechen einer grandiosen Hochgebirgslandschaft, ein Lied und eine alte Geschichte hatten genügt, um uns dorthin zu locken, denn schließlich wäre eine Lange Nacht über Georgien nicht vollständig ohne eine Reise in die Berge. Musik Kesane Quartett: Ra lamazia Tuscheti (Gesang ab 0:19) Erzähler: Das Lied ist eine Hymne an die Schönheit von Tuschetien, oder, wie es auf Georgisch heißt: Tuscheti. Musik Kesane Quartett: Ra lamazia Tuscheti Erzähler: Die Geschichte ist eine alte, grausame Geschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals kämpften Russen und Georgier gemeinsam gegen muslimische Rebellen im Nordkaukasus, die sich dem Zaren nicht unterwerfen wollten. Mit dabei auf Seiten der Russen: der tuschetische Heerführer Schaté. Der russische Historiker Wolkonskij, der selbst an dem Feldzug teilnahm, beschrieb Schaté so: Zitator: Wolkonskij Im Jahr 1857 war Schate schon alt. Er selbst wusste nicht, wie alt er war, einige sagten 70, andere schätzten ihn älter. Ein kleiner Mensch, besonders auf dem Pferd, von den Jahren ebenso gezeichnet wie von zahlreichen Verwundungen, in einer einfachen, abgetragenen Tschocha, mit Spuren von Kugeln und Dolchen im Gesicht, aber mit beweglichen, schon fast farblosen Augen. So sah der Mann aus, der viele Jahre lang die benachbarten lesginischen Auls in Angst und Schrecken hielt, und mit dessen Namen die Bergler ihre Kinder schreckten. An Schatés Haus waren die Knochen von siebzig rechten lesginischen Händen angeschlagen: Beweise für die von ihm persönlich erschlagenen Feinde. So waren die Regeln, die den Ruhm eines Kriegers begründeten. Eine Tuschin konnte damals keinen Mann heiraten, der nicht wenigstens eine lesginische Hand besaß. Erzähler: Das verwunschene Dorf Dartlo liegt über 2000 hoch im Kaukasus. In einem alten Steinhaus tragen die Gastgeberin und ihre Helfer immer neue Leckereien für das Begrüßungsfest auf. Chatschapuri - das traditionelle überbackene Käsebrot -, Chinkali - gefüllte Teigtaschen, Salate und Suppen, Fleisch und Obst. Die Tuschen sind legendäre Krieger, auch wenn wir nirgends abgehackte Hände gesehen haben. Doch mindestens ebenso legendär wie Reit-, Schieß-, und Fechtkünste ist die tuschische Gastfreundschaft. OT 3-15: Begrüßungs-Festessen Andreas, wo seid...Sind die Gläser voll? (Marika spricht georgisch.) Der Gastgeber gesagt: auf euer ... herzlich willkommen und auf die Gastgeberfamilie. (Gläser klingen) Darauf! Gaumarjos! Zum Wohl! Erzähler: Unser Gastgeber heißt Rapo, ist etwa 35 und im Hauptberuf Grenzsoldat. Gemeinsam mit seiner Frau Marijka hat er sein Haus zu einem kleinen, spartanischen Hotel ausgebaut. Früher gehörte das Haus Rapos dem von jedermann hier verehrten Großvater. OT 3-16: Gast OV-Sprecher: Im Winter war hier im Dorf absolut niemand. Nur er, ganz allein. 45 Jahre lang. Über ihn wurde sogar ein Film gemacht. Und Präsident Saakaschwili ist im Winter hierher gekommen um ihn zu sehen. --- Das ist Rapos Großvater! -- Wir trinken immer auf ihn, wenn wir hier zusammenkommen, also: (Gläser) Erzähler: Zum Glück für alle, die das erbarmungslose Essen und Trinken nicht gewohnt sind, greift sich schon bald jemand ein altes Akkordeon. OT 3-17: Atmo Dartlo erster Abend/Musik ab 0:35 Erzähler: Der uralte Taxifahrer unten im Tal in Telawi hatte uns gewarnt. Mit Verschwörermiene hatte er sich gegen den Hals geschnippt, glücklich gekichert und gesagt: In Tuschetien ist die Luft so gut, da kann man sich jeden Tag dreimal betrinken und wieder nüchtern werden! Doch von guter Luft und herrlicher Natur kann leider niemand leben, auch nicht in Georgien. Die Architektin Nino Lagidse hatte uns in Tbilisi von den Problemen im Hochgebirge erzählt: OT 3-18: Nino Lagidse (Gregorisch ...) OV-Spreherin: Ich hab fünf Jahre lang die Dörfer erforscht im östlichen Georgien. Zu Fuss. Das sind die Gebiete Chewsuretien, Pschawi und Tuschetien. Das sind kleine sehr spezielle Gebiete mit ganz eigener Architektur. Im Grunde gibt es da ein riesiges Potential für Tourismus. Aber diese Orte stehen einfach leer meistens. Touristen kommen da schon hin, weil es so unglaublich schön ist. Aber es ist gefährlich: Jeder kleine Regen kann die Straße wegspülen, ich bin selbst zweimal in Lebensgefahr geraten deshalb. Das sind Straßen, die mit kleinen Traktoren und Schaufeln erbaut werden. Da waren die Touristen wirklich schockiert. Es gibt da keine Schulen oder Krankenhäuser. Da leben nur noch alte Leute, die kein Geld haben, um umzuziehen. ... Ich habe Statistiken, wie sich da jedes Jahr die Bevölkerung verringert. Katastrophal. Am schlimmsten ist es in den Grenzregionen. In Tuschetien ist es noch am Besten, an einigen Orten. Da gab es internationale Kampagnen zur Rettung. Unsere Architekten haben mit internationalen Partnern da gearbeitet. Der Staat hatte nichts damit zu tun. Jedenfalls wurden einige Orte restauriert. Sogar die alten Festungen. Aber das sind Einzelfälle, ganz punktuell. ... Am Schlimmsten ist es in Chewsuretien, da gibt es keinen Strom und kein Gas, nichts. Wenn man von oben schaut, das sieht aus wie nach Bombenangriffen. (...gregorisch) Erzähler: Dass Nino Lagidse nicht übertrieb, erfuhren wir, nachdem der Filmemacher Lewan uns in einer Pension im 2000 Meter tiefer gelegenen Telawi abgeholt hatte. Der Weg führte noch ein paar Kilometer durch das paradiesische Kachetien - die wichtigste Weinbauprovinz Georgiens. Doch die Berge kamen näher, die Straße wurde immer schlechter und wir verstanden, warum die Reiseführer davor warnen, den Weg nach Tuschetien auf eigene Faust zu wagen. In Serpentinen windet sich die Schotterpiste immer steiler hinauf in die Berge. Keine Leitplanke nirgends. Zwischen unserm Allrad-Minibus und einem Sturz in den Bach tief unten im Tal steht nur das Können des Fahrers. "Light off-road" sei das, sagt er immer wieder, nichts Besonderes. Für 100 Kilometer brauchen wir den ganzen Tag. Es geht durch hüfttiefe Gebirgsbäche und Wasserfälle bevor wir am frühen Nachmittag den Abano-Pass erreichen: 3000 Meter über Null. Einen einfacheren Weg nach Tuschetien gibt es nicht. Und im Winter gibt es gar keinen. OT 3-19: Rapo (Gregorisch ...) OV-Sprecher: Ende April, Anfang Mai kommen die ersten. Die Straße ist jedes Jahr erst Anfang Juni fertig. Vorher kommen die Leute zu Fuss und auf Pferden. Im April sind nur Hirten hier. Und Schafe. Später kommen die Kühe und dann die Touristen. (...gregorisch) Atmo Dartlo: Morgen/Zikaden Erzähler: Am nächsten Morgen schauen wir uns in Dartlo um. Das Dorf besteht aus vielleicht einhundert Stein-Häusern, die mit genügendem Sicherheitsabstand zum rauschenden Fluss an den Hang gebaut sind, der hinauf auf die umgebenden 3000er führt. Am Horizont schimmern Gletscher. OT 3-20: Lewan (Gregorisch ...) OV-Sprecher: Dartlo ist uralt. Wirklich. Aber genau weiß es niemand. An den Häusern gibt es manchmal Piktogramme. Niemand weiß wie alt die sind. Auch die Historiker nicht. Auf jeden Fall vor Christi Geburt, vielleicht 3000 Jahre. Wenn die Piktogramme irgendwann mal dechiffriert sind, wird klarer sein wie alt Dartlo ist. Aber bis dahin ist es wie ein Märchen. (...gregorisch) Erzähler: Wohin man auch blickt: Dartlo sieht aus, wie es auch vor 100 oder 500 Jahren ausgesehen haben könnte. Abgesehen von den Jeeps und den Sonnenkollektoren, mit denen hier neuerdings Strom erzeugt wird. OT 3-21: Lewan 07 (Gregorisch ...) OV-Sprecher: Unter den Kommunisten gab es Strom. Aber als die Sowjetunion zusammenbrach, brach in Tuschetien auch alles zusammen und irgendwer hat die Starkstromleitungen geklaut und als Altmetall verkauft. (...gregorisch) Erzähler: Tatsächlich brachte die sowjetische Zeit den Tuschen viel Gutes, in Wellen. Der Sozialanthropolge Florian Mühlfried hat sich über lange Zeit speziell mit dem Leben der Tuschen befasst: OT 3-22: Mühlfried Als die Sowjetunion gekommen ist, hat man die tuschische Schafwirtschaft institutionalisiert. Das heißt man hatte Kolchosen und später Sowchosen eingerichtet, die man zentral versorgt hat, die aber auch darauf basierten, dass im Sommer die Schafe im Hochgebirge gewesen sind und im Winter im Flachland. Darum hat man anfänglich, in den 20er und 30er Jahren, die Siedlungen der Tuschen im Hochgebirge ausgebaut und unterstützt. Man wollte sozusagen dort, gerade in den vormals vernachlässigten Winkeln der Sowjetunion zeigen was Sowjetmacht heißt. Kommunismus + Elektrifizierung. Also Elektrifizierung jetzt in dem Fall. Bildung. Krankenstationen. Alles Güter, die es vorher nicht gab. Das hat sich dann radikal gewandelt in den 50er Jahren, wo dann Sowjetökonomen im fernen Moskau ihre Köpfe zusammengesteckt haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es wirtschaftlich zu aufwendig ist, diese abgelegenen Bergregionen zu unterstützen und dass es besser ist, für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, für die Industrialisierung, wenn man die Bevölkerung eines Landes im Flachland konzentriert. In den 50er Jahren sind die Tuschen wie ihre benachbarten Gruppen in den Bergen zwangsumgesiedelt worden ins Flachland. Interessanterweise drehte sich dann der Wind in den 70er Jahren erneut und es gab eine erneute Kampagne dafür, dass nun wieder das Hochgebirge besiedelt werden sollte. ... Und in den 90er Jahren, nach dem Ende der Sowjetunion, wo eben jede Form der Versorgung zusammenbrach, gab es erneut diese gegenläufig Entwicklung, dass die Bevölkerung ins Flachland gegangen ist. Das führt zu einer ganz partikularen Situation, wo eigentlich jede Generation an einem anderen Ort lebt, als die vorhergehende. In den Bergen, im Flachland, in den Bergen, im Flachland. Erzähler: Die umgekippten, verrosteten Strommasten säumen den Weg hinauf nach Tuschetien. Doch die verhassten Kommunisten hatten nicht nur Strom und Krankenversorgung gebracht, sie sorgten auch dafür, dass Dartlo als eine Art Freiluftmuseum erhalten blieb. Komplett mit einer vor langer Zeit eingestürzten Kirche, einem prähistorischen Freiluft-Gericht, fünf Wehrtürmen und, seit Jahrtausenden gleich: vielen Tieren. OT 3-23: Katja & Alek Schmetterlinge, Bienen, Fliegen, Bremsen und Würmer, kleine. Mäuse. Frösche. Vor allem tote Frösche. ... Adler. Und so kleinere Vögel, braune. Und Rotschwänzchen. ... und Leichenteile. Tierleichen: wir haben schon ganz viele Knochen gesehen: Gebisse von Pferden, Gebisse von Ziegen, Köpfe von Schafen, Gedärme von Schafen, Füße von Schafen, Beinknochen von Pferden, ausgetrocknete, platte Frösche, totgefahrene Prometheusmäuse mit Maden im Bauch. Und plattgefahrene Grashüpfer. Atmo Dartlo: Morgen/Zikaden + Bach OT 3-24: Lewan (Gregorisch ...) OV-Sprecher: Die Tuschen lebten hier immer für sich, mit ihren Schafen und Rindern. Das sind freie Menschen, es gab keine Zaren, keine Hierarchie. Aber in Georgien wurde oft gekämpft und wenn Krieg war, hat man die Tuschen um Hilfe gebeten. Das sind ja großartige Krieger. Tschetschenien und Dagestan sind nah, es gab oft Krieg. Daher die Wehrtürme. Die Tuschen - das sind Samurai! (...gregorisch) Zitator: Wolkonskij Wenn die Tuschen auf den Sommerweiden Lesginen begegneten, ging das meist friedlich ab. Wenn aber doch ein Hammel oder Rind gestohlen wurde, dann beruhigten die Tuschen sich nicht eher, als bis sie ihren Verlust durch eine oder mehrere lesginische Hände gerächt hatten. Einmal schlich Schate sich in einen nahegelegenen Aul und verbarg sich in einer Scheune. Er wartete bis zum Anbruch der Nacht, kletterte auf die Hütte seines Feindes und sprang durch den Rauchabzug mitten hinein, wo die Familie unbesorgt Abendbrot aß. Bevor sie ihren Schreck überwunden hatten, griff der ungebetene Gast mit einem Dolch zwischen den Zähnen und einer Pistole in der Hand den Sohn von der Brust der Mutter und sprang schneller als eine Gazelle aus der Tür. Bevor die Lesginen ihre Pferde geschirrt hatten, entkam der Entführer, ein König des Waldes, auf bergigen Pfaden. Dem Lesginen blieb keine Wahl: er musste seinen Erben freikaufen. Atmo: Jeep rumpelt über die Schotterpiste Erzähler: Rapo fährt mit uns den Fluß entlang. Unser Ziel sind zwei Dörfer am Ende des Tals: Girewi und Parsma. Hier wohnen Verwandte, von hier stammte auch sein Großvater. OT 3-25: Rapo: Schritte/tiefes Atmen Erzähler: Nach Parsma allerdings führt keine Straße, nur ein steiler, schmaler Fussweg. OT 3-25: Rapo: Schritte/tiefes Atmen OT 3-26: Rapo OV-Sprecher: (Gregorisch ...) Das ist ein kleiner Friedhof und dort, das ist die Kirche des Helligen Georgij. Im Sommer ist da ein großes Fest: am 8. August. Aber die Frauen dürfen nicht in die Kirche. So ist die Tradition. (schnauft) (...gregorisch) Erzähler: Die Tuschen sind wie alle Georgier Christen, haben sich aber viele vorchristliche Traditionen erhalten. Ihre Feste sind allesamt mit dem Lauf der Jahreszeiten verbunden: Aussaat und Ernte, Viehtrieb hinauf in die Berge, Rückkehr in die Winterquartiere. Sommer- und Wintersonnenwende. Wie ihre muslimischen Nachbarn in Tschetschenien essen die Tuschen kein Schweinefleisch. Männer und Frauen feiern bei allen Festen getrennt. In jedem Dorf gibt es mehrere Chaty genannte heilige Orte, an denen Altare errichtet sind. Hier werden Tieropfer gebracht, auch hier haben Frauen keinen Zutritt. Lewan hatte davon erzählt. OT 3-27: Lewan (Gregorisch ...) OV-Sprecher: Die Tuschen reden nicht gern darüber. Sie sagen natürlich dass sie Christen sind. Die jungen Leute vor allem. Aber für die Alten sind die Chaty viel wichtiger. Das sind heilige Orte, an denen sie beten. (...gregorisch) Atmo: Parsma Erzähler: Inzwischen sind wir beim Haus von Rapos Cousins angekommen. Es ist noch früh am Tag, aber hier wird bereits kräftig gezecht. Freunde aus dem Tal sind zu Besuch, aber trotz Wein und Schnaps: die Stimmung der Hirten ist gedrückt. OT 3-28: Hirte (gregorisch) Zitator: Die Familie kannst Du ernähren und dich anziehen. Dafür reicht es, aber das ist auch alles. Der Käse geht nicht gut. Es ist schwer. In einem anderen Land könnte ich mit meinen Kühen gut leben. Aber hier? (...gregorisch) Erzähler Der tuschetische Käse ist eine in ganz Georgien geschätzte Delikatesse. Aber seit dem totalen Zusammenbruch, den Georgien nach der Unabhängigkeit 1991 erlebte, fehlt den Leuten das Geld. Auch die Schafwolle will niemand mehr. OT 3-29: Hirte (gregorisch) Zitator: Du kannst in Georgien nichts verkaufen. Sie bringen billiges Fleisch in Kühlwagen aus dem Ausland. Das kostet die Hälfte von unserem. (gregorisch) Erzähler: Zu sowjetischen Zeiten war das anders: Georgien war reich und die tuschetischen Schäfer bedeutende Leute. Im 2. Weltkrieg wurden sie nicht eingezogen, weil ihre Schafe und Rinder kriegswichtig waren. Noch in den 80er Jahren konnten sie zum Häuserbau Gastarbeiter aus dem benachbarten Dagestan einladen. OT 3-30: Rapo (gregorisch) OV-Sprecher: Unsere haben als Hirten gearbeitet, die hatten keine Zeit Häuser zu bauen, also haben es Dagestanis gemacht. Nicht für Geld, sondern für Essen! Brot. Kühe. (gregorisch) Atmo: Singen/Trinken 22:00 Erzähler: Wir haben die depressiven Zecher verlassen und sind mit Rapo noch etwas weiter gefahren, ganz ans Ende von Tuschetien, nach Girewi. Ein Gewitter hat sich verzogen, die Wehrtürme und über ihnen die Gipfel und Gletscher liegen in strahlender Sonne. OT 3-31 Rapo (gregorisch) OV-Sprecher: Schau da vorne, in den Bergen, siehst Du das? Das ist die Grenze, da ist Tschetschenien. Es gibt da alte Siedlungen, aber heute wohnen die Tschetschenen nicht mehr so hoch in den Bergen. (gregorisch) Erzähler: Nach links führt ein Pfad über den 3.400 Meter hohen Asunta-Pass in die Nachbarprovinz Chewsuretien. Nach Tschetschenien sind es vielleicht noch zehn Kilometer. Aber die Grenze ist gesperrt. Irgendwo da oben patrouillieren russische Grenzschützer. OT 3-32: Rapo (gregorisch) OV-Sprecher: Die Tschetschenen sind im Grunde wie wir. Normale Leute aus dem Kaukasus. Das sie Muslime sind ist kein Problem. (gregorisch) OT 3-33: Rapo (Schuss) (lacht) OV-Sprecher: Das sind Jäger. (gregorisch) Erzähler: Rapo kennt als Grenzsoldat jeden Stein hier, er weiß auch, dass der Schuss, der plötzlich von den Bergen zurückhallt, nur von einem Jäger stammen kann. OT 3-34: Atmo: Musik beginnt ab 1:45 Erzähler: Und dann sind wir wieder in Dartlo und wieder wird getafelt, ein Freund des Hauses hat Geburtstag. Für ein paar lange Sommermonate leben die Tuschen weitgehend so, wie ihre Vorfahren. Sie kümmern sich um ihre Gäste, um ihre Tiere und ums Geldverdienen. Sie singen. Und sie feiern. Im Herbst ziehen sie dann wieder hinab ins Tal, wo ihnen seit dem 17. Jahrhundert einige Dörfer und etwas Land gehören. Zitator: Wolkonskij Als Belohnung für ihre Hilfe im Kampf gegen die Perser boten die Prinzen von Kachetien den Tuschen Gold, Waffen und Land an. Zezva bat um Land im Tal, das als Winterweide dienen konnte. Das Angebot lautete wie folgt: Das ganze Land, das Zezva in einem Galoppritt auf seinem Pferd Saghiri abreiten konnte, sollte für immer den Tuschen gehören. Zezva galoppierte von Bakhtrioni bis zu dem Dorf Takhtis Bogiri, wo sein Pferd Saghiri schließlich erschöpft zusammenbrach. OT 3-34: Atmo: live Musik Erzähler: In den Dörfern Zemo Alvani und Kveno Alvani verbringen die Tuschen seither den Winter. Nur wenige Soldaten achten dann auf das im Schnee versunkene Dartlo, auf Girewi, Parsma und die anderen Dörfer in den Bergen. Bis der Schnee schmilzt. Wie jedes Jahr. OT 3-34 Atmo, live Musik (darauf:) Sprecher vom Dienst: Das verunsicherte Paradies - Eine Lange Nacht über Georgien Von Brigitte Baetz und Uli Hufen Es sprachen: Ton: Bernd Friebel Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Monika Künzel (geht über in Schlussmusik) Das verunsicherte Paradies Eine Lange Nacht über Georgien Seite 2