COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 7. Mai 2013, 19.30 Uhr Von der Werkbank an die Uni Die "Offene Hochschule" sorgt für einen Wandel in der Lernkultur Von Hannegret Biesenbaum O-Ton: Weber Zum einen wusste ich gar nicht, was ein Studium überhaupt ist. Ich hatte wirklich keine Ahnung vom Studentenleben, das hat für mich nie als Option existiert ... Und natürlich ist es schwierig zuhause, man bekommt keine Unterstützung in dem Sinne, dass die Eltern einen beraten können ... Mir war ja auch nicht klar, wie viel von einem Abitur abhängen kann. Sprecher vom Dienst Von der Werkbank an die Uni Die "Offene Hochschule" sorgt für einen Wandel in der Lernkultur Von Hannegret Biesenbaum O-Ton: Weilacher Ich komme aus einer ländlichen Gegend ... Und da war meine große Vorbildfunktion, zwar jemand, der nicht studiert hat, allerdings konnte ich mich wirklich mit ihm über Sachen unterhalten, auch auf einem gewissen Niveau ... Das war ein Onkel ... Er kam immer an, welche Klasse bist du jetzt ... Und dann haben wir dann quasi einen Einsteiger gehabt zu Themen, was macht ihr in der Schule, also ein Interesse, was ich von meinem Vater nie gekannt hab'. Und im Gegensatz dazu auch meine Mutter, die argumentiert auch heute immer noch mit ihren in Anführungszeichen 'acht Jahren Volksschule', dass ihr quasi auch so der Zugang zu gewissen Themen einfach fehlt. Sprecherin Tina Weber und Sven Weilacher haben trotz ungünstiger Voraussetzungen studiert und Karriere gemacht, - sie als Soziologin, er als Bauingenieur. Damit gehören sie in Deutschland zu den Ausnahmen. Denn hier kommen die meisten Studenten aus Akademikerfamilien. Für junge Leute aus Nicht- Akademikerfamilien ist dagegen der Bildungsaufstieg äußerst schwierig. Betroffen sind vor allem Arbeiterkinder. O-Ton: Weber Da haben wir auf der einen Seite diese zehn Prozent, also das stagniert so bei zehn Prozent bis zwölf Prozent Arbeiterkinder an den Universitäten, während hingegen bis zu 73 Prozent Akademikerkinder an den Universitäten sind. Und das ist so eine speziell deutsche Eigenart, dass diese Bildungsstruktur, diese soziale Bildungsstruktur in Deutschland Arbeiterkindern es tatsächlich schwieriger macht, an die Universität zu gelangen. Sprecherin Das liegt allerdings nicht nur am dreigliedrigen Schulsystem, meint die Soziologin, deren Mutter Verkäuferin und deren Vater Elektriker war. Ursache ist auch das Sicherheitsbedürfnis vieler Eltern aus Nicht-Akademikerkreisen. O-Ton: Weber Das ist das, was wir von unsern Eltern eingeimpft bekommen, nicht dieses Jetzt- probier-dich-mal aus, ... sowas existiert gar nicht in den Köpfen, das ist ganz klar, die Sicherheit muss jetzt her, eine vernünftige Ausbildung und ein finanzielles eigenständiges Dasein. Sprecherin Während Akademiker-Familien in den Studienkosten eine gute Investition in die Zukunft sehen, scheuen Nicht-Akademiker-Familien die Ausgaben, sagt Lutz Schumacher, Professor an der Leuphana Universität Lüneburg. Ein Studium, meinen sie, das wirft wohl kaum eine ordentliche Rendite ab. O-Ton: Schumacher Das stimmt natürlich nicht, wir wissen, dass ein Hochschulabschluss, ein akademischer Abschluss auf Dauer etwas ist, was sich durchaus auch finanziell, monetär, gesellschaftlich auszahlt. Aber das sehen oft Personen aus nicht- akademischen Elternhäusern nicht so sehr. Sprecherin Der Professor für Personal- und Organisationspsychologie hat in seinen Forschungen eine weitere Hürde für Nicht-Akademiker-Familien festgestellt. Er nennt sie "kulturelle Distanz". O-Ton: Schumacher Das heißt, eine Hochschule ist für die was viel Fremderes, etwas, was sie viel weniger passend für sich empfinden, die spüren da sozusagen etwas wie 'das habe ich familiär nicht mitbekommen'. Sprecherin Weshalb sich Nicht-Akademikerkinder auch oft gegen ein Studium entscheiden. Nehmen sie allerdings als erste Akademiker in der Familie ein Studium auf, so Schumacher, fällt ihre Wahl meist auf Studiengänge, die weniger prestigeträchtig sind. O-Ton: Schumacher/Weber/Weilacher Schumacher: Also es werden viel weniger Studiengänge wie Medizin und Jura gewählt, sondern eher so klassische Erstakademikerstudiengänge, Lehramt Grund-, Haupt- und Realschule, so ein typischer Studiengang, den man als nicht so fremd, als keine so große Hürde empfindet. Weber: Also sagen wir mal so. In Deutschland ist es ja so, dass sich tatsächlich die Akademikerelite selbst reproduziert ... Und mit dem kulturellen Kapital, mit dem Akademikerkinder ins Studium gehen - sie wissen, dass sie es können, es wird von ihnen erwartet, sie haben die finanzielle Sicherheit, sie kennen sich aus, sie sprechen die Sprache, was sehr wichtig ist, und sie haben das Auftreten, sie stellen sich hin und wissen, sie gehören hier hin. Weilacher: Die Akademikerkinder erleben zuhause den Professor als Vater, als Mensch, und wenn man als Nicht-Akademikerkind an die Universität kommt, und sieht, das ist der Professor Dr. Sowieso, und dann oh, Professor Dr., der steht mehrere Stufen über mir, da muss ich ganz vorsichtig sein, ja, also im Prinzip, ja, dass er schon so ne Art etwas ein Übermensch ist aufgrund seiner akademischen Titel. Sprecherin Wegen dieser Hürden streben viele Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien das Abitur gar nicht erst an. Trotz möglicher Begabung fehlt ihnen dann die schulische Hochschulzugangsberechtigung, die traditionell für ein Studium verlangt wird. Für Deutschland wird diese Entwicklung inzwischen zum Problem. Es mangelt zunehmend an qualifizierten Arbeitskräften, vor allem in den Pflege- und Ingenieurberufen. Inzwischen gibt es allerdings vermehrt Bemühungen, die Barrieren für Nicht-Akademikerkinder abzubauen. Mit gutem Beispiel voran geht ArbeiterKind.de, eine bundesweite Initiative. Hier bieten ehrenamtliche Mentoren - unter anderen Tina Weber und Sven Weilacher - Schülern und Studenten nicht- akademischer Herkunft ihre Unterstützung an. Sie wollen bei Ängsten und Unsicherheiten helfen und unkonventionelle Wege zu einem Hochschulstudium - auch ohne Abitur - zeigen Die Initiative hat seit ihrem Start 2008 etliche Kontaktbüros eröffnet, so an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Dort ist Christiane Deneke Leiterin des Kompetenzzentrums Lebenslanges Lernen, das sich verstärkt um Studienanfänger bemüht, die auch ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung eine wissenschaftliche Weiterbildung anstreben. O-Ton: Deneke Und dafür wollen wir einmal erheben, was sind eigentlich deren Bedürfnisse, wo brauchen sie Unterstützung, ... zum Beispiel kann man sich sowas vorstellen wie ein Buddyprogramm, dass man da immer welche zusammenbringt, die Studienerfahrung haben, möglicherweise auch mit dem gleichen Hintergrund, wir haben da eine Zusammenarbeit mit Arbeiterkind.de ... die da sehr aktiv sind, gerade für Studierende, die die ersten Studierenden in ihrer Familie sind. Ein Buddyprogramm ist, wo man sozusagen einen Partner hat, ... der führt den ein, damit ein Studierender ja nicht so völlig fremd an der Hochschule ist, sondern er hat schon einen, den er kennt und einen, den er auch fragen kann. Und dass man so was Ähnliches eben auch für, familiär gesehen, Neulinge an der Hochschule aufbaut. Sprecherin Mit ihrem Weiterbildungskonzept gehört die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg zu den 26 Preisträgern im Bundeswettbewerb "Aufstieg durch Bildung - Offene Hochschulen." Für den Wettbewerb stellt der Bund bis zum Jahr 2020 insgesamt 250 Millionen Euro zur Verfügung. Die Mittel dienen Projekten, die sich besonders gut für lebenslanges Lernen, flexibles Studieren und neue Wege an die Hochschule eignen. Damit will auch der Staat Menschen ohne Abitur den Zugang zum Studium erleichtern, nicht zuletzt um den eklatanten Fachkräftemangel zu beheben. Die Hochschule Aschaffenburg ist eine weitere Preisträgerin des bundesweiten Wettbewerbs, der mit der Auftaktveranstaltung Ende 2011 in die erste Runde ging. O-Ton: Eva-Maria Beck-Meuth Und wir haben tatsächlich auch schon an unserer Hochschule Studierende, die ohne Hochschulzugangsberechtigung, also Facharbeiter, Gesellen, Meister, Techniker bei uns an der Hochschule tätig sind. Sprecherin Es sind vor allem Berufe aus dem Elektro- und Metallbereich, aus denen ihre Studierenden kommen, sagt Eva-Maria Beck-Meuth, Professorin an der Hochschule Aschaffenburg. O-Ton: Eva-Maria Beck-Meuth Ich habe den Eindruck, das Hauptmotiv für die jungen Menschen ist tatsächlich zu sehen, ich kann mich noch weiter entwickeln, die merken, es steckt mehr in ihnen als das, was sie jetzt an Aufgaben an ihrem Arbeitsplatz bisher gemacht haben, und sie möchten andere Aufgaben, interessantere Aufgaben und natürlich auch ingenieurmäßig tätig sein, und diese Möglichkeit haben sie dann durch das Studium. Und das ist für sie oftmals auch die Möglichkeit, eine Chance, die sie vorher nicht hatten, nachzuholen ... Noch sind das sehr wenige, aber es werden mehr werden, - Sprecherin Erfolgreich im Wettbewerb "Aufstieg durch Bildung " ist die Hochschule Aschaffenburg wegen ihres Angebots an berufsbegleitenden Studien. Menschen, die in ihrem Lebenslauf bereits fortgeschritten sind, vielleicht schon Verpflichtungen gegenüber Kindern und Familie haben, erhalten hier die Möglichkeit, neben ihrem Beruf ein Fernstudium aufzunehmen. Die Hochschule kommt damit auch dem Sicherheitsbedürfnis von Studierenden entgegen, die vom Elternhaus keine finanzielle Unterstützung erwarten können. O-Ton: Eva-Maria Beck-Meuth Wir haben einen Studiengang konzipiert, der Präsenzphasen hat, circa vier bis fünf Mal im Semester, Freitag und Samstag, und darüber hinaus verschicken wir als Material Lehrbriefe, so dass sich die Personen dann zum Beispiel bei Fahrzeiten in Bus oder Bahn damit beschäftigen können, und wir werden ELearning-Materialien auf einer Lernplattform bereitstellen, also moderne Formen, wie interaktives Lernen gestaltet werden kann und der Kontakt mit den Studierenden und den Dozenten dann gehalten wird. Sprecherin Der Studiengang, so Eva-Maria Beck-Meuth, ist speziell auf die Studierenden zugeschnitten, die zwar kein Abitur, dafür aber vielfältige Berufserfahrungen mitbringen. Die Professoren einer "Offenen Hochschule" müssen also mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen an Wissen und Fähigkeiten bei ihren Studierenden rechnen. Für Rolf Granow, Professor an der Fachhochschule Lübeck, längst eine Selbstverständlichkeit. Schon seit 2001 bietet seine Hochschule berufsbegleitende Online-Studiengänge an. O-Ton: Granow Und unsere Erfahrung ist, dass diese Studierendengruppen extrem heterogen zusammengesetzt sind, es finden sich dort Leute, die keinen formalen Hochschulzugang haben, es finden sich dort Leute mit ganz üblichem Hochschulzugang und beruflicher Ausbildung, beruflicher Praxis ... Interessant bei der Motivationslage war, erstens die Masse dieser Menschen ist in ihrem jetzigen Beruf durchaus zufrieden, ... und sie möchten jetzt dieses Studium tun, um sich für weitere interessante Aufgabenstellungen zu qualifizieren ... Das heißt, dieses sind hochmotivierte Menschen, die Spaß an ihren Berufen haben, und denken, dass sie aber in ihrem Leben noch mehr erreichen können. Sprecherin Da ist es sinnvoll, die verschiedenen Kenntnisse zu nutzen, um "im gemeinsamen Lernen Mehrwert zu schaffen", wie Rolf Granow sagt. Die Frage sei also nicht, wie kann ich die unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen angleichen, - O-Ton: Granow - sondern wie kann ich denn Szenarien ausdenken, wo die Studierenden tatsächlich ihre berufliche und ihre Lebenserfahrung aktiv einbringen können, auch miteinander einbringen können, dass sie nicht nur miteinander lernen, sondern auch voneinander lernen. Und aus dieser Überlagerung von Erfahrungen gibt es durchaus Potentiale, bessere Lernergebnisse zu erreichen als wenn ich in sehr homogenen Gruppen arbeite, wo eigentlich alle dieselben Ausgangsbedingungen haben. Sprecherin Auffallend ist das vor allem bei internationalen Online-Kursen, in denen Menschen aus sehr unterschiedlichen Lernkulturen zusammen arbeiten. O-Ton: Granow Ein Beispiel: Wir haben im Weiterbildungsbereich einen internationalen Kurs im Bereich der Ernährungswirtschaft, wo es um Innovationen in der Ernährungswirtschaft geht, die wir mit Teilnehmern aus sechs, acht verschiedenen Ländern aus dem gesamten Ostseeraum fahren. Und diese unterschiedlichen Herangehensweisen - die Deutschen wissen am Anfang immer nicht, ob sie jetzt Betriebsgeheimnisse verraten, wenn sie in sowas gehen, die Skandinavier gehen ganz unbefangen darein, die polnischen Teilnehmer müssen eigentlich bei jedem erst mal ihren Chef fragen ... Die einen sind stringenter und gehen mehr linear vor, die anderen sind vielleicht etwas kreativer, aber auch nicht ganz so zielorientiert, das gelingt hier sehr wohl so auszugleichen, dass alle etwas davon haben. Sprecherin Wobei auch die Studierenden bisweilen Skepsis angesichts der unterschiedlichen Herangehensweise äußern. Sobald sie sich aber an die Heterogenität gewöhnt haben, sagt Granow - O-Ton: Granow und dann anfangen, rational darüber nachzudenken, wie gehe ich denn jetzt am geschicktesten damit um, dann sieht man auch, dass sie selber darüber erstaunt sind, das, was rauskommt, ist jetzt anders als sie allesamt erwartet haben, aber eigentlich ist das nicht schlecht. Das, was daraus kommt, ist in Ordnung, das ist gut. Sprecherin Das Ergebnis ist sogar besser, so Granow, als es homogene Gruppen zustande bringen würden. Für viele Professoren bedeutet der Umgang mit heterogenen Gruppen allerdings ein radikales Umdenken. O-Ton: Granow Das ist ein dramatisches Umdenken. Die gängige Vorstellung ist ja immer die, eigentlich brauche ich Menschen, die möglichst mit gleichen Ausgangsbedingungen etwas lernen, um möglichst schnell hin zu kommen, deshalb besteht ja unser ganzes Bemühen auch darin, unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen zu homogenisieren und zu nivellieren. Sprecherin Die traditionelle Hochschulzulassungsberechtigung ausschließlich über das Abitur zeugt bis heute von diesem überholten Denken. Der Vielfalt eine Chance zu geben, ist dagegen noch immer sehr ungewöhnlich. O-Ton: Granow Ich denke aber, es ist adäquat, man kommt Menschen mehr entgegen. Und wenn ich weiß, dass es grundsätzlich funktioniert, dann muss ich auch intensiver hingucken und jetzt wirklich vom Denken her anders an die Lernszenarien herangehen und wirklich überlegen, was ich denn tun kann, um diese positive Verstärkung zu bekommen. Und dann ist Heterogenität wirklich ein Vorteil. Sprecherin Trotz solcher Erfolge sind die deutschen Hochschulen nach wie vor exklusive und elitäre Zirkel, wie jüngste Studien zeigen. Für Tina Weber keine Überraschung. O-Ton: Weber Und natürlich sucht sich der Professor, das kommt dann noch hinzu, diese Homophilie an den deutschen Universitäten, möchte der HiWis einstellen oder studentische Hilfskräfte, dann sucht er natürlich jemanden, der ihn wiederspiegelt oder der sie wiederspiegelt, ja, der mit dem gleichen Habitus auftritt, so. Komme ich als Arbeiterkind, was spiegele ich denn da?! Nichts! Gar Nichts. Da gibt es große Barrieren. Sprecherin Und die sind dauerhaft nur abzubauen, wenn mehr Menschen aus ganz unterschiedlichen Kreisen von den vielfältigen Studienmöglichkeiten Gebrauch machen. O-Ton: Granow Sehr viele Menschen wissen gar nicht, dass man auch ohne Abitur ziemlich freizügig studieren kann. Wenn man eine Facharbeiterbildung hatte ohnehin; auch selbst wenn man die nicht hat, kann man eigentlich in ganz Deutschland an eine Hochschule kommen, die Hürden sind inzwischen relativ gering, ich glaube aber nicht, dass den meisten Menschen dieses bewusst ist, dass es geht. Sprecherin Nicht dass ihre ehemaligen Klassenkameraden ohne Abitur und Studium beruflich gescheitert wären, ganz im Gegenteil, sagt Tina Weber. Trotzdem bedauert die Soziologin, die heute an der Technischen Universität Berlin forscht: O-Ton: Weber Natürlich haben die alle jetzt einen vernünftigen Job, also als Krankenschwester oder jemand arbeitet bei der Bahn, also die haben's geschafft, aber die hätten wesentlich weiter hinausgehen können, die hatten teilweise bessere Noten als ich hatte ... Ich glaube, die sind zufrieden mit dem, was sie können, weil sie sich das selber auch nicht zutrauen. Ich denke auch manchmal, ich bin hier falsch, ich trau mir das nicht zu. Aber tatsächlich kann ich's. Sprecherin Auch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen: Ein Studium ist durchaus ohne traditionelle Hochschulzugangsberechtigung zu bewältigen, sagt Andrä Wolter von der Berliner Humboldt Universität. Schon Ende der 1970er Jahre, damals war der Erziehungswissenschaftler noch an der Universität Oldenburg, hat er mit einem Team entsprechende Forschungen an niedersächsischen Hochschulen durchgeführt. Es galt damals, fest sitzende Zweifel auszuräumen. O-Ton: Wolter immer wenn es um das Thema 'Offene Hochschule' geht, kommt eigentlich sofort das Argument, diese Zielgruppe , insbesondere eben Studenten aus dem Beruf und auch solche, die keine herkömmliche schulische Studienberechtigung haben, sind eigentlich nicht hinreichend studierfähig. Und deshalb interessierte es uns damals, das einmal empirisch zu überprüfen. Sprecherin Der Begriff "Offene Hochschule" hat sich allerdings erst in den letzten Jahren durchgesetzt und bezeichnet ein ganzes Bündel unterschiedlicher Maßnahmen, so der Bildungsforscher. O-Ton: Wolter Wir haben damals begonnen, uns zunächst mal nur um das Element 'Öffnung des Hochschulzugangs' für Berufstätige ohne herkömmliche Studienberechtigung zu beschäftigen ... Es hat damals auch einige sehr vorsichtige Maßnahmen in den deutschen Ländern gegeben, um mehr Berufstätige ohne Abitur für ein Studium zu gewinnen, aber das ebbte dann in den folgenden Jahren wieder etwas ab, und in den letzten Jahren beobachten wir, dass dieses Thema eine Aktualität gewonnen hat, die es zuvor nie gehabt hat, das hat natürlich Gründe. Sprecherin Das sind zum einen die veränderten Arbeitsmarktstrukturen. In Deutschland werden zunehmend hochqualifizierte Arbeitskräfte fehlen, wenn nicht frühzeitig etwas gegen den Mangel getan wird, so die Prognose. O-Ton: Wolter Deutschland ist in einem Strukturwandel wie viele andere Gesellschaften auch, der sich dadurch auszeichnet, dass die Bedeutung hochqualifizierter Arbeit, die also ganz stark intellektuelle, kognitive Kompetenzen impliziert, die auf theoretischem Wissen beruht, dass die Bedeutung hochqualifizierter Arbeit eindeutig zunimmt, die dynamischsten Teile unserer Wirtschaft sind diejenigen die humankapital basiert sind ... Das bedeutet nicht, dass die alten Formen von Arbeit völlig verschwinden, aber es bedeutet, dass sich die Balance, die Proportionen immer deutlicher in Richtung hochqualifizierter Arbeit verschieben. Sprecherin Angesichts der wachsenden Bedeutung beruflicher Bildung ist es plausibel, dass die "offene Hochschule" stark unterstützt wird von Arbeitgebern, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. O-Ton: Wolter Man könnte in gewisser Weise sagen, je näher der Sphäre der beruflichen Arbeit desto eher die Bereitschaft anzuerkennen, dass sich hier einiges verändert hat, und dass damit auch das Verhältnis von beruflicher Bildung und Hochschule ein anderes geworden ist. Aber es gibt natürlich auch große Teile der Öffentlichkeit, die nach wie vor von tiefer Skepsis geprägt sind. Das gilt natürlich insbesondere für die Interessensvertreter des Gymnasiums, und, sagen wir mal so, das, was man bildungssoziologisch jetzt als das klassische deutsche Bildungsbürgertum bezeichnen könnte, da ist nach wie vor eine tiefe Skepsis vorhanden, was die studienqualifizierenden Leistungen beruflicher Bildung betrifft. Sprecherin Demgegenüber müsse man allerdings sagen, so der Bildungsforscher, - O-Ton: Wolter - wir beobachten ja auch schon bei Abiturienten eine zunehmend größere Differenzierung zwischen solchen Abiturienten, die ein hohes Maß an Studierfähigkeit zeigen, und solchen Abiturienten, die eine eher unterentwickelte Studierfähigkeit zeigen. Sprecherin Studierfähigkeit, meint Wolter, werde immer mehr zu einer Frage der individuellen Motivationen, der jeweiligen Kompetenzen und beruflichen Fachrichtungen. O-Ton: Wolter Und da wird das Bild sowohl bei den Abiturienten wie auch bei den Berufstätigen, die kein Abitur haben, deutlich vielfältiger und heterogener. Sprecherin Offenbar hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte verschoben, was wir mit dem Begriff "Studierfähigkeit" meinen. In der deutschen Bildungstradition gibt es eine Linie, die darunter Inhalte versteht, wie sie etwa durch die gymnasiale Bildung vermittelt werden. Daneben besteht eine zweite Linie, die Studierfähigkeit mehr über Kompetenzen definiert. O-Ton: Wolter Diese Linie lässt sich übrigens auch auf die deutsche Bildungsgeschichte zurückführen, weil schon Humboldt von den Kräften der Persönlichkeit gesprochen hat und Bildung darüber definiert hat. Es gibt sozusagen eine dritte Linie, die sagt, Studierfähigkeit ist das, was erforderlich ist, um die Voraussetzungen, um die Anforderungen eines Hochschulstudiums zu meistern, die also ganz pragmatisch sagen, Studierfähigkeit zwischen einem Studium der Altägyptologie und Studierfähigkeit für ein Studium Maschinenbau sind zwei völlig unterschiedliche Dinge und hängt ab von den konkreten Studienanforderungen. Und wenn man diese zweite und diese dritte Version von Studierfähigkeit für nicht ganz unsinnig befindet, dann kann natürlich auch ein Berufstätiger, auch nicht automatisch, sondern unter bestimmten Voraussetzungen, bei bestimmten Motivationen und Kompetenzen studierfähig sein. Sprecherin Ein weiteres Argument nennt Sigrun Nickel vom Centrum für Hochschulentwicklung. Stichwort: Bildungsgerechtigkeit. O-Ton: Nickel Also das ist auf jeden Fall ein ganz wichtiger Punkt in dem Zusammenhang, ... und deswegen gibt es ja sowas wie 'Studieren ohne Abitur' auch nicht erst seit die europäischen Bildungsreformen angefangen haben, sondern das gibt es seit Gründung der Bundesrepublik, ... also da hat es schon immer Initiativen gegeben, nur haben die keine besonders große Wirkung entfaltet, das heißt also Breitenwirkung, ... weil das lange Zeit eher ein idealistisches Unterfangen war. Also Länder wie Niedersachsen haben eine sehr starke sozialdemokratische Tradition, und die Gewerkschaften, Sozialdemokraten, sind sehr stark für Bildungsgerechtigkeit immer eingetreten, aus politischen Gründen. Andere Länder, die anders regiert worden sind, haben da nicht mit gezogen. Sprecherin 2009 endlich haben sich die Kultusminister zu dem Beschluss durchgerungen, die Zugangsverfahren der einzelnen Länder anzugleichen. Dennoch weist jedes Land bei näherem Hinsehen seine Spezifika auf, welche nach wie vor zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit sorgen, so die Hochschulforscherin. Allerdings gibt es auch Erfolge zu verzeichnen: In einigen Bundesländern - etwa Hessen - haben die erleichterten Zugangsbedingungen zu einem enormen Zuwachs an Studierenden geführt. In Niedersachsen, das sich der Idee "Offene Hochschule" schon früh zuwandte, bleibt der Anteil der nicht traditionell Studierenden relativ stabil. Dafür kann das Land mit einer besonders hohen Zahl an bestandenen Prüfungen punkten, sagt Nickel. O-Ton: Nickel Das heißt, die haben offensichtlich über die Jahrzehnte sehr viel Erfahrung auch gesammelt in den Hochschulen im Umgang und den speziellen Bedürfnissen auch dieser Klientel und sind möglichweise dann besser in der Lage die auch zum Studienerfolg zu führen, als es Hochschulen anderer Bundesländer tun, die da noch nicht so viel Erfahrung haben. Sprecherin Das Logo der "Offenen Hochschulen" Niedersachsen zeigt eine Treppe mit drei Stufen. Sie stehen für drei Akteure, sagt Sabine Remdisch, Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. O-Ton: Remdisch Das kann ja nicht alleine nur von der Hochschule alleine umgesetzt werden, klar sind die Hochschulen ein Akteur, ein zentraler Akteur, aber nebendran haben wir noch den Akteur aus der Wirtschaft, die Unternehmen, die uns den Bildungsbedarf ja auch signalisieren, und der dritte Akteur ist der Bereich der Erwachsenenbildung. Sprecherin Die Kooperation der drei Akteure soll berufliche Bildung und Hochschulbildung stärker miteinander verknüpfen. Damit in Zusammenhang steht das Konzept des Lifelong Learning. O-Ton: Remdisch Also lebenslanges Lernen hat ja die Idee zu sagen, es ist wichtig, lebenslang sich weiter zu entwickeln, zu lernen, aber letztendlich spielt es nicht so eine große Rolle, wo man lernt, wichtig ist, dass man lernt und was man lernt, aber wo ich das lerne, das ist eher untergeordnet. Sprecherin Lebenslanges Lernen stellt sich Sabine Remdisch als ein Bildungskonto vor, auf das wir unser ganzes Leben lang einzahlen. Überall, wo wir etwas lernen, erhalten wir "kleine Bildungspunkte", die wir dann auf das Konto einzahlen können. O-Ton: Remdisch Und die Idee ist eben, nicht das so zu separieren, das habe ich in der Schule gelernt, das habe ich im Beruf gelernt, das habe ich im Hochschulstudium gelernt, und dann habe ich vielleicht auch informell noch Sachen gelernt, das man also diese verschiedenen Systeme stärker miteinander verbindet und sagt, überall kann man lernen, das zahlt alles in ein Bildungskonto ein, das sind auch Währungen, die Leistungspunkte, die Lernpunkte, die ich erwerbe, das ist eine Währung, die auch miteinander kompatibel ist, also sprich, das sich das, was ich informell lerne, das, was ich im Beruf erlerne, das ich das mitbringen kann, quasi als Bildungspunkte und es einbringen kann in mein Hochschulstudium, dass mir das Hochschulstudium das auch anrechnet. Sprecherin Ein Beispiel: der Meister. In ihren Tätigkeitsanalysen hat die Wirtschaftspsychologin herausgefunden: Der Meister gilt als beruflich äußerst qualifiziert und wird in Unternehmen hoch anerkannt. In der Automobilindustrie etwa trägt er mit dreißig, vierzig Mitarbeitern eine große Verantwortung und genießt besonderes Ansehen. O-Ton: Remdisch Dort jetzt zu gucken, was hat der Meister da auch an beruflicher Kompetenz erworben, also was konkret bringt der mit in ein Studium, das sind sicherlich viele Themen aus dem Softskillbereich, also Führungserfahrung, Kooperation, Kommunikation, ... und auf der andern Seite auch dieses fachliche Know how, was in Problemlöseprozessen benutzt wird, also wo ich sage, ich habe Probleme strukturiert, ich habe das Thema Projektmanagement schon gemacht, ich habe große Projekte auch geleitet und zum Ergebnis geführt, also das wären jetzt so Beispiele, wo auch die Meister selbst berichten ..., dass sie da sich auch sicher fühlen, das gerne mitbringen möchten. Sprecherin Auch für viele Professoren ein Lernprozess, meint Sven Weilacher. Denn nach wie vor gilt das alte Rollenverständnis vom Lehrenden, der alles besser weiß als seine Studenten, so der Bauingenieur. O-Ton: Weilacher/Remdisch Weilacher: Die ohne Hochschulzugangsberechtigung studieren möchten, ... sind halt die Praktiker, und im Gegensatz dazu sind halt die Professoren die Theoretiker, und da haben wir auch schon eine gewisse Reibungsfläche. Also was meines Erachtens schon mal ein Ansatz wäre, wenn die Professoren sich auch mal von den Studierenden was sagen lassen, wenn beispielsweise irgendwo in einem Lehrtext steht, nach Theorie müsste so und so, aber ein Praktiker sagt, das kriegt ihr niemals so hin, dass man das halt einfach mal akzeptiert und überdenkt und eventuell auch in die allgemeine Lehrmeinung da mal ein fließen lässt. Remdisch: Ich glaube, man muss das schon auch mögen, dieses Aufgreifen von Praxisfällen und dieses auch Auseinandersetzen mit Führungskräften, die natürlich andere Fragen stellen, manchmal auch kritischere Fragen stellen, und auch sagen, ich sitze hier jetzt drei Stunden und das muss sich für mich lohnen, ... und das kann schon das eine oder andere Mal aufwendiger sein, in der Vorbereitung, ... und man sich da fallspezifisch auch einstellen muss. Der eine kommt aus der Automobilindustrie und bringt seine Fälle mit, der andere ist in einem Dienstleistungsunternehmen und bringt seine Fälle mit, da muss man sich schon entsprechend drauf vorbereiten. Sprecherin Andererseits benennen die Meister selbstkritisch auch ihre Schwachstellen, etwa in den Bereichen von Mathematik, Statistik oder Textverständnis, in denen sie einiges dazu lernen möchten. O-Ton: Remdisch Also Meister, die sagen ja, wir haben jetzt nicht mehr so viel gelesen in den letzten fünf Jahren, und da einen langen Text strukturiert durch zu arbeiten, sich auch Notizen zu machen, das Wesentliche da heraus zu schreiben, das sind Kompetenzen, die fehlen. Sprecherin Diese Kompetenzen zu erarbeiten ist eine der großen Aufgaben vor denen die "offene Hochschule" steht. Dass sich die Mühe lohnt bestätigen die Erfahrungen, die man in anderen europäischen Ländern mit der Öffnungen der Universitäten gemacht hat und das sagen auch diejenigen, die sich ohne die neuen Förderprogramme durchgekämpft haben. O-Ton: Weber Ich sitze hier in der Uni in einem Büro, und es ist merkwürdig, weil: ich hab' mich hier nie gesehen. Ich berate Studierende, ich führe Seminare durch, ich kriege jetzt Stipendien nach Stipendium, also es ist - auf einmal fällt es so auf mich herab, es ist so - so einfach. SPRECHER v. Dienst Von der Werkbank an die Uni Die "Offene Hochschule" sorgt für einen Wandel in der Lernkultur Eine Sendung von Hannegret Biesenbaum Es sprach: Marina Behnke Ton: Christiane Neumann Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Martin Hartwig Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Anregungen, Lob und Kritik bitte an: zeitfragen@dradio.de 1