DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Dossier Weder Huren noch Unterworfene. Feministinnen in der arabischen Welt Ein Feature von Kersten Knipp Sprecher/innen: Hartmut Stanke, Volker Niederfahrenhorst; Jürg Löw Susanne Barth, Renate Fuhrmann, Marianne Rogée, Marietta Bürger Ton und Technik: Ernst Hartmann und Anna Dhein Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Ulrike Bajohr URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 6. März 2009 MUSIK : Djumel, "Adjami" A/18 ZUSPIEL 2 ÜBERSETZERIN (Aisha ) Ich beobachte mit einigem Unbehagen, dass der Westen sich dazu bekennt, fremde Kulturen und deren Traditionen zu achten und zu bewahren. Aber von welchen Kulturen ist hier denn die Rede? ZITATOR 1 Das menschliche und tierische Gesetz verlangt, dass das Niedere dem Höheren geopfert wird: das Insekt dem Vogel, der Vogel der menschlichen Rasse und der Unvollkommene dem Vollkommenen. Pellissier de Reynaud, Politiker und Diplomat, 1836 B/16 ZUSPIEL 1 ÜBERSETZERIN (Atrash) Wie kann ich eine Frau ermutigen, ihre Rechte und ihre Freiheiten einzufordern, wenn sie am nächsten tag einem Ehrenmord zum Opfer fällt. ZITATOR 1 Man sollte den Muslimen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie allzu wichtig seien - und auch nicht, dass sie uns gleich wären. Alexis de Tocqueville, 1841. C/ 20 ZUSPIEL 15" 4 ÜBERSETZERIN (Malika 4) Man sollte den Islam nicht weiterhin mit dem Terrorismus verwechseln, ihn nicht für das demokratische Defizit verantwortlich machen, ihn auch nicht für alle Übel verantwortlich machen, die den Frauen widerfahren. ZITATOR 1 Das einzige Mittel, sie zu schlagen, besteht darin, sie an empfindlichen Stellen anzugreifen: zu allererst ihre Frauen. General Thomas Robert Bugeaud, Gouverneur von Algerien, 1840 Ansage: Weder Huren noch Unterworfene. Feministinnen in der arabischen Welt Ein Feature von Kersten Knipp MUSIK : "Marche Impériale" SPRECHER 1830 marschieren die Franzosen in Algerien ein. Die Algerier leisten Widerstand, nicht ohne Erfolg. Ihr Führer Abd el-Kader bringt den Franzosen herbe Niederlagen bei, die die Eindringlinge mit immer härterer Kriegsführung beantworten. 1847 hat sich das französische Kolonialreich endgültig etabliert. ZITATOR 2: Der Jemen 1839. ZITATOR 1: Tunesien 1881. ZITATOR 2: Ägypten 1882. ZITATOR 1: Der Sudan 1898. ZITATOR 2: Kuwait 1899. ZITATOR 1: Marokko 1911. ZITATOR 2 : Der Irak 1920. SPRECHER Algerien bildete nur den Anfang jenes gewaltigen kolonialen Abenteuers, zu dem die westlichen Mächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, im 19. Jahrhundert ansetzten. Der 1920 in Tunesien geborene Autor und Soziologe Albert Memmi hat Mitte des 20. Jahrhunderts ein Buch geschrieben, das zum zentralen Werk der zu jener Zeit sich bildenden Widerstandsbewegung wurde. "Le portrait du colonisé" heißt es, "Porträt des Kolonisierten".. ZITATOR 2: Der Kolonisierte fühlt sich weder verantwortlich, noch schuldig, noch ist er in irgendeiner Hinsicht skeptisch - er ist ganz einfach raus aus dem Spiel. Er glaubt, am Lauf der geschichtlichen Entwicklung nicht mehr beteiligt zu sein, und er erhebt auch keinen Anspruch mehr darauf. Solange die Kolonisation dauert, vergisst er jeden Gedanken an seine Freiheit. SPRECHER Erst um 1950, nachdem die Europäer sich vom Faschismus befreit hatten, entsannen sich auch die Algerier ihrer Freiheit und lehnten sich gegen die Eroberer auf. In jener Zeit hatte Memmi bereits grundlegende Erfahrungen mit der psychologischen Macht der Europäer gesammelt. 01 ZUSPIEL J´ étais tunesien de nationalité. Et je n´avais pas de poste toute de suite. Parce que j´étais tunisien. ÜBERSETZER /Zitator 2: Ich war tunesischer Staatsbürger. Aber ich bekam keine Arbeit, zumindest nicht sofort. Und zwar nur darum, weil ich Tunesier war. Das konnte ich kaum hinnehmen, zumal meine Frau, eine Französin, sofort eine Arbeit erhielt. Mir wurde klar, dass zwischen Kolonialismus, Fremdenfeindschaft und Rassismus ein enger Zusammenhang besteht. Denn wenn man jemanden beherrscht, muss man das rechtfertigen. Wie tut man das? Indem man die Werte des Unterworfenen klein redet und die eigenen Verdienste als umso größer darstellt. Genau das passiert im Kolonialismus. Der Kolonisierte wird immer wieder herabgesetzt und der Kolonist ebenso regelmäßig aufgewertet. MUSIK 3: Dhafer Youssef, "Suraj" SPRECHER Indem sich die Europäer die arabische Welt unterwarfen, erschütterten sie die dortigen traditionellen patriarchalischen Verhältnisse. Viele Männer sahen ihren Stolz verloren. So suchten sie nach einer Ableitung für ihre Frustration - und fanden sie genau da, wo so viele Verletzte dieser Welt sie suchen: in der Religion. In der Religion - und bei den Frauen. Die Religion und die Frauen, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, Herausgeberin eines Bandes zum Verhältnis der Geschlechter in der arabischen Welt, helfen vielen Arabern, die Erfahrung persönlicher Entwertung auf perverse Weise zu verarbeiten. 02 ZUSPIEL Ich erkläre das jetzt mal ein bisschen psychoanalytisch - in der Folge der Kolonialisierung hilft das auch in der Ablösung vom ehemaligen Kolonisator dem Ego des Mannes, des gekränkten arabischen Mannes sozusagen, eine Figur, einen Menschen, eine Person zu finden, die er dominiert, das heißt, eine Ich-Stärke zu gewinnen über die Dominanz, über das Dominanzgefühl. SPRECHER Religion und Rolle der Frau: Beide Phänomene sind eng mit einander verflochten, bestätigt die in Tunesien geborene Historikerin Sophie Bessis. Längst hat sie ihr Geburtsland verlassen und lebt in Paris. Die mit westlicher Eleganz gekleidete Frau hat in mehreren Büchern gegen den Vormachtanspruch der westlichen Welt angeschrieben. Sie hat aber auch die starren Strukturen in der arabischen Welt kritisiert. Dass der Islam in vielen Ländern so wichtig ist, sollte niemanden erstaunen, meint Bessis. Denn für viele Menschen ist er das Einzige, was ihnen noch bleibt. Und im Islam wieder spielen die Frauen eine große Rolle. Die wogenden Stoffmassen, die sie auf der Straße umfliegen und zugleich verhüllen - sie sind das deutlichste Zeichen dafür, dass die Religion ihre Macht noch nicht verloren hat. Die Symbolik des Schleiers ist für Bessis darum denkbar einfach: Identität bedeutet Religion. Und Religion bedeutet verschleierte Frauen. 03 ZUSPIEL Les femmes sont considerées come les gardiennes des traditions ... 1 ÜBERSETZERIN (Bessis 1) Die Frauen gelten als Hüterinnen der Tradition und der Identität. Darum betrachten viele Männer die Kontrolle der Frauen - die Kontrolle ihrer Freiheit, ihres Körpers - als zentrales Identitätsmerkmal der arabischen Welt. Diese Haltung hat es natürlich auch in den reaktionären Bewegungen des Westens gegeben, insofern bildet die arabische Welt da keine Ausnahme. Aber warum konzentriert man sich so auf die Frauen? Warum achtet man so auf das, was sie tun? Die Antwort ist einfach: Wenn man die Gleichheit der Geschlechter erreicht, dann stehen alle patriarchalischen Strukturen in Frage. ... qui met en dangers les fonctions des sociétés patriarchales en realité. SPRECHER Und das ist gefährlich. Darum gilt es, den Frauen von Anfang an zu zeigen, was sie zu tun und was besser zu lassen haben. Und der Zweck, finden einige, heilige in diesem Fall die Mittel. Gewalt gegen Frauen muss sein. ZITATOR 2 Gewalt gegen Frauen muss sein Diese Überschrift mag merkwürdig klingen. Doch ich will mit ihr nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesers wecken. Vielmehr meine ich das, was sie besagt, ganz aufrichtig. In diesem Text möchte ich jene Situationen beleuchten, in denen Gewalt gegen Frauen unabdingbar ist. Sprecher Maged Thabi Al Khulidi ZITATOR 2 Gelegentlich - wenn nicht täglich - hören wir in den islamischen und arabischen Gesellschaften von Gewalt gegen Frauen. Einige Menschenrechtsorganisationen haben dies in letzter Zeit entschlossen kritisiert und sich gegen jede Form von Gewalt ausgesprochen - sogar gegen die zwischen Vater und Tochter. In einem Fall wird von einer Frau berichtet, die behauptete, ihr Mann habe sie geschlagen. Ohne sich darum zu kümmern, warum ihr Mann das getan hat, drängten Menschenrechtsorganisationen die Frau dazu, bei der Polizei und bei Gericht Klage zu erheben. SPRECHER Al Khulidi in der Zeitung Yemen Times ZITATOR 2 Väter sollten ihre Töchter auf jede Weise behandeln, die deren Fehlern entspricht. Aber sollen Frauen darum bei der Polizei Klage gegen ihre Väter oder Brüder erheben? Es ist bestürzend, so etwas zu hören. In gewissen Fällen ist Gewalt notwendig, aber es muss Grenzen geben. Die so genannten "Menschenrechtsorganisationen" sehen ihr Ziel darin, der Gesellschaft zu dienen. Wird eine Gesellschaft aber besser, wenn Frauen, Mütter, Schwestern und Töchter von einer Polizeistation und einem Gericht zum nächsten gehen, um gegen ihre Ehemänner, Väter, Brüder und sogar Söhne zu klagen? SPRECHER Maged Thabi Al Khulidi, in der Zeitung Yemen Times, Januar 2008 ZITATOR 2 Verehrte Leser - und hier vor allem die Frauen -, denken Sie nicht, dass ich Frauen hasse oder gegen sie bin. Eher geht es mir darum, die moralischen Grundsätze und Prinzipien zu bewahren, mit denen der Islam uns beehrt hat. (Musik) SPRECHER Gewalt und Religion sind oft eng miteinander verflochten. Aber nicht, weil der Islam per se eine besonders Gewalt verherrlichende Religion wäre. Sondern weil viele Menschen ihn als letzte Bastion arabischer Identität empfinden, als letzten intakten Rest einer Kultur, die beim Zusammenprall mit der westlichen Kultur großen Schaden genommen hat. Doch nicht nur in den arabischen Ländern suchen die Menschen Zuflucht bei der Religion. Auch viele muslimische Migranten in Europa kleiden ihre Probleme in eine religiöse Sprache. ATMO 1: "Ni putes ni soumises", Konferenz SPRECHER Fadela Amara, heute Staatssekretärin für Stadtpolitik in der Regierung Sarkozy, wurde 1964 als Tochter algerischer Migranten in Clermond-Ferrand geboren. Vor einigen Jahren gründete sie die Frauenrechtsbewegung "Ni Putes ni Soumises", - "Weder Huren noch Unterworfene". Auf vielen Protestmärschen, Konferenzen und zuletzt in ihrem gleichnamigen Buch hat sie ein Thema aufgegriffen, das man in Frankreich lange Zeit nicht wahrhaben wollte: die gegen Frauen gerichtete Gewalt in den Cités, den Wohnsilos der französischen Vorstädte. Sie selbst, schreibt die ebenfalls in einer Cité aufgewachsene Amara, habe diese Gewalt nicht erleiden müssen. Die Brutalität habe sich erst später, um das Jahr 1990 durchgesetzt. Damals hätten die Unternehmen erstmals Massenentlassungen im großen Stil durchgezogen, und als erste hätte es die Einwanderer getroffen. ZITATORIN / 2 Übersetzerin (Amara 2) Die Arbeitslosigkeit hat den Vätern alle Autorität genommen. Sie ging auf den jeweils ältesten Sohn über. Heute ist der Vater der große Abwesende. Man redet viel über die Rolle der Mütter und der Söhne, aber kaum über die des Vaters. Dessen Funktionen hat der älteste Sohn übernommen, die schützenden ebenso wie die strafenden. Er bestimmt nun, was in der Familie geschieht. Während die Mutter sich weiterhin um die Erziehung der jüngeren Söhne kümmert, übernimmt der Erstgeborene die Erziehung der Schwestern. Er weist sie in die Familienwerte ein. Und er überwacht sie außerhalb der Wohnung, kontrolliert, ob sie sich diesen Werten entsprechend verhalten. MUSIK 4: Dhafer Youssef, "Electric Sufi" SPRECHER Doch auch die Söhne, schreibt Amara, seien nicht in der Lage, die Familie zu ernähren. Ihrem Machtanspruch fehle dadurch jede nachvollziehbare Grundlage. ZITATORIN/ 2 Übersetzerin (Amara) Die jungen Männer leben in einer echten Schizophrenie: Könige im Schoß ihrer Familie, sehen sie sich außerhalb ignoriert und missachtet. Die fehlende Anerkennung von außen erzeugt eine ungeheure Wut. Unfähig, die Missachtung zu überwinden, wenden sich diese jungen Männer nicht gegen die Gesellschaft und die Symbole der Republik, sondern gegen ihre Schwestern sowie überhaupt alle jungen Frauen. Sie konzentrieren ihre Kraft auf den beschränkten Raum der Cités - den einzigen, den sie zu beherrschen glauben. SPRECHER Dort, in der kleinen Welt der Wohnblocks, herrschen die jungen Männer mit harter Hand. In der Familie lassen sie nichts durchgehen, was sie nicht für gut und richtig halten. Frauen, die kein Kopftuch tragen, bezeichnen sie als "Putes", Huren. Argumente, schreibt Amara, seien ohnehin nicht ihre Stärke. Und ihre Schwestern, die Opfer ihrer Tyrannei, wollen nur weg aus den Vorstädten - ohne die Garantie zu haben, in der offenen Gesellschaft unbeschadet anzukommen. ZITATORIN/2 Übersetzerin (Amara) Die jungen Frauen erfahren keine Ausbildung, die es ihnen anschließend erlaubt, zu arbeiten und finanziell unabhängig zu sein. Wenn sie die Cité verlassen, stoßen sie auf alles, was ihnen zu Hause verboten ist: Männer, Kino, Mode, Freiheit. Diese Wirklichkeit schockiert sie, und sie genießen sie ohne jedes Maß. Für einige ist der Zusammenprall zu heftig, sie fallen in die Prostitution oder werden drogenabhängig. So leben die jungen Frauen in zweierlei Welten: einerseits in der der Familie und der Cité, wo sie sich den Rollen fügen müssen, die die Männer ihnen vorschreiben; und andererseits in der Welt außerhalb der Cité, die ihnen als Reich der Freiheit erscheint. Der ständige Wechsel zwischen diesen beiden Welten ist für junge Frauen nur mit sehr großen Schwierigkeiten zu bewerkstelligen. MUSIK 5: Medi Haddhab, "Qad Market" SPRECHER Ni Putes ni Soumises ist eine laizistische Organisation, die sich eng an die Ideale der Republik hält. Von der Religion erwarten ihre in 20 Regionalgruppen in ganz Frankreich organisierten Mitglieder wenig, im Gegenteil: Viel sei schon erreicht, sagen sie, wenn sie die Emanzipation nicht behindert. Das sagt auch die Tunesierin Sophie Bessis.. 04 ZUSPIEL Faut-il se battre à l´interieur du religieux ou à l´extérieur du réligieux? 1 ÜBERSETZERIN (Bessis 1) Soll man innerhalb oder außerhalb des religiösen Rahmens kämpfen? ICH meine, dass sich die Gleichberechtigung der Geschlechter nur innerhalb einer säkularen Ordnung verwirklichen lässt. Darum kämpfen die meisten Frauenbewegungen in der arabischen Welt für Gleichberechtigung und eine säkulare Ordnung zugleich. Natürlich gibt es auch viele religiöse Frauen, die für ihre Rechte im Rahmen der muslimischen Tradition. Auch auf diese Art lässt sich sicher etwas erreichen. Aber ich glaube, dass sich unser Anliegen innerhalb des religiösen Rahmens nur bis zu einem gewissen Maß verwirklichen lässt. Denn kein religiöser Text strebt im Hinblick auf die Geschlechter die Gleichberechtigung an. ... n ést égalitaire sur la question des sexes. SPRECHER Diese Ansicht teilen andere Feministinnen nicht. Amina Wadud etwa. Auch sie tritt für die Rechte muslimischer Frauen ein, allerdings nicht in Frankreich oder der arabischen Welt, sondern in den USA. Sie versteht sich als Wissenschaftlerin und als gläubige Muslima. Die Lesebrille, die sie gelegentlich trägt, suggeriert den Habitus einer Intellektuellen. Durch ihr Kopftuch wiederum bekennt sie sich zu ihrer Religion - zu einer Religion allerdings, die sie für dringend reformbedürftig hält. Eben darum hat sie vor einiger Zeit auch als erste Muslima überhaupt eine Predigt gehalten, was ihr von Seiten konservativer Muslime eine Menge Ärger einbrachte. 05 ZUSPIEL 1`49 I am actually a part of a global reform-movement that is in conversation with muslim women-organisations all over the muslim world. 3 ÜBERSETZERIN /Wadud: Ich gehöre zu einer globalen Reformbewegung, die sich im Dialog mit muslimischen Frauenbewegungen in der gesamten islamischen Welt befindet. Wir sind eine sehr starke Bewegung. Aber wir haben auch mit Problemen zu kämpfen. Die bereiten uns Leute, die behaupten, der Islam sei bereits seit 1400 Jahren eine perfekte Religion. Und um ein guter Muslim oder eine gute Muslima zu sein, müsse man nur nach ihren Regeln leben. Eine solche Auffassung hält mit den schnellen Veränderungen unserer heutigen Welt nicht Schritt. Die Frage ist also, ob man den Islam heute künstlich gegen diese Entwicklungen abschirmt oder ihn so weiterentwickelt, dass er besser zur pluralistischen Welt von heute passt. Der Islam soll seine Identität nicht verlieren. Aber er soll auch keiner fixen historischen Deutung unterliegen. ... in a pluralist context, not loosing it´s integrity but not being static to historical interpretation. --- Zäsur ---- SPRECHER Aus dem Arab Human Develpoment Report der Vereinten Nationen, 2005. ZITATOR 1 Die Rechtsgelehrten betrachteten die kanonischen Vorschriften immer bewusst von der Warte der althergebrachten Gebräuche. Denn sie glaubten, andere Lesarten würden den Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung gefährden. In rechtswissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit der Rolle der Frau beschäftigen, ist die Vorrangstellung des Mannes stets präsent und stellt die bevorzugte Interpretation dar. Dadurch, dass der Koran einseitig zugunsten der Männer ausgelegt wurde, verfestigte sich diese Voreingenommenheit im Lauf der Zeit.. ZITATOR 2 Die Diskriminierung von Frauen durch die Justiz äußert sich etwa darin, wie Richter von ihrem Ermessensspielraum mildere oder härtere Urteile zu sprechen, Gebrauch machen. Es gibt durchaus aufgeklärte islamische Rechtsauslegung, die derartige Texte in ihrem Kontext interpretiert. Sie ist geneigt, sich für den Grundsatz der Gleichwertigkeit von Mann und Frau zu verwenden. Dennoch findet die konservative - Denkweise in der Praxis immer noch eher ein offenes Ohr und findet aufgrund ihrer Unterstützung seitens konservativer Kleriker Anklang beim Mann auf der Straße. ZITATOR1 Bedingt durch Krankheiten haben arabische Frauen eine erheblich niedrigere Lebenserwartung als Männer. Dies scheint in keinem direkten Zusammenhang mit dem Lebensstandard oder den Risikofaktoren und Todesfällen während Schwangerschaft oder Entbindung zu stehen. Dies deutet also darauf hin, dass dieser relativ größere Verlust auf die allgemeine Lebensführung zurückzuführen ist, durch die Frauen diskriminiert werden. ------Zäsur------- 06 ZUSPIEL On eine peut pas opérer le changement sans passer par le referent religieux. 4 ÜBERSETZERIN (Malika 4) Man kann keine Veränderungen bewirken, ohne die Religion zu berücksichtigen. Die Bürger des Maghreb etwa leben so sehr im Zeichen des Islams, dass man ihnen nichts vorschlagen kann, was nicht im Einklang mit der Religion steht. Um etwas zu erreichen, muss man darum auf die Religion zurückgreifen. Man kommt ohne sie nicht aus, wenn man ein stärker an der Gleichheit ausgerichtetes Gesellschaftsprojekt verwirklichen will. ... un projet de societé plus égalitaire. ATMO 2: Arabische Stadt SPRECHER Malika Benradi, Juristin aus dem marokkanischen Rabat, spricht das zentrale Problem aller säkular ausgerichteten Feministinnen in der arabischen Welt an. Wo immer sie leben, überall stoßen sie auf ein das gleiche Phänomen: Gesellschaften, die sich im Umbruch befinden, klammern sich an die Restbestände einer alten Tradition - und wollen von neuen, "fremden", "westlichen" Ideen nichts wissen. Aber auch die, die über ihren Glauben nachdenken, sind für Feministinnen meist keine einfachen Gesprächspartner. Aisha al Kabir ist Sozialarbeiterin. Im Sudan setzt sie sich seit Jahren für die Belange der Frauen ein. 07 ZUSPIEL I am doing a lot of training on gender rights and women equality ... 2 ÜBERSETZERIN (Aisha 2) Ich halte viele Vorträge über Gleichberechtigung und Frauenrechte. Und immer wieder werde ich gefragt, was die Religion dazu sagt. Unterstützt sie unser Anliegen oder nicht? Und wenn ich einen Koranvers zitiere, der meine Argumente stützt, findet sich jemand im Saal, der andere Verse zitiert, die sich gegen meine Aussagen richten. Das ist ein Dilemma einer wörtlichen Interpretation des Islam. This is a dilemma of a literary interpretation of islam. SPRECHER Darum sucht Aisha al Kabir ganz gezielt nach Schriftgelehrten, die einerseits offen für ihr Anliegen sind - und die andererseits genügend religiöse Autorität besitzen, um ihr Publikum zu überzeugen. ATMO 5: Imamrufe 08 ZUSPIEL The more I think about it ... 2 ÜBERSETZERIN (Aisha 2) Aus dem Koran lassen sich die unterschiedlichsten Deutungen herauslesen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso entschlossener bin ich, mit Religionsgelehrten zusammenzuarbeiten, die für eine moderne Interpretation des Islams plädieren. SPRECHER Ganz gleich, ob arabische Feministinnen sich auf die Religion berufen oder nicht - vor eine Frage sehen sie sich immer gestellt: Will der, den sie zu überzeugen suchen, seine Meinung überhaupt ändern? Ist er für Argumente empfänglich? Oder geht es ihm tatsächlich nicht um ganz andere Dinge? Aisha als Kabir hat eine ernüchternde Erfahrung gemacht: Die Auseinandersetzung um ausgewogene Rechte für Männer und Frauen läuft nicht entlang der Geschlechtergrenze. Sie verläuft entlang einer ganz anderen Grenze - nämlich der zwischen reichen und armen, mächtigen und ohnmächtigen Frauen. Gewalt gegen Frauen muss sein 09 ZUSPIEL We are now governed by a regime which is so called "islamic? regime but that is holding all the power of economics in the country. 2 ÜBERSETZERIN (Aisha 2) Wir werden von einem so genannten "islamischen" Regime regiert, das aber auch die Macht über die Wirtschaft des Landes hat. Und diejenigen Frauen, die zu dem Regime gehören, erhalten dadurch erhebliche ökonomische Macht. Und diese Macht nutzen sie, um die von den anderen Frauen geforderten Gesetze zur Gleichstellung zu verhindern. So tragen mächtige Frauen dazu bei, andere, meist ärmere Frauen in ihren Forderungen zu schwächen. Wir haben darum nicht nur den klassischen Konflikt zwischen Männern und Frauen, sondern auch den zwischen vermögenden und armen Frauen. And they are using that power to impose laws and regulations against women including the poor women. SPRECHER Die umgekehrte Erfahrung hat Malika Benradi gemacht. Die marokkanische Juristin wirkte zu Beginn des neuen Jahrtausends an der Reform des marokkanischen Familienrechtes mit. Das richtete sich auch gegen die Tradition der Polygamie. Während der Arbeit musste Benradi feststellen, dass ihr Ansinnen bisweilen auch von den Frauen selbst abgelehnt wurde - und zwar von Frauen aus wirtschaftlich schwachen Verhältnisse. Würde die Polygamie endgültig verboten, drohte diesen nämlich ein Leben auf der Straße. Darum ziehen viele Frauen es vor, ihrem Mann nur eine unter mehreren Ehefrauen zu sein. Und doch, hofft Benradi, werden die juristischen Schritte irgendwann Früchte tragen. 10 ZUSPIEL 45 sec. C´est la pratique de ce code... 4 ÜBERSETZERIN (Malika 4) Die praktischen Folgen dieses Gesetzes werden sicher Einfluss auf die Männer, aber auch die Frauen haben. Denn ein Gesetz, das die Gleichberechtigung der Geschlechter vorsieht, wird das Verhalten und die Einstellungen der Betroffenen ändern. Und vor allem fördert es die Gleichheit. Denn ein Mann kann seine Frau nicht mehr verstoßen, er kann sich keine weitere Frau nehmen, ohne gegen das Gesetz zu handeln. So wird das Gesetz zuerst das Verhalten und dann auch die Mentalität der Bürger verändern. ... aux niveau des mentalités. --Zäsur--- ZITATOR 1 Durch das langsame Wirtschaftswachstum ergibt sich ohnehin schon ein geringer Bedarf der Wirtschaft in der Region an weiblichen Arbeitskräften. Darüber hinaus steht die traditionelle Vorstellung, dass der Mann als Ernährer der Familie auftreten soll, der Erwerbstätigkeit von Frauen entgegen und trägt zu einer verstärkten Arbeitslosigkeit von Frauen im Vergleich zu den Männern bei. __Zäsur--- SPRECHER Der Arab Human Development Report 2005 lässt keine Zweifel: Viele Frauen in der arabischen Welt sind von ihren Männern abhängig. Es gibt aber auch Frauen, erläutert die Kulturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, die weder auf den Schutz der Familie noch den des Gesetzes hoffen können. 11 ZUSPIEL 50" Das sind Frauen, die außerhalb der Ehe schwanger werden. Für diese Frauen gibt es überhaupt keine Gesetzgebung. Sie kommen gar nicht vor insofern, weil es Sexualität außerhalb der Ehe aufgrund der Schar´ia gar nicht geben darf. Diese Frauen sind die völligen Outcasts in der marokkanischen Gesellschaft. Ein großes Problem innerhalb der marokkanischen Gesellschaft ist die ungeheure Bigotterie, die Tartufferie, das heißt diese Doppelmoral, die auf der einen Seite darauf besteht, kein außerehelicher Geschlechtsverkehr, keine außerehelich Sexualität und gleichzeitig natürlich Sexualität à gogo praktiziert, und dabei bleiben immer die Frauen auf der Strecke. ---Zäsur--- ZITATOR 1 Die arabische Gesellschaft würdigt den tatsächlichen Beitrag von Frauen zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben und bei der Schaffung von menschlicher Wohlfahrt nicht ausreichend. SPRECHER Arab Human Development Report 2005 ZITATOR 1 Da die meisten Frauen unentgeltlich als mithelfende Familienangehörige tätig sind, wird ihr Beitrag in die offizielle Wirtschaftsstatistik nicht aufgenommen. ---Zäsur--- SPRECHER Vor allem ihre ökonomische Abhängigkeit hindert die meisten Frauen in der arabischen Welt daran, offensiv für ihre Rechte einzutreten. Das gilt letztlich auch für gebildete Frauen wie die Schriftstellerin Leila al Atrash. Sie leitet als zweite Vorsitzende das jordanische PEN-Zentrum. 12 ZUSPIEL Poverty is the enemy of women. 3 ÜBERSETZERIN (Atrash 3) Die Armut ist der Feind der Frauen. Wir bekämpfen sie mit aller Entschiedenheit, denn sie schränkt die Frauen ungeheuer ein. Auch ich selbst konnte aufgrund der ökonomischen Verhältnisse meiner Arbeit als Schriftstellerin lange Zeit nicht nachgehen. Die Frauen leiden unter dieser Situation, und darum versuche ich ihnen zu helfen. Allerdings können wir die Dinge nicht über Nacht ändern. Denn wir müssen im Grunde die sozialen und kulturellen Grundlagen der Gesellschaft ändern. Unser wichtigstes Ziel ist die Redefreiheit. Wir treten dafür ein, dass in Jordanien jeder sagen und glauben kann, was er will. Wenn wir aber etwas schreiben, werden wir regelmäßig beschimpft oder sogar bedroht. Man wirft uns vor, wir seien von der westlichen Zivilisation geprägt, und zwar vor allem darum, wenn wir für die Rechte der Frauen eintreten. Das stellt uns vor erhebliche Probleme. Denn wie kann ich eine Frau ermutigen, ihre Rechte und ihre Freiheit einzufordern, wenn sie am nächsten Tag einem Ehrenmord zum Opfer fällt? Wir müssen die Regeln ändern, die solchen Gewohnheiten zugrunde liegen. ... social way of thinking and also the rules that affected these criminal things. (Musik) SPRECHER Der Kolonialismus hat seinerzeit die arabischen Gesellschaften auf den Kopf gestellt. Davon haben sie sich bis heute nicht restlos erholt. Das liegt auch daran, dass viele Regierungen wenig Interesse daran haben, historische Debatten zuzulassen. Denn die könnten alles in Frage stellen, auch die Privilegien der Herrschenden selber. So erstarren viele Gesellschaften in der arabischen Welt kulturell und politisch. Das nationale Selbstverständnis und dessen Voraussetzungen aufzuarbeiten - das sehen viele arabische Feministinnen darum als ihre Aufgabe an. So etwa die algerische Schriftstellerin Assia Djebar. Ihr gesamtes Werk, meint sie, sei im Grunde eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes - einer Geschichte, die zu großen Teilen in Europa geschrieben wurde. 13 ZUSPIEL C´est vrai que je suis historienne de formation. 1 ÜBERSETZERIN Djebar 1 Ich bin Historikerin. Und ich wäre sehr gerne Geschichtslehrerin. Denn in den drei Jahren, die ich das Fach unterrichtete, hatte ich den Eindruck, dass ich das politische Bewusstsein der Schüler schärfen musste. In jener Zeit wurde mir klar, dass die soeben unabhängig gewordenen Länder auch die mündlichen Quellen ihrer Geschichte kennenlernen müssen. In Frankreich, überhaupt im Westen ist das völlig normal. Wenn aber kolonisierte Länder unabhängig werden, müssen sie sich die Kenntnis ihrer Geschichte erst noch erarbeiten. Denn bislang wurde sie ja verfälscht dargestellt. In der Geschichte geht es darum, Fragen zu stellen und angemessene Antworten zu erhalten. Aus diesem Grund bin ich auch zur Literatur gekommen. ... que je suis revenue à la litterature. SPRECHER Mit ihren Büchern hat es Assja Djebar bis in die Académie Française gebracht; in Deutschland erhielt sie im Jahr 2000 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Maghreb, in ihrer Heimat, kennt sie kaum jemand. Viele Menschen dort meiden den kritischen Blick auf die Geschichte und suchen lieber Zuflucht in der Religion. Denn sie bietet statt Zweifeln Gewissheiten. Und darum, meint Mechthild Gilzmer, haben die mit der Logik des Westens vertrauten Intellektuellen nur geringe Chancen, sich Gehör zu verschaffen. 14 ZUSPIEL Wir haben also einerseits Menschen - Frauen, Männer - die durch die Moderne, durch das von Europa importierte oder auch durch ein Studium in Europa angeeignete Wertesystem oder Denksystem Verhaltensweisen realisiert haben, die man als - ja, einen Teil der Moderne betrachten könnte. Also Gleichberechtigung, im Fall von Assia Djebar die Tatsache, ... dass sie als eines der wenigen Mädchen überhaupt ihrer Generation auf dem Land in die Schule gegangen ist. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in Marokko auf dem Land bis heute die Frauen zu 60 Prozent Analphabetinnen sind. Das heißt, wir haben also mit Assia Djebar eine Frau, die von der Moderne profitiert hat, die aber gleichzeitig negativ betrachtet wird oder die als ein Teil dieser Moderne des Westens, der von der arabischen Welt eben zunehmend als dekadent angesehen und verurteilt wird - und sie steht sozusagen dann auch dafür und wird insofern auch nicht als jemand betrachtet, der Vorreiterin sein kann. SPRECHER Es ist paradox: Eine Frau, die mit ihren Romanen die Geschichte ihres Landes rekonstruiert, wird zu Hause eben darum wenig wahrgenommen, weil sie auf ein fremdes, ein "westliches" Konzept historischer Forschung setzt. 15 ZUSPIEL Donc "L´Amour, la Fantasie".... 1 ÜBERSETZERIN (Djebar 1) Als ich meinen Roman Fantasia schrieb, lebte ich in Algerien. Aber ich beschloss, für die Recherche nach Frankreich zurückzukehren. Monatelang habe ich in der französischen Nationalbibliothek die Archive der damaligen Zeit studiert. Ich las die gesamte Korrespondenz der französischen Offiziere. Ich wollte wissen, wie sie mein Land sahen, wie sie die Menschen, die Kultur, ihre Beziehungen, die soziale Ordnung sahen. Ich blickte also gewissermaßen mit den Augen des Feindes auf mein Land. So habe ich ganz verschiedene Perspektiven eingenommen: mal die der Franzosen, die die Algerier beobachteten, mal die der Algerier, die die Gewalt der Franzosen erlitten. ... la violence. ATMO: De Gaulle über Algerien SPRECHER In der Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit gibt Assja Djebar erstmals Frauen eine Stimme. Bis dahin galten sie - wenn überhaupt - vor allem als Opfer eines "Männerkrieges". Die Franzosen bekämpften die algerischen Krieger, die ihnen in den 1950er, 60er Jahren entschlossenen Widerstand entgegensetzten, an dessen Ende der französische Präsident de Gaulle Algerien in die Freiheit entließ. (Musik) Frauen kamen in diesem Kampf nicht vor, sie kamen in der ganzen Kolonialgeschichte nicht vor. Assia Djebar holt sie mit literarischen Mitteln aus dem Schatten der Geschichte ZITATOR 1 Jedla, die sich den moralischen Normen ihrer Familie verweigert. ZITATOR 2 Aïcha, die der Geschichte ihrer Ahnen nachspürt. ZITATOR 1 Zoulikha, die den Widerstand gegen die französischen Kolonisten organisiert. ZITATOR 2 Hajila, die von zu Hause ausbricht und die "Schwingungen der Freiheit" kostet. 16 ZUSPIEL Voilà donc ce livre a été fait avec uns structure qui est pas si facile que cela. 1 ÜBERSETZERIN Djebar Die Struktur des Buches ist einigermaßen komplex. Es will denen eine Stimme geben, auf die keine Heldenlieder geschrieben wurden, an die keine Monumente erinnern. Die Frauen sind ganz klar die Verlierer der Geschichte. Was sie dachten und empfanden, ist nahezu vergessen. Mit dem Roman wollte ich eine Vorstellung von ihrer Welt, ihrem Leben, ihren Überzeugungen und Idealen geben. Es ging mir darum, die weibliche Geschichte Algeriens zu bewahren. Algerien hat eine große weibliche Kultur, aber es ist noch nicht die, die seinem Bild entspricht. Deswegen hatte ich den Eindruck, die Geschichte müsse aufgeschrieben werden, damit sie erhalten bleibt. ... pour que cela reste. SPRECHER Dieser "weibliche Anteil" könnte den Algeriern zu einem erweiterten Verständnis ihrer Geschichte verhelfen - viele Feministinnen wissen, wie wichtig dieser Prozess ist. Denn das Pochen auf die eigene, einmal festgelegte Identität blockiert den Dialog zwischen den Kulturen eher, als dass es ihn fördert. Darum, meint die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, käme es darauf an, von Identitätsobsessionen Abschied zu nehmen. Dazu gehört erstarrtes religiöses Denken ebenso wie ein allzu einfaches Weltbild, in dem sich die Kolonisten und Kolonisierten von einst immer noch unversöhnlich gegenüberstehen. 17 ZUSPIEL Es gab also nicht nur den "bösen" Kolonisator. Und - da sind wir auch schon wieder beim nächsten Problem, die ganzen Schematisierungen, Feindbilder, Abgrenzungen, die dann ja auch wieder dafür dienen, die eigene Identität ja zu gewinnen. Wobei das auch viel mit Macht, mit Hegemonie, mit Machtstreben und dem Einfluss auch von arabischer Seite, von Saudi Arabien zum Beispiel in Marokko zu tun hat. Das heißt, das ist nicht nur rein identitär, sondern auch ganz konkret ein ökonomischer Prozess, der da abläuft. MUSIK 7: Marcel Khalife, "Taqasim" SPRECHER Die binnenarabischen Verhältnisse vor Augen, können viele arabische Feministinnen auch nichts mit der These vom "Kampf der Kulturen? anfangen, der nach Ansicht einiger Politiker aus westlichen ebenso wie arabischen Ländern zwischen Orient und Okzident gefochten werde. Natürlich gebe es Verhandlungsbedarf, meint etwa die sudanesische Frauenrechtlerin Aisha al Kabir - mehr aber auch nicht. Die arabische und die westliche Welt seien gleichermaßen bewegliche, in Entwicklung befindliche Regionen. Eben darum solle der Westen auch bei der Diskussion um die Menschenrechte keine falschen Rücksichten nehmen. 18 ZUSPIEL I am observing with a lot of worry that the West ist talking about ... 2 ÜBERSETZERIN (Aisha 2) Ich beobachte mit einigem Unbehagen, dass der Westen sich dazu bekennt, fremde Kulturen und deren Traditionen zu achten und zu bewahren. Aber von welchen Kulturen ist hier denn die Rede? Meine Welt ist verschieden von der meiner Mutter und noch mehr von der meiner Großmutter. Wir entwickeln uns, wir verändern uns. Kulturen sind nicht heilig. Und die Logik, der der Westen folgt, untergräbt auch alle Anstrengungen für die Menschenrechte. ... along human rights. SPRECHER Kulturen zu fixieren kann nicht gelingen, denn sie sind keine Phänomene jenseits der Zeit, und es gibt keinen Punkt in der Geschichte, an dem sie "reiner" oder unverfälschter waren als an einem anderen. Das haben die säkularen Feministinnen der arabischen Welt sehr genau erkannt. Und eben darum glauben sie nicht an einen "Kampf der Kulturen". Sophie Bessis verwahrt sich strikt gegen diese Vorstellung. 19 ZUSPIEL Très souvent les discours sur l´identité ... 1 ÜBERSETZERIN (Bessis 1) Das ist natürlich völlig falsch, und führt zu einer Verweigerungshaltung. Gleichzeitig muss man sich aber auch gegen die vorherrschende Kulturindustrie wehren, die darauf abzielt, kulturelle Unterschiede möglichst zu nivellieren. Sich dagegen zu wehren ist aber etwas ganz anderes, als auf einer unveränderlichen Identität zu beharren. Genau das tun aber die Extremisten, die der europäischen Rechten ebenso wie die Fundamentalisten des Südens. Jeder Diskurs, der auf der Unveränderlichkeit der Kulturen beharrt, ist darum äußerst gefährlich. Er gießt Wasser auf die Mühlen derer, die den Zusammenprall der Kulturen predigen. ... de l´eau aux moulins du choc des civilisations. SPRECHER Eben darum, meint die marokkanische Juristin Malika Benradi, solle sich der Westen auch von der Dämonisierung des Islams verabschieden. Natürlich gebe es viele Missstände in der arabischen Welt. Aber mit dem Islam hätten sie nur bedingt zu tun. Viele Probleme, die der Westen vor allem im Zusammenhang mit der Religion wahrnähme, hätten tatsächlich politische Ursachen. Der Islam, sagt sie, sei nur ein Phänomen dieser Welt - wenn auch ein bedeutsames. 20 ZUSPIEL Moi je crois qu´il faut lever l´amalgame ... 4 ÜBERSETZERIN (Malika 4) Man sollte den Islam nicht weiterhin mit dem Terrorismus verwechseln, ihn nicht für das demokratische Defizit verantwortlich machen, ihn auch nicht für alle Übel verantwortlich machen, die den Frauen widerfahren. Der Norden und der Süden müssen sich bemühen, ihre gegenseitige Unkenntnis zu überwinden. Der Norden muss die Probleme des Südens verstehen und der Süden die des Nordens. Die Gesellschaften müssen sich füreinander öffnen, aufeinander zugehen, um dann einander zuzuhören. ... pour etre à l´ecoute les uns les autres. SPRECHER Dazu tragen auch die muslimischen Frauenrechtlerinnen ihren Teil bei. Auch sie halten von gegenseitigen Vorwürfen wenig. Der Islam, meint Amina Wadud, könne nur bestehen, wenn er mit der Zeit geht. 21 ZUSPIEL The idea however to show this movement ... 3 ÜBERSETZERIN (Wadud 3): Wir gründen unsere Bewegung auf eine neue Lesart von traditionellen Lehrmeinungen. Denn die Umstände, denen wir uns angesichts der globalen Technologie heute gegenübersehen, sind ganz und gar neu. Heute haben sehr viele Menschen Zugange zu den neuen Kommunikationstechniken, und natürlich nutzen auch wir sie. Wir sind der Ansicht, dass der Islam sich diesen Gegebenheiten anpassen kann und muss. Es ist ihm keineswegs bestimmt, der Zeit hinterher zu hinken oder sogar abgehängt zu werden. Allerdings stehen wir vor großen inneren und äußeren Herausforderungen. So suchen wir nach Wegen, als Muslim und zugleich in der Moderne zu leben. ... the possibilty of living fully as a muslim and living fully in modernity. Absage: Weder Huren noch Unterworfene. Feministinnen in der arabischen Welt Ein Feature von Kersten Knipp Es sprachen: Susanne Barth, Marietta Bürger, Renate Fuhrmann, Marianne Rogée, Jürg Löw, Volker Niederfahrenhorst und Hartmut Stanke, Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Anna Dhein Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 24 24