Manuskript Deutschlandradio Kultur Reihe: Forschung und Gesellschaft Titel: Musik und Mensch Hirnforscher und Psychologen entschlüsseln, wie Klänge wirken Autor: Georg Gruber Redakteur: Kim Kindermann Sendung: 30. Dezember 2010 / 19:30 Uhr Regie: Friedericke Wigger Besetzung: Friebel, Bernd (TON) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik Glenn Gould, Bach Goldberg-Variationen Piano solo Autor Musik - Schallwellen treffen auf das Trommelfell und wir hören Töne, wir erkennen das Instrument, ein Klavier. Wir hören aber noch mehr, wir erkennen, dass die Töne nicht zufällig hingestreut sind, sondern miteinander in Verbindung stehen. Wir hören eine Melodie. M wieder hoch: Goldberg-Variationen Autor Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach. Und selbst wenn man die Melodie nicht erkennt, löst die Musik doch Empfindungen aus. Musik berührt unmittelbar. Sie kann zu Tränen rühren und zum Lachen bringen, sie erinnert an vergessene Orte und lässt vergangene Zeiten wieder auferstehen. Musik Goldberg Variationen Autor Der Zauber der Musik beschäftigt die Menschen schon seit Jahrtausenden. In Homers "Odyssee" widersteht Odysseus dem Gesang der Sirenen, der Fabelwesen - halb Mensch halb Vogel -, die vorbeifahrende Schiffe anlocken, um die Seeleute zu töten. Odysseus lässt sich an den Mast seines Schiffes binden, um sein Boot nicht, angezogen vom Gesang, auf die Klippen zu steuern. Im Alten Testament findet sich einer der frühesten Hinweise auf die heilende Kraft der Musik, im Buch Samuel, in dem die Geschichte von König David erzählt wird: Zitator: Zitat Luther-Bibel, 1. sam 23 Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm. Autor Musik hilft gegen Stress und Schmerz. Für einige Menschen ist Musik der einzige Weg, über den sie kommunizieren können. Für andere ist Musik die Rettung: sie führt zurück ins Leben. Alzheimerpatienten können sich mit Hilfe einer bestimmten Musik an Ereignisse in ihrem Leben erinnern, die für immer verschüttet schienen. Forscher wissen: Musik dringt direkt in die Tiefen unseres Gehirns. Doch was genau im Kopf passiert, das ist noch immer nicht vollständig entschlüsselt. Der Neurologe Eckart Altenmüller gehört in Deutschland zu den führenden Experten in diesem Forschungsfeld. Er leitet das "Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien" in Hannover. Der Neurologe hat auch Musik studiert. Er ist Flötist. Musik ist für Eckhart Altenmüller eine "Gedächtniskunst". 1 O-Ton Altenmüller Das besondere an der Musik ist eben, dass sie mit den Gedächtnissen spielt, nicht nur wenn sie eine kleine Melodie hören, dass dann die Töne im Gedächtnis behalten werden müssen, um es als ganze Melodie zu verstehen, sondern dann auch wenn sie ein ganzes Stück hören, dann tauchen zum Beispiel die gleichen Elemente immer wieder an bestimmten Stellen auf und dieses Aha-Erlebnis - aha, jetzt kommt wieder das Gleiche - das erfüllt uns oft mit einer tiefen Befriedigung. Musik kurz frei, dann unter O-Ton, noch mal Goldberg-Variationen oder etwas anderes 2 O-Ton Altenmüller Man muss sich immer vorstellen, für unser Ohr ist Musik zunächst mal ein Chaos. Und unser Gehirn versucht in diesem Chaos verzweifelt eine Ordnung zu finden und dann freut sich unser Gehirn jedes Mal, wenn ein bestimmter Strukturparameter, ein bestimmtes Motiv auftaucht, das dann eben vorher schon mal präsentiert wurde und so wird aus diesem Chaos, eine Ordnung, im Vorgang des Hörens. Autor Wenn Schallwellen auf das Trommelfell stoßen, beginnt ein komplexer Prozess. Der Luftschall produziert über die Gehörknöchelchen im Mittelohr einen "Flüssigkeitsschall". Die Haarzellen im Innenohr werden durch die Flüssigkeitsschwankungen angeregt. Es entstehen elektrische Impulse, Nervensignale, die über den Hörnerv zum Gehirn gelangen. 3 O-Ton Altenmüller Man muss sich immer vor Augen halten, unser Innenohr hat eigentlich relativ wenig Sinneszellen, innere Haarzellen, die für die Analyse unserer Töne und Analyse der Geräusche eben unabdingbar sind, haben wir 1500 pro Ohr. Und aus diesen 1500 Haarzellen kommt dann die Information zunächst in den Hirnstamm und dann beginnt ein gigantischer Datenverarbeitungsprozess. Es wird an mindestens fünf Stellen umgeschaltet, die Information wird verglichen, wird aufgeblasen, wird zum Teil dann mit weiterverarbeitet, zum Teil dann mit anderen Informationen zusammengeschaltet, und so entsteht dann nachher ein stark vor verarbeitetes Signal, was dann letzt endlich zu der Großhirnrinde geschaltet wird und in der Großhirnrinde erst entsteht der eigentliche Höreindruck. Autor Harmonie, Rhythmus, Melodie und Dynamik sind so eng verwoben, dass man lange dachte, es gebe nur einen Bereich für die Verarbeitung von Musik im Gehirn, ein Musikzentrum. Neurologen wie Eckart Altenmüller widersprechen dieser These: Der Höreindruck wird, wenn er die Großhirnrinde erreicht hat, durch zahlreiche andere Instanzen im Gehirn mitinterpretiert. In der primären Hörrinde werden Tonhöhen und Lautstärken analysiert, in Assoziationsgebieten neben der Hörrinde Melodien und Harmonien. Der Klang wird also nicht zentral, sondern in vielen verschiedenen miteinander in Verbindung stehenden Bereichen verarbeitet. Diese sogenannten "neuronalen Netzwerken" sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgebildet, sagt Stefan Koelsch, Neurologe und Professor für Musikpsychologie an der Freien Universität Berlin. Seit Jahren erkundet er diese Zusammenhänge und auch er hat Musik studiert, spielt Geige. 4. O-Ton Koelsch Wenn wir Musik hören, dann ist in unserem Kopf praktisch jede Struktur aktiv oder jede Struktur kann zumindest im Gehirn aktiviert werden, d.h. dass Musik nicht nur den auditorischen Hirnstamm und den auditorischen Kortex involviert, sondern auch viele andere Areale im Gehirn. Dazu gehören Areale, die zum Beispiel die musikalische Struktur oder Grammatik oder Syntax verarbeiten, musikalische Bedeutung verarbeiten. Musik GEIGE 5. O-Ton Koelsch Wenn wir Musik hören, dann werden auch automatisch sensomotorische Muster in unserem Gehirn aktiviert, so als würden wir die Musik zum Beispiel innerlich mitsingen, oder wenn ein Geiger ein Stück Geige hört, dann spielen sozusagen automatisch seine Finger mit, auch wenn er die selber gar nicht bewegt. 6 O-Ton Altenmüller Und gleichzeitig baut dann die Musik, die ich höre in meinem Stirnhirn eine bestimmte Erwartung auf, wie geht es gleich weiter, was kommt als nächste Harmonie, was ist jetzt zu erwarten? Und diese Erwartung wird dann ebenfalls entsprechend verarbeitet und wenn sie jetzt getrügt wird, und das ist eben die Kunst der guten Komposition, dass die Erwartung getäuscht wird, dann wird in meinem Stirnhirn ein gigantisches Signal deutlich und dann kann man das auch messen. Autor Involviert sind in diesen komplizierten Hörprozess auch die Strukturen im Gehirn, die etwas mit Gefühlen zu tun haben - das limbische System. Es steuert die Emotionen, Freude oder Frucht zum Beispiel. Musik kann Effekte auslösen, die sich nicht nur im Gehirn abspielen, sondern über das autonome Nervensystem oder das Hormonsystem im ganzen Körper. 7. O-Ton Koelsch Das autonome Nervensystem ist über Nervenstränge mit jedem Organ im Körper verbunden. Darüber kann das Herz zum Beispiel dann schneller oder langsamer schlagen, die Atemfrequenz beeinflusst werden oder die Schweißproduktion in den Handflächen oder die Verdauung, etc. Und ähnlich ist es so, dass über Hormone ebenfalls fast alle Organe in unserem Körper in ihrer Aktivität moduliert werden können und das interagiert dann mit dem Immunsystem, so dass letztendlich Musik potentiell immer etwas ist, was den gesamten Körper involvieren kann. Das muss nicht so ein, aber Musik hat das Potential dafür. Musik aus dem Film "Fahrstuhl zum Schafott", Miles Davis. Autor Auch deshalb kann Musik Stimmungen verändern, sie kann aufputschen, einschläfern, traurig machen oder verzaubern. Filmmusik ist ein gutes Beispiel dafür. Ohne Musik wären viele Filme nur halb so spannend oder bewegend. Komponisten von Filmmusik sind Meister der Manipulation, Meister im Verstärken von Emotionen - alleine durch den Soundteppich, den sie zu den Bildern arrangieren. Doch welche Töne wie wirken, ist noch nicht vollständig geklärt. Eckart Altenmüller. 8. O-Ton Altenmüller Das ist eigentlich ein großes Rätsel. Es ist so, dass diese Freude und Trauer, zum Teil auf uralten, vielleicht sogar angeborenen Wahrnehmungsmechanismen beruht. Es ist sehr umstritten, ob die kleine Terz, die im Moll Dreiklang drin ist, häufig wird Moll eher mit traurig in Verbindung gebracht, ob das eine archaische oder archetypische Veranlagung ist, dass wir das als traurig empfinden. Jedenfalls gibt es Hinweise, je ungleicher die Schwingungsverhältnisse sind bei Intervallen, ob das jetzt ein Quint oder eine Oktave ist, eine große Terz oder eine kleine Terz, je komplizierter das Schwingungsverhältnis ist, umso eher werden diese Intervalle als eher traurig oder eher unharmonisch bewerte. Der Extremfall wäre dann eine scharfe Dissonanz, z.B. die kleine Sekunde mit einem sehr komplizierten Schwingungsverhältnis. Autor Schon im Mutterleib hört der Embryo die Musik, die die Mutter hört, wenn auch abgedämpft. 9. O-Ton Altenmüller So dass heute im Grunde schon richtig ist, dass Kleinkinder harmonische Klänge vor dissonanten Klängen bevorzugen. Aber wir wissen nicht, ob es angeboren ist oder nicht ein Lernprozess, der schon vor der Geburt begonnen hat. Musik La BrassBanda, instrumental Autor Vielleicht lässt sich so erklären, warum einige Menschen Jazz mögen und andere Klassik oder Pop? Sicher ist, dass der Kulturkreis, in dem man aufwächst, mitentscheidend ist. Also, wurde zuhause Musik gehört? Wenn ja welche? Was hat die Peer-Group in der Jugendzeit bevorzugt? Hiphop, Heavy Metall? Hat man selbst ein Instrument gespielt? Der Hirnforscher Stefan Koelsch. 10. O-Ton Koelsch Da gibt es so viele Faktoren. Ich glaube nicht, dass es ein Computerprogramm gäbe, in den man die bekannten Umgebungsvariablen eingibt und das einem dann einfach sagt, dieses und jenes Stück wird diese Person jetzt lieben und das wird sozusagen ein voller Erfolg bei dieser Person werden. Also unterschiedliche Präferenzen sind noch etwas Rätselhaftes. Autor Und doch lebt eine ganze Industrie davon, Musik zu produzieren, die möglichst vielen Menschen gefällt. Musik Marius Müller Westernhagen "Freiheit", Refrain: Freiheit, Freiheit, ist das einzige was zählt, kurz frei und unter Autor legen (oder von der älteren Platte "Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz") Autor Siggi Loch gehört seit den 60er Jahren zu den Großen der Popmusikbranche. Er war unter anderem Deutschland- und Europachef bei Warner Music und hat Marius Müller-Westernhagen und Al Jarreau entdeckt. Musik Al Jarreau, Fire and Rain, oder anderes Stück von der CD "Glow", kurz frei und unter O-Ton 11. O-Ton Siggi Loch Ich hab das Glück gehabt, diese Musik zu hören und war fasziniert, von dem was ich gehört habe und war der Meinung, dass das nicht nur mich berührt, sondern potentiell viele andere Menschen berühren kann und berühren wird. Und ich hab mich dafür eingesetzt, dass beide Künstler einen Vertrag bekamen. Und dann sind Platten entstanden. Mit den Platten von Al Jarreau hab ich eigentlich gar nichts zu tun. Ich hab nur, wenn man so will, ihm die Tür geöffnet, und man hat auf mich gehört, obwohl anfänglich Bedenken waren, ja, der war ja schon 35 Jahre alt und das war für einen Künstler, der anfängt, relativ alt, aber es hat sich herausgestellt, dass es kein Hinderungsgrund war. Musik Al Jarreau, Fire and Rain, Von der CD Glow, kurz frei und unter Autor Autor Siggi Loch hat ein besonderes Gespür dafür, was die Massen berührt. Das Geheimnis seines Erfolges? Eine Kombination aus Erfahrung und Intuition. 12. O-Ton Sigi Loch Ich hab das mal genannt, die zwei paar Ohren, die man sich zulegt. Das eine sind die Ohren, um ein persönliches Glückserlebnis zu haben beim Hören von Musik, und das Andere ist zu versuchen, zu antizipieren, was ein Publikum mag und hoffentlich auch kauft. Musik Vijay Iyer, Human Nature, Piano Solo, (im Act-Label von Siggi Loch veröffentlicht), kurz frei und unter Autor Autor Aus dem Popbusiness hat Siggi Loch sich inzwischen verabschiedet. Sein persönliches musikalisches Erweckungserlebnis war ein Jazzkonzert, Sidney Bechet, in den 50er Jahren. Seitdem gilt seine eigentliche Liebe dem Jazz. Dieser Kunstform, in der die Musiker nicht allein danach streben, dem Publikum zu gefallen, viele sind auf der Suche nach Transzendenz, Erlösung und dem Göttlichen in der Welt. Kommerziell erfolgreich ist diese Musik oft nicht. In den 90er Jahren gründete Loch "Act", ein kleines, feines Jazzlabel. Dort veröffentlicht er nur Musik, die er selbst schätzt. Aber auch mit "Act" gelingt es ihm wieder, profitabel zu arbeiten, Kritikerpreise zu gewinnen und Jazzliebhaber glücklich zu machen. Musik Vijay Iyer, Human Nature, Piano Solo, kurz frei und unter Autor Autor Glücksgefühle, dafür interessiert sich auch Stefan Koelsch, der seit Anfang 2010 an dem Excellenz Cluster "Languages of Emotions" der Freien Universität Berlin forscht. Musik spielt im Forschungsvorhaben des Neurologen eine zentrale Rolle. Er ist auf der Suche nach den "neuronalen Korrelaten von Emotionen", er will die Strukturen im Gehirn erkunden, die für die Entstehung von Emotionen verantwortlich sind. Geräusch Computertomograph, aus Schallarchiv besorgen Autor Koelsch benutzt dafür Bildgebende Verfahren: Seine Probanden legen sich in die Röhre eines Computertomographen und bekommen Musik zu hören, über Kopfhörer. Auf den so entstehenden dreidimensionalen Bildern sieht man dann die durch die Musik aktivierten Gehirnareale. 13. O-Ton Koelsch Wir können sehen, dass es noch ganz anderer Strukturen gibt, als das, was Leute so behaupten, dass Glücksstrukturen seien, wenn sie den Leuten 10 Euro im Experiment schenken. Klar, es gibt so Spaßgefühle, die ich habe, wenn ich ein Ziel erreiche, wenn mir jemand Geld schenkt, das hat man aber auch beim Sex oder wenn jemand Drogen nimmt. Das hat man auch, wenn man Musik hört, da will ich auch gar nichts gegen sagen, aber Musik kann noch mehr und Glück, happiness, ist noch mehr als dieses Spaßgefühl. Und das kriegen Sie im Experiment nicht dadurch raus, in dem sie die Leute einfach belohnen, mit Schokolade oder Kokain oder Geld oder so, das braucht mehr und dieses mehr das kann Musik und deswegen ist Musik so toll um Emotionen, gerade Emotionen wie Freude, nicht einfach nur Spaß, sondern Freude, vielleicht sogar so was wie ein Glücksempfinden, im Experiment zu untersuchen. Musik, You cant always get what you want, Rolling Stones, kurz frei und unter Autor Autor Welche Gefühle mit welcher Musik verbunden werden, liegt auch in den Erinnerungen, die mit einem Lied, einer Melodie verknüpft sind: Angefangen bei den Wiegenliedern der Kindheit auf dem Schoß der Mutter bis hin zu Phasen, in denen man bestimmte Lieder hörte und glücklich war oder Liebeskummer hatte. 14. O-Ton Altenmüller Diese Erlebnisse aus dem Sozialbereich werden dann automatisch an die Musik in einem assoziativen Netzwerk geknüpft und dann können sich eben Emotionen, wenn man so möchte synergetisch stark verstärken. Man nennt es in der Musikpsychologie den sogenannten "play it again Sam"-Effekt. Der Effekt, der bei dem Film Casablanca ja immer wieder so als Leitmotiv auftaucht, dass an eine vergangene Liebesgeschichte über die Musik erinnert wird. Und diese Erinnerungen sind bei uns sehr mächtig und können ganz stark gelernte Emotionen auslösen. Musik, Aloe Blacc, I need a Dollar (läuft im Moment überall), kurz frei, dann unter Autor Autor Musik ist heute allgegenwärtig: im Radio, im Fernsehen, in Restaurants, Kaufhäusern und Tankstellen. Die technischen Verbreitungsmöglichkeiten machen Musik zu etwas Alltäglichem. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen hat Musik oder Gesang allerdings schon immer eine besondere Rolle gespielt. Stephan Koelsch glaubt, dass es in der Frühzeit des Menschen gar keine Unterscheidung zwischen Gesang und Sprache gegeben habe. 15. O-Ton Koelsch Für ein Kind ist dieser Unterschied, den wir in unserer Kultur machen, ja auch nicht in allen Kulturen, den wir zwischen Musik und Sprache machen oft so erst mal gar nicht nachvollziehbar. Und auch für das Gehirn eines Kindes ist Sprache so eher ein Spezialfall von Musik. Ich denke auch, dass in der Anatomie des Menschen schon angelegt ist, zu klatschen, zu stampfen und zwar gemeinsam, zu tanzen und zwar gemeinsam, Stöcke zu trommeln, gemeinsam ähnliche Melodien zu singen, denn wir Menschen mögen gerne Dinge synchron tun. Warum auch immer? Zusammen zu klatschen, zusammen mit dem Fuß zu stampfen, zusammen mit den Armen La Ola zu machen, zusammen zu singen, Handlungen quasi synchron und gemeinsam auszuführen, das ist etwas, was unser Gehirn mag. Autor Gemeinsames Singen und Musizieren hat auch evolutionsgeschichtlich eine wichtige soziale Funktion. Wer gemeinsam musiziert, kommt sich näher. Gesang und Musik hält die Gruppe zusammen, ist eine Form der Kommunikation. Und Musik klingt nur dann gut, wenn die einzelnen miteinander im Einklang sind, und wer diese positive Erfahrung gemacht hat, kooperiert auch in anderen Situationen eher. 16. O-Ton Koelsch Also, diese sozialen Funktionen der Musik, machen die Musik zu etwas ganz Besonderem. Musik ist so ganz besonders dazu in der Lage, Gemeinschaftlichkeit zwischen Menschen herzustellen, das hat für manche Menschen auch fast schon ein spirituelles Moment, ja. Musik, Titel "From Disco to Disco", Hans Nieswandt, kurz frei und unter Autor Autor Dieses Gemeinschaftsgefühl kann nicht nur beim Musikmachen entstehen, sondern auch beim Musikhören, auf Konzerten oder in Discos, in Clubs. Musik, "From Disco to Disco", Hans Nieswandt Autor Einer der großen Meister an den Plattentellern ist Hans Nieswandt, House DJ der ersten Stunde, ein Spezialist für elektronische Musik im weitesten Sinne. Er ist einer, dem an manchen Abenden magische Momente gelingen: 17. O-Ton Hans Nieswandt Wo dann tatsächlich auf der Tanzfläche und über die Tanzfläche hinaus in dem ganzen Club so ein gemeinsames Grundgefühl aufkommt, aber auf einem ziemlich euphorischen Level, wo es den Leuten auch plötzlich auffällt, he, wir schwingen ja plötzlich gemeinsam. Das ist ja herrlich, das ist ja absolut herrlich, wer macht das? Das macht auch nicht der Hans, das macht die Musik, das ist pfff die göttliche Kraft, ja, das ist irgendwie, keine Ahnung, Gott. Autor Für viele ist die Tanzfläche der Ort, an dem so etwas wie Glück möglich ist - die Ahnung einer perfekten Welt: 18. O-Ton Hans Nieswandt Wir sausen auf einer winzigen Kugel durch die Unendlichkeit und keiner weiß, was zum Kuckuck, das eigentlich soll, und wir haben Angst und Sorgen und alle zerren und beharken sich und plötzlich sind wir hier versammelt an einem Ort und es ist die Musik. Es ist die Musik, die das alles irgendwie erträglich macht und die uns irgendwie Kraft gibt, das alles auszuhalten und wir haben einen historischen Moment des Glücks geschafft, das diesem Leben abzuringen, das ist echt schön. Autor Musik kann aber noch viel mehr: Sie reguliert Herzschlag und Atmung und steigert die Motivation. Immer öfter wird sie therapeutisch eingesetzt. 19 O-Ton Hilleck Man kann ja von der Musiktherapie behaupten, sie ist eines der ältesten Behandlungsverfahren oder eines der jüngsten. Autor Professor Thomas Hillecke, Psychologe und Dekan der Fakultät für Musiktherapie der SRH Hochschule in Heidelberg. 20 O-Ton Hillecke Ältesten insofern, weil wir ja schon sehr viele uralte Belege aus der sumerischen Medizin oder bei Homer haben wir schon die Idee, dass Musik die Emotionen moduliert oder auch in der Bibel kommen Stellen vor, wo die Musik zur Heilung eingesetzt wird oder in der arabischen Medizin im frühen Mittelalter. Insofern hat man schon sehr lange darüber nachgedacht, dass Musik therapeutische Effekte haben kann. Auf der anderen Seite wird gerade durch die Verwendung dann so einer historischen Argumentation gelegentlich der Eindruck erweckt, das wären die modernen Grundlagen der Musiktherapie, das ist es längst nicht mehr. Aber vor 30 Jahren, als man begonnen hat hier in Heidelberg den Studiengang aufzubauen, war das sicher noch so, dass Musiktherapie sehr exotisch war. Wenn Musiktherapie angewandt wurde, dann meist, wenn der Klinikleiter selber musikalische Ambitionen hatte. Autor Durch die neurologischen Forschungen der vergangenen 20 Jahre hat sich in Studien belegen lassen, dass Musiktherapie mehr ist als eine esoterische Spielerei. Musiktherapie wird heute in vielen Bereichen eingesetzt, oft in Ergänzung zu anderen Therapien. Als Reha-Maßnahme zur Verbesserung der sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen, bei Demenz, Tinnitus-, Schmerz-, Wachkoma- und Schlaganfallpatienten, bei Essstörungen, Borderline-Erkrankungen, Angststörungen oder bei Depressionen. Ein Teil der musiktherapeutischen Angebote ist so ähnlich wie eine Psychotherapie aufgebaut, Musik mit Gesprächen. Wobei sich zwei Methoden unterscheiden lassen: rezeptive und aktive Musiktherapie. Rezeptiv bedeutet, die Patienten hören Musik, zur Entspannung oder um an verschüttete oder verdrängte Erinnerungen und Emotionen zu gelangen. Aktiv bedeutet, die Patienten spielen selbst auf Musikinstrumenten. 21 O-Ton Hillecke Viele psychische Erkrankungen sind ja durch eine Einschränkung der Emotionalität, die heißen affektive Erkrankungen, gekennzeichnet, wie zum Beispiel bei Depression. Da herrscht ja eher so eine trauerähnliche Emotion vor und da macht es Sinn, mit Musik den Menschen zu helfen andere Emotionen, gerade Freude oder vielleicht auch Wut, die wichtig ist beim Verarbeiten, musikalisch zu unterstützen. Musik Melody Gardot, kurz frei und unter Autor Autor Die amerikanische Jazzsängerin Melody Gardot hat erst durch eine Musiktherapie zu ihrer eigenen musikalischen Sprache gefunden. Als sie 19 Jahre alt war, wurde sie in Philadelphia von einem Jeep überfahren. Für ein Jahr war sie im Krankenhaus, mit gebrochner Hüfte und schweren Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen. Ihr Gehirn glich einer Festplatte, die durch den Unfall gelöscht worden war. Melody Gardot hatte keine Erinnerungen mehr, kein Kurzzeitgedächtnis, dazu motorische Probleme. Musik hatte schon immer eine wichtige Rolle im Leben der passionierten Klavierspielerin gespielt - und so riet ihr der Arzt zu Musiktherapie. 21. O-Ton schon übersetzt aus Profil Ein wichtiger Bestandteil meiner Genesung war Musiktherapie, und in dieser Zeit habe ich begonnen zu singen, obwohl ich das vorher nie gemacht hatte, genauso wenig wie Gitarre spielen. Gitarre lernte ich, während ich im Bett auf dem Rücken liegen musste, Klavierspielen war deshalb nicht möglich - und so entdeckte ich die Gitarre. Autor Die Therapie habe ihr geholfen, "verschollene Pfade wieder zu entdecken", sagt Melody Gardot heute. Sie begann zu komponieren - auch dieses Talent entdeckte sie erst durch die Musiktherapie. Ihre Songs nahm sie auf, brannte sie auf CD, die den Weg ins Radio fanden. Inzwischen hat sie einen Plattenvertrag. Musik/Atmo Klavier mit anderen Geräuschen, aus einer Musiktherapiesitzung Autor Musiktherapie kann auch Kindern helfen. So wie bei Jan, 10 Jahre alt, ein verschlossener Junge, der in eine Tagesklinik aufgenommen worden war, wegen Stimmungsschwankungen, Ängsten, Albträumen und motorischen Defiziten. In Einzelsitzungen lernt er, begleitet von einer Musiktherapeutin am Klavier, seine Ängste auszudrücken, zuerst musikalisch, später konnte er dann auch über sie sprechen. Klavier mit anderen Geräuschen Autor Eine Studie der Universität Heidelberg belegt, dass Musiktherapie auch Kindern mit Migräne helfen kann. Sie hören Musik, um Entspannung zu lernen und zu vertiefen. Und sie spielen auch selbst, Xylophon, Gitarre oder Pauke, häufig sind es Schlaginstrumente, so können auch die, die kein Instrument beherrschen, ihre Schmerzen äußern. Schmerzen, die sich mit Worten oft nur schwer beschreiben lassen. In der Studie zeigte sich, dass bei diesen Kindern die Attackenhäufigkeit zurückging, deutlich mehr als in Vergleichsgruppen ohne Musiktherapie. Professor Thomas Hillecke. 22. O-Ton Hillecke Da wir haben auch über einen Zeitraum von einem Jahr Nachuntersuchungen gemacht und gesehen, dass sich bei der Musiktherapie der Effekt schneller einstellt, als beim Medikament und dass die Effekte auch über das Jahr aufrecht erhalten werden konnten. Musik Mozart, noch raussuchen Autor Musik kann vieles, doch sie macht uns nicht schlauer. Der so genannte Mozarteffekt verhieß, dass das Hören von Mozart die Intelligenz steigere - zu Unrecht. Die Basis der Studie war dünn, es ging um eine bestimmte Papierfalt- und Schneideübung, darin waren Studenten, die Mozart hörten, besser als andere, die nicht Mozart hörten. Professor Eckart Altenmüller: 23. O-Ton Altenmüller Die neurobiologische Begründung ist in der Zwischenzeit relativ klar: durch diesen positiven anregenden Stimmungszustand, diesen "Arousal", wird meine rechte Hirnhälfte wohl etwas besser durchblutet und diese Leistung, diese Papier- und Schneidearbeit wird dann dadurch erleichtert - und das können sie mit allen Dingen tun, die sie anregen und in eine positive Stimmung versetzen. Autor Musik gehört zum Menschen. Auch wenn noch längst nicht vollständig erforscht ist, wie sie auf uns wirkt, ist ein Leben ohne Musik nur schwer vorstellbar. Stefan Koelsch: 24. O-Ton Koelsch Ein Leben wirklich ganz ohne Musik ist ein absoluter Albtraum, für jeden Menschen. Sie müssen sich einfach nur vorstellen, dass der Singsang in meiner Sprache letztendlich auch Musik ist. Ich spreche ja schließlich nicht willkürlich ohne zeitliche Struktur, sondern die zeitliche Struktur in einer menschlichen Äußerung, hat auch einen Rhythmus. Das kriegen wir oft nicht so mit, weil wir uns nicht so drauf konzentrieren. Meine Sprache geht auch rauf und runter, auch wenn das jetzt nicht die Skalentöne der Tonleiter sind, oder so, wäre eine komplett unmusikalische Sprache eine ganz monotone Sprache, wie von einem Computer gesprochen vor zehn Jahren, der so weder einen Sprachrhythmus noch einen Sprachmelodie hatte, und das ist etwas ganz, ganz furchtbares. 16