COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Zeitreisen 7. November 2012 Vom Tode bedroht Wie jüdische Jugendliche auf einem schlesischen Gut für die Flucht vor dem Holocaust ausgebildet wurden Von Jürgen Kalwa SPRECHER: Es war ein kaltes, aber sonniges Oktoberwochenende, an dem sie noch einmal, ein letztes Mal, zusammenkamen. Der Treffpunkt: ein Hotel im Zentrum von Albany, einer Stadt am Oberlauf des Hudson, im US-Bundesstaat New York. Anders als bei den vielen Begegnungen in den Jahren davor waren diesmal - 2007 - nur noch wenige angereist. Von den rund zwanzig, die noch lebten: drei Männer und eine Frau. Atmo: Klaviermusik (5 Sekunden freigestellt, danach unter dem Sprechertext): Klavierpassage Eva Löw SPRECHER: Eva Loew, eine Arzttochter aus Berlin, die auf ihrem Bauernhof in Connecticut noch immer Klavier spielt. Inzwischen 86 Jahre alt. George Landecker und Ken Herman aus dem Bundesstaat New York und Hans-Georg Hirsch aus Washington. Fast 90 Jahre alt. Um sie herum: eine bunt gemischte Gruppe - Kinder und Freunde, die sich alle schon kannten, von einer der vielen voraufgegangenen Begegnungen. Die Initiative war auch dieses Mal von George Landecker ausgegangen. Einst Landwirt. Nun im Ruhestand und darum bemüht, die Erinnerung an die gemeinsame Zeit wachzuhalten. Und der Nachwelt etwas von dem zu vermitteln, was sie den "Geist von Groß Breesen" nennen. Sie waren junge deutsche Juden gewesen, die vor dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang in Groß Breesen gelebt und gearbeitet hatten, einem Gutshof in der Nähe von Breslau. Sie hatten die Nazi-Verfolgung überlebt, weil sie noch vor dem Krieg auswandern konnten. Versprengt in aller Herren Länder - nach Nord- und Südamerika, nach Europa, Israel, Afrika, Australien. Überlebende des Terrors, die mehr verband, als dass sie Juden waren und in der Fremde ein von Grund auf neues Leben aufbauen mussten. Jahrzehnte lang hatten sie mit Rundbriefen über Länder und Kontinente hinweg Kontakt gehalten. Eva Loew: O-Ton Eva Loew: "Wir haben durch die Rundbriefe den Zusammenhalt - es war nötig, dass man so etwas hatte, ob der nun in England war oder in Kenia war oder in Australien oder in Argentinien, machte keinen Unterschied." SPRECHER: Die Rundbriefe - hekotographiert, mit grafisch gestalteten Titelseiten - zirkulierten regelmäßig. O-Ton Dr. Frank Mecklenburg: "Diese Rundbriefe sind natürlich genial. Weil das ist eben der dokumentierte Gruppenzusammenhang. Vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass diese Leute wirklich über die ganze Welt verstreut waren." SPRECHER: Für den Historiker Dr. Frank Mecklenburg, der das Archiv des Leo-Baeck-Instituts in New York leitet, sind sie die wichtigste Quelle bei der Erforschung dieser außergewöhnlichen Geschichte, die mit einer selbstbewussten und vorausschauenden Reaktion auf die Judenverfolgung der Nationalsozialisten begann. O-Ton Dr. Frank Mecklenburg: "Groß Breesen ist ein sehr beeindruckender Ort, wo all diese verschiedenen Zwangslagen und Hintergrundsituationen zusammenkommen und sehr gut funktionieren. Ein kleines Projekt. Andererseits war es ein sehr wichtiges Projekt. Und aus unserer heutigen Sicht natürlich ein sehr signifikantes Projekt. Weil es wirklich dazu beigetragen hat, dass Leute fit gemacht wurden, um zu überleben und rauszukommen und eben in ihrem Leben weiter erfolgreich sein zu können, was die Groß Breesener ja dann auch bewiesen haben." SPRECHER: Einer wurde Historiker, zwei machten sich als Journalisten einen Namen. Einer ging in die Raketenforschung. Einer machte eine Offizierskarriere in der amerikanischen Armee. Einer errang als Maler einen Ruf in der Kunstszene. Eine Frau wurde Sozialarbeiterin. Einer konvertierte nach dem Krieg zum Protestantismus und wurde Pastor. Die wenigsten wurden Landwirte. Musik unter das Zitat Zitator: "Groß Breesen, im Juli 1936. Nach fast einem halben Jahr der Vorverhandlungen und Vorbereitungen ist Anfang Mai dieses Jahres das Jüdische Auswandererlehrgut eröffnet worden. (...) Wir sind jetzt etwa 9 Wochen in Groß Breesen. Von allen Seiten werden wir angefragt, wie es in Groß Breesen aussieht, wie wir uns fühlen, wie unsere Pläne sind, usw. Wir würden am liebsten alle diese Fragen noch nicht beantworten, ehe wir nicht wenigstens ein halbes Jahr zum Aufbau und ruhiger Entwicklung hatten. Aber es ist wohl nicht möglich, dass wir so lange warten, und wir verstehen gut die vielen Anfragen, die an uns gerichtet werden. Wir haben deshalb einige Briefe zusammengestellt und hoffen, dass sie etwas von dem berichten können, was Groß Breesen ist, und was wir planen. Prof. Dr. Bondy ." SPRECHER: Bei ihrem Treffen in Albany 2007 diskutierte die Gruppe der inzwischen hoch betagten Überlebenden, ob eine öffentliche Ausstellung mit Schwarz-Weiß-Fotos aus den Dreißigerjahren das Groß Breesener Projekt zur Rettung junger Juden vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten dokumentieren sollte. O-Ton-Dialog Landecker/ Herman George Landecker: "Oh, yeah, that's probably grain." O-Ton Ken Herman: "Yeah, that's the way it comes out of the thrashing machine. And then this is a drill. SPRECHER: George Landecker steht vor einem Bild, das eine Gruppe von neun jungen Leuten zeigt, die sich mit Fahrrädern irgendwo in der flachen Wiesenlandschaft von Oberschlesien aufgebaut hatten. O-Ton Dialog O-Ton George Landecker: "We had fun there. Things were not always just work. Like that picture there on that Sunday we went as whole group a bicycle ride into the country." O-Ton unidentifizierbare Stimme: "Who's the girl?" O-Ton George Landecker: "The girl is Lotte Sachs who this weekend has her 90th birthday. She lives in Atlanta, Georgia. There were very few girls there. Übersetzer: "Wir hatten Spaß. Das war nicht immer nur Arbeit. Wie auf diesem Bild, als wir an einem Sonntag einen Ausflug mit den Fahrrädern gemacht haben." "Wer ist das Mädchen?" "Das ist Lotte Sachs. Sie wird heute 90 Jahre alt. Sie lebt in Atlanta. Wir hatten nicht so viele Mädchen." SPRECHER: Jugendlicher Alltag in einer Zeit existenzieller Bedrohung. Einer, der diese Zeit miterlebt hat, war Ernst Cramer. Der Journalist war nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt, hatte im Axel-Springer-Verlag Karriere gemacht und arbeitete bis zu seinem Tod 2010 als Chef der Axel-Springer-Stiftung in Berlin. Cramer, dessen Familie von den Nazis umgebracht wurde, hatte nie viele Worte über die Jahre in Oberschlesien verloren. Auch nicht beim Auschwitz-Gedenktag im Januar 2006, als er die feierliche Ansprache im Reichstag hielt und Bundestagspräsident Norbert Lammert in der Einführung nur auf drei Dinge einging: Cramers Zeit im Konzentrationslager, die Emigration und das Schicksal seiner Eltern und nächsten Familienmitglieder, die in Augsburg gelebt hatten. O-Ton Norbert Lammert (Deutscher Bundestag): "Nach dem Pogrom vom 9. November 1938 wurden Sie inhaftiert und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Nur mit viel Glück und Mühe konnten Sie dem Tode entrinnen. Ihre Angehörigen hingegen nicht." SPRECHER: Damals, wenige Jahre nach der Machtübernahme, herrschte Hitler in Deutschland unangefochten mit diktatorischer Gewalt. Der Antisemitismus war Staatsdoktrin, die Diskriminierung und Entrechtung deutscher Juden tägliche Praxis. 1935 waren die Nürnberger Rassegesetze verkündet worden. Die Hetzreden von Hitler, Goebbels, Göring, Julius Streicher und all den anderen ließen keinen Zweifel daran, dass die Juden in Deutschland in existenzieller Gefahr waren. Historischer O-Ton Wochenschau: Adolf Hitler im Reichstag 1939 Sprecher: ..."Hitler hat Deutschland das Kampfpanier gegen den ewigen Juden erhoben." Hitler: ".Europa kann nicht nur Ruhe kommen, bevor die jüdische Frage ausgeräumt ist. Die Welt hat Siedlungsraum genügend. Es muss aber endgültig mit der Meinung gebrochen werden, als sei das jüdische Volk vom lieben Gott eben dazu bestimmt, in einem gewissen Prozentsatz am Körper und an der produktiven Arbeit anderer Völker zu sein." Göbbels: "... sie sollen sich hüten, einmal wir unsere Geduld zu Ende sein und dann wird den Juden das freche Judenmaul gestopft werden." (Applaus) SPRECHER: Die Reichsvertretung Deutscher Juden suchte in diesen Jahren fieberhaft nach Möglichkeiten, den bedrohten Juden in Deutschland zu helfen. Allen voran der Präsident der Reichsvertretung, der Berliner Rabbiner Leo Baeck, und der Geschäftsführer Otto Hirsch. Sie spürten 1936/ 37 einen enormen Zeitdruck. Hans- Georg Hirsch ist Sohn von Otto Hirsch. O-Ton Hans-Georg Hirsch: "When I went home between Christmas and New Year's, my father took me for a walk and said: 'You have to write Uncle Karl - that was his uncle, my great uncle in New York - and ask for an affidavit." Eleven months before Kristallnacht, he said to me: 'If you have farm they will come and burn down their farmstead. They will refuse to buy your produce. The idea of Jew farming in Germany is hopeless.'" Übersetzer: "Ich bin über Weihnachten zu Hause gewesen. Da hat mir mein Vater gesagt: 'Du musst Onkel Karl in New York schreiben und ihn um Hilfe bitten.' Elf Monate vor der Kristallnacht sagte er: 'Wenn du eine Farm hast, werden sie kommen und sie abbrennen. Als Jude in Deutschland Landwirt zu sein, ist hoffnungslos.'" SPRECHER: Das war Ende 1937. So schnell schwand damals in Deutschland die Hoffnung für die Juden. Knapp zwei Jahre zuvor, im Januar 1935, hatten Otto Hirsch und die Verantwortlichen in der Reichsvertretung Deutscher Juden ein vielversprechendes Projekt in Angriff nehmen können. Mit Zustimmung der Nazi-Behörden und observiert vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS - hatten sie ein altes Rittergut in Groß Breesen unweit von Breslau gefunden, einen Großbetrieb, der sich in ein Auswanderungslehrgut für mehr als hundert Auszubildende umwandeln ließ. Aus zahllosen Bewerbungen wurden hundert Jungen und 30 Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren ausgewählt, von denen sich viele bereits in den Organisationen der jüdischen Jugendbewegung hervorgetan hatten. Das Ziel: den jungen Leuten sollten handfeste praktische Kenntnisse in Land- und Hauswirtschaft vermittelt werden. Die Fertigkeiten sollten es ihnen erleichtern, die schwierigste Hürde jener Zeit zu nehmen: als Emigranten von anderen Ländern aufgenommen zu werden. Und zwar von anderen Ländern als Palästina: Für die Auswanderung nach Palästina bereitete zur gleichen Zeit die zionistische Bewegung im Rahmen der sogenannten Hachschara tausende deutscher Juden vor. Im Frühjahr 1936 war es so weit: Auf dem Gut im schlesischen Groß Breesen konnte der Betrieb beginnen. Erstes Ziel war, eine Gruppe komplett nach Übersee umzusiedeln. Land hatten Emissäre auf einer Reise nach Brasilien gefunden. Doch diese Idee scheiterte noch im selben Jahr an der brasilianischen Regierung. Sie akzeptierte nur Einwanderer, die zum Christentum übertreten würden. Daraufhin wurde ein sehr viel bescheideneres Alternativprojekt angestrebt - die Gründung und Umsiedlung eines Teils der Groß Breesener Jugendlichen auf eine Farm im amerikanischen Bundesstaat Virginia. Einer von ihnen, der 1939 die Einwanderungspapiere für Virginia bekam, war Ken Herman aus Würzburg. Er war 2007 beim letzten Treffen der Groß Breesener in Albany dabei und erinnerte sich an den strengen Tagesablauf, dem die Gruppe unterworfen war: Klaus (Ken) Herman: "The day started six o'clock in the morning and then: take a cold shower. Come to breakfast, and then make their beds, so the blanket was so tight you could bounce a nickle on it. We lined up outside and were assigned where we were going to work that day. I have always been an individualist. The discipline? Not easy After supper we mostly had what was called 'Lebenskunde' Bondly held. Before we went to bed we had about fifteen minutes of music. Bondy played piano. We had two brothers one played the Cello, one the violin." Übersetzer: "Es ging morgens um sechs los. Mit einer kalten Dusche. Dann Frühstück und Bettenmachen. Die Decke musste so stramm gespannt sein, sodass man darauf eine Münze hüpfen lassen konnte. Dann stellten wir uns draußen zum Appell auf und bekamen gesagt, was wir an dem Tag zu tun hatten. Ich war schon damals ein Individualist. Die Disziplin? Das war nicht leicht. Nach dem Abendbrot hatten wir meistens Unterricht in 'Lebenskunde' und danach Musik. Bondy, der Leiter, spielte Klavier und zwei Brüder Cello und Violine." SPRECHER: Zwischen dem Morgen- und dem Abendprogramm lag anstrengende körperliche Arbeit. Landwirtschaft wie im 19. Jahrhundert. Die Kühe wurden von Hand gemolken. Pferde zogen die Fuhrwerke und Maschinen. Die harte Vorbereitung stimmte die Groß Breesener auf den mühsamen Neubeginn in der Fremde ein. Eigentlich sollten sie mehr Zeit haben, um vorbereitet zu werden - doch dann kam die Pogromnacht im November 1938. Zitator: "Der 9. November 1938 verlief in Groß Breesen wie jeder andere Tag bis ungefähr 3 oder 4 Uhr nachmittags, als ein Lastwagen mit einer Abteilung schwarz uniformierter SS-Leute auf dem Hof eintraf und wir alle zum Appell beordert wurden." SPRECHER: Hermann Neustadt, der in Groß Breesen den Spitznamen "Prinz" trug und sich später in der Emigration in Harvey Newton umbenannte, erinnerte sich später: Zitator: "Meine Aufgabe in jenen Tagen war es, den Schüttboden zu verwalten, das heißt, Futter für die Kühe und Pferde auszugeben. Da ich diese Aufgabe an diesem Tag noch vor mir hatte, ging ich zu dem nächsten SS-Mann, grüßte ihn mit strammem "deutschem Gruß" und bat um Erlaubnis, noch das Futter austeilen zu können. Das wurde bewilligt. Dann ging ich zum Appellplatz. Sobald unser Name aufgerufen wurde, mussten wir antworten. Sodann wurden wir in drei Gruppen eingeteilt: Mädchen, ältere und jüngere Jungen. Die Gruppe der Älteren, zusammen mit dem Direktor von Groß Breesen, Prof. Dr. Curt Bondy, wurde dann abtransportiert. Aber bevor das geschah, hatte ein SS-Mann den Meister Kiwi höflich gefragt, ob er ihnen einen Vorschlaghammer zur Verfügung stellen könne, was dieser auch tat. Unsere persönlichen Sachen [wurden] aus den Schränken geworfen, Stühle und Tische zerbrochen, und viele Fensterscheiben ebenfalls. Auch viele Türen wurden beschädigt. Meister Kiwis Vorschlaghammer hatte gute Arbeit geleistet." SPRECHER: Alle Männer über 18 wurden in das Konzentrationslager Buchenwald abtransportiert. Nur die jüngeren und die Mädchen durften auf dem Gut bleiben. George Landecker erinnert sich: O-Ton George Landecker: "They are two things they stick out about my Buchenwald experience. One, that we were not allowed to shave. But they shaved your hair. And I happened to go past a window and see my reflection in the window. They did not have any mirror. I hardly recognized myself. The other one was: Two guys that were not Jewish, they had escaped. One of them got away. The other one was brought back in and there was a hanging. And we had to line up outside to line up to watch the hanging. There were other Jews that had to climb on each other to watch to get a better view of the hanging. And somehow that impression stayed with me that disgusted me so. And I've never forgot it." Übersetzer: "Zwei Dinge ragen aus meinen Erlebnissen in Buchenwald heraus. Das erste: dass wir uns nicht rasieren durften. Ich bin an einem Fenster vorbeigegangen - Spiegel hatten wir keine - und habe mich darin gesehen. Ich habe mich fast nicht erkannt. Das andere war, dass zwei Häftlinge - keine Juden - ausgebrochen waren. Einer kam davon. Der andere wurde gefangen und zurückgebracht. Wir mussten antreten und wurden gezwungen, die Hinrichtung am Galgen anzuschauen. Es gab Juden, die sind auf die Schultern von anderen gestiegen, um das Hängen besser sehen zu können. Das fand ich widerlich und habe es nie vergessen." SPRECHER: Die Groß Breesener teilten im November 1938 das Schicksal von knapp 10.000 anderen Juden, die nach Buchenwald verschleppt worden waren. Nach vier Wochen im KZ wurden die Männer aus Groß Breesen allerdings wieder entlassen. Beamte des Reichsnährstandes hatten sich eingeschaltet, als ihnen klar wurde, dass ohne die Mehrzahl der jungen Leute der Betrieb von Groß Breesen leiden würde. Ein Ausfall der Erträge war nicht im Sinne des Vierjahresplanes der Reichsregierung. Trotzdem wurde eine weitere Duldung des Betriebs in Groß Breesen mit einer eindeutigen Aufforderung verbunden: Die jungen Juden sollten so schnell wie möglich Deutschland verlassen. Andernfalls drohe ihnen erneut der Abtransport in ein Konzentrationslager. Besonders schlimm war die Einlieferung ins KZ Buchenwald für Curt Bondy, den Leiter des Ausbildungsprojekts. Er musste Abschied nehmen von seiner Hoffnung, dass er noch Zeit habe, um junge Juden auszubilden. Ernst Cramer: O-Ton Ernst Cramer: "He was extremely unhappy, because he said to himself repeatedly that he had started this school in Groß Breesen to save the people. 'And what did I do?' he said. I bring you to a concentration camp. He held himself responsible for the fate of all of us who had gone there." Übersetzer: "Er war extrem unglücklich. Er sagte immer wieder: 'Ich habe mit Groß Breesen begonnen, um Menschen zu retten. Und was habe ich getan? Ich habe sie in ein Konzentrationslager gebracht. Er fühlte sich verantwortlich." Atmo-Musik: "Dear. Mrs. Kennedy" 20 Sekunden freigestellt, dann unterlegt SPRECHER: Bondy hatte eine Mission gehabt: Er wollte die jungen Juden zu selbstbewussten Erwachsenen machen, die mit haus- und landwirtschaftlicher Ausbildung in der Lage waren, irgendwo in der Welt eine eigene Existenz aufzubauen - angesichts der tödlichen Gefahr in Deutschland. Musik SPRECHER: Curt Bondy war Psychologie-Professor und Sozialpädagoge. Ein Reformer, der Heranwachsende nicht als Zöglinge oder Kadetten betrachtete, sondern als junge Erwachsene mit einem Verantwortungsbewusstsein, das sich wecken und formen lässt. Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 hatte er seine Anstellung verloren. Aber nicht seinen inneren Kompass. Seiner jüdischen Herkunft hatte er bis dahin keine Bedeutung beigemessen, aber sie bestimmte von da an sein Leben. Er nahm eine Arbeit in der "Mittelstelle für Erwachsenenbildung" der "Reichsvertretung der deutschen Juden" in Frankfurt am Main auf. Dort kam er in engen Kontakt mit Martin Buber, dem Religionsphilosophen. So erhielt Bondy nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze von der Reichsvertretung deutscher Juden den Auftrag, ein "Auswanderungslehrgut" zu begründen und zu leiten. Jüdischen Kindern war inzwischen der Zutritt zu öffentlichen Schulen verboten worden. Die Jungen sollten im Stall und auf dem Feld arbeiten. Hart arbeiten. Die Mädchen in der Küche und im Garten. Schulunterricht gab es auch. Aber dafür blieb nur wenig Zeit, erinnert sich Hans-Georg Hirsch: O-Ton Hans-Georg Hirsch: "The schooling was evenings and Saturday mornings. And it was really farm work." Übersetzer: "Unterricht gab es abends und samstagmorgens. Alles andere war landwirtschaftliche Arbeit." SPRECHER: Den Jugendlichen sollte ein Wertekanon aus jüdischer Kultur, musischem Verständnis, Arbeitsdisziplin, ethisch-moralischem Verhalten, Kooperationsbereitschaft und Gemeinschaftsgeist vermittelt werden. Groß Breesen war ein Ausbildungsort für die Emigration - und zugleich ein reformpädagogisches Projekt in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten die Reformpädagogik in Deutschland eliminiert hatten. Der Historiker Frank Mecklenburg: O-Ton Frank Mecklenburg: "Die Erziehungsprinzipien, die dahinter standen, die waren natürlich schon sehr fortschrittlich und weiterweisend und trugen die progressiven Inhalte dessen, was in den zwanziger Jahren entwickelt worden ist." SPRECHER: Einer der ersten, die nach Oberschlesien kamen, war George Landecker, Sohn eines Kaufmanns in dem kleinen Städtchen Nordenburg in Ostpreußen. Er erinnerte sich an das Schlüsselwort, mit dem die jungen Leute in Groß Breesen konfrontiert wurden. Es hatte nichts mit Landwirtschaft, nichts mit Ackern, Pflügen, Mähen, Melken zu tun. Es lautete: O-Ton-George Landecker: "Bewusstmachung." SPRECHER: Bewusstmachung, so Ernst Cramer, hat "uns zusammengehalten". Und das weit über die Zeit in Groß Breesen hinaus. O-Ton George Landecker: "Bewusstmachung really is a term or a lifestyle that applies to all of us who are considerate of others. That you got to live a responsible life. You are responsible for your action. You have to account for it every day you live." Übersetzer: "Bewusstmachung ist ein Begriff für einen Lebensstil, der für jeden gilt, der seinen Mitmenschen mit vollem Bewusstsein, mit Verantwortungsbewusstsein begegnet. Du bist verantwortlich für Dein Handeln. Jeden Tag. Dein ganzes Leben lang." SPRECHER: Es war eine bemerkenswerte Situation: Während die deutsche Jugend im Allgemeinen nach dem archaisch-autoritären Führerprinzip erzogen wurde, lebte in der kleinen Gemeinschaft auf dem schlesischen Gut die Reformpädagogik weiter, die zu den fortschrittlichen Traditionen der Weimarer Republik gehörte. Dank des engagierten Sozialpädagogen Curt Bondy, der andererseits aber auch ein straffes Regiment in seiner Ausbildungsstätte führte. Martin Dörnberg, der als Violinist in Groß Breesen fast jeden Abend nach dem Essen ein kleines Konzert gab, manchmal auch mit Curt Bondy am Klavier, lebt heute in Bad Nenndorf und hat den Lehrmeister so im Gedächtnis behalten: O-Ton Martin Dörnberg: "Man spürte die starke Persönlichkeit. Man spürte, dass er alles ernst meinte. Humor hat er auch gehabt. Man spürte eine starke Zuneigung. Wissen Sie, was er vorher war? Er war zur gleichen Zeit Professor in Göttingen und Leiter eines Jugendgefängnisses in Eisenach. Und das merkte man auch. Er war nicht immer Pädagoge." SPRECHER: Werner Angress aus Berlin hat die Zeit in Groß Breesen miterlebt. Nach dem Krieg wurde er in den USA Geschichtsprofessor und war später einer der detailgenauen Chronisten von Groß Breesen, der auf Eintragungen in sein Tagebuch zurückgreifen konnte. O-Ton Werner Angress "Bondy, on the one hand, introduced us to unbelievable beautiful things, music and literature and gave us ideas of what he expected of us in human terms. And on his Sunday inspection of our rooms and our closets, these inspections were those of a German Feldwebel. He just emptied these, threw things on the ground. He screamed." Übersetzer: "Bondy hat uns unglaubliche schöne Dinge vermittelt. Musik, Literatur. Und uns klar gemacht, was er von uns auf der menschlichen Ebene erwartet. Aber auf seinen Sonntagsrundgängen durch die Zimmer war er wie ein Feldwebel. Er leerte die Schränke und warf den Inhalt auf den Boden. Er brüllte herum." Atmo Musik "Groß Breesen" (unterlegt) Zitator: "Berghotel am Katzenstein, Bad Sachsa im Harz, 22. Dezember 1953. Liebe Freunde!" SPRECHER: Schreibt Curt Bondy in einem Brief an die inzwischen weltweit verstreut lebenden ehemaligen Schüler von Groß Breesen. Es ist ein Brief, der dokumentiert, wie sehr die kurze Zeit auf dem schlesischen Gut Lehrer und Schüler lebenslang verband: Zitator: "In vielen Briefen habe ich Euch seit vier Jahren immer wieder geschrieben, dass nächstens der neue Rundbrief kommen würde, aber immer sind wir nicht dazu gekommen, und so ist der letzte Rundbrief, der 18., schon bald fünf Jahre alt. Was ist in diesen Jahren alles geschehen! (...) Heute Mittag kam nun Ernst Cramer hierher, ... heute Nachmittag gingen wir im Wald spazieren und sprachen davon, dass man einmal eine Geschichte von Groß Breesen und den Groß Breesenern schreiben sollte. Wir glauben, dass vieles von dem, was wir in Groß Breesen erlebt haben, und was später aus uns allen geworden ist, schon wert wäre, festgehalten zu werden. Es wäre nicht nur ein Bericht über Unterdrückung und Ausweisung, sondern auch eine Geschichte wichtigen Aufbaus, über den wir zufrieden sein dürfen. Euer Bo." Atmo Musik: "Groß Breesen Arrival" 10 Sekunden frei gestellt, dann unterlegt SPRECHER: Bondy war erst im August 1940 - nach einer strapazenreichen Zeit und Phasen der Internierung über Belgien, Frankreich und Portugal - nach Amerika gekommen. In den Monaten davor hatte er von Holland und England aus in zähen Verhandlungen mit Konsularbeamten alles getan, was in seiner Macht stand, um Emigranten zu helfen, Europa zu verlassen. Fast bei jedem Auswanderungsplan hatten die Juden mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen. Mit Hilfe der Jewish Colonization Association, ICA, gelang es zwanzig jungen Leuten, zusammen mit ihren Eltern nach Argentinien zu emigrieren. Manche landeten zunächst in Holland oder in England und fanden dort Möglichkeiten. Eine andere Groß Breeserin kam mit ihrer Familie über Kuba in die USA. Für die, denen die Auswanderung gelang, kamen immer wieder neue Jungen und Mädchen nach Groß Breesen. Doch nach Kriegsbeginn 1939 kam niemand mehr aus Deutschland heraus. Die Verbliebenen wurden ab 1941 zu Zwangsarbeitseinsätzen in andere Regionen beordert und wurden später in die Konzentrationslager transportiert. Von ihnen überlebten nur wenige. In den USA, auf einer Hühnerfarm in Virginia, auf der viele Groß Breesener untergekommen waren, sah Werner Angress Curt Bondy wieder: O-Ton Werner Angress: "I was shocked seeing him confused, undetermined. He was a different man. He then got a small teaching job, moved away. He had suffered already some of the problems that later on made him a very difficult man. In the '68 revolution he was on the side of the police." Übersetzer: "Es war schockierend. Er war verwirrt. Ein anderer Mensch. Er bekam eine kleine Stelle an einer Universität und zog weg. Er litt bereits an den Problemen, die ihn später zu einem schwierigen Mann machten. Während der 68er Revolution stand er auf Seiten der Polizei." SPRECHER: Bondys kehrte nach dem Krieg in seine Heimat zurück und wurde Professor an der Universität Hamburg. Atmo Musik: "Operation Control" (10 Sekunden freigestellt, dann unter dem Text) Zitator: Hamburg, im Oktober 1966 Liebe Freunde ! Ich sitze an einem schönen Herbstsonntag in meiner Hochhauswohnung, die ich schon im Jahre 1950 bezog, als ich nach zehn Jahren in den Vereinigten Staaten wieder nach Deutschland zurückkehrte. Dass dieser Rundbrief herausgekommen ist, verdanken wir eigentlich Töpper, der einen Aufsatz über Groß Breesen für das Jahrbuch des Leo Baeck-Instituts verfasst hat. (...) Ich stimme Töppers Schlussfolgerungen durchaus zu: Die theoretischen Säulen, auf denen wir Groß Breesen aufbauten, sind weitgehend zerborsten. Dennoch haben sie uns zum Teil befähigt, durch die Demütigungen des Dritten Reiches, durch Konzentrationslager und Auswanderung ohne zu tiefe seelische Verletzungen zu gehen. Ich glaube, Groß Breesen war doch sinnvoll und wertvoll; und es ist wichtig, dass dieser Aufsatz geschrieben wurde. ... Ich glaube, wir können im Allgemeinen zufrieden mit dem sein, was aus uns geworden ist. ( ... ) Mit allen guten Wünschen für jeden einzelnen von Euch und herzlichen Grüßen, Euer Bo SPRECHER: Groß Breesen war in den Jahren 1936 bis 1938 für die bedrohten jüdischen Jugendlichen eine Hoffnung gewesen, sich in ein Leben abseits der deutschen Judenverfolgung zu retten, psychisch gefestigt und mit einer guten Ausbildung für ein Leben auf einem anderen Erdteil. Im Mai 1986, 50 Jahre nach der ersten Heuernte von Groß Breesen, trafen sich 70 Ehemalige in Israel. In einem Rundbrief schrieb Werner Angress: Zitator: "Wieder wurden so manche von uns ein halbes Jahrhundert zurückversetzt. Zwar saßen wir diesmal an kleinen Tischen, nicht an den langen des Breesener Speisesaals und auch nicht als Zimmergemeinschaften beieinander, in kurzen Hosen, sondern in kleinen Gruppen, wie es der Zufall wollte. Aber in vielen von uns erwachte sicherlich die Erinnerung an die weißgedeckten Tische, im Sommer mit Blumen geschmückt. (...) Am nächsten Tag würden die ersten Teilnehmer abreisen, und so fand (...) noch eine Aussprache statt. Das Thema lautete: "Was hat Groß Breesen uns bedeutet?" SPRECHER: Erinnerungen und Deutungen waren nach einem halben Jahrhundert naturgemäß verschieden. Was es für die damals existenziell gefährdeten jungen Leute aber vor allem bedeutet hatte und warum die Erfahrung der wenigen Jahre sie ein Leben lang über alle Entfernungen hinweg miteinander verband, kam so zum Ausdruck: Zitator: Kurz vor Abschluss des Abends sagte Leo Schiftan, die Breesener Zeit, trotz ihrer Kürze, sei eigentlich die einzige Phase unseres Lebens gewesen, die wir als Jugend bezeichnen können. Denn dort konnten wir "jung" sein, wir selber sein, ohne Druck von außen, ohne Anfeindungen der Nazis." Atmo Musik Ausklang "30s Waltz Reprise" 16 1