KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : "Wo ich bin, ist Böhmen" - Johannes Urzidil (1896 - 1970) zwischen New York und Prag AutorIn : Von Vera Schneider Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 2.11.2010 Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecherin/Autorinnentext, Zitator O-Töne & Musik Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK 1: ANTONÍN DVORÁK, "AUS DER NEUEN WELT", 3. SATZ; UNTER DEM TEXT LEISER WEITER. SPRECHER: Das Schiff furchte durch den Ozean. Eine Flotille von Kriegsfahrzeugen umgab es. In den Nächten waren die Luken abgedunkelt. Kein Schritt war gestattet ohne Rettungsgürtel. Es kaum auch zu einer kurzen Schlacht, in der ein feindliches Unterseeboot vernichtet wurde. Sechzig Matrosen wie Katzen im Sack. Sie schluckten Tod um die Zeit, da die Passagiere des Liners sich eben zur Tafel setzten. [...] Man aß gut auf dem Schiff. Man trank. Man veranstaltete allerlei Spiele zum Zeitvertreib. Das Erregendste und Grausigste in der Welt ist die Gleichzeitigkeit. Auch das am meisten Groteske. [...] Die Küste war erst noch ein feiner Streifen am Horizont, aber sie hob sich langsam und stetig heran. Man begann ihre Gliederungen zu unterscheiden, leichte Bodenerhebungen machten sich bemerkbar, dann Baumgruppen und schließlich einzelne Bäume. Möwen kreisten heran. Delphine hüpften. MUSIK EVENTUELL NOCH MAL HOCHKOMMEN LASSEN, SONST GLEICH AUSBLENDEN. TROCKEN WEITER. SPRECHERIN: New York, 14. Februar 1941. Die "Georgic" läuft am Pier 42 ein. Sie ist der letzte Ozeanliner, der das kriegsführende England in Richtung USA verlassen durfte. Mit an Bord sind der Prager deutsche Schriftsteller Johannes Urzidil und seine Frau Gertrude. Den Grund für die Militäraktionen erfahren sie erst später: Das Schiff brachte gleichzeitig das Gold der Bank of England in Sicherheit. In seiner 1956 erschienenen Erzählung "Die Fremden" hat Urzidil die dramatische Überfahrt und die Ankunft in der Neuen Welt verarbeitet. SPRECHER: Die Kristalldruse der Hochhäuser steigt aus dem Meere empor, und die Riesenharfen der Brücken erklingen. Laßt uns glauben, daß die Leuchtkraft unseres Herzens die Stube eines fernen Freundes zu erhellen vermag und daß auch unseren Dunkelheiten noch ein gütiges Licht vergönnt ist. SPRECHERIN: Im Juni 1939, wenige Monate nach der Besetzung Prags durch die Nationalsozialisten, konnten die Urzidils in letzter Minute ausreisen - zunächst nach Italien, von dort aus nach England. Johannes Urzidil hatte sich als Publizist in der Ersten Tschechoslowakischen Republik für die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen eingesetzt. Weil er damit den neuen Machthabern in Berlin "politisch verdächtig" war, verlor er 1934 seine Stellung als Pressebeirat des deutschen Botschafters in Prag. Doch damit nicht genug: Der Jüdin Gertrude Urzidil und dem so genannten Halbjuden Johannes Urzidil stand die Deportation nach Theresienstadt oder in ein Konzentrationslager bevor. Ermöglicht wurde ihre Flucht durch die britische Schriftstellerin Annie Winnifred Ellerman alias Bryher, die sie während der ganzen Zeit des Exils unterstützt. MUSIK 2: ARNOST KAVKA, DRÍVE A NYNÍ UNTER DEM TEXT LEISER WEITER,GEGEN ENDE AUSBLENDEN. SPRECHER: Ungeheure Lichterfülle, Wolkenkratzer, maßlose Üppigkeit der Läden und Freßlokale. Menschenmassen, enormer Autoverkehr. Billige Preise. Vielfarbige Menschen. Wildheit des Gesamteindrucks gegenüber dem edlen, vornehmen England. [...] Lebensdurst, unglaubliche Lust am Materiellen. TROCKEN WEITER. SPRECHERIN: Diesen ersten Eindruck notiert Urzidil am Tage seiner Ankunft in New York. Das Paar steigt im Hotel "Times Square" ab, mitten im pulsierenden Herzen von Manhattan, in direkter Nachbarschaft zum Broadway. Der Kontrast zu ihrem vorigen Domizil im ländlichen Gloucestershire könnte nicht größer sein. Doch Urzidil, der sich im Lebensrückblick gern als modernen Odysseus sah, setzt seine bewährte Orientierungsstrategie ein. In einem Interview von 1959 hat er sie verraten: 1. O-TON (URZIDIL) Wenn immer ich in ein fremdes Land komme, stelle ich mir gewissermaßen drei Fragen: Erstens, wo sind die Weltgegenden - Westen, Osten, Norden, Süden - zweitens, wie schmeckt das Trinkwasser, und drittens, auf welche Weise kann dieses Land in Verbindung mit Goethe gebracht werden. SPRECHERIN: Die Beschäftigung mit Goethe bleibt für Urzidil ein Fixpunkt seiner Existenz. 1932 war sein literaturhistorisches Hauptwerk GOETHE IN BÖHMEN erschienen. Auf der Flucht und im Exil arbeitet er an einer Neuausgabe, die 1962 herauskommt. Eine Betrachtung zu Goethes Amerikabild aus dem Jahr 1958 trägt den beziehungsreichen Titel DAS GLÜCK DER GEGENWART. Doch zunächst gilt es, die Äußerlichkeiten zu meistern. Die Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft führt das Paar nach Jackson Heights in Queens. Neun Jahre leben sie hier als Untermieter. Weil er an seiner Muttersprache festhält und Übersetzungen misstraut, ist Urzidil von seiner Leserschaft abgeschnitten. Er muss eine andere Möglichkeit des Auskommens finden. 2. O-TON (URZIDIL) Ich versuchte es mit Korrespondenz für in London erscheinende Zeitschriften, was natürlich nicht sehr viel einbrachte. Meine Frau musste arbeiten, und ich bin dann schließlich zum Handwerk übergegangen. Es war Lederkunsthandwerk. Ich bin deshalb dazu übergegangen, weil ich darin nicht nur eine Möglichkeit des Auskommens sah, sondern weil ich das Handwerk als eine der reinsten Formen der menschlichen Produktion betrachte und weil für mich die Herstellung einer schönen Lederkassette, in welcher die Form und die Ornamentik aus dem Wesen des Materials hervorgeht, sich nur sehr unwesentlich unterscheidet von der Produktion etwa einer Erzählung. Ich mache beides mit größtem Genuss und größter Freude, und wenn ich in irgendeinem Hause auf einen Gegenstand stoße, der aus meiner Handwerkszeit stammt und von dem ich weiß, dass er aus meinen Händen hervorgegangen ist - oft ist das der Fall, ohne dass der Besitzer das selbst weiß - und wenn dieser Gegenstand da steht und in Benützung ist, so gereicht mir das zu einer genauso großen Befriedigung, als wenn ich in der Bibliothek desselben Gastgebers ein Buch von mir vorfinde. SPRECHERIN: Seine Lederarbeiten - Taschen, Kassetten, Dosen - finden reißenden Absatz. Bald bekommt er die Chance, durch einen lukrativen Vertrag sein Handwerk im größeren Stil zu betreiben. Doch Urzidil lehnt ab, denn er glaubt weiter an seine Berufung als Schriftsteller. Als erstes Buch in den USA erscheint 1945 DER TRAUERMANTEL, eine Erzählung über Adalbert Stifters Jugend. Stifter ist - neben Goethe - ein weiterer Fixstern in Urzidils Kosmos. In DAS GROSSE HALLELUJA, seinem 1959 erschienenen Amerika-Roman, beschreibt er das Lebensgefühl jener Jahre: SPRECHER: Er schrieb mit dem stillen Eifer des bis ans Ende Beharrenden, der sich durch weltgeschichtliche Absurditäten nicht von seinen Aufgaben abkommandieren läßt. Er blieb Schriftsteller in einer Art und Lage, die nicht einen Cent Verdienst einbringen konnte. "Aus Zweckmäßigkeitsgründen verlasse ich weder meine Gattin noch meine Sprache. Und ich schreibe mit besonderer Lust, eben weil ich in gar keiner Weise die Gefahren auch nur des geringsten Erfolges zu befürchten habe." SPRECHERIN: 1950 finden die Urzidils in Kew Gardens auf Long Island endlich eine eigene Wohnung. Die Gegend soll zum bevorzugten Schauplatz von Urzidils New Yorker Prosa werden. In der Erzählung DER STAHLPALAST schildert er den Mord an einer jungen Frau, der sich 1964 in seiner Nachbarschaft zutrug. SPRECHER: "Hilfe", schreit Kitty, "man mordet mich!" Und alsbald in den umliegenden Häusern erleuchten sich die Fenster in den Stockwerken. Das große Publikum erscheint hinter den Topfblumen, um die Schreie Kittys deutlicher zu vernehmen, sie womöglich zu sehen. Der Angreifer wendet sich und flieht. Kitty wimmert nur noch ein wenig. Und da es wieder still und bewegungslos wird, verlöschen die Lichter. [...] Dreiundzwanzig Nachbarn vernahmen, was geschah. Keiner von ihnen rief die Polizei an. [...] Viele von den Zuschauern hatten auch zu Hause eine Bibel, ein Evangelium oder ein Siddur, wie das jüdische Alltagsgebetbuch genannt wird. Aber was hat man nicht alles ererbt von seinen Vätern? SPRECHERIN: Bei aller Kritik am amerikanischen Lebensstil: Die Rolle des isolierten Fremdlings liegt dem geselligen Urzidil nicht. Zu seinen Freunden in den USA zählen nicht nur Mit-Exilanten wie Yvan Goll, Mascha Kaléko oder Carl Zuckmayer. Besonders eng ist die Freundschaft zu der amerikanischen Journalistin und Nazi-Gegnerin Dorothy Thompson. Sie lädt die Urzidils oft auf ihre Farm in Vermont ein, wo sie sich vom Großstadtalltag erholen. Gerhard Trapp, Autor der 1966 erschienenen ersten Dissertation zu Urzidil, hat lange Jahre mit ihm korrespondiert und ihn persönlich kennen gelernt. 3. O-TON (TRAPP) Er fand die Amerikaner, mit denen er zu tun hatte, sehr sympathisch. Er hat immer die Offenheit und Hilfsbereitschaft dieser Menschen gerühmt und er hat natürlich die bürgerliche Freiheit, die er in den USA erfahren hat, gerade als Exilant hoch geschätzt. Das war die eine Seite. Die andere Seite war, dass er sehr kritisch blieb gegenüber dem amerikanischen "way of life" und der totalen Hingabe an technokratische und technologische Entwicklungen, die ihm suspekt waren. SPRECHERIN: Ab 1951 ist Urzidil für die Österreich-Abteilung des Senders VOICE OF AMERICA tätig. Nun kann er endlich in und mit seiner Muttersprache seinen Lebensunterhalt bestreiten. Auch über den Äther schlägt er Brücken zwischen den Kontinenten, etwa in einem Beitrag für den RIAS Berlin aus dem Jahr 1966: 4. O-TON (URZIDIL) Ich darf daran erinnern, dass zum Beispiel der berühmte moderne schweizerisch- französische Architekt Le Corbusier, als er zum ersten Mal nach New York kam, eine Gemeinsamkeit zwischen den New Yorker Wolkenkratzern und dem Baugeist der Antike feststellte, die klar, zweckmäßig, materialgerecht, stromlinienartig und ohne Überflüssigkeiten baute und vierdimensionale Gebäude in den Raum stellte, nicht bloß aneinandergeklebte Fassaden mit unorganischen, aufgepappten Ornamenten. SPRECHERIN: 1964 erscheint sein Essay AMERIKA UND DIE ANTIKE. Hier spürt Urzidil den Einflüssen antiker Ideale auf amerikanische Denk- und Lebensart nach. Schon in Prag, als Student der Kunstgeschichte, war er fasziniert von der griechisch-römischen Epoche. Fern der Heimat sind Urzidils Fixsterne also nicht erloschen: Seinen Goethe hat er mitgenommen, der Antike begegnet er auf der Straße wieder, und auch der Dichter aus dem Böhmerwald fehlt nicht. Denn in dem Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau entdeckt Urzidil den "Adalbert Stifter Amerikas". Walt Whitman hat er schon als Student verehrt, jetzt ist er dem "Sohn Manhattans" in dessen Heimat gefolgt. Und trotzdem bleibt ein Rest Fremdheit. 5. O-TON (TRAPP) Es gibt einen Brief, den er 1955 an Heinz Risse geschrieben hat - das war ein deutscher Schriftsteller in Solingen, der ihm sehr behilflich gewesen ist -, und da bringt er eine interessante Formulierung seines Status in Amerika. Er spricht hier über den Roman DAS GROSSE HALLELUJA [...], und in diesem Brief von 55 schreibt er, dass seine Beobachtungen zu Amerika in diesem Roman "nicht vom Immigrantenaspekt, aber doch von der Terrasse des Nichtamerikaners" geschrieben wurde. Und diese Position, von der Terrasse die Dinge zu beurteilen, also einerseits integriert - die Terrasse ist ein Teil eines Hauses - andererseits distanziert - , die scheint mir eine sehr geglückte Metapher zu sein für sein Verhältnis zu Amerika. SPRECHERIN: Es muss nicht die Terrasse sein: Josephus Weseritz, Urzidils Alter Ego im GROSSEN HALLELUJA, steigt gern auf das Dach seines Wohnblocks und genießt den Blick über die Stadt. Urzidil liebt diese Art von Fernsicht schon seit seinen Aufenthalten im Böhmerwald in den 1930er Jahren. Er glaubt, dass es die Blicke vom Berggipfel waren, die Adalbert Stifter zum Dichter werden ließen. In seinem autobiografischen Essay BLICK VOM STINGELFELSEN aus dem Jahr 1965 gibt ihm diese Perspektive das Stichwort für eine Liebeserklärung an seine zweite Heimat: SPRECHER: Und so ist der Blick vom Stingelfelsen auch mit mir, selbst hier in Amerika, mitten in New York. Von der Höhe des Empire-State-Buildings kann ich die Insel-, Brücken-, Strom- und Seehafenmetropole mit ihrem nimmermüden Getriebe, ihren Wolkenkratzerschluchten und ihrem beharrlichen Wachstum betrachten, sich unablässig ausweitend und überhöhend. Und ich spüre dabei nicht bloß diesen schwer atmenden Stadtgiganten, sondern zugleich die befreiende und frei erhaltende Weite des ganzen Amerika, das mich an sich zog wie der Magnet den winzigen Feilspan und mir seine Magnetkraft mitteilte wie diesem. SPRECHERIN: Der Bildungsbürger aus Europa schlägt sich in New York als Handwerker durch und macht daraus eine Philosophie. In Prag trat er als expressionistischer Lyriker hervor; nun beobachtet er den amerikanischen Alltag und gießt seine Eindrücke in eine präzise Prosa. Dabei betont er, dass erst Amerika und der Einfluss der schnörkellosen englischen Sprache ihn zum Epiker gemacht haben. Es scheint, als sei Urzidil ganz dem "Glück der Gegenwart" verpflichtet. Doch das ist nur eine Facette dieses Autors und Lebenskünstlers. Berühmt wird er für eine andere. "Er ist in seinen Büchern PRAGER TRIPTYCHON, DAS ELEFANTENBLATT, DA GEHT KAFKA (und in anderen epischen Kostbarkeiten) zum großen Troubadour jenes für immer versunkenen Prag geworden, das er in einem anderen Buchtitel DIE VERLORENE GELIEBTE genannt hat", schreibt Max Brod über seinen Freund. Die Erinnerungen an seine erste Heimat werden zum wichtigen Motiv seines Schaffens. "Denn wo er ist, dort ist Böhmen" , sagt Urzidil über Adalbert Stifter - und meint damit wohl auch sich selbst. *** MUSIK 3: STELIBSKÉHO ALBUM, KAZDÝ MEL RÁD POHÁDKY BIS ENDE INTRO LAUT STEHEN LASSEN (TC 00:00:07) DANN TROCKEN WEITER. SPRECHER: Es war immerhin günstig, daß der Knabe nicht in einem wohlbehüteten Großbürgerhaushalt und inmitten eines gesicherten Familienkreises mit Stubenmädchen und Gouvernante aufwuchs. Denn so kam er viel herum, niemand kümmerte sich um ihn, er wählte sich seine knäblichen Freunde und Feinde allerwärts, und es war ihm gleichgültig, ob sein Ball durch eine tschechische, deutsche, jüdische oder österreichisch-adlige Fensterscheibe hindurchflog. "Ich bin hinternational", pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen - nicht über- oder unterhalb - ließ sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen, im Stadtpark dem Wächter Kakitz (unsterblich durch die Werfelschen Verse) eine Nase drehen und entrinnen oder die Sesselbabbe um den Sesselkreuzer begaunern; droben am Zizkaberg , wo einst der blinde hussitische Heros die Päpstlich-Kaiserlichen zerblasen hatte, mochte man eingemauerte Hussitenkugeln aus dem Mörtel meißeln, draußen im Baumgarten ,hinternationale' athletische Meetings abhalten mit Kugelstoßen, Stabspringen und Hundert-Yard-Läufen, ohne daß wir jemals genau wußten, wie lang eigentlich ein Yard war. SPRECHERIN: "Hinternational": Dieses Wortspiel aus dem Erzählband PRAGER TRIPTYCHON von 1960 ist der Titel des Urzidil-Lesebuchs, das im Herbst 2010 erscheint. Für Klaus Johann, Germanist und Mitherausgeber des Lesebuchs, beschreibt der Begriff Urzidils Weltsicht: 6. O-TON (JOHANN) [...] Urzidil ist eigentlich ein Autor fern aller Ideologien, wo [sozusagen] der Mensch im Mittelpunkt steht [...] das korrespondiert auch [...] mit dem Ausdruck des Hinternationalen, den er geprägt hat, [...] also hinter den Nationen in dem Sinne, in dem er als kleiner Junge in Prag in den Hinterhöfen in die Wohnungen der Tschechen und Deutschen geguckt hat und eben festgestellt hat, dass da eigentlich nicht so große Unterschiede bestehen - im Unterschied zu den Vorderhäusern, wo womöglich irgendwelche politischen Parolen oder Manifestationen zu sehen waren. SPRECHERIN: Urzidils deutsch-jüdisch-tschechische Patchworkfamilie ist eine Art Mikrokosmos der Habsburgermonarchie. Seine vom Judentum zum Katholizismus konvertierte Mutter brachte sieben Kinder in die Ehe. Sie starb im Jahr 1900, als Urzidil vier war. In VÄTERLICHES AUS PRAG, einem Text von 1969, erinnert er sich: 7. O-TON (URZIDIL) Mein Vater war ein Deutschnationaler und tauschte mit dem radikalsten Chauvinisten der böhmischen Länder, dem Abgeordneten Schönerer, stolz den Gruß "Heil Alldeutschland". Er war ein sogenannter "Tschechenfresser", und obwohl er vierzig Jahre lang in Prag mitten unter den Tschechen lebte, sprach er weder, noch verstand er auch nur ein einziges tschechisches Wort. Aber er befahl mir auf das strengste, Tschechisch zu lernen, ja er heiratete in zweiter Ehe eine begeisterte Nationaltschechin, mit der er früh und spät nicht nur über Familien-, sondern auch über politische Angelegenheiten in Teller werfendem Streit lag, selbstverständlich auch mich mit einbeziehend, der seinen Kampf gegen die Stiefmutter mit größter Heftigkeit und allen tückischen Tricks führte oder - wie es gerade kam - sie vom selbstmörderischen Sprung aus dem Fenster unserer Wohnung im dritten Stockwerk (Mezzanin ungerechnet) zurückriß. SPRECHERIN: Urzidils eigene Ehe ist ungleich harmonischer, spiegelt aber ebenfalls die ethnisch-religiöse Vielfalt Prags: Er ist gläubiger Katholik, Gertrude, eine geborene Thieberger, die Tochter eines Rabbiners und die Schwester von Kafkas Hebräischlehrer. Obwohl seine Prager Geschichten einen nostalgischen Grundton haben: Ein Heimweh-Idyll schildert Urzidil nicht. Oft schwingt feine Ironie mit, fast immer findet er Anlass zu Sozialkritik. Im PRAGER TRIPTYCHON beschreibt er eine Entwicklung, die später zum Ende der deutsch-tschechischen Symbiose führen wird: 8. O-TON (URZIDIL) Aber bei alledem hielten sich die Nationen, Konfessionen und Stände in dauernder Kampfbereitschaft. Die deutschen Farbenstudenten promenierten auf dem Graben nicht zum Spaß, um Luft zu schöpfen oder auf Mädchen zu passen, sondern um Gesinnung zu bekunden, und die tschechischen Studenten, die auch nicht zurückbleiben wollten, brachten ihre Überzeugung in slawischen Samtbarrets zum Ausdruck. Auf dem Ring, gegenüber der habsburgischen Siegesmadonna, hatte man ein riesiges bronzenes Husdenkmal aufgestellt, um zu zeigen, daß man die siebenundzwanzig protestantischen Böhmen, die nach der Weißenberg- Schlacht auf diesem Platz von kaiserlichen Henkern geköpft worden waren, wohl im Gedächtnis hatte. So etwas vergißt sich nicht. Hus stand da und sagte zwar - wie die Sockelinschrift beteuerte - "Liebet einander und vergönnet jedem die Wahrheit", aber was er meinte, schien etwas anderes: "Wartet nur, bis meine Zeit kommt! Ich werd's euch schon zeigen!" Seine Zeit oder vielmehr die Zeit derer, die sich für seine Gefolgschaft hielten, sollte zwar kommen, und wieder rollten die Köpfe. Aber so etwas vergißt sich eben auch nicht. SPRECHERIN: 1956 erscheint der Roman DIE VERLORENE GELIEBTE, Urzidils bekanntestes Buch. Die verlorene Geliebte hat für Urzidil viele Gesichter: das seiner früh verstorbenen Mutter, das der Stadt Prag, das der Frau, der er seine ersten Verse gewidmet hat. Damit trifft er den Nerv vieler Leser. 1957 erhält er den renommierten Schweizer Charles-Veillon-Preis, der ihm den Weg ins deutschsprachige Feuilleton bahnt. Mit Anfang sechzig ist Urzidil plötzlich ein populärer Autor. Besonderen Zuspruch bekommt er von den deutschböhmischen Heimatvertriebenen. Für ihr Schicksal verspürt er Empathie. Gegen die Vereinnahmung durch revanchistische Kreise wehrt er sich jedoch. An Gerhard Trapp schreibt er 1965: SPRECHER: Im Übrigen hatte Fr.[iedrich] Schlegel recht, der irgendeinmal sagte, 95 % des Ruhms sei Mißverständnis. Daß mich aber gerade Nazis reklamieren, ist in der Tat eine der komischsten Sachen; denn keine Zeile, kein Wort, keine Interpunktion in meinen Schriften gäbe ihnen hierzu das geringste Recht. Mit gleichen Argumenten könnten mich die Polynesier zu ihrem König wählen, ein Posten, den ich übrigens mit Vergnügen sogleich akzeptieren würde in einer Zeit, in der sich das weiße Abendland beider Hemisphären durch eine plebejische Politik der Weltverwirrung mißliebig macht. SPRECHERIN: Gleichzeitig wächst auch ein Text, der dem Publikum verborgen bleibt: seine Korrespondenz mit Prager Freunden wie Max Brod, Jan Zrzavý , Ferdinand Peroutka oder Franz Werfel. Als junger Dichter hat er zum Prager Kreis gehört, der sich im legendären Café Arco um Max Brod scharte. Auch der dreizehn Jahre ältere Franz Kafka war dabei. Nun wird Urzidil, der Junior dieser Runde, zum Hüter ihres Gedächtnisses und hält so ein in alle Welt verstreutes Biotop zusammen. Dafür verleiht ihm H. G. Adler in einem Brief den Ehrentitel "die gute Prager Stimme aus New York". Der Erfolg seiner Bücher führt Urzidil auf ausgedehnte Lese- und Vortragsreisen durch Europa. In Städten wie Köln, Stuttgart, München, Zürich, Linz und Wien liest er aus eigenen Werken, spricht über Goethe oder Kafka. Und manchmal chauffieren ihn seine Gastgeber an die österreichisch-tschechische Grenze. An solche Momente erinnert sich der Autor mit Wehmut. SPRECHER: Vom Bärnstein ließ sich hinübersehen in das zerrissene Geburtsland - zerrissen, auch wenn es noch so scheinbar ganz in seinen geographischen Stacheldrähten eingeklammert dalag -; drüben mochte man Oberplan erkennen, obschon des Moldauherzens beraubt, und nahebei die einstürzende Kirche und die sich lösenden Hütten von Glöckelberg. Es ist richtig, daß der Blick von Schöneben aus über das Mühlviertel fast der gleiche war wie jener einst vom Stingelfelsen. Aber dieses "fast" bedeutete eine ganze Welt an Unterschied. Es war so, als sagte man etwa: "Diese Frau ist zu dir fast wie eine Mutter"; oder: "Dieses Gedicht ist fast so schön wie eines von Hölderlin". SPRECHERIN: 1968 bekommt Urzidil eine Einladung von der Prager Akademie der Wissenschaften. Er lehnt sie ab - wie alle anderen zuvor. Wären Prag und Böhmen für einen Europareisenden nicht wenigstens eine Stippvisite wert? Überliefert ist ein Gespräch mit Walter Zettl, der damals das österreichische Kulturinstitut in Rom leitete. Gerhard Trapp zitiert daraus: 9. O-TON (TRAPP) Und dann sagt er wörtlich: Ich bin darum nicht mehr zurückgekehrt, weil sonst die Quelle, von der meine Arbeit lebt, für immer versiegt wäre. Und mehrmals führt er an anderen Stellen aus, dass das Nachkriegsprag deshalb nicht mehr sein Prag sein könne, da das deutsche und das jüdische Element nicht mehr vorhanden sei. *** MUSIK 4: IL GRUPPO MANDOLISTICO, MANDULINATA A NAPULE. BIS ENDE INTRO (TC 00:18) OBEN LASSEN. DANN LEISER WERDEN, UNTER DEM TEXT LEISER WEITER. SPRECHER: Rom ist eben der Höhepunkt [...], alles andere bisher war Vorspiel. Und das weitere wird Nachspiel sein. SPRECHERIN: An diese Worte Urzidils erinnert sich Heinrich Schmidinger, 1970 Direktor des Österreichischen Kulturinstituts in Rom. Urzidil weilt gern in der italienischen Metropole; 1968 lernt er hier Ingeborg Bachmann kennen. Anfang November 1970 ist der Vierundsiebzigjährige wieder auf Lesereise. Schmidinger holt das Paar vom Flughafen ab, sie plaudern, Urzidil genießt die Sonne und das italienische Essen. "Hier könnte ich bleiben", sagt er. MUSIK AUSBLENDEN, TROCKEN WEITER. SPRECHERIN: In der Nacht schickt Gertrude Urzidil nach einem Arzt: Ihr Mann sei gestürzt, es gehe ihm schlecht. Der Doktor kann nur noch den Tod durch Gehirnschlag feststellen. Seine letzte Ruhestätte findet Johannes Urzidil auf dem Campo Santo Teutonico in Rom. 10. O-TON (TRAPP) (ACHTUNG, AM ANFANG IST INTERVIEWERIN KURZ ZU HÖREN, EVTL. MUSIK NOCH BIS DAHIN WEITERFÜHREN) In dem Sinn ist er an eine für ihn ganz eminent europäische Stelle zurückgekehrt. Sozusagen, tja, ... im Zentrum, in einem der wichtigsten klassischen Zentren europäischen Denkens, antiken Denkens. SPRECHERIN: Heute ist Johannes Urzidil im deutschen Sprachraum fast vergessen; einige stecken ihn vorschnell in die Heimatkunst-Ecke, anderen ist seine Erzählweise zu konservativ. In Frankreich, Italien, Spanien und vor allem in seiner böhmischen Heimat ist das anders: Sein Werk erscheint seit dem politischen Umbruch 1989 in zahlreichen Übersetzungen, in Tschechien hat sich eine Johannes-Urzidil-Gesellschaft gegründet. Klaus Johann, der auch eine deutschsprachige Werkausgabe vorbereitet, sieht mehrere Gründe für die Wiederentdeckung des Autors: 11. O-TON (JOHANN) Der Hauptgrund, den ich nennen würde, ist, dass es einfach ein Vergnügen ist, ihn zu lesen, und zwar kein oberflächliches Vergnügen, sondern durchaus ein tiefgründiges [...] Der zweite Grund ist natürlich, dass in den letzten zwanzig Jahren [...] Europa wieder zusammenwächst,[...] und er uns eben auch eine Brücke ist zur tschechischen Kultur [...]. Und er ist eben auch ein - das wäre dann der dritte Grund [sozusagen] - dass er ein dezidiert unideologischer Autor ist. *** MUSIK 5: STELIBSKÉHO ALBUM, VECER NAD PRAHOU UNTER DEM TEXT LEISER WEITER. SPRECHERIN: 1999 sichten die Astronomen Jana Tichá und Milos Tichý vom Observatorium Klet' bei Budweis einen neuen Asteroiden. Beide kennen und schätzen das Werk Johannes Urzidils. Deshalb nennen sie ihre Entdeckung (70679) Urzidil. Seitdem erscheint Urzidil als einziger Autor des Prager Kreises dem Kundigen am Nachthimmel. MUSIK WIEDER HOCHKOMMEN LASSEN, BIS ZUM ENDE DER SENDEZEIT WEITER. Urzidil, Johannes: Die Fremden. In: Die verlorene Geliebte. München: Langen Müller 1956, S. 296 f. ebd., S. 296 tsch. "Damals und jetzt" Urzidils Kalenderblatt vom 14. Februar 1941. Archivmaterial aus dem Nachlass, Leo Baeck Institute Auszug des Geistes. Interview mit Irmgard Bach, Radio Bremen 1959. ebd. Urzidil, Johannes: Das große Halleluja. München: Langen Müller 1959, S. 351 Kulturforum: Architektur in New York. RIAS 1966. Urzidil, Johannes: Blick vom Stingelfelsen. In: Bekenntnisse eines Pedanten. München: Artemis 1972, S. 37 Brod, Max: Der Prager Kreis. Mit einem Nachwort von Peter Demetz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1979, S. 196 ebd. S. 40 tsch . "Jeder hatte Märchen gern" Text: Kolo kolo mlýnský/za ctyri rýnský./Kolo se nám polámalo/Udelalo bác! (tschech. Kinderreim) Aussprachehinweis für den Sprecher: Z spricht sich wie das "J" im deutschen Journal Urzidil, Johannes: Predella. In: Prager Triptychon. München: Langen Müller 1960, S. 12 f. Auszug aus "Väterliches aus Prag", gelesen vom Autor. RIAS 1968. Auszug aus "Prager Tryptichon", gelesen vom Autor. In: Gespräch über Urzidil, RIAS 1966. Brief an Gerhard Trapp vom 15. Februar 1965 Aussprachehinweis für die Sprecherin: Die Betonung liegt auf den ersten beiden Buchstaben, das "Z" ähnelt dem deutschen "S" ("Srrr-sa-vý"). Urzidil, Johannes: Blick vom Stingelfelsen, S. 39 zit. nach Schmidinger, Heinrich [sen.]: Die drei römischen Tage Johannes Urzidils. In: Salzburger Nachrichten. 24. XII. 1970. tsch. "Abend über Prag" Seite 18 von 18