Irrungen, Wirrungen – und Klarheit Eine Lange Nacht über Theodor Fontane Autor: Tobias Barth, Lorenz Hoffmann und Hartmut Schade Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Tobias Barth SprecherIn: Petra Hartung Erzählerin Hans Henrik Wöhler Zitator Fontane Axel Thielmann Zitator Werke Corinna Waldbauer Zitatorin Elisabeth Möckel Zitatorin Effi Briest Jasmin Galonski Absage Sendetermin: 21. Dezember 2019 Deutschlandfunk Kultur 21./22. Dezember 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik Zitator Robert Gernhardt Robert Gernhardt: Lektor Lincke schreibt an Theodor Fontane Sehr geehrter Herr von Tame, war das nicht Ihr werter Name? Vor mir liegt Ihr Buchvorschlag, welcher - doch der Reihe nach. Erstens ist er nicht zu brauchen- eine Frage: darf ich rauchen, während ich hier weitermache? Dankeschön. Doch nun zur Sache: Das Manuskript, das Sie geschickt, war in der Mitte eingeknickt, sowie in Worten abgefaßt, was nicht zu unsrem Hause paßt. Auch störten mich die vielen Us in Ihrem Satz "Ulf ging zu Fuß." Ach ja, und Ihre Fragezeichen, die sollten Sie wohl alle streichen. Sie wirken derart krumm und rund, so schlangenhaft und ungesund, daß ich mich dauernd frage: Was bezweckt, bewirkt und soll denn das? Sodann Ihr Stil! Schon wenn man liest, daß Ihre Heldin Effi briest, ist Ihre Ignoranz erwiesen: Die deutsche Sprache kennt kein "briesen". Doch nun was andres: Unser Haus bringt grade eine Reihe raus, die sich "So brummt der Deutsche" nennt - ich bin ganz sicher, so was könnt durchaus in Ihre Richtung passen. Woll‘n Sie sich mal was einfall‘n lassen? O-Ton Brühl 0.00 Es ist absolut faszinierend, wie gut bekannt Fontane ist bei der deutschsprachigen Leserschaft, wie viel er gelesen wird, wie beliebt er ist, wie wie nah die Menschen sich ihm fühlen und wie innig verbunden mit vielen Teilen seines Werkes und dann wiederum mit ihrem Leben vor. Erzählerin Die Berliner Publizistin Christine von Brühl hat ein Buch geschrieben über Theodor Fontane und die Frauen. O-Ton Brühl 0.00 ff Fontane wird wirklich auch sehr viel gelesen, die Wanderungen werden viel gelesen, immer wieder auch gelesen, wiederholt gelesen. Effi Briest kennt ja mancher schon aus der Abiturzeit, aus der Schulzeit, Jenny Treibel gehört auch dazu. Und das hat mich einfach überrascht, also ich hatte schon auch im Vorfeld, wenn ich von dem Buch erzählte, machte ich die Erfahrung, dass die Menschen ganz viel über Fontane erzählen konnten. O-Ton D‘Aprile 70.00 Also ich glaube dieses Erzählverfahren dieses Unscheinbaren und dieses Andeutenden und auch des Weglassens von dem, was sozusagen eigentlich vielleicht der Kern der Story wäre, das sind alles Verfahren, die machen diese Romane so interessant und gehören sicher zu Fontanes speziellen Stilmitteln. Erzählerin Der Potsdamer Literaturwissenschaftler Iwan-Michelangelo D‘Aprile. Autor der Biografie „Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung.“ O-Ton D‘Aprile 70.00ff Und, man weiß eigentlich schon, wie die Sache ausgeht und es vollzieht sich alles so wie in zehn anderen Fontane Romanen auch, aber trotzdem gewinnen diese Romane ihre Spannung, glaube ich, eben eher aus den psychologischen Feinheiten, aus den Beobachtungen, den Gesprächen der Figuren. O-Ton Rutsch 0.00 In den 50er Jahren lebte ich mit meiner Großmutter in einem Zimmer, weil wir keine große Wohnung hatten. Und diese Großmutter hatte ihren Mann verloren unmittelbar nach dem Krieg, der kam todkrank aus der Gefangenschaft und als der verstarb, erkrankte sie an Bronchialasthma und konnte nicht mehr alleine leben. #Und manchmal wachte ich dann nachts auf, weil wir in einem Zimmer zusammen schliefen und sie hatte einen Asthmaanfall, lutschte Hustenbonbons, nahm Medikamente. Und sie saß lesend im Bett, las Fontane, also die Frauenromane. Erzählerin Dramaturg und Dokumentarfilmer Hans-Dieter Rutsch. Seine Fontane-Biograpfie trägt den Titel „Der Wanderer“. O-Ton Rutsch 0.00ff Es war eine ganz einfache Frau, #sie war von Beruf Köchin und # nachdem sie ihren Mann verloren hatte und so auch dem Lesen verfallen war, da waren ihr offensichtlich die Frauenromane sehr nah, weil sie als Dienstmädchen aus Ostpreußen in Berlin in Stellung kam. Und das war offensichtlich so halt der biografische Bezug und zwischendurch erkrankte sie immer schwerer und kam ins Krankenhaus. Und eines Tages kam sie nicht wieder und da hatte ich das Zimmer für mich. Und die Bücher, die auf dem Tisch lagen, das waren eben zwei Romane, Frauenromane von Fontane und damit begann mein Zusammenleben mit Fontane. Musik Erzählerin 1907, neun Jahre nach dem Tod Theodor Fontanes, wird in Neuruppin nördlich von Berlin ein Denkmal für den „großen Sohn der Stadt“ eingeweiht. Bis heute sitzt er da, in Bronze gegossen, die Beine übereinander geschlagen, Hut und Wanderstock zur Rast neben sich gelegt und schaut in die Landschaft. Eine Tafel am rechten Rand des Denkmals weist ihn in bronzenen Lettern aus als „Dichter der Mark“. Zwei Irrtümer in nur drei Wörtern. Fontane ein Dichter?! Ein von Jugend an Schreibender und Dichtender, das ja. Aber doch die meiste Zeit nebenher, neben dem Brotberuf. Die ersten anderthalb Jahrzehnte seines Berufslebens arbeitet er als Apotheker. Dann lange – widerwillig und notgedrungen - im Staatsdienst, als Presseagent der Preußischen Regierung. Zwischendurch gibt er Pharmazie-Unterricht für Diakonissen-Schülerinnen. Und die längste Zeit seines Lebens verdient er sein Brot als Journalist. Den „Romanschriftsteller-Laden“, wie er ihn selbst nennt, macht er erst im Pensionsalter auf. Den nach Originalgenie und Musenkuss klingenden Titel „Dichter“ hätte er auch in dieser Zeit als Berufsschriftsteller von sich gewiesen. Zitator Fontane Ich bin gewiß eine dichterische Natur. Aber keine reiche Dichternatur. Es drippelt nur so. Erzählerin Und dann: „Dichter der Mark“. Sicherlich war Fontane derjenige, der das literarische Potenzial der Mark Brandenburg als erster erkannte. In den meisten seiner Romane und in den „Wanderungen“ ist die historische Landschaft nicht nur als Kulisse und Schauplatz präsent, sondern auch als Stoff- und Inspirationsquelle und in gewissem Sinne oft als handelnde Person. Und trotzdem: Nur „Dichter der Mark“? Die Ballade vom Herrn Ribbeck auf Ribbeck oder auch „John Maynard“, kennt in Deutschland jedes Kind, „Der Stechlin“ ist ins Französische, Englische und Chinesische übersetzt. Weltliteratur, genau wie „Effi Briest“, die als bedeutendster Roman des deutschen Realismus gilt. In einem Atemzug genannt wird mit Flauberts „Madame Bovary“ und Tolstois „Anna Karenina“. Musik Zitator „Effi Briest“ In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Erzählerin Das Eingangskapitel führt uns auf die Terrasse des Briestschen Herrenhauses, wo Mutter Briest und das 17jährige Töchterchen Effi über einer Handarbeit sitzen. Zitator „Effi Briest“ Rasch und sicher ging die Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik durchzumachen.>> Es war ersichtlich, daß sie sich diesen absichtlich ein wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat, paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten. Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen mußte, weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war. Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: Zitatorin »Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, daß du so was möchtest.« Erzählerin Effi, die Tochter der Luft, das Naturkind, soll nach dem Willen der Eltern und gemäß den herrschenden Konventionen den 21 Jahre älteren Baron Geert von Instetten heiraten. In der heiteren Plauderei zwischen Mutter und Tochter im ersten Kapitel ist schon angedeutet, dass das kein gutes Ende nehmen kann. Es ist die große Kunst Fontanes, aus der Andeutung, aus der Plauderei heraus die Handlung sich entwickeln zu lassen. Was in Wahrheit eine komplexe Komposition aus Beziehungsgeflechten, Motiven, Symbolen ist, liest sich wie mit leichter Hand hin geschrieben. Und man mag beim Lesen kaum glauben, dass Fontane über der Arbeit an „Effi Briest“ oft verzweifelte und sie 1892 sogar gänzlich aufgeben wollte. O-Ton Rutsch 25.10 Als er an Effi Briest arbeitet,... Fontane arbeitet an Effi Briest und versucht seine Depression zu bekämpfen, und es gelingt ihm nicht, etwa ein halbes Jahr ist er krank. Erzählerin Fontane ist damals 72 Jahre, ungefähr im selben Alter ist sein Vater gestorben, was ihn ängstigt. Er erkrankt an einer schweren Durchblutungsstörung des Gehirns, begleitet von Schreibblockaden und Depressionen. Seinem Freund August von Heyden berichtet er: Zitator Fontane Körperlich geht es noch. Aber das „innen lebt die schaffende Kraft“ ist für mich leider zur Phrase geworden. Von Federkraft – bei mir doppelsinnig zu verwenden – ist keine Rede mehr. Ich raffe mich mit Anstrengung auf, um wenigstens jeden Abend meinen Spaziergang zu leisten. O-Ton Rutsch 25.10ff In diesem halben Jahr sucht er viele Ärzte auf und schließlich kommt es in Schlesien zu einer Begegnung mit einem Arzt, der zu ihm sagt, schreib dich gesund. Und das macht er, indem er seine Kindheit beschreibt. Und jetzt passiert etwas was nahezu unerklärliches, Fontane meldet sich bei seinem Verleger und sagt, er würde also über die Kindheit schreiben. Und ihm wird klipp und klar gesagt: Dann schreib es so, dass es schön war! Denn einen Roman über eine kindliche Tragödie möchte keiner lesen! Und wenn Sie heute diesen Roman über die Kindheit Fontanes lesen, der überschrieben ist „Meine Kinderjahre“, dann können sie alles lesen, was Fontane an tragischem erlebt hat, das steht da drinne, aber man hat das Gefühl, es ist nicht tragisch. # Man denkt, er wäre dort glücklich gewesen, aber das war er nicht. (O-Ton D‘Aprile ca 1.00 Er verschweigt, aber er deutet vieles an und man wenn man dem nachspürt, dann sieht man auch, dass er nicht einfach nur verschweigen wollte, sondern dass er mit bestimmten Anspielungstechniken, Anekdotisierungen als Stilmitteln arbeitet.) Musik Zitator Fontane Weihnachten rückte heran und schon die ganze Woche vorher hieß es: »Aber diesmal wird es eine Freude sein,... so was Schönes«, und wenn ich dann mehr wissen wollte, setzte die gute Schröder hinzu: Zitatorin »Gerade was du dir gewünscht hast... Die Mama ist viel zu gut; denn eigentlich seid ihr doch bloß Rangen.« Erzählerin Gewünscht hat sich der zwölfjährige Theodor einen Säbel. Es ist 1831, das Jahr der polnischen Unabhängigkeitskämpfe gegen den russischen Zaren. Theodors Sinn steht danach, die Schlachten nach zu fechten. Seine Begeisterung für den polnischen Unabhängigkeitskampf hat er vom Vater, der den Söhnen aus der Zeitung über die Ereignisse vorliest und sogar polnische Freiheitslieder mit ihnen singt. Sehr zum Missfallen der Mutter. Zitator Fontane Und so fieberhaft gespannt sahen wir dem Heiligabend entgegen. Endlich war er da. Was obenauf lag, weiß ich nicht mehr, vielleicht zwei große Pfefferkuchenmänner oder ähnliches, jedenfalls etwas, was uns enttäuschte. »Seht nur weiter«, und nun nahmen wir, wie uns geheißen, auch das zweite Tuch ab. Ah, das verlohnte sich. Da lagen gekreuzt zwei schöne Korbsäbel, also genau das, was wir uns so sehnlich gewünscht hatten. Und so stürzten wir denn auf die Mama zu, ihr die Hände zu küssen. Aber sie wehrte uns ab und sagte auch diesmal wieder: »Seht nur weiter«, und in einem Aufregezustand ohnegleichen, denn was konnte es nach diesem Allerherrlichsten noch für uns geben, wurde nun auch die dritte Serviette fortgezogen. Aber, alle Himmel, was lag da! Ein aus weißem und rotem Leder geflochtener Kantschu. Erzählerin Ein Kantschu, auch genannt Nagaika. Ausgerechnet die berüchtigte Lederpeitsche der zaristischen Offiziere! Zitator Fontane Meine Mutter hatte erwartet, unsere Freude durch diese scherzhafte Behandlung des Themas gesteigert zu sehen. Aber nach der Freudenseite hin gingen meine Gedanken und Gefühle durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Ich war einfach außer mir und lief in den Garten hinaus, um da wieder zu mir selber zu kommen, was freilich nicht glücken wollte. Die Weihnachtsfreude war hin. O-Ton D‘Aprile ca. 8.00 Da hat man glaube ich und man weiß nicht, inwiefern es auch wieder Stilisierung von Fontane ist, aber da hat man genau den Gegensatz, also der freiheitsliebende Vater und die Mutter, die für beständige Verhältnisse steht, die ja bei Fontane dann auch immer auf die politische Ebene mit gezogen werden. Insofern ja, strenge Mutter ist auf jeden Fall, würde ich sagen, schon so eine Art, also wenn man das jetzt, wenn man eine Psychologie Fontanes entwickeln wollte, müßte man es berücksichtigen. Die Verhältnisse sind umgekehrt. Der Vater hatte die Ansicht einer sehr freien Erziehung, was auch für ihn den Vorteil hatte, dass er sich wahrscheinlich dann nicht soviel kümmern musste. Und die Mutter stand eben für Stabilität und auch eine sehr harte Erziehung. O-Ton Rutsch 93.00 Warum Fontane, salopp gesagt, so ein Frauenversteher geworden ist, weil es zum einen die unmittelbare Nähe seiner Mutter, die ihn als Kind z.B. sehr grob behandelt. Also er sieht, dass in seiner Mutter etwas ist, das Zärtlichkeit sehr stark verweigern kann. In seinem Roman über die Kinderjahre steht eben geschrieben, dass sie lieber einmal mehr zugeschlagen hat als einmal zu wenig. Zitator Fontane (Dies ist gewiß ein sehr guter Grundsatz, und ich mag ihn nicht tadeln, trotzdem er mir nichts geholfen und zu meiner Abhärtung nichts beigetragen hat; aber wie man sich auch dazu stellen möge, meine Mutter ging im Hartanfassen dann und wann etwas zu weit.) Ich hatte lange blonde Locken, weniger zu meiner eigenen, als zu meiner Mutter Freude; denn um diese Locken in ihrer angeblichen Schönheit zu erhalten, wurde ich den andauerndsten und gelegentlich schmerzhaftesten Kämmprozeduren unterworfen, dem Kämmen mit dem sogenannten engen Kamm. Wäre ich damals aufgefordert worden, mittelalterliche Marterwerkzeuge zu nennen, so hätte der »enge Kamm« mit obenan gestanden. Eh nicht Blut kam, war die Sache nicht vorbei; anderen Tages wurde die kaum geheilte Stelle wieder mit verdächtigem Auge angesehen, und so folgte der einen Quälerei die andere. O-Ton Rutsch ca. 14.00 Mich hat immer verblüfft, dass die gesamte Germanistik die frühe und mittlere Kindheit von Fontane in den Biografien so auf so lockere Weise abhandelt mit sieben Seiten, manchmal acht, je nach der Dicke des Buches, manchmal auch ein bisschen mehr. Und ich meine zu spüren, dass der gesamte kindliche Fontane aus allen seinen späteren Arbeiten durch und raus guckt, auch seine biographische Erfahrung zu Hause. (# Warum hat er geschrieben? Woher kommt die Sucht zu schreiben? Das ist eine Sucht bei ihm gewesen zweifellos und es ist die einzige Form, wie er überhaupt zu einem Lebensglück gefunden hat.) O-Ton Brühl ca. 4.30 Die Mutter kam aus einer bürgerlichen alten Berliner Hugenottenfamilie, die mit Seidensocken gehandelt hatten, hatte eine Mitgift mitgebracht und die muss auch derart umfangreich oder sagen wir mal üppig gewesen sein, dass davon eben die Apotheke gekauft werden konnte, die ein jeder Apotheker ja braucht, denn was tut ein Apotheker ohne seine Offizin. Die Mitgift ging natürlich wie damals immer in das Eigentum des Mannes über und der Vater von Fontane kaufte also in Neuruppin auch eine riesige, herrliche Apotheke, heute noch zu sehen in Neuruppin, die schöne alte Löwenapotheke, in der Theodor Fontane auch geboren wurde und drei weitere Kinder, vier Kinder wurden in Neuruppin geboren, aber der Vater kam nicht los von seiner Spielsucht, verspielte das Geld und musste diese Apotheke verkaufen, was für seine Frau natürlich schmerzlich war. Erzählerin Ein Jahr lang ist Vater Louis Fontane auf der Suche nach einer neuen Apotheke. Um sie zu finden, unternimmt er mit dem Pferdewagen Reisen, die ihn manchmal über Tage und Wochen von der Familie fortführen. Zitator Fontane Wär' es nach ihm gegangen, so hätte er diesen Zustand der Dinge wohl nie geändert und das Interim in Permanenz erklärt; denn er hatte eine ganz aufrichtige Passion für Pferd und Wagen, und sein Lebelang in der Welt umherzukutschieren, immer auf der Suche nach einer Apotheke, ohne diese je finden zu können, wäre wohl eigentlich sein Ideal gewesen. O-Ton Brühl ca. 4.30ff Und dann ging es also nach Swinemünde, weit weg von Berlin in die Provinz, wo eben der Vater eine neue Apotheke, aber eine wesentlich kleinere erwarb, und natürlich war Swinemünde auch nicht so schick wie Ruppin. Und so ging es fort und fort und irgendwann hielt Fontanes Mutter es nicht mehr aus und trennte sich von diesem Mann, ohne Scheidung verließ sie ihn, zog zurück nach Neuruppin. Erzählerin Fontane hat bis zu deren Lebensende ein gutes und liebevolles Verhältnis zu seinen Eltern. Er hat Verständnis für den Leichtsinn und die Eskapaden seines Vaters und gleichzeitig ist ihm bewusst, dass für seine Mutter die Ehe mit diesem Mann ein Unglück bedeutete. O-Ton Rutsch ca. 17.00 Und es erscheint ja eine Figur mit Effi Briest, die in vielerlei Hinsicht ähnliche Züge besitzt wie seine Mutter. Natürlich nicht in einer Übertragung eins-zu-eins, aber diese schwachen Nerven, das alles hat er ein Leben lang als Kind zu Hause gehabt bei seiner Mutter, die furchtbar gelitten hat unter ihrem Mann. Und es war also eine unglückliche Ehe der Eltern und dieses Haus in Kessin oder dieser Ort Kessin mit dem Apothekergebäude in Swinemünde ähnelt frappierend in seiner wirklichen Gestalt dem von Fontane beschriebenen Haus in Kessin, in dem Effi unglaublich leidet unter den Gespenstern, die da umgehen. Erzählerin Baron von Instetten zieht mit seiner jungen, von jedermann angehimmelten Frau Effi in die pommersche Provinz, nach Kessin. Er ist oft auf Reisen und lässt Effi allein. Er inszeniert, so dürfen wir vermuten, einen nächtlichen Spuk im Haus, erzählt ihr die passende Geschichte dazu, von einem Chinesen der nachts umgehe. Eine subtile Disziplinierungsmaßnahme. Aber dennoch kommt es, wie es kommen muss. Effi, die unter der Gefühlskälte ihre Mannes leidet, verliebt sich in den jungen, leidenschaftlichen Major Crampas. Als Instetten Jahre später von der Affäre erfährt, tötet er Crampas im Duell und verstößt Effi. Das gemeinsame Kind behält der Vater. Zitator Fontane Kaum aber, daß Roswitha draußen die Tür ins Schloß gezogen hatte, so riß Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. »So also sieht ein Wiedersehen aus«, und dabei stürzte sie nach vorn, öffnete die Fensterflügel und suchte nach etwas, das ihr beistehe. Erzählerin 33. Kapitel des Romans. Effi, die als gefallene Frau gesellschaftlich isoliert in einer kleinen Wohnung in Berlin leben muss, darf zum ersten Mal seit Jahren ihre Tochter Annie wieder sehen. Als sie merkt, Instetten hat ihr das gemeinsame Kind völlig entfremdet, bricht sie zusammen. Zitator „Effi Briest“ Effi legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor sich hin: Zitatorin Effi Briest O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, daß er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. '0 gewiß, wenn ich darf.' Du brauchst nicht zu dürfen; ich will euch nicht mehr, ich hasse euch, auch mein eigen Kind. Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts. - Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt, richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei 'wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch! O-Ton Rutsch ca. 142.00 Damals, als Effi Briest erschien, löste dieses Buch natürlich einen Wirbel aus, weil es hat nicht nur einen wunden Punkt berührt, sondern es war, so wie es formuliert und erzählt wurde, war das ein Attentat auf die herrschende Moral im deutschen Kaiserreich. Also einem Reich, indem die Aufgabe der Frau darin bestand, Ehefrau eines Mannes zu sein. Das war ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung. Und dieses absurde Verhältnis und völlig unzeitgemäße Verhältnis aufzubrechen, also Frauen nicht nur den Zugang zur Wissenschaft zu ermöglichen, sondern zu einem freien und selbstbestimmten Leben, das war ein heftiges Zeichen und da hatte die Zeit ungeheuer daran zu knabbern. (O-Ton Brühl 60.30 Zweifelsohne hat Fontane einen großen Beitrag zur Kulturgeschichte der Frau geleistet. Kaum ein Autor schildert so ausführlich die ganzen unterschiedlichen Schicksale, die Frauen damals erleiden konnten oder viele auch einfach erlebt haben.) Erzählerin Wie bei vielen seiner Romane und Novellen benutzt Theodor Fontane für „Effi Briest“ eine reale Vorlage. Einen in der Öffentlichkeit weidlich bekannten Skandalfall. O-Ton D‘Aprile 64.00 Also tatsächlich stand in dieser ursprünglichen Zeitungsnachricht nicht viel, sondern erst mal nur dieses Duell in der Hasenheide. Und Fontane hat dann recherchiert und hat herausgefunden, um wen es sich handelt. Dass es ein Fall war in der Familie Ardenne, wo eben ein Offizier den Liebhaber der Frau, einen einen Richter aus Düsseldorf glaube ich, im Duell erschossen hat. Und er hat diese Geschichte recherchiert und wenn man jetzt sozusagen die realgeschichtliche Vorlage und Fontanes Roman vergleicht, dann sieht man, wie er damit umgegangen ist. In der real geschichtlichen Vorlage war es gar nicht so, dass da z.b. ein älterer Mann und eine jüngere Frau verheiratet sind, sondern die Ardennes waren relativ gleich alt und haben sich auch, die haben schon lange mehr oder weniger in nicht mehr funktionierender Ehe gelebt und hatten beide ihre Verhältnisse neben der Ehe. Und erst als die Frau sozusagen Scheidungspläne hatte und sich unabhängig machen wollte, hat dann der Mann gezielt nach Beweisen gesucht für ihre andere Liebschaft, von der er wusste, diesem Richter. Und hat sozusagen dieses Duell dann auch gezielt betrieben. Und daraus macht Fontane eine ganz andere Geschichte, er macht daraus eine Geschichte, wo eine Tochter von ihren Eltern mehr oder weniger verkauft wird an einen älteren Mann. (Und nicht mal irgendeinen älteren Mann, sondern auch noch an einen Mann, der schon mal eine Affäre mit der Mutter, mit der Mutter Luise von Briest hatte und damals für Luise von Briest noch nicht gut genug war, weil er eben noch am Anfang seiner Karriere stand. # Und Fontane also macht solche bestimmten psychologischen Konstellationen daraus, vielleicht auch so Wiederholungs-zwänge der Gesellschaft daraus und erklärt auch gleichzeitig, wie Instetten, also dieser Ehemann von Effi, wie der zu dem Schneemann geworden ist, der er dann im Roman ist.) # Das Vorbild, also Elisabeth von der Ardenne, ist auch nicht an der Geschichte zugrunde gegangen, sondern ist auch sehr alt geworden und hat dann noch bis in die 1950er Jahre glaube ich sogar gelebt. Also da spitzt er auch sozusagen diesen dramatischen Aspekt zu, dass die Frau eben tatsächlich an den Konventionen der Zeit zugrunde geht, dann auch stirbt. Zitator „Effi Briest“ Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als »Effi Briest« und darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: Zitatorin Effi »Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht.« Zitator „Effi Briest“ Und es war ihr versprochen worden. Erzählerin Der Roman endet, wo er begonnen hat. Auf der Terrasse des Briestschen Hauses. Effi ist nach schwerer Krankheit gestorben. Ihre Eltern sitzen mit Rollo, dem geliebten Hund der Tochter, am Kaffeetisch. Zitator „Effi Briest“ Frau von Briest hatte mittlerweile den Kaffee eingeschenkt und sah nach dem Rondell und seinem Blumenbeet. Zitatorin »Sieh, Briest, Rollo liegt wieder vor dem Stein. Es ist ihm doch noch tiefer gegangen als uns. Er frißt auch nicht mehr.« Zitator Fontane »Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das beste.« Zitatorin »Sprich nicht so. Wenn du so philosophierst ... nimm es mir nicht übel, Briest, dazu reicht es bei dir nicht aus. Du hast deinen guten Verstand, aber du kannst doch nicht an solche Fragen ...« Zitator Fontane »Eigentlich nicht.« Zitatorin »Und wenn denn schon überhaupt Fragen gestellt werden sollen, da gibt es ganz andere, Briest, und ich kann dir sagen, es vergeht kein Tag, seit das arme Kind da liegt, wo mir solche Fragen nicht gekommen waren ...« Zitator Fontane »Welche Fragen?« Zitatorin »Ob wir nicht doch vielleicht schuld sind?« Zitator Fontane »Unsinn, Luise. Wie meinst du das?« Zitatorin »Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen. Gerade wir. # Und dann, Briest, so leid es mir tut ... deine beständigen Zweideutigkeiten ... und zuletzt, womit ich mich selbst anklage, denn ich will nicht schadlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war?« Zitator „Effi Briest“ Rollo, der bei diesen Worten aufwachte, schüttelte den Kopf langsam hin und her, und Briest sagte ruhig: Zitator Fontane »Ach, Luise, laß ... das ist ein zu weites Feld.« Musik Erzählerin Sieben Jahre alt ist Theodor Fontane, als er mit dem Vater und den Geschwistern nach Swinemünde umzieht. Die Mutter wird ein halbes Jahr später nachkommen, vorläufig ist sie noch beim bekannten Nervenarzt Dr. Horn in der Berliner Charité in Behandlung. Als sie in Swinemünde einrifft, ist sie entsetzt. Louis Fontane hat seinen Sohn an der städtischen Gemeinschule eingeschult, nicht standesgemäß, wie Emilie Fontane befindet. Der Junge soll fortan zu Hause unterrichtet werden. Bei der Mutter im Lesen, beim Vater in Französisch und Latein, Geographie und Geschichte. Zitator Fontane // Zitator Vater Fontane So sonderbar diese Stunden waren, so hab' ich doch mehr dabei gelernt als bei manchem berühmten Lehrer. Mein Vater griff ganz willkürlich Dinge heraus, die er von lange her auswendig wußte oder vielleicht auch erst am selben Tage gelesen hatte, dabei das Geographische mit dem Historischen verquickend, natürlich immer so, daß seine bevorzugten Themata schließlich dabei zu ihrem Rechte kamen. Etwa so. »Du kennst Ost- und Westpreußen?« »Ja, Papa; das ist das Land, wonach Preußen Preußen heißt und wonach wir alle Preußen heißen.« »Sehr gut, sehr gut; ein bißchen viel Preußen, aber das schadet nichts. Und du kennst auch die Hauptstädte beider Provinzen?« »Ja, Papa; Königsberg und Danzig.« »Sehr gut. In Danzig bin ich selber gewesen und beinahe auch in Königsberg – bloß es kam was dazwischen. Und hast du mal gehört, wer Danzig nach tapferer Verteidigung durch unseren General Kalkreuth doch schließlich eroberte?« »Nein, Papa.« »Nun, es ist auch nicht zu verlangen; es wissen es nur wenige, und die sogenannten höher Gebildeten wissen es nie. Das war nämlich der General Lefèvre, ein Mann von besonderer Bravour, den Napoleon dann auch zum Duc de Dantzic ernannte, mit einem c hinten. Darin unterscheiden sich die Sprachen. Das alles war im Jahre 1807.« O-Ton Rutsch 49.40 Also sein Vater ist sicherlich derjenige, der in ihm die Liebe zum Anekdotischen weckt. Der Vater war ja Kriegsteilnehmer an dem, was ja nur vergleichbar ist mit dem Zweiten Weltkrieg, also die Napoleonischen Kriege, die einmal quer durch Europa und wieder zurückziehen. Dort ist der Vater an vier Schlachten beteiligt und dann verlässt er das Militär, weil er glaubt, die nächste Schlacht wird er nicht überleben. Und also Kugeln im Tornister und alle diese Utensilien dieses Krieges, die wurden zu Hause bei den Fontanes durchfabuliert. Zitator Fontane // Zitator Vater Fontane »Es war nach der Schlacht bei Preußisch-Eylau, wo Napoleon, ehe er sich niederlegte, zu seinem Liebling Duroc sagte: ›Duroc, heute habe ich die sechste europäische Großmacht kennengelernt, la boue.‹« »Was heißt das?« »La boue heißt der Schmutz. Aber man kann auch noch einen stärkeren deutschen Ausdruck nehmen, und ich glaube fast, daß Napoleon, der, wenn er wollte, etwas Zynisches hatte, diesen stärkeren Ausdruck eigentlich gemeint hat.« »Was ist zynisch?« »Zynisch... ja, zynisch... es ist ein oft gebrauchtes Wort, und ich möchte sagen, zynisch ist soviel wie roh oder brutal. Es wird aber wohl noch genauer zu bestimmen sein. Wir wollen nachher im Konversations-Lexikon nachschlagen. Es ist gut, über dergleichen unterrichtet zu sein, aber man braucht nicht alles gleich auf der Stelle zu wissen.« O-Ton D‘Aprile 10.45 Also es war weitgehend autodidaktische Bildung, er hat ja in dem Elternhaus, das beschreibt er ja auch, sozusagen zeitgenössische Lektüre verfügbar gehabt, also Walter Scott war dann auch lebenslang ein sehr wichtiger Referenzautor für Fontane, den hatte er tatsächlich auch schon zu Hause kennen kennengelernt, der war präsent. Das war sozusagen populäre Leihbibliotheksliteratur, es gab in Apotheken immer auch Literatur Zeitschriften verfügbar, Tageszeitungen. Auch viele der Werke oder fast alle der literarischen Veröffentlichungen des 19. Jahrhundert sind ja zuerst in Zeitungen, Zeitschriften erschienen.) O-Ton Rutsch 49.40ff Und was dann zu diesem Anekdotischen führt, ist, der Vater war Zeitungsleser, aber der hat ihm, bevor Fontane selber sehr zeitig anfängt Zeitung zu lesen, anekdotische Splitter aus der Welt geliefert. Und da muss Fontane bemerkt haben, dass man also auch Nachrichten in Kurzform als Anekdote mitteilen kann. Also das # ist bei Fontane wirklich in der Kindheit angelegt. O-Ton D‘Aprile 10.45ff Wenn man ihm folgt, ist er ja fast gar nicht zur Schule gegangen, sondern selbst wenn er irgendwo angemeldet war, hat er dann lieber die Zeit im Café verbracht. Erzählerin Als Theodor Fontane 1857 eingeladen wird zur Einweihung des Goethe-Schiller-Denkmals in Weimar, lehnt er kokett ab. Er wolle sich nicht blamieren unter all den geladenen akademisch gebildeten Geistesgrößen. Zeitlebens schwankt er, was die autodidaktische Bildung angeht, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Stolz. An den Freund Wilhelm Wolfssohn schreibt er 1843: Zitator Fontane Ich bekämpfe den Satz und werd ihn bis zum letzten Lebenshauche bekämpfen, daß der Normalabiturient oder der durch sieben Examina gegangene Patentpreuße die Blüte der Menschheit repräsentiere. Das Beste, was wir haben, ist ohne diese vorgängigen Proben geleistet worden. O-Ton D‘Aprile 10.45ff Und insofern hat er seine literarische Bildung, wie aber vielleicht auch ein Großteil des Lesepublikums, die ja auch nicht akademisch gebildet waren, eben aus Leihbibliotheken, Lesecafés, aus eigener Lektüre, aus den populären Medien der Zeit gewonnen. Musik Zitator Tucholsky Manche Leute gehen in fremden Orten immer erst in den Ratskeller, manche zur Sehenswürdigkeit – ich gehe in die Apotheke. Da weiß man doch. Erzählerin Kurt Tucholsky, 1930 in der Weltbühne Zitator Tucholsky Es beruhigt ungemein, zu sehen, wie die Töpfchen der Reihe nach ausgerichtet stehn, jedes mit einem Namen auf dem Bauch, und fast von keinem wissen wir, was es ist. Manche heißen furchtbar unanständig, aber die Apotheker meinen das nicht so. Und immer riecht es nach strengen und herben Sachen, es sind jene Düfte, die dem guten, alten Apotheker langsam zu Kopf steigen. Hübsch, so eine Apotheke. Man fühlt sich so geborgen; es kann einem nichts geschehen, weil sie ja hier gegen alle Krankheiten und für alle Menschen ihre Mittel haben. Es ist alles so ordentlich, so schön viereckig, so abgewogen rund – so unwild. Erzählerin Ungefähr so, wie Kurt Tucholsky sie hier beschreibt, sehen schon die modernen Apotheken im Berlin der Gründerzeit aus, in denen der Romanschriftsteller und gelernte Apotheker Theodor Fontane gern und häufig Arzneien für seine Familie einkauft. Wie anders dagegen, nämlich gar nicht unwild, sondern wildromantisch und abenteuerlich, die väterliche Apotheke in Swinemünde. Zitator Fontane Das Laboratorium präsentierte sich mit seinen Retorten und Destillierapparaten (zwischen denen ein getrockneter Buttfisch von der gewölbten Decke hing) als ein vollkommen alchimistischer Raum, darin Faust sein »Habe nun, ach« ohne weiteres hätte beginnen können. Ja, in seiner grotesken Unmodernität war hier im vollsten Gegensatz zu den prosaischen Wohnräumen alles frappierend interessant. Erzählerin Ein herrlicher Ort, um in Regalen, Fässern, Kisten und Pappschachteln mit geheimnisvollen Pülverchen, getrockneten Kräutern und Fläschchen mit Säuren und Lauge zu stöbern. Stunden verbringt Fontane hier, um dem Vater beim Wiegen und Mörsern, Anrühren von Salben und Kochen von Tinkturen zu helfen. Ist der Vater nicht da, nutzen Theodor und die Geschwister das Laboratorium für eigene Experimente. Zitator Fontane Ich hatte mich mit Hilfe von Schwefel und Salpeter, die wir in der Apotheke bequem zur Hand hatten, zu einem vollständigen Pyrotechniker herangebildet, dabei von meiner Papp- und Kleisterkunst sehr wesentlich unterstützt. Alle Sorten von Hülsen wurden mit Leichtigkeit hergestellt, und so entstanden Sonnen, Feuerräder und pot à feu's. Oft weigerten sich diese Schöpfungen, ihre ihnen zugemutete Schuldigkeit zu tun, und wir warfen sie dann zusammen und zündeten den ganzen Haufen mißglückter Herrlichkeit mit einem Schwefelfaden an, abwartend, was draus werden würde. Erzählerin Aus dem Apothekersohn wird, da ist er 16 Jahre alt, der Apothekerlehrling Theodor Fontane. Er lernt in der traditionsreichen Berliner Apotheke „Zum Weißen Schwan“ bei Wilhelm Rose und geht nach der Lehrzeit als Geselle nach Burg, später Leipzig und Dresden. O-Ton D‘Aprile 13.00 Also er ist in der Apotheke geboren, ist in der Apotheke groß geworden, hat seine erste Lektüre in Apotheken, er hat diese ganze Ausbildung durchlaufen, Lehrjahre, Gesellenjahre bis zum ersten Examen. Und dann hat er noch so eine kurze befristete Anstellung als Apothekerinnenausbilder. Also 30 Jahre Apotheker-Sozialisation, die nicht spurlos an ihm vorüber gegangen sind. Und man kann das jetzt sozusagen in der späteren Tätigkeit, danach folgten 40 Jahre Erwerbsleben als Journalist, also der Berufswechsel und dann 40 Jahre Journalist, man kann seine 30jährige Apotheker-Sozialisation auf unterschiedlichen Ebenen in seinem Werk oder auch in seinen Autorpraktiken und auch seinen Publikations-praktiken nachvollziehen. # Also er beschreibt es durchaus so, dass er da wie in einer Apotheke Stoffe gesammelt hat, in unterschiedlichen Küchenschubladen seines Schreibtisches untergebracht hat und dann eben je nach Auftragslage seine Romane zusammen gerührt hat, nach Rezept, sagt er sogar, also er selbst benutzt diese Apothekersprache auch. ((Erzählerin Kurz nach dem Tod Theodor Fontanes beschreibt Sohn Friedrich in der „Berliner Illustrierten Zeitung“ das Arbeitszimmer seines Vaters. Zitator Friedrich Fontane Worauf ich aber besonders hinweisen möchte das ist, daß auch die nach den Fenstern zugekehrte Front des Schreibtisches zahlreiche Kästen aufweist. Er war also von zwei Seiten aus benutzbar. Zum Beispiel befanden sich in dem obersten Kasten rechts wiederum andere Kästchen und Schächtelchen, die die merkwürdigsten Dinge enthielten. Zwischen beiden Fenstern: ein gerahmtes darüberhängendes Photo meines Großvaters, des ehemaligen Apothekers. An der anderen Längswand zunächst ein Vertikow, un- und halbfertige Manuskripte enthaltend. Außerdem zwei Regale, das größere, höhere sehr praktisch: die untere Hälfte tiefer, damit Karten, Pläne, Zeitungen usw. ungeknickt aufbewahrt werden konnten. Die Mitte des Regals bilden vier Kästen, wieder mit allem Möglichen– die Natronschachtel durfte natürlich nicht fehlen– angefüllt. Oberhalb ein ganzes Sortiment von extra angefertigten Pappkästchen zur Aufbewahrung der allernotwendigsten Korrespondenz. Auf dem kleineren ebenfalls Bibliotheks-Regal eine Hausapotheke vom Schwager Sommerfeldt. O-Ton D‘Aprile 13.00ff Also Fontane hatte z.b. Zeit seines Lebens eher so ein unternehmerisch handwerkliches Verhältnis zur Literatur, kein theoretisches Verhältnis, kein akademisches Verhältnis, sondern ihn hat immer interessiert, wie ist Literatur gemacht, wie kann man interessante Texte schreiben und wie kann man sie vor allem auch verkaufen, da er dann auch davon leben musste. Also er war eher Schriftsteller-Unternehmer, würde man vielleicht vielleicht sagen. Und der Apothekerberuf ist ja ein Beruf, der so zwischen vielleicht Medizin und Handel angesiedelt ist.)) Er hat aber auch natürlich dadurch bestimmte sozusagen Beobachtungsgaben mitgenommen und Diagnosegaben vielleicht. O-Ton Brühl 73.55 Das ist noch ein ganz wichtiger Punkt auch für die Frage, warum kannte sich Fontane mit denen Frauen so gut aus. Er war ja Pharmazeut, er war gelernter Apotheker, kannte sich mit den Krankheitsbildern seiner Zeit aus, profunde. Und er wusste, wie man diese Krankheiten heilte, er kannte sowohl die Krankheiten als auch die Heilmittel. Obwohl er kein Arzt war, aber doch sehr sehr nah dran am leiblichen Wohl des Menschen. Er war Naturwissenschaftler, wir kennen das ja auch in der Literatur von vielen Autoren, dass sie Ärzte waren, nicht, Tschechow war Arzt# Bulgakow war Arzt. Also Männer, die die Menschen profunde also auch als sozusagen als natürliches Wesen kannten, hatten auch weniger Berührungsängste oder auch bessere Kenntnisse, um Menschen zu beschreiben in einer richtig vortrefflichen Art und Weise. Erzählerin In seinem zweiten autobiografischen Roman „Von Zwanzig bis Dreissig“ beschreibt Fontane, wie er noch während der Lehrlingszeit in Berlin zum Dichten gekommen sei. Zitator Fontane Der alte Wilhelm Rose hatte geschäftliche Beziehungen nach England hin, und diese Beziehungen trugen ihm enorme Bestellungen auf einen ganz bestimmten Artikel ein. Dieser Artikel hieß Queckenextrakt oder Extractum Graminis. In England muß es damals Mode gewesen sein, statt Brunnenkuren eine Queckenextraktkur durchzumachen – nur so läßt es sich erklären, daß wir große Fässer davon nach London, ganz besonders aber nach Brighton hin zu liefern hatten. Alles drehte sich um diesen Exportartikel. Mir fiel die Herstellung desselben zu, und so saß ich denn, tagaus tagein, mit einem kleinen Ruder in der Hand, an einem großen eingemauerten Zinnkessel, in dem ich, unter beständigem Umherpätscheln, die Queckensuppe kochte. Schönere Gelegenheit zum Dichten ist mir nie wieder geboten worden; die neben herlaufende, durchaus mechanische Beschäftigung, die Stille und dann wieder das Auffahren, wenn ich von der Eintönigkeit eben schläfrig zu werden anfing – alles war geradezu ideal, so daß, wenn zwölf Uhr herankam, wo wir unser Räuberzivil abzulegen und uns für »zu Tisch« zurechtzumachen hatten, ich die mir dadurch gebotene Freistunde jedesmal zum Niederschreiben all dessen benutzte, was ich mir an meinem Braukessel ausgedacht hatte. Erzählerin Schon damals in Berlin sucht Fontane Anschluss an literarische Kreise, als er später nach Leipzig geht, verkehrt er im sogenannten Herwegh-Club, dichtet Freiheitslieder im Herweghschen Stile und veröffentlicht Gedichte und Novellen in der fortschrittlichen Leipziger Zeitschrift „Die Eisenbahn“. Zitator Fontane Mit jener nur der Jugend eigenen Unverwüstlichkeit setzte ich es durch, bei Tage Geschäftsmann, bei Nacht ein Mittelding von Student und Literat zu sein. Burschenschafter sowie Schriftsteller siebenten Ranges wurden mein Umgang. Ich war fest entschlossen, wie fast jeder Zweiundzwanzigjährige, der das Leipziger Pflaster tritt, „unter die Literaten zu gehen.“ O-Ton D‘Aprile 10.45ff Was vielleicht noch ganz wichtig ist für seine literarische Sozialisation sind die Literatur Vereine, die also so gesellige Zusammenkünfte von schreibenden Dilletanten waren. Ganz wichtig eben dieser Berliner Sonntags-Verein „Tunnel über der Spree“, wo Berufstätige aus allen möglichen Gesellschaftskreisen, häufig auch höheren Beamtenkreisen sich sonntags getroffen haben und sich ihr Selbstgedichtetes vorgetragen haben und dann auch gegenseitig kritisiert haben, das war für Fontane auch eine ganz sehr wichtige literarische Schulung. Erzählerin Der Offizier und Schriftsteller Bernhard von Lepel, einer der ältesten und engsten Freunde Fontanes, führt ihn 1844 in den „Tunnel über der Spree“ ein und macht ihn dadurch mit einer Reihe einflussreicher Männer bekannt, von denen einige wiederum wichtige Freunde und Förderer werden. Eine Art Karrierenetzwerk, dem unter anderem der Jurist Christian Friedrich Scherenberg, der Maler Adolf Menzel, Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger für Literatur Paul Heyse, der Jurist und der preußische Staatsbeamte Wilhelm von Merckel und Franz Kugler, Redakteur der preußischen „Nationalzeitung“, angehören. Der dichtende Apothekergehilfe, der in Leipzig noch pathetische Freiheitslyrik verfasst hatte, trifft hier auf einen Zirkel konservativer Männer mit ausgesprochener Nähe zur preußischen Regierung. Die sonntäglichen Zusammenkünfte des Vereins darf man sich, so schreibt es Iwan-Michelangelo D‘Aprile, als eine Art „poetryslam im verrauchten Herrenzimmer“ vorstellen. Zitator Fontane Jede Sitzung wurde durch ein dreimaliges Aufstampfen mit dem Eulenzepter eröffnet, dann stellte das »Haupt« das Zeichen seiner Macht beiseite, und rechts den Schriftführer, links den Kassierer, bat er ersteren um Vorlesung des Protokolls der vorigen Sitzung. War das Protokoll erledigt, so stellte das Haupt die Frage: »Späne da?« Darunter verstand man die zum Vortrag bestimmten Beiträge – meist Gedichte–, von denen jeder Beitrag schon vor Beginn der Sitzung entweder auf den Tisch des Hauses niedergelegt oder beim Schriftführer wenigstens angemeldet sein mußte. Erzählerin Theodor Fontanes erste literarische Beiträge werden im „Tunnel“ allenfalls höflich aufgenommen. Zitator Fontane Ganz allmählich aber fand ich mich zu Stoffen heran, die zum Tunnel sowohl wie zu mir selber besser paßten als das »Herweghsche«, für das ich bis dahin auf Kosten andrer Tendenzen und Ziele geschwärmt hatte. Dies für mich Bessere war der Geschichte, besonders der brandenburgischen, entlehnt, und eines Tages erschien ich mit einem Gedicht »Der Alte Derfflinger«, das nicht bloß einschlug, sondern mich für die Zukunft etablierte. Musik Zitator Fontane-Ballade Es haben alle Stände So ihren Degenwert, Und selbst in Schneiderhände Kam einst das Heldenschwert; Drum jeder, der da zünftig Mit Nadel und mit Scher', Der mache jetzt und künftig Vor Derffling sein Honneur. In seinen jungen Tagen War das ein Schneiderblut, Doch mocht' ihm nicht behagen So Zwirn wie Fingerhut; Und wenn er als Geselle So saß und fädelt' ein, Schien ihm die Schneiderhölle Die Hölle selbst zu sein. Einst, als das Nadelhalten Ihm schier ans Leben ging, Dacht' er: ›Das Schädelspalten Ist doch ein ander Ding‹; Fort warf er Maß und Elle Voll Kriegslust an die Wand Und nahm an Nadels Stelle Den Säbel in die Hand. Sonst focht er still und friedlich Nach Handwerksburschen-Recht, Jetzt war er unermüdlich Beim Fechten im Gefecht; Es war der flinke Schneider Zum Stechen wohl geschickt, Oft hat er an die Kleider Dem Feinde was geflickt. Er stieg zu hohen Ehren, Feldmarschall ward er gar, Es mocht' ihn wenig kehren, Daß einst er Schneider war; Nur, fand er einen Spötter, Verstund er keinen Spaß Und brummte: »Für Hundsfötter Ist hier mein Ellenmaß.« (Krank lag in seinem Schlosse Der greise Feldmarschall, Keins seiner Lieblingsrosse Kam wiehernd aus dem Stall; Er sprach: »Als alter Schneider Weiß ich seit langer Zeit, Man wechselt seine Kleider – Auch hab' ich des nicht Leid. Es fehlt der alten Hülle In Breite schon und Läng', Der Geist tritt in die Fülle, Der Leib wird ihm zu eng; Gesegnet sei dein Wille, Herr Gott, in letzter Not!« Er sprach's und wurde stille – Der alte Held war tot.) O-Ton D‘Aprile ca. 24.00 Dieser Tunnel ist, wie er selber sagt, für ihn eine wichtige Balladen-Schule geworden. es wurde ja mündlich vorgetragen, dafür eignet sich die Gattung der Ballade. Man konnte sich einüben in Literaturkritik, weil man immer gleich die Texte der anderen kritisieren musste oder sollte. Und da hat er angefangen und dann die ersten Erfolge tatsächlich mit diesen „Preußen-Liedern“ gehabt. Das ist aber noch Vormärzzeit, also die sind dann schon 1846-47 und sind nicht einfach gleichzusetzen mit so einer Art reaktionären Wende des Theodor Fontane. Sondern im Gegenteil, die wurden so von du von den arrivierten Regierungs-Angehörigen eher skeptisch gesehen, weil sie eben diesen Gassenhauer-Charakter haben und diese preußischen Feldherren dann als brandenburgischer Lederstrumpf vorgeführt werden, wie Zieten aus dem Busch. Und ich habe ja dann auch im Buch auch geschrieben, die lassen sich dann auch nach der Melodie von „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ singen alle, wobei dies Lied ja erst später ist, aber vielleicht gab es die Melodie schon, ich weiß es nicht. Erzählerin Fünf Jahre nach seinem Eintritt in den „Tunnel“ entschließt sich Fontane 1849, den Apothekerberuf aufzugeben. Fortan ist er, der nicht studiert und nicht einmal Abitur hat, immer wieder auf Stellenvermittlung durch die einflussreichen Freunde angewiesen. Seine Herrensalon-Freunde sind es auch, die ihm aus ganz lebenspraktischen Kalamitäten helfen. Im März 1849 schreibt der seit dreieinhalb Jahren mit Emilie verlobte an Bernhard von Lepel: Zitator Fontane Brief an Bernhard von Lepel, 1. März 1849  «Enthüllungen No II; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings. Abgesehn von dem moralischen Katzenjammer, ruf ’ ich auch aus: ‹Kann ich Dukaten aus  der Erde stampfen usw.› Meine Kinder fressen mir die Haare vom  Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe. O horrible,  o horrible, o most horrible! Ruft Hamlets Geist und ich mit ihm.  Das betreffende interessante Aktenstück (ein Brief aus Dresden)  werd’ ich Dir am Sonntage vorlegen, vorausgesetzt, daß Du für die Erzeugnisse meines penes nur halb so viel Interesse hast wie für die  meiner Feder.» O-Ton Rutsch 96.20 Fontane mag Frauen und er ist ja als junger Mann in so manche Liebelei verstrickt und da gab es ja schon seine spätere Ehefrau, die er ja kennengelernt hat als sie zwölf Jahre und er 16 Jahre alt war. Und die beiden müssen also warten und er hat auch Lust, auf sie zu warten, möchte endlich genügend Geld verdienen. Sie wartet also irgendwie auf ihn und er stromert also durch das Junggesellenleben, zeugt dabei auch zwei uneheliche Kinder in Dresden. Günter Grass hat ja versucht mit seinem Arbeitsumfeld die Geschichte genau zu recherchieren, es ist ihm auch nicht gelungen, aber wir wissen, dass es diese Kinder gab. Und wir wissen, dass er Alimente gezahlt hat und für dieses Zahlen der Alimente Kredite, würden wir heute sagen, aufgenommen hat. Er ist, bevor er überhaupt in sein Eheleben gegangen ist, sogar schon verschuldet gewesen. Dann kommt dazu, dass er in dem Schicksal seiner Frau ja gesehen hat, was es bedeutet, was uneheliche Kinder sind. Also seine Ehefrau Emilie, die den gleichen Namen ja getragen hat wie seine Mutter, kommt aus einer unehelichen Beziehung und diese Beziehung hat Fontane ein Leben lang kaschiert, um seine Frau auch zu schützen und das, was man gesellschaftliche Reputation nennt, zu wahren. O-Ton Brühl ca. 22 Ja Emilie war ein Kind, was außerehelich zur Welt kam, ihr Vater war nur kurz stationiert in Beeskow, in der Stadt, wo sie wo ihre Mutter Pastorenwitwe war. Die Mutter hatte schon drei Kinder und da sie sich schämte, dass sie ein weiteres Kind bekam, außerdem von einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet war, gab sie dieses Kind weg und Emilie wuchs in bei einem befreundeten Familie auf. Auch einer Apothekerfamilie, in der sie, also est gab drei richtige Kinder und sie war sozusagen das Findelkind und das war der Frau des Apothekers, ihrer Pflegemutter irgendwann nicht mehr recht. Und daraufhin wurde sie zur Adoption freigegeben im Alter von 3 Jahren, was insofern besonders ungut hätte ausgehen können, weil sie per Anzeige zur Adoption freigegeben wurde in der Vossischen Zeitung, also in der liberalen Berliner Zeitung und es wurde auch eine gewisse Bezahlung in Aussicht gestellt, wenn man dieses Kind übernehmen würde. Was naturgemäß nach sich zog, dass sich dort Menschen meldeten, Männer meldeten, die nicht besonders zahlungsfähig waren, weil sie sich über das Geld freuten und weniger über dieses junge Mädchen. Es fand sich aber zu ihrem Glück ein relativ rührender Mensch, ein Herr, der sich ihre annahm. Sie wurde in einer verzweifelten Aktion zu ihm gebracht, sie wollte keinesfalls ihre Pflegefamilie verlassen und war am Anfang sehr traurig und hatte großes Heimweh. Zumal Kummer auch keine Kinder hatte, sie war da also mutterseelenallein und war auch den Partnerinnen Kummers ausgeliefert gewissermaßen. Und da hatte dieser Mann, ein Berliner Globen-Hersteller und Theaterkarten konnte er so herstellen, da hatte er wiederum keine glückliche Hand, seine erste Frau wurde bald krank und starb. Und die nächste Frau schrie Emilie an und sagte, sie sei ja gar nicht ihr eigenes Kind. Und eine Frau, die dort im Haushalt arbeitete, nahm eben Emilie mit, wenn sie sich in der Kaserne als Soldatenhure verdingte. Und wenn sie nicht mitkommen wollte, dann erzählte sie ihr Schauermärchen, damit sie ja vor lauter Angst zu Hause bleibt. Und die Nachbarn kannten das schon, dass dieses kleine Mädchen da alleine im Zimmer saß und weinte, weil sie einfach Angst hatte und unglücklich war. Und der Vater war weit weg, der liebte das Theater, der ging abends aus, schlief lang und war eben insofern dann für Sie auch nicht zuständig. Aber sie hat ihn ins Herz geschlossen, ihr Leben lang hatte sie zu ihm ein nettes Verhältnis. Und einmal hat er dann doch Glück und heiratete eine Frau aus Dresden, die sogenannte Herzens-Mama, die dann wirklich ganz rührend sich Emilies annahm und sich um sie kümmerte. Gleichzeitig offenbarte der Vater, dass sie tatsächlich adoptiert wurde, im Alter von 14, was ihr natürlich so einen Schreck verursachte. Ja sie war wohl so bisschen rüpelig und ungnädig und nicht immer so das liebe herzige kleine Mädchen, was man so erwartet. Liebte das Theater, weil der Vater sie immer mitnahm ins Theater und spielte eben leidenschaftlich gern auch Szenen, die sie gesehen hatte, nach. Und Fontane wohnte dort in der Nähe, der Junge Theodor Fontane war dort in der Nähe untergekommen bei seinem Onkel. Und gerät also mit seinem Mitbewohner unwillkürlich in so eine Szene, wo die Kleine Emilia ein Stück nachspielte und immer ihre Freundin nur so hin und her schob, damit sie jeweils mal die Rolle des einen, mal die Rolle des anderen, ich glaube, es war sogar Romeo und Julia, also wirklich ganz lustig. Und davon war Fontane so hingerissen, dass er sie also in die Arme nahm und hoch hob und so sein Entzücken zum Ausdruck brachte. Ja eben aus dieser aus dieser Zeit und aus dieser Nähe entstand dann eben eine Freundschaft und eine Liebe und eine ellenlange Verlobungszeit und auch eine Heirat und eine langjährige Ehe. Erzählerin Im Oktober 1850, ein Jahr nach dem Entschluss, das Apothekerleben aufzugeben und freier Schriftsteller zu werden, heiraten Theodor und Emilie Fontane. Im Sommer 1851 kommt das erste Kind, was die ohnedies ständig präsenten finanziellen Sorgen nur vergrößert. Freunde besorgen Fontane eine Anstellung bei der preußischen „Centralstelle für Pressangelegenheiten“, später bei der regierungsnahen „Kreuzzeitung“. Über Fontanes oft notgedrungen und widerwillig angenommenen Jobs bei preußischen Behörden wird in der zweiten Stunde noch zu reden sein. Sie erzählt über Fontane als unsteten Wanderer – Wanderer von Anstellung zu Anstellung, Wanderer zwischen den politischen Lagern und Überzeugungen, schließlich als begeisterten Pauschaltouristen, Englandkenner und als Verfasser des bis heute populärsten literarischen Reiseführers durch die Mark Brandenburg. 2. Stunde O-Ton Rutsch 40.00 Der sitzt da so gemütlich auf der Parkbank, den Stock, die Beine übereinander geschlagen. Aber es ist ein Denkmal aus der Zeit, es ist ja, ähnelt in manchen Zügen einem Denkmal, das 8 Jahre vorher in Wien aufgestellt worden ist. Also Goethe und Fontane haben die selben Schuhe an. Erzählerin Hans Dieter Rutsch, Dramaturg, Filmemacher und Autor des Fontanebuches „Der Wanderer“. O-Ton ca 37 ich weiß es ganz genau, 1966, da war ich zwölf Jahre alt, da habe ich dieses Denkmal in Neuruppin zum ersten Mal gesehen. Man hat es mir gezeigt, auch gesagt, dass es sich um einen berühmten Dichter handelt, man hat nicht Schriftsteller gesagt, und der wäre dort also durch die Ruppiner Schweiz gelaufen und hätte sich Schloss für Schloss angeguckt, hätte bei den Besitzern der Schlösser oder in den Herrenhäusern, dort hätte er gewohnt und auch ganz gut gelebt. Und alles, was er erlebt hat, hat er aufgeschrieben. Und den habe ich mir angeguckt und sah diesen Mann, der da so freundlich in die Welt guckt. Ich war eigentlich neidisch, weil ich dachte, ist bestimmt ein schönes Leben gewesen. Der Wanderstock da, der Schal und das kleine Notizbuch, was er so in der Hand hält… Erzählerin Fontane der Wanderer. Das regionale Touristikmarketing pflegt bis heute dieses Bild. Kein brandenburgischer Reiseführer kommt ohne Fontane-Zitate, Fontaneorte und Fontanewanderwege aus. Zu absolvieren wunschweise per pedes, Omnibus oder Veloziped. O-Ton Rutsch ca 44, 45 Nahezu lächerlich finde ich, wenn Leute mit denen Wanderungen durch den Wald gehen und glauben, sie würden Fontane nachlaufen oder nachwandern. So etwas hat es ab und zu gegeben, aber das landete sehr schnell im Restaurant, weil Fontane auch sehr gerne gut gegessen hat, am liebsten auch ein bisschen preiswerter, er hat da auf jeden Pfennig oder Cent geachtet. Aber diese Wanderungen als Wanderbuch zu partizipieren, nee, geht nicht! Erzählerin „Reisefeuilletons“ hat Fontane selbst die Wanderberichte getauft. Die Wanderungen sind ein Projekt, das Fontane ein halbes Jahrhundert lang beschäftigte, von seinem 30. bis ins 79. Lebensjahr. O-Ton d‘Aprile 77.50 Ja eigentlich kann man eine ganze Werkbiografie Fontanes aus der Perspektive des Tourismus und der Reiseliteratur vielleicht schreiben. Ich würde schon sagen, also wenn man jetzt so überlegt, was macht eigentlich den Autor Fontane aus, dann sind die Balladen wichtig und die Romane natürlich später. #...# Und dazwischen aber natürlich die Reiseliteratur, zu der ja auch die Wanderungen zählen. Erzählerin Iwan-Michelangelo d‘Aprile, Literaturwissenschaftler und Autor der Biographie“Fontane ein Jahrhundert in Bewegung“. O-Ton d‘Aprile77.50 ff #….# aber die Reiseliteratur ist ganz entscheidend und prägend für Fontane. #...# Von den Schauplätzen, die immer bereiste Schauplätze sind, über die Settings, die ganz oft in Hotels oder Bahnhöfen sind, bis hin zu den Protagonisten spielt diese Tourismus und Reise-Geschichte des 19. Jahrhunderts bei Fontane eine ganz entscheidende Rolle. 30.20 Erzählerin Begonnen hat der Drang nach Weite womöglich schon mit der Erfahrung der Enge in Neuruppin und Swinemünde. 1844 muss Theodor Fontane dann auch noch wie jeder preußische Mann zur Fahne. Zitator Fontane-Ballade Es krankt, seit des Gefreiten Schere Mir meine Locken fortgeputzt, Mein Flügelpferd an einer Schwere, Als wär es mit mir zugestutzt. Je steifer nach dem abgehackten Kalbfell den Fuß ich setzten muß, Je steifer wird nach solchen Takten Auch allemal mein Pegasus. Jetzt hat man Rock und Helm, den blanken, Mit all und jedem schon gemein; Und ging’s, man nähte die Gedanken Auch gern in Uniformen ein. Erzählerin Da spürt einer so gar keine Lust zum stupiden Dienst. Drei Jahre sind es üblicherweise. Und fast eben solange hat Fontane darum gekämpft, als „Einjährig-Freiwilliger“ dienen zu dürfen. Ein Privileg, dass in Preußen nur Abiturienten und Akademikern zusteht. Sein Vater fälscht ihm dafür gar ein Zeugnis. Tatsächlich gelingt es Fontane, nur ein Jahr die von Friedrich Wilhelm IV. frisch eingeführte lederne Pickelhaube auf dem Kopf und lederbesetzte Epauletten auf den Schultern tragen zu müssen. Hellsichtig reimt der Einjährig-Freiwillige Fontane: Zitator Fontane-Ballade Gott lohn es ihm, Gott segn es ihm Wir haben nun wieder den Lederriem (…) Und wenn einst der Pöbel die Kette zerbricht Ob Vater, ob Bruder, das kümmert uns nicht Wir stürmen hinein in die feindlichen Glieder Und stoßen und schlagen und schießen sie nieder; Das sind wir ihm schuldig, das schulden wir ihm: Dem wiedergewonnenen Lederriem.“ Erzählerin Diese Gedichte lässt Fontane in der Schublade verschwinden. Erst in den 1920er Jahren werden sie publiziert. Den Ärger über die verschwundenen Locken, dümmliche Offiziere und das stupide Marschieren und Wacheschieben versteckt er im Adjektiv „ledern“. „Ledern“ sind die preußischen Bürokraten, ledern die offiziöse borussische Geschichtsschreibung, Professoren betreiben „lederne Fachsimpelei“. Bezeichnet er in einen Brief an den Vater sein Regiment als „Schund“, so schwadroniert er in seiner Autobiographie „Zwischen Zwanzig und Dreißig“ von den glückseligen Tagen im „literarischen Franz-Regiment“. Was immerhin stimmt ist: als er auf Wache steht, kommt ein Bekannter aus Neuruppiner Tagen vorbei: Hermann Scherz. Zitator Fontane „Er trat an mich heran, begrüßte mich ganz kurz, beinah nüchtern und sagte dann mit jener Ruhe, drauf er sich als Märker wundervoll verstand: »Is mir lieb, daß ich dich noch treffe. Willst du mit nach England? Übermorgen früh.« Daß ich dabei sein Gast sein sollte, verschwieg er, doch verstand es sich von selbst, da niemand existierte, der in meine Geldverhältnisse besser eingeweiht gewesen wäre als er.“ Erzählerin Kostenlos nach England – das überzeugt auch seine Vorgesetzten. Fontane bekommt Urlaub und am 25. Mai 1844 frühmorgens um 7 Uhr beginnt am Anhalter Bahnhof die Reise. Eine Pauschalreise. Übrigens eine der ersten, die in Deutschland angeboten wird. Für 36 Taler 14 Tage nach London. In das Land, das er bisher nur aus den historischen Romanen Walter Scotts und aus den Zeitungen kennt. Das ihn als Mutterland der Eisenbahnen und Dampfmaschinen und als potenzielles Auswandererland interessiert. Als Land, in dem das Parlament regiert und nicht der König. O-Ton d‘Aprile 26.00 England war immer Zielregion, nach Fontanes Kindheitserinnerungen seit der Swinemünder Zeit, weil da eben viele Engländer unterwegs waren dann in Swinemünde. Und war sozusagen als führende Weltmacht und auch führende Kulturmacht für Fontane immer die Zielregion Nummer 1, #...#, das ist das Land der Industrialisierung, aber es ist auch das Land moderner Literaturformen, es gibt da schon realistische Romane, es gibt da Balladen, die Fontane interessiert haben, es gibt aber auch vor allem ein ganz anderes Pressewesen als in Deutschland. Und das sind alles Dinge über die er auch schreibt später, britisches Theater, also Shakespeare war natürlich immer ein wichtiger Referenzautor. Und auch britische Kunst sind Dinge, die ihn immer interessiert haben und London war schon Millionenstadt, auch gar nicht vergleichbar mit den Dimensionen jetzt von Dresden, Leipzig und Berlin. Erzählerin Resultat der 14tägigen Tour: Ein Manuskript mit dem schlichten Titel „Reise“. Zitator Fontane „London hat einen unvertilgbaren Eindruck auf mich gemacht; nicht sowohl seine Schönheit als seine Großartigkeit hat mich staunen lassen. Es ist das Modell oder die Quintessenz einer ganzen Welt. Der mehrerwähnte Umstand, daß London mehr Nachtwächter hat als das Königreich Sachsen Soldaten, ist am ehesten geeignet, eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Riesenstadt zu geben. Wir Deutsche seufzen über „teures Leben“ in London; ich will das unerörtert lassen, aber pflichtschuldig versichern, daß ein Paar Schuhsohlen und einige Pence vollkommen ausreichen, daß wahre, eigentliche, das unvergleichliche London kennenzulernen. [..] Wer London wahrhaft erfassen will, der stürze sich, wenn er dreist und ein tüchtiger Fußgänger ist, in das Gewühl der Menschen, oder besser noch, er besteige die Outside (Außenseite) eines Omnibusses und fahre straßenauf, straßenab von der City bis nach Paddington, von der Westminster-Brücke nach Vauxhall und von dort zum Hyde- oder Regents-Park. Passiert er Cheapside in der City, so entfaltet sich vor seinen Blicken die erste Handelsstadt der Welt. Er sieht die Straße vor sich mit Menschen, Cabs und Gigs, Frachtwagen und Fiakern wahrhaft bedeckt; mit jedem Augenblick erwartet er die Passage gehemmt oder den Omnibus, der ihn führt, zermalmt zu sehn; - mitnichten, die Übung hat auch hier den Meister gemacht, wo die Ängstlichkeit Gefahr bringen würde, triumphiert die Sicherheit. Womit vergleich‘ ich jenes Treiben? Mit einem geschäftigen Bienenschwarm, der dichtgedrängt nach Nahrung ausfliegt, eine untätige puppenartige Bienenköniging an der Spitze? Nenn‘ ich diese zerrinnenden und rastlos neu gestaltenden Menschenwogen ein Meer, darin der einzelne als Tropfen verschwimmt? Am anschaulichsten mach‘ ich dies Drängen und Treiben vielleicht, wenn ich jede Straße mit einem schmalen Theaterkorridor vergleiche, der nach beendigter Vorstellung die Hindurchströmenden kaum zu fassen vermag.“ Erzählerin Da zeigt sich schon Fontanes Talent zum genauen Beobachten, der Plauderton , die feine Ironie, die später die „Wanderungen“ so populär machen sollen. Er bringt auch die Idee für eine Ballade mit: Zitator Fontane -Ballade Der Tower-Brand. Wenn’s im Tower Nacht geworden, wenn die Höfe leer und stumm, Gehn die Geister der Erschlagnen in den Corridoren um, Durch die Lüfte bebt Geflüster klagend dann, wie Herbsteswehn, Mancher hat im Mondenschimmer schon die Schatten schreiten sehn. Vor dem Zug, im Purpurmantel, silberweiß von Bart umwallt, Schwebt des sechsten Heinrichs greise, gramverwitterte Gestalt, Lady Gray dann, mit den Söhnen König Edwards an der Hand; – – Leise rauscht der Anna Bulen langes seidenes Gewand. Zahllos ist das Heer der Geister, das hinauf, hinunter schwebt, Das da murmelt: „Fluch Dir Tower, dran das Blut der Unschuld klebt; Schutt und Trümmer sollst Du werden!“ aber machtlos ist ihr Fluch, Ehern hält den Bau zusammen böser Mächte Zauberspruch. Wieder nachtet’s, wieder ziehn sie durch die Räume still und weit, Plötzlich stock der Zug und schaart sich um ein glimmend Tannenscheit, Dann geschäftig tragen Schnitzwerk, Fahnen, Frangen sie herzu, Und zur hellen Flamme schüren sie die matte Gluth im Nu. Wie das prasselt, wie das flackert! einen sprühnden Feuerbrand Nehmen sie zum nächt’gen Umzug jetzt als Fackel in die Hand, Weithin wird die Saat der Funken in den Zimmern ausgestreut, Flammen sollen draus erwachsen; hei, der Fluch erfüllt sich heut! Alles schläft: doch auf vom Lager springt im Nu der rasche Sturm, Und er wirft sich in das Feuer, und das Feuer in den Thurm, An des Towers Felsenwände peitscht er schon das Flammenmeer, Und den Segen drüber sprechend, wogt auf ihm das Geisterheer. Doch, als ob das Salz der Thränen feuerfest die Wände macht, Wie wenn Blut der beste Mörtel, den ein Meister je erdacht, – Seht, wie durstig auch die Flamme sich von Thurm zu Thurme wirft, Hat sie doch, als wären’s Becher, nur den Inhalt ausgeschlürft. Wieder, wenn es Nacht geworden, wenn’s im Tower leer und stumm, Gehn die Geister der Erschlagnen in den Korridoren um, Durch die Lüfte weht Geflüster, klagend dann wie Herbsteswehn, Mancher wird im Mondenschimmer noch die Schatten schreiten sehn. Erzählerin Im Dezember 1844 liest Fontane die Ballade im „Tunnel über der Spree“ vor. Eine der zahlreichen literarischen Gesellschaften, in denen man sich gegenseitig Texte vorliest und kritisiert. Fontane ist – eingeführt von seinem Freund und als Offizier im Franz-Regiment auch militärischen Vorgesetzten - Bernhard von Lepel seit einem Jahr dort Mitglied. Tunnelname „Lafontaine“. O-Ton d‘Aprile ca 19.00 (Vor den Balladen gibt es ja noch den sozusagen den frühen Vormärz- Fontane, der englische Arbeiter-Dichtung übersetzt, über die er auch dann schreibt, also früh-sozialistische Dichtungen, so nennt er die selbst. Insofern kommt er sozusagen aus 2 Richtungen, aus der altenglischen Ballade und aus der englischen Arbeiter-Dichtung, was auch nicht unbedingt ein Gegensatz ist, weil die Ballade ja auch eine populäre Literaturform ist.) Zitator Fontane_Ballade Jacobitenlieder. Sie kommen mit Pfeifen und Dudelsäcken Und suchen das Volk mit den rothen Röcken, Bald werden die Schöße im Winde fliegen, Bald werden die Whigs auf der Nase liegen, Denn Jack und Tom und Bobby kommen Und haben die blaue Blume genommen. O-ton d‘Aprile ff Man muss die sich ja auch oft vorgetragen oder gesungen vorstellen, also die steht in der Nähe von Moritaten, Chansons, Volksliedern und ähnlichen Gassenhauern. Und in der Form kam Fontane die Ballade auch entgegen gerade wegen seiner Vorliebe für Popkultur. Er hat ebenfalls keine Abneigung gegen Popkultur, sondern es war sozusagen die Art von Literatur, die er selbst auch betreiben wollte. Und wenn man solche Dichter nimmt, wie Robert Burns oder auch Walter Scott es sind,.. 20.00...die eben diese Trennung zwischen hoher Literatur und sogenannter niederer Literatur aufgehoben haben und von allen Bevölkerungsschichten eigentlich rezipiert wurden. Und auf dem Feld wollte Fontane auch mit seinen Balladen reüssieren, die Ballade kam ihm auch deswegen entgegen, weil er ja diese historischen Interessen hatte und eigentlich sich selber auch immer als Erzähler gesehen hat #...# Und die Ballade als eine Kunstform, die eben narrativ ist, in der eine Geschichte erzählt wird, aber eben doch in poetischer Form, die kam seinen Vorlieben sehr entgegen. Und dann, wie sie sagen, er hat eben aus dieser überlieferten Form dann vor allem im Alter, aber es fängt eigentlich schon in den 40er Jahren an, mit Vorliebe moderne Stoffe behandelt, also Eisenbahnunglücke, den Afghanistankrieg oder andere Kolonialkriege ((und das ist auch so ein durchgehendes Muster beim Autor Fontane, er hat die Vorliebe, Altes und Neues irgendwie in ein Spannungsverhältnis zu setzen. Und das hat er eben gerade in der Balladenform dann auch bis zum Schluss verfolgt.)) Zitator Fontane-Ballade „John Maynard“ John Maynard. John Maynard! „Wer ist John Maynard?“ „John Maynard war unser Steuermann, Aushielt er bis er das Ufer gewann, Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’, Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn. John Maynard.“ Die „Schwalbe“ fliegt über den Erie-See, Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee, Von Detroit fliegt sie nach Buffalo – Die Herzen aber sind frei und froh, Und die Passagiere, mit Kindern und Frau’n Im Dämmerlicht schon das Ufer schau’n Und plaudernd an John Maynard heran Tritt alles: „Wie weit noch, Steuermann? Der schaut nach vorn und schaut in die Rund’: „Noch dreißig Minuten … Halbe Stund’.“ Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei – Da klingt’s aus dem Schiffsraum her wie Schrei, „Feuer“ war es, was da klang, Ein Qualm aus Kajütt’ und Luke drang, Ein Qualm, dann Flammen lichterloh, Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo. Und die Passagiere, buntgemengt, Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt, Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht, Am Steuer aber lagert sich’s dicht, Und ein Jammern wird laut: „Wo sind wir? wo?“ Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo, Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht, Der Kapitän nach dem Steuer späht, Er sieht nicht mehr seinen Steuermann, Aber durchs Sprachrohr fragt er an: „Noch da, John Maynard?“ „Ja, Herr. Ich bin.“ „„Auf den Strand. In die Brandung.““ „Ich halte drauf hin.“ Und das Schiffsvolk jubelt: „Halt aus. Halloh.“ Und noch zehn Minuten bis Buffalo. „„Noch da, John Maynard?““ Und Antwort schallt’s Mit ersterbender Stimme: „Ja, Herr, ich halt’s“ Und in die Brandung, was Klippe was Stein, Jagt er die „Schwalbe“ mitten hinein, Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so. Rettung: der Strand von Buffalo. Das Schiff geborsten. Das Feuer verschweelt. Gerettet alle. Nur Einer fehlt! Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell’n Himmelan aus Kirchen und Kapell’n, Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt, Ein Dienst nur, den sie heute hat: Zehntausend folgen oder mehr Und kein Aug’ im Zuge, das thränenleer. Sie lassen den Sarg in Blumen hinab, Mit Blumen schließen sie das Grab, Und mit goldner Schrift in den Marmorstein Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein: „Hier ruht John Maynard. In Qualm und Brand, Hielt er das Steuer fest in der Hand, Er hat uns gerettet, er trägt die Kron’, Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn. John Maynard.“ Erzählerin Die Balladen sind Fontanes erster Versuch, Geschichte und Geschichten poetisch zu erzählen. Sie bringen ihm Anerkennung in literarischen Kreisen ein. Leben kann er davon nicht. Zitator Fontane „Ich habe mich heute der Reaction für monatlich 30 Silberlinge verkauft... Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen.“ Erzählerin Die dreißig Silberlinge, in Wahrheit sind es 40 Taler, bringen Fontane wieder nach England. Als preußischen Agenten. Zitator Fontane „Wie ich’s drehn und deuteln mag – es ist und bleibt Lüge, Verrath, Gemeinheit.“ Erzählerin Der Reihe nach: Der Nachdichter englischer Arbeiterlieder, das Mitglied des demokratischen Leipziger Hergwegh-Clubs, ist von der 1848 ausbrechenden Revolution begeistert. Am 18. März ist er mit auf den Berliner Straßen. Zitator Fontane Schweißtriefend kam ich von dem stillen Kirchplatz in die Neue Königstraße zurück, auf der eben vom Tor her ein Arbeiterhaufen heranrückte, lauter ordentliche Leute, nur um sie herum etliche verdächtige Gestalten. Es war halb wie eine militärische Kolonne, und ohne zu wissen, was sie vorhatte, rangierte ich mich ein und ließ mich mit fortreißen. Es ging über den Alexanderplatz weg auf das Königstädter Theater zu, das alsbald wie im Sturm genommen wurde. Man brach aber nicht von der Front, sondern von der Seite her ein und besetzte hier, während einige, die Bescheid wußten, bis in die Garderoben und Requisitenkammern vordrangen, einen Vorraum, wahrscheinlich eine Pförtnerstube, drin ein Bett stand. .#...# Mittlerweile hatten die weiter in den Innenraum Eingedrungenen all das gefunden, wonach sie suchten, und in derselben Weise, wie sich beim Hausbau die Steinträger die Steine zuwerfen, wurde nun, von hinten her, alles zu uns herübergereicht: Degen, Speere, Partisanen und vor allem kleine Gewehre, wohl mehrere Dutzend. Wahrscheinlich – denn es gibt nicht viele Stücke, drin moderne Schußwaffen massenhaft zur Verwendung kommen – waren es Karabiner, die man fünfzehn Jahre früher in dem beliebten Lustspiele »Sieben Mädchen in Uniform« verwandt hatte, hübsche kleine Gewehre mit Bajonett und Lederriemen, die, nachdem sie den theaterfreundlichen, guten alten König Friedrich Wilhelm III. manch liebes Mal erheitert hatten, jetzt, statt bei Lampenlicht, bei vollem Tageslicht in der Welt erschienen, um nun gegen ein total unmodisch gewordenes und dabei, ganz wie ein »altes Stück«, ausschließlich langweilig wirkendes Regiment ins Feld geführt zu werden. Ich war unter den ersten, denen eins dieser Gewehre zufiel, und hatte momentan denn auch den Glauben, daß einer Heldenlaufbahn meinerseits nichts weiter im Wege stehe. Erzählerin Und beinahe wäre Fontane tatsächlich ein Held geworden – ein literarischer 48er Heldenrevolutionär. Adolf Stahr, ein einflussreicher Literaturkritiker, schlägt der Bestsellerautorin Fanny Lewald vor, einen Roman über den Revolutionär Fontane zu schreiben. Mit dessen Freund Bernhard von Lepel als Antagonisten. Zitator Adolf Stahr Dein Lepel könnte Dir die Studie sein, adlig, Poet, unglücklich liebend (Ein Mädchen aus dem Volke), ein Freund aus dem Volke (Fontan [sic]) auf den er Feuer kommandieren muss in der Barrikadennacht, dann sein Gebrochensein.. Fontan ist vielleicht auch Freiwilliger in Lepels Kompanie. Er soll auf das Volk feuern, er will nicht, er weigert sich laut, er wird Meuterer, er fordert in der Glut der feurigen Begeisterung die Truppe auf, seinem Beispiel zu folgen – nicht zu schießen auf das unbewaffnete Volk, das im Recht ist, und sein Freund, der Offizier, der getreue [?) Leibwächter des Königs, der Mann von Ehre, – muss den Freund niederstoßen, wenn er sich nicht verhaften lassen will.“ Erzählerin Von derart revolutionärem Überschwang anno 48 will Fontane später wenig wissen. Er spielt seine Rolle in fontanescher Manier mit Spott und Ironie herunter. Wie der knapp 30jährige 1848 wirklich empfunden hat, verrät ein Brief vom 21. September an seinen Freund, Tunnelbruder, aber auch preußischen Offizier Bernhard von Lepel. Zitator Fontane (Hervorhebung im Original) Ich bin nicht in der Stimmung, auf Deinen unendlich friedlichen Brief, der nach Abgeschiedenheit und nach jedem beliebigen Jahrgang—nur nicht nach 1848 schmeckt, einzugehn; Die Ereignisse der letzten Tage ...erklären geradezu die Contre-Revolution und fordern zum Kampf heraus. Was auch immer der Ausgang desselben sein mag, ich wünsche ihn, und bin außer mir jenes herrliche Mittel zu entbehren, ohne welches jede Beteiligung eine Unmöglichkeit ist. Mit dürren Worten: hast du nicht auf Väterlicher Rumpelkammer eine alte aber gut Büchse? Vielleicht wird alles anders, als es den Anschein hat, und auch mein Fieber geht wieder vorüber. Dann sollst Du nach langer Mal wieder von dem Poeten hören, aber der Augenblick erheischt Taten, oder doch Wort und Tat. Schande Jedem, der zwei Fäuste hat mit Hand an Werk zu legen, und sie pomadig in die Hosentasche steckt...Denn alles ist faul und muss unterwühlt werden, um im ersten Augenblick die Mine springen lassen zu können.“ Erzählerin Als Fontane diesen Brief absendet, da marschiert die Gegenrevolution schon in Berlin. Getreu den Versen seines Tunnelbruders Wilhelm von Merckel „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ lässt Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. Nicht nur in Preußen, sondern auch in Sachsen und Bayern die demokratischen Bestrebungen niederschlagen. Am Ende des Jahres 48 steht Theodor Fontane wieder einmal mittel- und brotlos da. Iwan-Michelangelo d‘Aprile. O-Ton d‘Aprile Und eigentlich ist es so eine Art Generationserfahrung, kann man fast sagen, dass diese Freiheitsträume auch gewisse gesellschaftliche Kräfte bedürfen und auch einfacher Machtverhältnisse bedürfen, um umgesetzt zu werden. (Und das es diese Basis eben nicht gab, weshalb den Kräften der Wiener Ordnung dann relativ leicht gefallen ist, diese ganzen Revolution wieder rückgängig zu machen.) Das ist glaube ich, so eine Art Generationstrauma der Fontane-Generation. Und manche haben darauf reagiert, dass sie eben die Seite gewechselt haben oder sich von allen revolutionären Bewegung los gesagt haben für alle Zeiten. Bei Fontane bleibt es, auch wenn er auch die Seiten wechselt, dann relativ radikal, bleibt es aber in den Selbstdarstellung immer doch so ein bisschen in der Schwebe, wie er eigentlich dann die Revolution eingeschätzt hat. 28.15 Erzählerin Fontane wechselt also die Seiten, die Kontakte aus dem Tunnel zahlen sich dabei aus. Allen voran, der im Revolutionsjahr so geschmähte Bernhard von Lepel. Aus dem Autor der „Berliner Zeitungshalle“ - Motto: „Alles für das Volk, alles durch das Volk“ - wird ein Mitarbeiter der sehr konservativen „Kreuzzeitung“ und des „Literarischen Kabinetts“. Was so harmlos daherkommt, ist ein insgeheim von der preußischen Regierung finanziertes Büro, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Fontane ist eine spezielle Aufgabe zugedacht: er soll im preußischen Auftrag in London eine Presseagentur gründen und deutsche Zeitungen mit Berichten aus England füttern. Offiziell unabhängig, tatsächlich bezahlt von der Berliner Regierung, um die preußische Sicht auf das Weltgeschehen zu verbreiten. Zitator Fontane „Ich bin jetzt hier eine Art Berichterstatter und Korrespondent. Die Sache klingt pomphafter als sie ist. Ich schicke alle vier Wochen einen Bericht über hiesige Preßzustände, neue Zeitungen, Haltung der verschiedenen Blätter etc. Das wäre soweit ganz gut. Auch korrespondier ich für eine Monatsschrift, die hundeschlecht bezahlt; aber eine große Zeitung, der mit täglichen Mitteilungen gedient wäre, fehlt mir noch immer… Es ist schon Mitternacht und ich bin müde, sonst wollt ich dir auseinandersetzen, welches Huhn mit goldnen Eiern die Redaktionen in mir kaufen könnten; aber sie sind so dumm und geben mir nichts zu essen, und so leg ich lieber gar nicht. Stehst du zu einer Redaktion so, daß du mir bei derselben von wirklichem Nutzen sein könntest?“ O-Ton D‘Aprile 42.00 Ich glaube, Fontane ist der Autor der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, der die meisten Zeitungen von allen überhaupt gelesen hat. Also als Berufsaufgabe eben diese 40 Tageszeitungen und in England dann auch immer sozusagen die gesamte britische Presse oder Londoner Presse möglichst. Also Fontane hat den halben Tag immer Zeitung gelesen, so muss man sich das erst mal vorstellen und es hat ihn auf unterschiedlichsten Ebenen geprägt. In dieser Abhandlung über die britische Presse z.b. schreibt er über den Stil der britischen Tageszeitung und vor allem der Times und deren Feuilletonstil, in dem er immer sehr viel entdeckt, was man später in seinen Romanen auch als Stilmittel wiederfindet, also den Anekdoten Stil z.b., die Abschweifung, die Andeutung. Das unterhaltsame Schreiben, was er eben bei deutschen Tageszeitung vermisst in dieser Zeit, also man kann es an solchen Stilmitteln festmachen und kann es daran festmachen, dass Fontane für alle Romane die er geschrieben hat, eigentlich Zeitungsartikel zugrunde legt für die Story, für den Plot. Also er hat sozusagen reale Geschichten übernommen und dann zu Literatur verarbeiten, zum Teil sehr aktuelle Geschichten, also Effi Briest z.b. sein berühmtester Roman, beruht auf einer Nachricht in der Vossischen Zeitung über ein Duell in der Berliner Hasenheide, wo ein Angehöriger des Militärs einen Richter erschossen hat im Duell. Daraus macht er dann diese Effi Briest-Geschichte, also das gehört zum Realismuskonzept, dass man sozusagen reale Stoffe literarisch noch mal verarbeitet. Zeitungen sind wichtig für Fontane, weil sie ihm Welthorizonte geöffnet haben, gerade in London, wo dann z.b. in den Zeitungen auch schon Kriegsfotografien veröffentlicht worden sind, wo Nachrichten eben aus den unterschiedlichsten Weltregionen veröffentlicht wurden. Die Welthorizonte, die eine Rolle spielen, für sein ganzes Werk, wir haben schon über die Balladen gesprochen, die auch immer diese globale Dimensionierung haben, aber es gilt ja auch für den Stechlin und viele andere Romane. Fontane selbst hat in den 50er Jahren mal an seiner Literaturfreunde aus dem Tunnel über über der Spree geschrieben, dass er eben in England und in London über diese Zeitungsarbeit eigentlich erst zum Weltbegriff von Literatur gefunden hat, während das vorherige im Literaturverein doch immer nur so eine Art Ästhetizismus gewesen sei, also die Welthaltigkeit der Literatur, das ist was, was er nach eigener Aussage durch die Zeitungslektüre auch bekommen hat. Erzählerin Auch die Idee für die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ bringt er aus dem Vereinigten Königreich mit. Exakter von einer Schottlandreise, die seinen Aufenthalt dort beendet. Zitator Fontane Wanderungen Es war in der schottischen Grafschaft Kinross, deren schönster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel, und mitten auf der Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven Castle. Es sind nur Trümmer noch, die Kapelle liegt als ein Steinhaufen auf dem Schloßhof, und statt der alten Einfassungsmauer zieht sich Weidengestrüpp um die Insel her; aber der Rundturm steht noch, in dem Queen Mary gefangensaß, die Pforte ist noch sichtbar, durch die Willy Douglas die Königin in das rettende Boot führte, und das Fenster wird noch gezeigt, über dessen Brüstung hinweg die alte Lady Douglas sich beugte, um mit weit vorgehaltener Fackel dem nachsetzenden Boote den Weg und womöglich die Spur der Flüchtigen zu zeigen. [...] Und ehe noch unser Boot auf den Sand des Ufers lief, trat die Frage an mich heran: So schön dies Bild war, das der Leven-See mit seiner Insel und seinem Douglas-Schloß vor dir entrollte, war jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst, die Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um dich her? Und ich antwortete: nein. Die Jahre, die seit jenem Tag am Leven-See vergangen sind, haben mich in die Heimat zurückgeführt, und die Entschlüsse von damals blieben unvergessen. Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt lassen, so werd ich der Entschuldigung entbehren müssen, daß es eine Armut war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden hatte. Umgekehrt, ein Reichtum ist mir entgegengetreten, dem gegenüber ich das bestimmte Gefühl habe, seiner niemals auch nur annähernd Herr werden zu können; denn das immerhin Umfangreiche, das ich in nachstehendem biete, ist auf im ganzen genommen wenig Meilen eingesammelt worden: am Ruppiner See hin und vor den Toren Berlins. Erzählerin Das Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Weitere Vorworte und weitere Bände werden folgen. Die Wanderungen beschäftigen Fontane seit seiner Rückkehr aus England bis an sein Lebensende. Noch drei Tage vor seinem Tod bittet er brieflich um Material. Zitator Fontane „Ich will ein Buch schreiben, das etwa den Titel führen soll: „Das Ländchen Friesack und die Bredows“. O-Ton Rutsch Das ist auch etwas, was diese fünf Bände ja so schwierig macht, also diese fünf Bände der Wanderung, die gibt es ja eigentlich gar nicht, weil jede Ausgabe anders aussieht. Und er hat bis zu 100 oder 150 Seiten ausgetauscht, neu geschrieben und gut überarbeitet, also so dass man gar nicht sagen kann, was ist denn nun die Ausgabe von letzter Hand. (Da muss man immer die älteste nehmen, aber wir können uns sicher sein, hätte es noch eine nächste Auflage gegeben, hätte er sie wieder überarbeitet. ) Also es ist doch schon eher, wir würden heute sagen, Blogschreiben gewesen, also ein registrieren und Dokumentieren von Wirklichkeit. Work-in-progress könnte man es auch nennen. Zitator Fontane Wanderungen ((Die Menzer Forst und der Große Stechlin In der Nordostecke der Grafschaft liegt die Menzer Forst, 24 000 Morgen groß (in ihr der sagenumwobene »Große Stechlin«), und in dieser verlorenen Grafschaftsecke lebt die Ruppiner Schweiz noch einmal wieder auf. Hier waltet ein ganz eigenartiges Leben: der Pflug ruht und ebenso der Spaten, der den Torf gräbt; nur das Fischernetz und die Angel sind an dieser Stelle zu Haus und die Büchse, die tagaus, tagein durch den Wald knallt.# Er zählt jetzt gerade hundert Jahr, dieser prächtige Wald, der ein Leben für sich führt, ein halbes Dutzend Wasserbecken mit grünem Arm umschließt und über Altes und Neues, über Teeröfen und Forsthäuser, über Glashütten und Fabriken nach wie vor seine Herrschaft übt. In ihn hinein wolle mich jetzt der Leser begleiten. )) O-Ton d‘Aprile 53.30 Also im Grunde sind die sehr schematisch aufgebaut, diese Wanderungskapitel, es gibt so eine kleine sozusagen reiseliterarische Einführung, also es wird so die Fiktion erzeugt, der Erzähler kommt jetzt irgendwohin an unseren Ort. Und dann hat man immer das Gefühl, es wird jetzt nur ein Anlass gesucht für irgendeinen historischen Exkurs, damit der sozusagen sein Geschichtswissen ausbreiten kann. Zitator Fontane Wanderungen Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ward in der Kriegs- und Domainenkammer die Frage rege: Was machen wir mit diesem Forst? Hochstämmig ragten die Kiefern auf; aber der Ertrag, den diese herrlichen Holz- und Wildbestände gaben, war so gering, daß er kaum die Kosten der Unterhaltung und Verwaltung deckte. Hirsch und Wildschwein in Fülle; doch auf Meilen in der Runde kein Haus und keine Küche, dem mit dem einen oder andern gedient gewesen wäre. »Was tun mit diesem Forst?« so hieß es wieder. Kohlenmeiler und Teeröfen wurden angelegt, aber Teer und Kohle hatten keinen Preis. Die nächste, nachhaltige Hülfe schien endlich die Herrichtung von Glashütten bieten zu sollen, und in der Tat, es entstanden ihrer verschiedene zu Dagow, Globsow und Stechlin; ein Feuerschein lag bei Nacht und eine Rauchsäule bei Tag über dem Walde; vergeblich; auch der Glashüttenbetrieb vermochte nichts, und der Wald bracht es nur spärlich auf seine Kosten. Da zuletzt erging Anfrage von der Kammer her an die Menzer Oberförsterei: wie lange die Forst aushalten werde, wenn Berlin aus ihm zu brennen und zu heizen anfange, worauf die Oberförsterei mit Stolz antwortete: »Die Menzer Forst hält alles aus.« Das war ein schönes Wort, aber doch schöner, als sich mit der Wirklichkeit vertrug. Und das sollte bald erkannt werden. Die betreffende Forstinspektion wurde beim Wort genommen, und siehe da, ehe dreißig Jahre um waren, war die ganze Menzer Forst durch die Berliner Schornsteine geflogen. Was Teeröfen und Glashütten in alle Ewigkeit hinein nicht vermocht hätten, das hatte die Konsumtionskraft einer großen Stadt in weniger als einem Menschenalter geleistet. Ja, Hülfe war gekommen, die Menzer Forst hatte rentiert; aber freilich, die Hülfe war gekommen nach Art einer Sturzwelle, die, während sie das aufgefahrene Schiff wieder flottmacht, es zugleich auch zerschellt…. Es ist noch Platz auf dem Pürschwagen (vorne der Kutscher und der Kutscher und der Herr), und ein Kissen und eine Decke harren des neuen Gastes. Die Zeit für die Decke wird kommen, die Zeit für das Kissen aber ist schon da, denn über Stubben und Wurzeln fort geht es bereits weglos und holterdiepolter in den Wald hinein. Die jungen Zweige fegen uns die Augen aus; jetzt Moorgrund, jetzt raschelndes Laub; jetzt über den Graben und jetzt über niedergestürzte Bäume hin, deren schon angefaultes Holz unter dem Drucke der Räder zerbricht und in Moderstaub aufwirbelt. Entzückendes Steeplechase; das Gefühl der Fährlichkeit geht in der Wonne des Hindernisnehmens unter. So still der Wald, und doch erzählt er auf Schritt und Tritt, freilich mehr Ernstes als Heiteres. Wo der Pascher ein Jahrhundert lang zu Hause war, wo Förster und Wildschütz ihre nicht endende Fehde führen, wo der Sturm die Bäume bricht und die tiefen Waldseen, die sich von uralter Zeit her einen Hang nach Menschenopfern bewahrt haben, ihre Polypenarme phantastisch ausstrecken, da sind immer »Geschichten« zu Haus. Tabellen wären hier anzufertigen mit drei Rubriken nur: erschlagen, erschossen, ertrunken. [...] So ging das Geplauder, als plötzlich, zwischen den Stämmen hin, eine weite Wasserfläche sichtbar wurde, darauf hell und blendend fast die späte Nachmittagssonne flimmerte. »Das ist der Stechlin«, hieß es. Und im nächsten Augenblicke sprangen wir ab und schritten auf ihn zu. Da lag er vor uns, der buchtenreiche See, geheimnisvoll, einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge weigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt. Und nun setzten wir uns an den Rand eines Vorsprungs und horchten auf die Stille. Die blieb, wie sie war: kein Boot, kein Vogel; auch kein Gewölk. Nur Grün und Blau und Sonne. »Wie still er daliegt, der Stechlin«, hob unser Führer und Gastfreund an, »aber die Leute hier herum wissen von ihm zu erzählen. Er ist einer von den Vornehmen, die große Beziehungen unterhalten. Als das Lissabonner Erdbeben war, waren hier Strudel und Trichter, und staubende Wasserhosen tanzten zwischen den Ufern hin. Er geht 400 Fuß tief, und an mehr als einer Stelle findet das Senkblei keinen Grund. Und Launen hat er, und man muß ihn ausstudieren wie eine Frau. Dies kann er leiden und jenes nicht und mitunter liegt das, was ihm schmeichelt, und das, was ihn ärgert, keine Handbreit auseinander. Die Fischer, selbstverständlich, kennen ihn am besten. Hier dürfen sie das Netz ziehen, und an seiner Oberfläche bleibt alles klar und heiter, aber zehn Schritte weiter will er's nicht haben, aus bloßem Eigensinn, und sein Antlitz runzelt und verdunkelt sich, und ein Murren klingt herauf. Dann ist es Zeit, ihn zu meiden und das Ufer aufzusuchen. Ist aber ein Waghals im Boot, der's ertrotzen will, so gibt's ein Unglück, und der Hahn steigt herauf, rot und zornig, der Hahn, der unten auf dem Grunde des Stechlin sitzt, und schlägt den See mit seinen Flügeln, bis er schäumt und wogt, und greift das Boot an und kreischt und kräht, daß es die ganze Menzer Forst durchhallt von Dagow bis Roofen und bis Altglobsow hin.« Die Sonne war mittlerweile tiefer hinabgestiegen und berührte schon die Wipfel des Waldes. Uns eine Mahnung zur Eile. Der Erdwall, auf dem wir gesessen und geplaudert hatten, lag nach Norden hin, aber ehe zehn Minuten um waren, hatten wir die große Biegung gemacht und fuhren wieder an der entgegengesetzten südlichen Seite. Das Revier, das uns hier aufnahm, war das Revier der Glashütten, die wie Squatter-Ansiedlungen am Waldsaume lagen. Hütte neben Hütte; sonst nichts sichtbar als der Rauch, der über die Dächer zog. Nur bei der Globsower Glashütte, die (hart an einer Buchtung des Großen Stechlin gelegen) einen weitverzweigten Handel treibt mit Retorten und Glaskolben, nur hier herrschte Leben, am meisten in der schattigen Allee, die, von den Wohn- und Arbeitshütten her, zur Ladestelle hinunterführte. Hier spielten Kinder Krieg und fochten ihre Fehde mit Kastanien aus, die zahlreich in halb aufgeplatzten Schalen unter den Bäumen lagen. Die einen retirierten eben auf den See zu und suchten Deckung hinter den großen Salzsäureballons, die hier dichtgereiht am Ufer des Stechlin hin standen, aber der Feind gab seinen Angriff nicht auf, und die Kastanien fielen hageldicht auf die gläserne Mauer nieder. […) Eine Heidestrecke lag eben wieder hinter uns, als wir in die namengebende Metropole dieser Gegenden, in Groß-Menz, einfuhren. Es fielen Worte wie Burgwall, Ritter Menz, hohles Gemäuer, unterirdischer Gang, alles verlockendste Klänge also, die mich sechs Stunden früher in den Zirkel dieses Dorfs wie in einen Zauberkreis gebannt haben würden. Aber bei dem schon herrschenden Zwielicht siegten allerlei kritische Bedenken, und statt den Forderungen wissenschaftlicher Neugier nachzugeben, ging es in wachsender Hast, über den beinah städtisch angelegten Dorfplatz hinweg und an einer lindenumstandenen Oberförsterei vorüber, in die mit jedem Augenblicke reizloser werdende Landschaft hinein. Nicht nur Groß-Menz lag hinter uns, auch die Groß-Menzer Forst. Immer kühler wurd es; wir wickelten uns in unsre Plaids, und niemand sprach mehr. Die prustenden Pferde warfen den Schaum nach hinten, und Acker, Sand und Schonung – immer schattenhafter kamen und schwanden sie. Jetzt ein Steindamm, jetzt lange Pappelreihen, und nun auch jener wärmere Luftstrom, der uns die Nähe menschlicher Wohnungen bedeutete. Noch eine Biegung, zwischen den Bäumen hindurch schimmerte Licht, und – unser Wagen hielt. Eine halbe Stunde später, und der hohe Kamin sah uns im Halbzirkel um seine Flamme versammelt. Die Scheite, echte Kinder der Menzer Forst, brannten hoch auf, auf uns hernieder aber sahen die Ahnen des weitverzweigten Hauses: die Neales, die Oettinger und La Roche-Aymon, und zwischen ihnen das leuchtende Bild des »Saalfelder Prinzen«. Die Rede ging von alter und neuer Zeit. Märchenhaft verschwamm uns Jüngsterlebtes mit Längstvergangenem, und während wir eben noch über den Rheinsberger See hinglitten und das Gekicher schöner Frauen zu hören glaubten, weitete sich plötzlich das stille Wasserbecken und bildete Strudel und Trichter, und der Hahn, der unten auf dem Grunde des Großen Stechlin sitzt, stieg herauf und krähte, seinen roten Kamm schüttelnd, über den See hin. Mitternacht war heran, die Scheite verglimmten, und nur ein Flackerschein spielte noch um die Bilder. Es war, als lächelten sie.“ Erzählerin Im September 1873 besucht Fontane Molchow-, Zermützel- und Tornowsee, den Menzer Forst und den Stechlin, ein halbes Jahr später erscheinen diese Wanderungen in der „Illustrierten Frauenzeitung“. Fontane selbst hielt die Schilderung des Stechlins für eines seiner gelungensten Reisefeuilletons und übernimmt ganze Teile zwanzig Jahr später in seinen Roman „Der Stechlin“. O-Ton d‘Aprile 47.10 Fontane ist nicht gewandert, sondern höchstens spazieren gegangen und hat eben alle Verkehrsmittel genutzt, die ihm zur Verfügung standen, vom Dampfschiff bis zum Spreewaldkahn oder Omnibusse oder Eisenbahn. Also es war touristisch, schon in der Entstehung waren die Wanderungen touristische Vorhaben, so wie sie auch bis heute oft rezipiert werden, dass man ein Kapitel liest und dann hinterher reist. Im Grunde sind die auch schon so entstanden, es war viel Kompilationsarbeit, hat Quellen gesammelt, er hat da seine Erfahrung als Nachrichtenagentur- Gründer auch genutzt und hat Fragebögen verschickt, hatte seine Informationsnetzwerke, hatte über die Tätigkeit bei der Kreuzzeitung auch Zugang zu bestimmten Kreisen, die dann eben auch Gegenstand in den Wanderungen sind, sind ja auch zum Großteil Adelsgenealogien, also genau das Kreuzzeitungsmilieu. Es sind Kombinationen unterschiedlicher Textarten und Sorten, es gab Plagiatsvorwürfe gegen Fontane, dass er Texte ohne Quellenangabe da benutzt hat, womit er auch überhaupt kein Problem hatte, es zuzugeben, dass er das gemacht hat also. Und es sind tatsächlich aber auch Reportage-Elemente, also er hat tatsächlich auch vor Ort Leute befragt, sogenannte Unterwegsgespräche geführt. O-Ton Rutsch Fontane ist natürlich auf historischen Spuren gelaufen und ihm war klar, dass er in vielen Fällen der erste ist, der diese Spuren überhaupt sichtbar macht, er hat sich aber auch aus seiner Hülle nicht lösen können. Er war natürlich Autor, er war natürlich Geschichtenerzähler und er hat so eine eigenartige Mischung in den Wanderungen. Die Wanderungen sind so eine eigenartige Mischung zwischen Realem und auch Empfundenem. Also es gibt ja stinklangweilige, würde ich heute sagen, stinklangweilige Passagen, wo er den Inhalt von Schlössern beschreibt. Das ist also eine reine Auflistung, die ist für uns heute oft deswegen wertvoll, weil es diese Schlösser nicht mehr gibt. Oder wenn es sie gibt, sind sie nach den Kriegen geplündert worden. Und wir wissen durch Fontane heute, was in diesen Häusern war, also das ist eine echte Leistung einer historischen Beschreibung, ein Dokument! Zitator Fontane Wanderungen Der alte Graf Zieten auf Wustrau An die Tür einer Art Kapelle war ein Totenkopf und an die Bretterwand eines benachbarten Pavillons ein Christuskopf gemalt, zwischen Kapellchen und Pavillon aber lag ein Kirchhof mit Kreuzen und Gedächtnistafeln und allerhand Inschriften darauf. All das war aber bloß Ornament, Park- und Gartenausschmückung, um auf die Besucher eine bestimmte sentimentale Wirkung auszuüben, denn unter den Kreuzen lag nichts oder Schlimmeres als nichts. Ein falscher Kirchhof also, was übrigens niemanden verdroß oder in seinem religiösen Gefühl verletzte. Man nahm das alles nicht ernst und der Philister, der bewundernd oder schmunzelnd an diese Gräber herantrat, war gerade so spottsüchtig und ungläubig wie der Landrat von Zieten selbst. Dieser wußte das auch und kannte nichts Lieberes und Schöneres ? O-Ton d‘Aprile 59.20 Die Wanderung sind auch tatsächlich von Fontane so geschrieben als Gegenprogramm eigentlich gegen die herrschende Geschichtsschreibung der Zeit, vor allem gegen die herrschende akademische Geschichtsschreibung der Zeit, die ja eben Geschichte großer Männer war, Schlachtbeschreibung, Hofnachrichten. Und genau diese Art von Geschichtsschreibung, auch Geschichte der Hohenzollern, also Preußen war praktisch auch gleichbedeutend mit den Hohenzollern, gegen diese Art der Geschichtsbetrachtung verfolgte Fontane ein anderes Programm, wo gezeigt wird, die Mark Brandenburg besteht eben noch mehr als aus den Hohenzollern, da waren vorher schon Slawen oder die Quitzows waren schon vor den Hohenzollern. Und es gibt viele andere Bevölkerungsschichten, es gibt nicht nur den Hof, es gibt die Gurkenhändler und die Kioskbetreiber, insofern ist das Programm von Fontane tatsächlich, könnte man heute sagen, so eine Art Geschichtsschreibung von unten, also die vielstimmige Mark Brandenburg und ihre Geschichte. Und zu der Geschichte gehören dann explizit eben auch Sagen und Mythen und nicht nur die offiziellen Quellen, also auch mündlich überliefertes, insofern hat es so vom Konzept her hat es viel von Geschichtsschreibung von unten. Man darf darüber aber natürlich nicht vergessen, dass es dann immer noch eine Stilisierung ist mit dem Zweck, so eine Art patriotische Dichtung zu schaffen. Und vielleicht ist es auch kritische Geschichtsschreibung von unten, würde ich durchaus sagen, da gibt es auch Passagen in den Wanderungen, aber es hat auch zum großen Teil irgendwie durchaus so affirmativen Charakter in dem Sinne, dass angezeigt wird, werden soll, auch die Mark Brandenburg hatte ihre wertvolle Geschichte und ist jetzt aufgeschlossen zu den europäischen Großmächten und muss sich nicht mehr verstecken. Auf jeden Fall ist es auch so eine Art kulturelles Aufholprogramm, das Fontane verfolgt. Erzählerin Die wirklich kleinen Leute kommen bei Fontane kaum zu Wort. Und wenn, dann als Erzähler von allerhand Schnurren, Gerüchten, Legenden und Tratsch. In Fontanes Fokus stehen die Itzenplitze, Schlabrendorfs, Bredows, Quitzows oder Zietens. Die aber mit durchaus kritischem Blick. Zitator Fontane Wanderungen "... Der alte Graf Zieten auf Wustrau war der Sohn des berühmten General von Zieten, und ein größerer Abstand als der zwischen seinem gefeierten und beinah ehrwürdigen Namen und seiner persönlichen Erscheinung war nicht denkbar. Friedrich der Große hatte ihn 1765 über die Taufe gehalten, und davon blieb ihm zeitlebens ein hohes Selbstgefühl, auch das Gefühl, sich was erlauben zu dürfen. Als Anfang der dreißiger Jahre Prinz Wilhelm (der spätere Kaiser) zur Inspektion nach Ruppin kam, war natürlich auch Landrat von Zieten zur Begrüßung da, neben ihm ein Wustrauer Bauer, der beim Erscheinen des Prinzen den Gruß vergaß oder vielleicht auch nicht grüßen wollte. Zieten schlug ihm sofort die Mütze vom Kopf. Schon als Täufling empfing er das Fähnrichspatent und war später ein übermütiger Lieutenant, enthielt sich aber aller heldischen Taten, die an seinen Vater hätten erinnern können. Eins ist ihm unbedingt zu lassen: er war, von Übernahme des Guts an, ein guter Landwirt und ein noch besserer Financier. Man darf vielleicht sagen, ?ein zu guter?. Als er das Gut übernahm, standen Schulden darauf, die den alten Zieten, den Vater, während seiner letzten Lebensjahre stark gedrückt hatten. Der Sohn wußte sehr bald Wandel zu schaffen, die Schulden wurden abgezahlt und das Gut erhob sich zum Range eines Mustergutes, dessen Wert mit jedem Jahre stieg [..] Er galt für geizig, und fast darf man sagen, seine Taten auf diesem Gebiet übertrafen noch seinen Ruf. Es wäre lohnend, hier Details zu geben, aber das Beste davon entzieht sich der Möglichkeit der Mitteilung, und nur das eine, vergleichsweise Harmlose mag hier eine Stelle finden, daß er, bei kleinen Diners, die gelegentlich stattfanden, persönlich mithalf und, mit einer im Laufe der Zeit gewonnenen Übung, aus ein paar Heringen ein paar Dutzend Sardellen herauszuschneiden wußte. Wahrscheinlich erfunden, aber erfundene Geschichten der Art sind geradesogut wie die wirklichen;“ O-Ton Rutsch Er hat natürlich in dem preußischen Adel viele Elemente auch verklärt, die wir heute mit dem Begriff Nachhaltigkeit verbinden. Fontanes Perspektive war, der preußische Adel, der märkische Adel ist am innigsten mit Land und Leuten verbunden, hat für sie und ihr Fortkommen Verantwortung getragen, es gibt ja die Einführung von landwirtschaftlichen Schulen, auf dem Lande die Schulpflicht, und da gibt es also viele Adlige, die dafür eine ganze Menge getan haben und behilflich waren, heute würde man sagen, Landbevölkerung aus dem Status des Ungebildetseins heraus zu führen. Und parallel hat er immer auch gesehen, dass die, die das Land besitzen, wahrscheinlich am vorsichtigsten mit ihm umgehen. Und einen anderen Traditionsträger hat er in Preußen oder in der Mark Brandenburg überhaupt nicht gesehen und deshalb war ihm wichtig zu formulieren, dass die Mitnahme dieser Schichten, die über Erfahrung und Tradition verfügen, für die Gestaltung von Zukunft wichtig ist. (Man kann einen revolutionären Umsturz sehr wohl begrüßen und kann die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße oder von den Füße auf den Kopf stellen, aber danach, da war Fontane sich bewusst, entsteht ein Chaos. Und deswegen hat er so sehr auf Harmonie bestanden und wollte so viel wie möglich an Weisheit in die Zukunft transportieren.) Da hat er in der Tat also in den märkischen Herrenhäusern und Schlössern sehr viel Potential gesehen, das dann im deutschen Kaiserreich auch verloren gegangen ist in der Mentalität eines preußischen Militarismus, der im deutschen Kaiserreich dominiert hat. Und das war natürlich für Fontane ein großes Stück auch Enttäuschung. Erzählerin Über 30 Jahre lang entstehen immer neue Episoden der märkischen Wanderungen. Fontane schreibt Texte um, streicht Passagen und setzt neue hin. Das erprobte Schema der Wanderungen, sich vorurteilsfrei und neugierig fortzubewegen, nutzt Fontane auch für seine Kriegsbücher. Dreimal unterbricht er die Arbeit an den Wanderungen und marschiert über die Schlachtfelder. Anlass dafür sind Regierungsaufträge, die er ausnahmsweise einmal sehr gern annimmt, weil sie seinem historischen und militärischen Interesse entgegenkommen. Umfangreiche Buchprojekte sind das über den Schleswig-Holsteinischen Krieg von 1864, den deutschen Krieg von 1866 und den deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Fontane steht diesen Bismarckschen Kriegen positiv gegenüber, weil er sie für die Reichseinigung für notwendig hält. Mit preußischem Hurrapatriotismus aber und Franzosenhass, die den Feldzug 70/71 begleiten, kann er wenig anfangen. O-Ton Rutsch ca. 52 Fontane hat sich sehr intensiv mit seiner Herkunft beschäftigt und # der Accident of birth, wie man das heute in der Sprache der Soziologie auch nennt, hat ihn sehr bewegt. Er fühlte sich zutiefst im Inneren auch als jemand, der aus Frankreich stammt und dort seine Wurzeln hat. Er war ein Preuße mit Migrationshintergrund, so hat er sich immer empfunden#. Erzählerin Fontane-Biograf Hans-Dieter Rutsch. O-Ton Rutsch ca. 52 Die Hugenotten, das waren Leute, die sehr wirtschaftlich aktiv waren, die waren sehr gebildet, das waren hochqualifizierte Handwerker und die waren auch in Europa begehrt. Und nach dem Dreißigjährigen Krieg in diesem leeren Preußen, menschenleeren Preußen fiel ja die Entscheidung des Kurfürsten mit dem Edikt von Potsdam, diesen Menschen hier Zuflucht zu gewähren. # Diese Reise haben tatsächlich die Vorfahren Fontanes angetreten#. Und die kamen zum Teil auch über Magdeburg dann nach Preußen. Und in Magdeburg haben sie bitteres erlebt, also was wir heute kennen, diese gewaltbereite Haltung gegenüber Flüchtlingen oder Einwanderern, die gab es damals auch. # Die durften ihre Toten nicht auf diesen Friedhöfen beerdigen, die durften auch nicht in alle Zünfte hinein und wenn Sie eines der leeren Häuser kaufen und dort wohnen und es innerhalb eines Feuers diese Häuser brannten, dann wurden sie behindert bei Löscharbeiten. Also alles was wir kennen, haben die Fontanes auf ihrem Weg nach Preußen erlebt. O-Ton D‘Aprile ca. 4.30 Und die Hugenotten als privilegierte Zuwanderer haben durchaus so was wie eine höhere Bürgerschicht in Brandenburg repräsentiert, hatten auch viele Hofämter inne, weil sie die gleiche Konfession hatten wie das Königshaus, also Calvinisten waren, während die anderen Lutheraner waren. Also schon so eine Art großbürgerliche Herkunft, auch der Großvater war ja Prinzenerzieher bei Königin Luise. Oft sind es Großkaufleute gewesen, also die die Mutter kam aus aus einer der reichsten Kaufmannsfamilien Berlins. Erzählerin Fontane ist stolz auf seine „von Refugié-Traditionen erfüllte Franzosen-Colonie-Familie“. Und fühlt sich dabei durchaus als Preuße, ja, er beschreibt Preußen und die Mark Brandenburg in den „Wanderungen“ als „Heimat der Vielen“, als vielschichtigen Kulturraum mit slawischen, märkischen, holländischen und ganz wesentlich eben auch hugenottischen Einflüssen. Selbstverständlich lernt er schon im Elternhaus die Sprache der Vorfahren, so hat er keine Probleme, 1870 als Kriegsberichterstatter durch die preußisch besetzten Gebiete Frankreichs zu reisen. O-Ton D‘Aprile ca. 57.00 Tatsächlich hat er nichts anderes gemacht als auf den anderen Kriegsfahrten auch, nämlich die Schlachtfelder besucht. Und dann war die Schlacht bei Metz noch nicht lange vorbei, ich glaube zwei Wochen oder so vorbei und dann wollte er wirklich zeitnah da dran sein und sich das vor Ort anschauen. Erzählerin Vorher allerdings unternimmt er einen Ausflug nach Domremy, dem Heimatdorf der Jeanne D‘Arc, um eine Statue zu begutachten, die man ihr hier aufgestellt hat. Auch als Kriegsberichterstatter ist Fontane, wenn es sich ergibt, kulturtouristisch unterwegs. Für den Ausflug zur Heiligen Johanna begibt er sich – ziemlich blauäugig, wie man sagen muss – in ein Gebiet, das Anfang Oktober 1870 nicht mehr von preußischen Truppen, sondern von französischen Freischärlern kontrolliert wird. Zitator Fontane Ich klopfte eben mit meinem spanischen Rohr an der Statue umher, um mich zu vergewissern, ob es Bronze oder gebrannter Ton sei, als ich vom „Café de Jeanne d'Arc“ her eine Gruppe von acht bis zwölf Männern auf mich zukommen sah, ziemlich eng geschlossen und untereinander flüsternd. Ich stutzte, ließ mich aber zunächst in meiner Untersuchung nicht stören und fragte, als sie heran waren mit Unbefangenheit, aus welchem Material die Statue gemacht sei. Man antwortete ziemlich höflich: „aus Bronze“, schnitt aber weitere kunsthistorische Fragen, zu denen ich Lust bezeugte, durch die Gegenfrage nach meinen Papieren ab. Ich überreichte ein rotes Portefeuille, in dem sich meine Legitimationspapiere befanden, selbstverständlich nur preußische. Man suchte sich darin zurechtzufinden, kam aber nicht weit und forderte mich nunmehr auf, zu besserer Feststellung sowohl meiner Person wie meiner Reiseberechtigung ihnen in das Wirtshaus zu folgen. Erzählerin Theodor Fontane wird als vermeintlicher preußischer Spion in Kriegsgefangenschaft genommen und auf der Île d’Oléron interniert. Die Haftbedingungen sind anfangs schlecht, schlimmer noch: Dem Häftling droht die Todesstrafe. Die ganze Geschichte hätte leicht ein böses Ende nehmen können, wenn nicht Fontanes Frau Emilie Alarm geschlagen und einflussreiche Freunde der Fontanes eine konzertierte Rettungsaktion gestartet hätten. O-Ton D‘Aprile ca. 55.00 Das waren wieder die Netzwerke des Tunnel, in diesem Fall von Moritz Lazarus, der auch Tunnel Mitglied war und mit dem Fontane bekannt war. Der über seine Kontakte unter anderen zur jüdischen Alliance Israelite Universelle, also einem jüdischen Flüchtlingshilfe Verband, der international operiert hat, und seine Kontakte zum Schweizer Botschafter Jakob Dubs, der gleichzeitig einer der Mitbegründer des Roten Kreuzes ist. Also der protestantischen Hilfsorganisation, über diese Netzwerke und noch katholische Kirchenkreise wurden einmal die Haftbedingungen Fontanes, der ja sozusagen vom Tod bedroht war, erleichtert wurden und dann letztlich aber auch der Freispruch erwirkt werden konnte, weil der französische Justizminister # Adolphe Cremieux eben eng mit der Alliance Israelite universelle und mit Moritz Lazarus da auch zusammengearbeitet hat. Und über diese Netzwerke konnte tatsächlich dann auch der Freispruch erwirkt werden. Erzählerin Nach 14 Tagen Haft wird Fontane am 23. Oktober 1870 auf Veranlassung des französischen Justizministers Cremieux vom Vorwurf der Spionage freigesprochen und bekommt wesentliche Hafterleichterung. Erst sechs Tage übrigens nach dem entscheidenden Telegramm von Fontanes Freund Moritz Lazarus an Cremieux, erreicht den amerikanischen Gesandten eine Depesche des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dieses Telegramm von höchster Stelle habe Fontanes Freilassung bewirkt. Zitator Bismarck Nichts kann ein derartiges Vorgehen gegen einen harmlosen Gelehrten rechtfertigen. Ich bitte Sie daher, die Güte zu haben, Freilassung von der französischen Regierung zu verlangen und ausdrücklich zu erklären, dass wir im Weigerungsfalle eine gewisse Anzahl von Personen in ähnlicher Lebensstellung in verschiedenen Städten Frankreichs verhaften und nach Deutschland schicken und ihnen dieselbe Behandlung zuteil werden lassen wie Fontane in Frankreich. Erzählerin Interessant noch in diesem Zusammenhang - Adolphe Cremieux handelt über Moritz Lazarus beim preußischen Kriegsministerium einen Gefangenenaustausch aus: Fontane gegen einige in Preußen gefangene französische Offiziere. Der Gerettete selbst setzt sich nach seiner Rückkehr nach Berlin für die Erfüllung dieser Vereinbarung ein. Zitator Fontane Und zwar um so mehr, als ich während meiner Gefangenschaft viel Wohlwollen von Seiten unseres Feindes erfahren habe und ohne Ausnahme aufs humanste behandelt worden bin. Zitator Kriegsminister Macht ihm alle Ehre. Kann aber nicht willfahren. Erzählerin So die Randnotiz des wortbrüchigen preußischen Kriegsministers auf Fontanes Bittschreiben. O-Ton D‘Aprile ca. 59.00 Und tatsächlich kam es über dieses Buch dann auch 1876 zum Bruch und zu Fontanes Kündigung aller Staatsstellen, weil er da eben gemerkt hat, er kriegt nicht die Anerkennung, hat zwölf Jahre lang für die preußische Regierung Kriegsbücher geschrieben und kriegt überhaupt keine Anerkennung in Form von einer materiellen Absicherung oder Zuwendung und dann hatte er genug davon. Sein französisches Kriegsbuch ist zwar im Ausland gut wahrgenommen worden und ist tatsächlich eins der wenigen preußischen Kriegsbücher, was überhaupt in andere Sprachen übersetzt wurde, aber eben zu Hause überhaupt nicht gut aufgenommen wurde, sondern er galt dann als Franzosenfreund Fontane. Erzählerin In den Kriegsbüchern, vor allem dem letzten über den deutsch-französischen Krieg, versucht sich der Journalist Fontane an etwas neuem: der literarischen Gestaltung des Stoffes. Zitator Fontane (Hervorhebung im Original) „Es muss sich lesen wie ein Roman...Es muss fesseln, Interesse wecken wie eine Räubergeschichte. Etwas davon ist ja auch leider.“ Erzählerin Die Jahre, in denen die Kriegsbücher entstehen, sind auch die Jahre an denen Fontane, wenn ihm denn Zeit bleibt, an seinem ersten Roman „Vor dem Sturm“ arbeitet. Ein Roman, ebenfalls aus Kriegszeiten, der Zeit des preußischen Befreiungskrieges 1812/13. Und seine Erfahrungen aus dem deutsch-dänischen Krieg, Fontane wird sie in seinem letzten Roman, dem „Stechlin“ noch einmal aufgreifen. Doch das soll ein Thema für die dritte Stunde der Langen Nacht. 3. Stunde Musik Zitator Fontane – „Stine“ In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, und die Maschinenarbeiter gingen zu Mittag, und wer durchaus was Merkwürdiges hätte finden wollen, hätte nichts anderes auskundschaften können, als daß in Nummer 98e die Fenster der ersten Etage – trotzdem nicht Ostern und nicht Pfingsten und nicht einmal Sonnabend war – mit einer Art Bravour geputzt wurden. Die schräg gegenüber an der Scharnhorststraßen-Ecke wohnende alte Lierschen brummelte vor sich hin: »Ich weiß nich, was der Pittelkown wieder einfällt. Wie sie man bloß wieder da steht und rackscht und rabatscht! Und wenn es noch Abend wär, aber am hellen, lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen seine grade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll; 'ne Sünd und 'ne Schand.« Erzählerin Im April 1890 erscheint Theodor Fontanes Roman „Stine“ im Buchverlag von Sohn Friedrich Fontane. Ein Skandalroman – Pauline Pittelkow, die Schwester der Titelheldin verdient den Lebensunterhalt für Stine und sich als Prostituierte, als Maitresse eines alten Grafen. Um den gesellschaftlichen Tabubruch, den der Schriftsteller hier begeht, soll es an dieser Stelle aber nicht gehen. Vielmehr darum, einen Blick in die Werkzeugkiste des Autors zu werfen. Fontane hat sich nicht mit größeren programmatischen Schriften zu seinem Realismuskonzept oder seiner Poetik zu Wort gemeldet. Aber genau so, wie er seine literarischen Figuren große Themen oft in scheinbar oberflächlichem Geplauder verhandeln lässt, kann es mitunter vorkommen, dass sie -ganz nebenbei - etwas über handwerkliche Kniffe und ästhetische Konzepte ihres Schöpfers ausplaudern. Am Fensterrahmen von Stine Rehbeins Stube im dritten Stock ist ein Drehspiegel angebracht, in dem sich gut beobachten lässt, was unten auf der Strasse passiert. Zitator Fontane – „Stine“ Die Pittelkow setzte sich gegenüber dem Drehspiegel, der denn auch heute wieder eine Quelle herzlichen Vergnügens für die hübsche Witwe wurde, nicht aus Eitelkeit (denn sie sah sich gar nicht), sondern aus bloßer Neugier und Spielerei. Stine, die alles schon kannte, lächelte vor sich hin. Sie sah der immer noch mit dem Spiegel beschäftigten Schwester eine Weile zu, dann erhob sie sich, hielt ihr die Hand vor die Augen und sagte: »Nun hast du aber genug, Pauline. Du mußt doch nachgerade wissen, wie die Invalidenstraße aussieht.« »Hast recht, Kind. Aber so is der Mensch; immer das Dummste gefällt ihm un beschäftigt ihn, un wenn ich in den Spiegel kucke und all die Menschen und Pferde drin sehe, dann denk' ich, es is doch woll anders als so mit bloßen Augen. Un ein bißchen anders is es auch. Ich glaube, der Spiegel verkleinert, un verkleinern is fast ebensogut wie verhübschen. Erzählerin In einem Brief an seine Ehefrau Emilie schreibt Fontane 1883: Zitator Fontane Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht recht gelten lasse. Das Große spricht für sich selbst; es bedarf keiner künstlerischen Behandlung, um zu wirken. Gegenteils, je weniger Apparat und Inszenierung, um so besser. Herwegh schließt eines seiner Sonette mit der Wendung: „Und wenn einmal ein Löwe vor euch steht, Sollt ihr nicht das Insekt auf ihm besingen.“ Gut. Ich bin danach ein Lausedichter, zum Teil sogar aus Passion, aber doch auch wegen Abwesenheit des Löwen. Erzählerin Die Liebe zum Kleinen, seine Hingabe an das Detail und die Kunst, das Wesentliche aus dem Nebensächlichen sich entwickeln zu lassen, das könnte es sein, was die Größe des Roman-Autors Theodor Fontane vor allem ausmacht. Aus dem Journalisten war nun, da er die 60 fast erreicht hatte, der Romancier Theodor Fontane geworden. 1876 quittiert er seinen Dienst beim preußischen Staat stürzt sich in das Wagnis der freien Schriftstellerei: Zwei Jahre später schreibt er einer Freundin: Zitator Fontane „Meine Situation ist in der Tat eine kritische. In Jahren, wo die meisten Schriftsteller die Feder aus der Hand zu nehmen (lassen) pflegen, kam ich in die Lage sie noch einmal recht fest in die Hand nehmen zu müssen, und zwar auf einem Gebiet, auf dem ich mich bis dahin nicht versuchte. Missglückt es, so bin ich verloren. Ich habe meine Schiffe verbrannt, und darf – wenn ich auch keine Siege feiere – wenigstens nicht direkt unterliegen. Meine Arbeit muss zum Mindesten so gut sein, dass ich auf sie hin einen kleinen Romanschriftsteller-Laden aufmachen und auf ein paar treue, namentlich auch zahlungsfähige Käufer rechnen kann.“ (An Ludovica Hesekiel am 28. Mai 1878 (Hanser-Briefe Bd. 2, S. 572) Erzählerin So ganz lässt Fontane nicht von der Zeitung. Rund 1.500 Mark bringt ein Roman in Buchform ein. Der Vorabdruck in den Zeitungen hingegen zwischen 3.000 und 12.000. Die Vossische Zeitung druckt zum Beispiel „Schach von Wuthenow“ und „Irrungen, Wirrungen“. Die Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ bringt „Unterm Birnbaum“ und „Quitt“, „Frau Jenny Treibel“ und „Effi Briest“ erscheinen in der „Deutschen Rundschau“. Die einzelnen Kapitel haben eine Länge, die dem vorgegebenen Umfang der Zeitungsseiten entspricht – und noch in einer weiteren Hinsicht sind Fontanes Romane Zeitungsromane: Die meisten von ihnen basieren auf Zeitungsmeldungen, die der eifrige Journalleser Fontane gesammelt hat. O-Ton Brühl 58.00 er wusste auch, es waren ja Skandalgeschichten, die er da hatte, diese Geschichten waren, wenn man so will also, wenn man jetzt aus Journalistensicht, sind die getestet worden, sie waren in der Presse. Erzählerin Christine von Brühl, Journalistin und Autorin des Buches „Gerade dadurch sind sie mir lieb Theodor Fontanes Frauen.“ O-Ton Brühl (Es war in der Presse darüber berichtet worden und die Menschen waren entrüstet gewesen.) Er hatte auch an der Reaktion der Menschen, die er kannte, gemerkt, dass das Geschichten sind, die Menschen interessiert, die Menschen gerne lesen, von denen sie gerne mehr hören würden. Und es war ihm natürlich ein besonderes Vergnügen, die dann sozusagen auszuweiten und ein gewisses Milieu zu beschreiben, eine Umgebung, eine landschaftliche Umgebung. Und die Geschichten auch so zu platzieren, dass sie noch ein bisschen glaubwürdiger erscheinen und noch ein bisschen besser verständlich sind. Und dann auch noch mal deutlicher machen zu können, was daran eigentlich so so unfair ist und so ungerecht, wie wir es aus Effi Briest kennen. O-Ton dÁprile Und seine Arbeitsweise war die, dass er immer drei Entwürfe ungefähr angefertigt hat, drei Ideenskizzen und dann an die Zeitschriftenherausgeber geschickt hat, die infrage kamen für diese Ideenskizzen. Erzählerin Iwan-Michelangelo d‘Aprile, Literaturwissenschaftler und Fontane-Biograph. O-Ton d Áprile Und dann den Herausgebern oder Redakteuren gesagt: suchen Sie aus, welcher dieser drei Entwürfe zu einem Roman geschrieben werden soll, ausgearbeitet werden soll. Und deshalb ist es jetzt nicht allein Fontanes Entscheidung gewesen, dass wir z.b. eine Geschichte nach dem Harzer Kirchenbuch haben wie „Ellernklipp“, aber keinen Apotheker- Roman wie „Allerlei Glück“. Den hätte er vielleicht lieber geschrieben, aber den hat keiner abgekauft. Und Effi Briest hat ihm auch ganz lange keiner abgekauft übrigens und dann wollte er schon fast es Manuskript vernichten, weil es einfach nicht verkaufbar war. Und insofern kann man beim beim Romanautor Fontane nicht davon ausgehen, dass er sozusagen die großen Kunstwerke im Kopf hatte und dann seine Romane geschrieben hat, sondern da gibt es viele Beteiligte ((((, welche Romane Fontane überhaupt geschrieben hat.))) 63.00 Erzählerin Beteiligt am Romanschreiben sind nicht allein die Zeitungsverleger mit ihren Wünschen, mehr noch die Familie. Einen „Romanschriftstellerladen“ betreibe er. Das meint nicht nur die erfolgreiche Marketingstrategie, die Bücher von vornherein den Wünschen und Erwartungen der Verleger anzupassen. Im „Schriftstellerladen Fontane“ arbeitet die gesamte Familie. Die Bücher erscheinen ab 1890 im Verlag seines Sohnes Friedrich. Er spannt seine Kinder und Verwandten ein, ihm Informationen zu liefern. Der Schwester Elise schreibt er als, er über dem ersten Band der Wanderungen sitzt: Zitator Fontane „In Koepernitz selbst kuckst Du Dir das Terrain scharf an: Die Terrainbeschaffenheit, Wald, Wasser, das Dorf, vor allem die Lage des herrschaftlichen Hauses, dessen Aussehn, wieviel Etagen, wie viel Fenster-Front und wo möglich noch irgend etwas Markantes, ein Grabmal, Springbrunnen, Storchennest, Rampe oder sonst dergleichen. Zehn bis zwölf Zeilen sind genug, aber es muß ein anschauliches Bild geben.“ Erzählerin Tochter Martha wird ihm zu wichtigsten Gesprächspartnerin und Ratgeberin, der er sogar zutraut, die Endredaktion von „Effi Briest“ zu übernehmen, falls er vorher stirbt. Was nicht passiert. Auch dank der Arzneien von Schwester Jenny, die den „Schriftstellerladen“ medizinisch am Laufen hält. Doch die wichtigste Person im fontaneschen Schreibgeschäft ist Theodors Frau Emilie. Sie schreibt seine Entwürfe ins Reine, ist Buchhälterin, erste Leserin, Lektorin und Kritikerin. O-Ton d‘Aprile 63.00 Wie immer wie bei allen Autoren sind die Autorennamen Abkürzung für viele mitarbeitende Familienmitglieder. Sofia Tolstoi hat „Krieg und Frieden“ glaube ich 13 Mal abgeschrieben und wir wissen, dass der Roman über 1000 Seiten hat und auch mit redigiert. Und ganz ähnlich ist es auch bei Emilie Fontane, die alle Korrekturfassungen erstellt hat, aber auch sich ausgetauscht hat über bestimmte Szenen, die ihr nicht eingeleuchtet haben, die dann Fontane geändert hat. Zitatorin Emilie Fontane (Hervorhebung im Orginal) „Liebesschilderungen, merkt man dir doch zu sehr an, sind nicht Deine Sache; ein Tröpfchen von Storms „Bibber“ könnte meinem Geschmack nach nicht schaden.“ O-Ton d‘Aprile Sie hat die ganze Buchhaltung und Rechnungswesen gemacht, das konnte er nicht. Fontane war kein Mensch, der mit Geld umgehen konnte oder gut rechnen konnte, er hat es dann auch oft so in bestimmten Figuren untergebracht, die auch nicht rechnen konnten. Also ohne Emilie wäre dieser, hätte dieser Romanschriftstellerladen überhaupt nicht funktioniert und das darf man nicht vergessen, wenn man Autoren aus dem 19. Jahrhundert liest, dann ist es meistens der Mann, aber das heißt nicht, dass da nur der Mann die Romane geschrieben hat. O-Ton Rutsch Seine Frau, die hat ja unglaublich gelitten darunter, sie war ja diejenige, die diese Manuskripte abgeschrieben hat. Und dann setzte sich Fontane wieder hin und überarbeitete die erste Abschrift und es geschah jetzt nicht so in einer ordentlichen Weise, dass man sagt, er hat also da was durchgestrichen oder was drüber geschrieben. Er hat kreuz und quer reingeschrieben, hat noch Gedanken, die ihm eingefallen sind, einfach zwischen die Texte geschoben, die er für später brauchte. Und dann gab er das wieder seiner Frau, und seine Frau, die ihn ja auch zutiefst liebte, die hat ja seine Seele gekannt und hat das geordnet. Dann hat sich Fontane wieder ran gesetzt und dann ging das ganze von vorne los. Und bei der vierten, fünften Fassung hat seine Frau die Lust verloren, das war bei fast jedem der Bücher so, dann noch mal mit ganzer Seele einzusteigen. Und das war eher so die also diese Kompromisslosigkeit von Fontane. ((Und dann kam noch eine Tragödie hinzu, die die wir aus der Sekundärliteratur kennen, das ist auch genügend aufgearbeitet worden. Aber Fontane hat in seiner sehr intelligenten einzigen Tochter Mete ja jemanden gesehen, der in diese Arbeit einsteigen kann. Mete hatte studiert, sie hätte, heute würden wir sagen, als Lehrerin arbeiten können, war also eine sehr emanzipierte junge Frau. Und sie hat den Vater sehr verstanden und zwischen den beiden entstand eine besondere Nähe, weil Fontane brauchte die Ratgeber um sich herum. Und in diese Rolle hat er Mete hinein erzogen und dabei entstand also eine ganz nah von Liebe zueinander berührte Geschichte zwischen Vater und Tochter. Und die hat sehr viel auch in diese Literatur hinein gewirkt, aber auch die Beziehung zum Vater in die Tochter. Denn die Tochter hat also, Mete hat nie zu einem eigenen Leben nach Fontanes Tod gefunden, sondern springt mitten im Ersten Weltkrieg als Alkoholikerin von starken Depressionen getrieben aus dem Fenster, nimmt sich das Leben. )) Musik Erzählerin Elf der siebzehn Romane Theodor Fontanes spielen in Berlin, in der explodierenden Hauptstadt des neuen deutschen Kaiserreichs. Und Berlin spielt in den Romanen eine Hauptrolle: O-Ton d‘Aprile (ca77) #...# Die Stadt hat immer den Charakter von Sozialtopographie, also damit werden die Figuren schon charakterisiert, in ein bestimmtes Milieu versetzt und auch die Konfliktlagen dargestellt. Bis hin zur Etage der Häuser. Je höher man wohnt, desto niedriger der Stand und das Einkommen. Solche Dinge prägen sozusagen dieses vielleicht realistische Setting von Fontanes Berlin Romanen.#...# Also was Fontane macht, ist sozusagen die aktuelle Berliner Bauwirklichkeit in die Romane reinzuholen, bis hin dann eben zu Reklame-Phänomenen, einer Litfaßsäule. Also so Verfahren, die wir dann in ganz anderer Form natürlich noch mal in Döblins „Alexanderplatz“ auch wiederfinden, wo die Montagetechniken dann auch explizit gemacht werden. Aber bei Fontane findet sich die großstädtische Lebenswelt auch schon in sehr aktueller aktueller Form in diesen Berlinromanen. Zitator „Der Stechlin“ „Und so ging er denn, als der Abend dieses dritten Tages da war, auf die Hallische Brücke zu, wartete hier die Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer- und Brandenburgerthor vorüber, bis an jene sonderbare Reichstagsuferstelle, wo, von mächtiger Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, riesiges Kaffeemädchen mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippschen Malzkaffee zu präsentieren. An dieser echt berlinisch-pittoresken Ecke stieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an das Kronprinzenufer zu Fuß zurückzulegen.“ ((O-Ton d‘Aprile Fontanes Berlin ist natürlich ein Ausschnitt, es ist nicht sozusagen, es ist kein naturalistisch gezeichnetes Berlin, Fontanes Berlin sind bestimmte Gesellschaftsschichten, die er auch kannte, eher das Bürgertum vielleicht und auch die Adelskreise und die sogenannte Salon Gesellschaft. Und dann gibt es vielleicht mal Protagonisten, die kommen aus dem vierten Stand, aber z.b. das industrielle Berlin und das proletarische Berlin wird ja, wenn überhaupt, in Ausblicken oder am Rande gestreift. #...#78.40 Also da hat Fontane nicht den Zugang zu, zur proletarischen Geschichte, da spielt vielleicht tatsächlich dieses bürgerliche eine Rolle, also diese Art sozialkritischer Literatur , dass Klassenkämpfe dargestellt werden oder Klassen Probleme findet bei Fontane eben eher in diesen großbürgerlichen Schichten statt, aber weniger, also gar nicht im Arbeitermilieu. Da fehlt ihm der Zugang, kann man auf jeden Fall so sagen und es ist vielleicht auch, und da würde ich vielleicht eher zweifeln, auch so dass er meint, sozusagen die Gesellschaft wird eben von diesen Schichten geprägt, die er darstellt, sind ja auch die herrschenden Schichten, spielt sicher auch noch eine Rolle. Fontane hatte überhaupt keine Abgrenzungsproblem oder Beißzwänge nach unten, das glaube ich nicht, also nicht so, dass er irgendwie Probleme hatte, sich dann irgendwie nach unten abzugrenzen. Im Gegenteil, also die Popkultur und die proletarische Kultur und solche Dinge waren auch sein Interesse, aber er hatte keinen Zugang zu diesen Bevölkerungskreisen und da hätte er auch wahrscheinlich nicht realistisch erzählen, glaube ich.)) Erzählerin Fontane verwendet präzise Lokalangaben, beschreibt sehr genau den Wandel der Stadt. Der bürgerlichen Stadt. Die Mietskasernen und das Elend der Fabrikarbeiter bleiben außen vor, sind höchstens Kulisse, so wie etwa in „Der Stechlin“ beim „Ausflug in das Eierhäuschen“, der auch an der großindustriellen Wäscherei und Färberei Spindler vorüberführt: Zitator „Der Stechlin“ Ausflug nach dem Eierhäuschen An dem schon in Dämmerung liegenden östlichen Horizont stiegen die Fabrikschornsteine von Spindlersfelde vor ihnen auf, und die Rauchfahnen zogen in langsamem Zuge durch die Luft. Zitatorin »Was ist das?« Zitator „Der Stechlin“… fragte die Baronin, sich an Woldemar wendend. Zitator Fontane »Das ist Spindlersfelde.« Zitatorin »Kenn' ich nicht.« Zitator Fontane »Doch vielleicht, gnädigste Frau, wenn Sie hören, daß in eben diesem Spindlersfelde der für die weibliche Welt so wichtige Spindler seine geheimnisvollen Künste treibt. Besser noch seine verschwiegenen. Denn unsre Damen bekennen sich nicht gern dazu.« Zitatorin »So, der! Ja, dieser unser Wohltäter, den wir - Sie haben ganz recht - in unserm Undank so gern unterschlagen. Aber dies Unterschlagen hat doch auch wieder sein Verzeihliches. Wir tun jetzt (leider) so vieles, was wir, nach einer alten Anschauung, eigentlich nicht tun sollten. Es ist, mein' ich, nicht passend, auf einem Pferdebahnperron zu stehen, zwischen einem Schaffner und einer Kiepenfrau, und es ist noch weniger passend, in einem Fünfzigpfennigbasar allerhand Einkäufe zu machen und an der sich dabei aufdrängenden Frage: ›Wodurch ermöglichen sich diese Preise?‹ still vorbeizugehen. Unser Freund in Spindlersfelde da drüben degradiert uns vielleicht auch durch das, was er so hilfreich für uns tut.“ Erzählerin (( Wie die Wanderungen von so manchem Leser mit dem Baedecker verwechselt würden, so widerfahre nun Gleiches den Romanen, beklagt sich Fontane bei seiner Frau Emilie in einem Urlaubsbrief aus Norderney. Zitator Fontane „(Vom Kurhaus ging ich an den Strand und dämmerte so von Bank zu Bank. Als ich an der Hauptstelle war, wo viele hunderte von Korbhütten stehen, in denen man die Strandluft genießt, fühle ich mich von hinten her gepackt und der kleine Maler-Professor Michael stand vor mir. Er schleppte mich bis an seine Korbhütte, wo ich nun der Frau Professorin und ihrem 19-Jährigen Sohne, einem jungen Studenten vorgestellt wurde.)Die Frau Professorin begrüßte mich sehr herzlich, zeigte mir die neuste Nummer der „Vossin“ und sagte: „Eben habe ich von Ihnen gelesen, sehen Sie hier. Es ist so spannend, man kennt ja alle Straßennamen!“ #...# Die Strandpromenade mit den drei Herrschaften dauerte wohl noch anderthalb Stunden, und die Gutmütigkeit und Freundlichkeit der Frau Professorin gefiel mir. Aber das Urteil „es ist so spannend, man kennt ja fast alle Straßennamen!“ hat doch einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht. Nicht als ob ich der Frau zürnte, wie könnte ich auch. Im Gegenteil, es ist mir bei aller Schmerzlichkeit in gewissem Sinne angenehm gewesen, mal so naiv sprechen zu hören. Im Irrtum über die Dinge zu bleiben, ist oft gut. Klar zu sehen ist oft auch gut! Das ist nun also das gebildete Publikum, für das man schreibt... ( Alles macht einen wahren Jammereindruck auf mich und wenn ich nicht arbeiten müsste, würde ich es in einem gewissen Verzweiflungszustande, in dem ich mich befinde, doch wahrscheinlich aufgeben. Ersieh daraus, wie groß mein Degout ist, denn meiner ganzen Natur nach bin ich auf die Freude des Schaffens gestellt.“))) Erzählerin Zwei Tage nach diesen Zeilen aus Norderney schreibt Fontane im Sommer 1882 an Emilie einen Brief, der von einem Thema handelt, das nicht ausgeklammert werden kann: Zitator Fontane „Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Mesewitz ein Jahr lang Menschen betrogen, oder, wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Komtessen mit herumzuzieren. Wer zur guten Gesellschaft gehört, Jude oder Christ, darf sich auch in der guten Gesellschaft bewegen; wer aber 11 Monate lang Kattun abmißt oder Kampfer in alte Pelze packt, hat kein Recht, im 12. Monat sich an einen Grafentisch zu setzen.“ Erzählerin In einem anderen Brief, 13 Jahre später, beklagt er sich bei seiner Tochter Martha (übrigens zu deren Leidwesen) Berlin sei eine Judenstadt geworden: Zitator Fontane Brief an Martha 30.8.1895 IV.4.476 Das beständige Voraugenhaben von Massenjudenschaft aus allen Weltgegenden, kann einen natürlich mit dieser schrecklichen Sippe nicht versöhnen, aber inmitten seiner Antipathieen kommt man doch immer wieder in‘s Schwanken, weil sie – auch die, die einem durchaus mißfallen – doch immer noch Kulturträger sind und inmitten all ihrer Schäbigkeiten und Geschmacklosigkeiten Träger geistiger Interessen. Wenn auch nur auf ihre Art. Sie kümmern sich um alles, nehmen an allem Theil, erwägen alles, berechnen alles, sind voll Leben und bringen dadurch Leben in die Bude. Wie stumpf, wie arm, auch geistig arm, wirkt daneben der Durchschnittschrist! Und sucht man sich nun gar die guten Nummern heraus oder lernt man Damen kenne, ...die nichts sind als guter Judendurchschnitt und doch unsrem Durchschnitt gegenüber eine gesellschaftliche Überlegenheit zeigen. Das Schlussgefühl ist dann immer, daß man Gott noch danken muss, dem Berliner Judenthum in die Hände gefallen zu sein. Grüße Anna, empfiehl mich Veits. Wie immer Dein alter Papa. Erzählerin „Papa schimpft mehr wie schön ist auf die Juden“ klagt Tochter Martha mehr als einmal. Fontane macht es einem nicht leicht. Auch mit seinem Antisemitismus. Den abfälligen Bemerkungen stehen lobende gegenüber, und sein Freundeskreis, zu dem – teilweise über Jahrzehnte – Juden gehörten: Wilhelm Wolfssohn, Moritz Lazarus, Otto Brahm, Otto Cohn, Georg Friedländer. Als Wilhelm Wolfsohn und Friedrich Cohn von den protestantischen Familien ihrer Freundinnen abgelehnt werden, ist es Theodor Fontane, der sich für die Hochzeiten einsetzt. O-Ton d‘Aprile 95.00 Erstmal in den Romanen würde ich immer davon ausgehen, dass es zu seinem Realismusanspruch auch gehört, den Antisemitismus der Zeit darzustellen, deswegen gibt es in den Romanen auch Antisemiten, aber da muss man gucken, wer äußert sich da antisemitisch und wie ist es Zusammenhang zu verstehen #...# Ich finde interessant, bei Fontane kommt das Thema immer sozusagen zusammen mit dem Adel. Juden und Adel ist immer sozusagen die feste Konstellation bei Fontane, die gegenübergestellt wird als zwei vielleicht Typen innerhalb der Gesellschaft. Was natürlich gar nicht die gleiche Kategorie ist, das eine ist vielleicht eine Konfession und das andere ist ein Stand, aber bei Fontane wird es immer so gegenübergestellt. Die Juden als Vertreter der Moderne und der Adels als Vertreter der Vergangenheit. Zitator Fontane Adel und Judenthum in der Berliner Gesellschaft. 1. Das Historische. Der Adel war die Gesellschaft, denn auch die höhere Beamtenschaft (Armee und Civil) war Adel. 2. Nach den Befreiungskriegen breitete sich ein Umschlag vor, erst langsam, dann rapide...der Adel wurde arm, der Bürgerstand wurde reich. Am reichsten die Juden. Erzählerin 1879 entwirft Fontane das Konzept für einen Essay „Die Juden in unserer Gesellschaft“. Er bleibt unvollendet, ebenso wie die Schrift „Adel und Judenthum“. Die Fragmente zeigen einen Fontane, der historisch argumentiert, der fragt ob die Judenemanzipation „eine Calamität oder ein Fortschritt“ sei . Zitator Fontane „Ich behaupte das Letztre. ….Die Durchschnitts=Adelsgesellschaft ließ viel zu wünschen übrig….dazu waren wir zu arm, zu binnenlädisch= beschränkt, zu unkosmopolitisch und zu unvertraut mit dem, was allein feinre Form schafft: mit Wissenschaft und Kunst…. Wie anders stellt sich daneben die jüdische -jetzt dominirende – Gesellschaft... Die Sitten sind verfeinert, geläutert, gebessert...Sprachen werden gesprochen und Weltreisen gemacht…Und deshalb sind diese Gesellschaften, in denen oft die „Jüdischen“ die Minorität bilden, der Mittelpunkt unsrer geistigen Kreise geworden...Die Kunst, die Wissenschaft, die sonst betteln gingen oder auf sich selber angewiesen waren, hier haben sie ihre Stätte. Statt der Pferdeställe werden Observatorien gebaut und statt der Ahnenbilder in Blau und gelb und roth hängen die Werke unsere Meister in Zimmern und Galerien. Der Staat mag dadurch verloren haben, die Welt hat gewonnen.“ Erzählerin Und doch tituliert der gleiche Mann, der diese Erkenntnisse niederschreibt, seinen Freund Georg Friedländer als „Stockjuden“ und erteilt wenige Monate vor seinem Tod, der Gleichberechtigung eine rigorose Absage. Zitator Fontane “Wir standen bis 48 oder auch bis 70 unter den Anschauungen des vorigen Jahrhunderts, hatten uns ganz ehrlich in etwas Menschenrechtliches verliebt, und schwelgten in Emanzipationsideen, auf die wir noch nicht Zeit und Gelegenheit gehabt hatten, die Probe zu machen. Dies „die Probe machen“ trägt ein neues Datum und ist sehr zu Ungunsten der Juden ausgeschlagen. Überall stören sie ( viel mehr als früher), alles vermanschen sie, hindern die Betrachtung jeder Frage als solcher. Auch der Hoffnungsreichste wird sich von der Unausreichendheit des Taufwassers überzeugen müssen. Es ist, trotz all seiner Begabungen, ein schreckliches Volk, nicht ein Kraft und Frische gebender „Sauerteig“, sondern ein Ferment, in dem die häßlicheren Formen der Gärung lebendig sind,- ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem die arische Welt sich nun mal nicht vertragen kann. Welch Unterschied zwischen der christlichen und jüdische Verbrecherwelt! Und das alles unausrottbar. Ein Freund von mir, Rath und Richter, aus einer angesehenen und reichen und seit 3 Generationen im Staatsdienst stehenden Judenfamilie, der Sohn selber klug und gescheidt und mit einem ehrlich verdienten eisernen Kreuz bewaffnet. Und doch Stockjude, so sehr, daß seine feine und liebenswürdige Frau blutige Thränen weint, bloß weil ihr Mann die jüdische Gesinnung nicht los werden kann. Es ist auch kein Ende davon abzusehen und es wäre besser gewesen, man hätte den Versuch der Einverleibung nicht gemacht. Einverleiben lassen sie sich, aber eingeistigen nicht. Und das alles sage ich( muss es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe. O-Ton d‘Aprile Fontane war kein Agitator des Antisemitismus, kein politischer Antisemit in dem Sinne, dass er sich öffentlich kundtat, aber er war ein Kind seiner Zeit und hatte durchaus antisemitische Vorurteile, über die er sich aber auch mit seinen vielen jüdischen Freunden ausgetauscht hat. Also das muss man eben auch sehen, dass viele von seinen jüdischen oder ja auch meistens ja schon längst konvertierten preußischen Freunden und Anhängern sich immer strikt dagegen verwahrt haben, dass Fontane irgendwie Antisemit war. Es fing ja schon kurz nach seinem Tod an, dass versucht wurde, er vereinnahmt zu werden von den Antisemiten und von der völkischen Germanistik. Und interessant ist z.B. das 1918 der Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus öffentlich dann Artikel gebracht hat und gesagt hat, man soll jetzt endlich mal aufhören zu versuchen, den Fontane für Antisemitismus zu vereinnahmen. Musik Zitator “Der Stechlin“ Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt »der Stechlin«. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und quaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eignen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei's auf Island, sei's auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich's auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch hinzu: »Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah Alltägliche; wenn's aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt's hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.« Erzählerin Im Mai 1897, Theodor Fontane ist 78 Jahre alt, schreibt er an den Verleger Ernst Heilborn. Zitator Fontane Ich stecke so drin im Abschluss eines großen, noch dazu politischen (!!) und natürlich märkischen Romans, dass ich gar keine anderen Gedanken habe und gegen alles andere auch gleichgültig bin. Erzählerin Zwei Jahre hat er am „Stechlin“ gearbeitet, dem mit Abstand umfangreichsten seiner Altersromane. Dessen Handlung fasst er so zusammen: Zitator Fontane Zum Schluss stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; - das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. O-Ton D‘Aprile 81.10 Also er nennt ihn ja nicht nur politischen Roman, sondern auch einen Zeitroman, Zeitpanorama oder Zeitbild. Also was versucht wird, ist ein Epochenporträt oder vielleicht ein Porträt einer Gesellschaft an einer Epochenwende darzustellen. Und in dem Sinne würde ich auch den Begriff politischer Roman verstehen, nicht so sehr in dem Sinne, dass da politische Aussagen jetzt verhandelt werden, sondern dass sozusagen die politischen Epochenwechsel dargestellt werden in einem weiten Sinne von Politik. Also nicht in einem Sinne von Parteipolitik, sondern in einem weiten Sinne von Gesellschaftszustand. # Das würde ich sagen, ist dann der realistische Anspruch des Romans, doch irgendwie so ein Gesellschaftsportrait zu zeichnen von unterschiedlichsten Gruppen. Und die Widersprüche entspannen sich dann zwischen Tradition und Moderne, alten und neuen, provinziellen vielleicht und kosmopolitischen und das war, hatte ich schon gesagt, so bei Fontane ein besonders beliebtes Verfahren, dann da Kontrastverhältnisse und Spannungsverhältnisse anzuzeigen zwischen Kloster Wutz, die immer noch wie im Mittelalter leben und an ihren Konfessionsstreitigkeiten festhalten und keine Zeitung lesen z.b., überhaupt keine Nachrichten von außen haben und diesem weltreisenden Journalisten wie Doktor Pusch. Und einfach zu zeigen, welche Spannweite dieser Epochenwechsel beinhaltet. Und nicht nur beinhaltet, sondern, und dafür steht der See als Symbol mit seiner Weltvernetzung - durch diese neuen Kommunikationsverhältnisse und Weltvernetzung auch in einen Raum der Gleichzeitigkeit versetzt werden. Also das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen das ist glaube ich so ein großes Thema im Stechlin. Zitator Fontane Ach, Gräfin, Sie wissen nicht, wie bescheiden es mit unserem Stechliner Erdenwinkel bestellt ist. Wir haben da, von einem Pastor abgesehen, der beinah Sozialdemokrat ist, und des weiteren von einem Oberförster abgesehen, der eine Prinzessin, eine Ippe-Büchsenstein, geheiratet hat...« Zitatorin: »Aber das ist ja alles großartig...« Zitator Fontane »Wir haben da, von diesen zwei Sehenswürdigkeiten abgesehen, eigentlich nur noch den ›Stechlin‹. Der ginge vielleicht, über den ließe sich vielleicht etwas sagen.« Erzählerin Woldemar, der Sohn des alten Grafen von Stechlin, bei einem gemeinsamen Ausflug im Gespräch mit Melusine, der Schwester seiner zukünftigen Braut. Zitatorin »Den ›Stechlin‹? Was ist das? Ich bin so glücklich zu wissen« (und sie machte verbindlich eine Handbewegung auf Woldemar zu), »ich bin so glücklich zu wissen, daß es Stechline gibt. Aber der Stechlin! Was ist der Stechlin?« Zitator Fontane »Das ist ein See.« Zitatorin »Ein See. Das besagt nicht viel. Seen, wenn es nicht grade der Vierwaldstätter ist, werden immer erst interessant durch ihre Fische, durch Sterlet oder Felchen. Ich will nicht weiter aufzählen. Aber was hat der Stechlin? Ich vermute, Steckerlinge.« Zitator Fontane »Nein, Gräfin, die hat er nun gerade nicht. Er hat genau das, was Sie geneigt sind am wenigsten zu vermuten. Er hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnisvolle Beziehungen, und nur alles Gewöhnliche, wie beispielsweise Steckerlinge, hat er nicht. Steckerlinge fehlen ihm.« Zitatorin »Aber, Stechlin, Sie werden doch nicht den Empfindlichen spielen. Rittmeister in der Garde!« Zitator Fontane »Nein, Gräfin. Und außerdem, den wollt ich sehen, der das Ihnen gegenüber zuwege brächte.« Zitatorin »Nun dann also, was ist es? Worin bestehen seine vornehmen Beziehungen?« Zitator Fontane »Er steht mit den höchsten und allerhöchsten Herrschaften, deren genealogischer Kalender noch über den Gothaischen hinauswächst, auf du und du. Und wenn es in Java oder auf Island rumort oder der Geiser mal in Doppelhöhe dampft und springt, dann springt auch in unserm Stechlin ein Wasserstrahl auf, und einige (wenn es auch noch niemand gesehen hat), einige behaupten sogar, in ganz schweren Fällen erscheine zwischen den Strudeln ein roter Hahn und krähe hell und weckend in die Ruppiner Grafschaft hinein. Ich nenne das vornehme Beziehungen.« Zitatorin »Ich auch« O-Ton Rutsch 32.15 Man kann es ganz simpel sagen, warum interessieren sich Chinesen für den Stechlin, warum ist der in Chinesisch übertragen, in alle wichtigen Sprachen der Welt übertragen. Es gibt auf jedem Kontinent an den Universitäten und den germanistischen Fakultäten Leute, die sich mit Fontane beschäftigen. Was muss ein Australier oder ein Japaner sich mit Fontane beschäftigen? Doch nicht, weil er wie ein Heimatforscher die Mark beschrieben hat, sondern er beschreibt die Welt in der Mark und das ist eine völlige Umkehrung der Perspektive. Musik Erzählerin Erstes Kapitel des Romans. Der alte Graf Dubslav von Stechlin sitzt auf einer Gartenbank vor seinem Schloss und ahnt noch nichts von den freudigen Aufregungen, die auf ihn zukommen. Der Erzähler lässt seinen Blick durch den Garten streifen, weniger um uns ein Bild von demselben, als von den politischen Anschauungen des Schlossherrn zu vermitteln: Zitator Fontane „Der Stechlin“ Ein Bild des Behagens, saß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem Filzhut und sah, während er aus seinem Meerschaum allerlei Ringe blies, auf ein Rundell, in dessen Mitte, von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne plätscherte. Rechts daneben lief ein sogenannter Poetensteig, an dessen Ausgang ein ziemlich hoher, aus allerlei Gebälk zusammengezimmerter Aussichtsturm aufragte. Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen. Engelke hatte vor kurzem einen roten Streifen annähen wollen, war aber mit seinem Vorschlag nicht durchgedrungen. »Laß. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes drannähst, dann reißt es gewiß.« Die Pfeife war ausgegangen, und Dubslav wollte sich eben von seinem Platz erheben und nach Engelke rufen, als dieser vom Gartensaal her auf die Veranda heraustrat. »Das ist recht, Engelke, daß du kommst... Aber du hast da ja was wie 'n Telegramm in der Hand. Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dod, oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre.« Engelke griente. »Der junge Herr kommt.« »Und das weißt du schon?« »Ja, Brose hat es mir gesagt.« »So, so. Dienstgeheimnis. Na, gib her.« Und unter diesen Worten brach er das Telegramm auf und las: »Lieber Papa. Bin sechs Uhr bei dir. Rex und von Czako begleiten mich. Dein Woldemar.« Engelke stand und wartete. »Ja, was da tun, Engelke?« sagte Dubslav und drehte das Telegramm hin und her. Erzählerin Zu tun ist wenig. Das Telegramm bringt die Handlung ins Rollen und alles weitere ergibt sich. Man wird ein Essen geben für den Sohn und seine Regimentskameraden. Man wird Plaudern über Gott und die Welt, altes Preußen, neues Kaiserreich, Bismarck und die Sozialdemokratie. Über das unterseeische Telegrafenkabel, das die Firma Siemens jüngst unter dem Atlantik verlegt hat und über Liebesangelegenheiten. Woldemar hat ein Auge geworfen auf eine der beiden Töchter des Grafen Barby in Berlin, auch wenn lange Zeit ungewiss bleibt, auf welche – die stille Armgard oder die geheimnisvoll neckische und durchaus reizvolle Melusine. Es wird Besuche geben und Gegenbesuche, eine Verlobung und eine Hochzeit und bei all diesen Anlässen wird – über Seiten und Kapitel hinweg - weiter geplaudert werden. Zitator Meyer Fontane liebt es, den Menschen fast ausschließlich durch seine Reden zu charakterisieren und zur Anschauung zu bringen. Was er thut, gehört ihm nur zum Teil, viel davon ist Zwang der Verhältnisse, anderes mechanische Gewohnheit. Das Handeln wird deshalb bei Fontane ganz nebensächlich behandelt. Erzählerin So schreibt der Germanist Richard Moritz Meyer, ein Zeitgenosse Fontanes, in seiner „Geschichte der Deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts“. Er nennt die späten Werke des großen Realisten sozialpsychologische Experimentalromane. Ihren Autor treibe… Zitator Meyer eine unerschöpfliche Lust zu Lernen. Eben deshalb bringt er seine Figuren ja in bestimmte Situationen. Er will ihnen abhören, was sie sagen werden. O-Ton D‘Aprile 72.25 Also Fontane so als Lernender und Beobachter, das ist eigentlich eine These, die hat Meyer als erster formuliert schon 1911, der ja Fontane noch kannte, und für mich sehr interessant begründet auch, die sich aber bis heute in der Forschung hält, also # dieses Erzählverfahren Fontanes, eigentlich alles nur über Beobachtung und vermittelte Beobachtung darzustellen. Ich glaube, es gibt tatsächlich in Fontanes Romanen auch noch eine Art Erzählerstimme, es gibt auch Erzählerwertungen, aber die sind sehr zurückgenommen und eigentlich besteht der Roman aus diesen Beobachtungen verschiedener Figuren. Zitator Fontane Es hängt alles mit der Frage zusammen: wie soll man die Menschen sprechen lassen? Erzählerin Schreibt Fontane 1882 an seine Tochter Martha: Zitator Fontane Ich bilde mir ein, dass nach dieser Seite hin eine meiner Forcen liegt und dass ich auch die besten (unter den Lebenden die besten) auf diesem Gebiet übertreffe. Meine ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, Menschen so sprechen zu lassen, wie sie wirklich sprechen. Das Geistreiche (was ein bisschen arrogant klingt) geht mir am leichtesten aus der Feder. Ich bin -auch darin meine französische Abstammung verratend- im Sprechen wie im Schreiben ein Causeur, aber weil ich vor allem einen Künstler bin, weiß ich genau wo die geistreiche Causerie hingehört und wo nicht. Erzählerin Der alte Dubslav im Gespräch mit Herrn von Gundermann, seinem Nachbarn, einem kürzlich geadelten Schneidmühlen-Unternehmer. Zitator „Der Stechlin“ Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiß. Schon die Form, die Abfassung. Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen heißt meistens auch, sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ›Herr‹ ist beispielsweise gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte mal einen Freund, der ganz ernsthaft versicherte: ›Der häßlichste Mops sei der schönste‹; so läßt sich jetzt beinahe sagen, ›das gröbste Telegramm ist das feinste‹. Wenigstens das in seiner Art vollendetste. Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigersparnis herausdoktert, ist ein Genie.« Diese Worte Dubslavs hatten sich anfänglich an die Frau von Gundermann, sehr bald aber mehr an Gundermann selbst gerichtet, weshalb dieser letztere denn auch antwortete: Zitator Fontane // weitere Stimme? »Ja, Herr von Stechlin, alles Zeichen der Zeit. Und ganz bezeichnend, daß gerade das Wort ›Herr‹, wie Sie schon hervorzuheben die Güte hatten, so gut wie abgeschafft ist. ›Herr‹ ist Unsinn geworden, ›Herr‹ paßt den Herren nicht mehr – ich meine natürlich die, die jetzt die Welt regieren wollen. Aber es ist auch danach. Alle diese Neuerungen, an denen sich leider auch der Staat beteiligt, was sind sie? Begünstigungen der Unbotmäßigkeit, also Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie. Weiter nichts. Und niemand da, der Lust und Kraft hätte, dies Wasser abzustellen. Aber trotzdem, Herr von Stechlin – ich würde nicht widersprechen, wenn mich das Tatsächliche nicht dazu zwänge –, trotzdem geht es nicht ohne Telegraphie, gerade hier in unsrer Einsamkeit. Und dabei das beständige Schwanken der Kurse. Namentlich auch in der Mühlen- und Brettschneidebranche...« Zitator „Der Stechlin“ »Versteht sich, lieber Gundermann. Was ich da gesagt habe... Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig. Der Teufel is nich so schwarz, wie er gemalt wird, und die Telegraphie auch nicht, und wir auch nicht. Schließlich ist es doch was Großes, diese Naturwissenschaften, dieser elektrische Strom, tipp, tipp, tipp, und wenn uns daran läge (aber uns liegt nichts daran), so könnten wir den Kaiser von China wissen lassen, daß wir hier versammelt sind und seiner gedacht haben. Und dabei diese merkwürdigen Verschiebungen in Zeit und Stunde. Beinahe komisch. Als Anno siebzig die Pariser Septemberrevolution ausbrach, wußte man's in Amerika drüben um ein paar Stunden früher, als die Revolution überhaupt da war. Ich sagte: Septemberrevolution. Es kann aber auch 'ne andre gewesen sein; sie haben da so viele, daß man sie leicht verwechselt. Eine war im Juni, 'ne andre war im Juli – wer nich ein Bombengedächtnis hat, muß da notwendig reinfallen... Engelke, präsentiere der gnäd'gen Frau den Fisch noch mal. O-Ton D‘Aprile 81.10 Das war das Anliegen, ein Zeitbild dieser Jahrhundertwende oder kurz vor der Jahrhundertwende zu geben und zwar in all seinen Widersprüchen, wo es z.b. die aufsteigende Sozialdemokratie gibt, dann gibt es noch die alten Adligen wie Dubslaw und vor allem die Schwester Adelheid, dann gibt es die Provinziellen im Ruppiner Land und es gibt die große Welt. Also es gibt, glaube ich, über Hundert Figuren in diesem Roman, die alle ihre Sichtweisen in diesem Epochenwechsel haben und die irgendwie alle dazu gehören. Erzählerin Einzig auf die vielleicht spannendste Figur des Romanes trifft das nicht so recht zu. Melusine, die geheimnisvolle Schwester Armgards, für die nicht nur der alte Dubslav schwärmt, sondern auch sein Sohn und dessen Regimentskameraden und nicht zuletzt der brave Pastor Lorenzen. So wie Fontane sie zeichnet, kann Melusine kaum seiner eigenen Zeit, der eigenen Beobachtung entstammen. Vieles von dem, was Fontane sie sagen und wie er sie sein lässt, deutet weit über den beschriebenen Epochenwechsel hinaus. O-Ton Brühl ca. 76.00 Er gibt Melusine eine unheimliche Kraft. Melusine ist ja letztlich auch sympathischer, interessanter und schillernder als Mathilde Möhring. Mathilde Möhring kommt aus einfachen Kreisen, Melusine ist eine gebildete Frau, ihr Vater war Gesandter in London, sie ist eine Frau von Welt, sie war mit einem Mann verheiratet, hat sich aber ganz schnell wieder von ihm getrennt, hat also auch keine Kinder und ist von einer Unabhängigkeit, wie sie ihresgleichen man suchen müsste. Das ist total faszinierend, absolut, und man hat ja auch das Gefühl, wenn Fontane sich eine Frau hätte backen wollen mögen, dann wäre es eine Frau wie Mélusine gewesen, so eine unabhängige hübsche großgewachsene, wunderbare Person, die den Mut hat, sowohl Männern wie Frauen in die Parade zu fahren, ihre eigene Meinung zu vertreten und gleichzeitig charmant und umgänglich und freundlich zu bleiben, ganz bestimmt. Also das ist ein sehr sehr schöner Ausblick auf die Zukunft und wenn wir heute uns wundern, das Fontane immer noch derart beliebt ist und viel gelesen wird, dann liegt es ganz bestimmt an Personen wie Melusine, die einfach eine frohe Zukunft voraussagen und Frauen nicht nur als Opfer und als vom Schicksals gebeutelte beschreiben, sondern eben auch als unabhängige selbstbestimmte Wesen. Das stimmt absolut, man hat das Gefühl, er hat sie frei erfunden, das kann es so nicht geben, es kann nicht eine Frau geben , die nicht verheiratet war und kein Kind hat und trotzdem wieder sich trennt von ihrem Ehemann und dann frei und unbescholten bei ihrem Vater lebt und auch wohlgelitten wird. Es ist ja nicht so wie man bei Fontane auch hören konnte, dass er es doch auch mühsam fand, seine Tochter weiter durchfüttern zu müssen, sondern es ist einfach ganz offensichtlich, dass der Vater, das herrlich findet, dass Melusine im Haus. Seine Frau ist gestorben und es gibt diese beiden jungen Frauen Melusine und ihre Schwester Armgard. Und Armgard wird heiraten, so hat es seine Richtigkeit, der Sohn von Dubslav taucht dort auf und hält um ihre Hand an und entscheidet sich vor allem auch für sie. Und sie verlässt das Haus, aber Melusine soll doch ruhig dort bleiben und soll ihrem Vater Gesellschaft leisten und gleichzeitig ein völlig freies sorgloses Leben führen und Besucher empfangen, auch Gespräche führen mit Gästen, wenn der Vater nicht anwesend ist, da muss auch nicht irgendeine moralische Geißel geschwungen werden. Das ist eigentlich für die Zeit völlig unmöglich!! Unmöglich was er sich da ausgedacht hat, ist meines Erachtens frei erfunden, der muss da sehr viele Frauen zu einer Person vermischt haben, sich gedacht haben, jetzt schaffe ich mir mal mein Idealbild. Erzählerin Als der alte Dubslav stirbt, sind sein Sohn Woldemar und dessen junge Frau Armgard auf Hochzeitsreise in Italien, Melusine ist bei der Beerdigung und Pastor Lorenzens Rede auf den alten Stechlin dabei. Als Armgard und Woldemar aus Italien zurück sind, beschliessen sie ihren Umzug nach Schloß Stechlin. Eine neue Zeit wird in dem alten märkischen Herrenhaus Einzug halten. Die Jungen lösen die Alten ab. Das ist der Lauf der Welt. Und das letzte Wort bekommt Melusine. Zitator Fontane „Der Stechlin“ Am 21. September wollte das junge Paar in Stechlin einziehen, und alle Vorbereitungen dazu waren getroffen: Schulze Kluckhuhn trommelte sämtliche Kriegervereine zusammen (die Düppelstürmer natürlich am rechten Flügel), während Krippenstapel sich mit Tucheband über ein Begrüßungsgedicht einigte, das von Rolf Krakes ältester Tochter gesprochen werden sollte. Die Globsower gingen noch einen Schritt weiter und bereiteten eine Rede vor, darin der neue junge Herr als einer der »Ihrigen« begrüßt werden sollte. Das alles galt dem Einundzwanzigsten. Am Tage vorher aber traf ein Brief Melusinens bei Lorenzen ein, an dessen Schluß es hieß: »Und nun, lieber Pastor, noch einmal das eine. Morgen früh zieht das junge Paar in das alte Herrenhaus ein, meine Schwester und mein Schwager. Erinnern Sie sich bei der Gelegenheit unsres in den Weihnachtstagen geschlossenen Paktes: es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.« Erzählerin Ein Vermächtnisroman, so wird „Der Stechlin“ oft genannt. Und tatsächlich, es ist der Roman eines fast 80jährigen Mannes, der auf sein Jahrhundert, das 19., zurückblickt und mit großer Klarheit vorhersieht, dass das kommende 20. Jahrhundert politische, soziale, technische und kulturelle Umbrüche gewaltigen Ausmaßes mit sich bringen wird. Dabei ist er weit entfernt vom Kulturpessimismus beispielsweise seines Zeitgenossen Friedrich Nietzsche. Für den historisch denkenden Fontane ist Gesellschaft nicht statisch und politischer Wandel nichts Schlechtes. Damit steht er konträr zum konservativen und historizistischen Zeitgeist des Kaiserreiches. Zitator Fontane Was mir an dem Kaiser gefällt, ist der totale Bruch mit dem Alten, und was mir an dem Kaiser nicht gefällt, ist das im Widerspruch dazu stehende Wiederherstellenwollen des Uralten. Erzählerin Schreibt er im April 1897 an Georg Friedländer. Zitator Fontane In gewissem Sinne befreit er uns von den öden Formen und Erscheinungen des alten Preußentums, er bricht mit der Ruppigkeit, der Popligkeit. Er ist ganz unkleinlich forsch und hat ein volles Einsehen davon, dass ein deutscher Kaiser was andres ist als ein Markgraf von Brandenburg. Er hat eine Million Soldaten und will auch hundert Panzerschiffe haben. Aber er glaubt das Neue mit ganz Altem besorgen zu können, er will Modernes aufrichten mit Rumpelkammerwaffen. Über unsren Adel muss hinweg gegangen werden. Man kann ihn besuchen wie das Ägyptische Museum und sich vor Ramses und Amenophis verneigen, aber das Land ihm zu Liebe regieren!? Worin unser Kaiser die Säule sieht, das sind nur tönerne Füsse. Wir brauchen einen ganz anderen Unterbau. Vor diesem erschrickt man, aber wer nicht wagt, nicht gewinnt. Daß Staaten an einer kühnen Umformung, die die Zeit forderte, zugrunde gegangen wären – dieser Fall ist selten. Ich wüßte keinen zu nennen. Aber das Umgekehrte zeigt sich hundertfältig. Erzählerin Und im Mai 1898 an Gustav Keyßner, den Redakteur der „Neuesten Münchner Nachrichten“ Zitator Fontane Alle sind ganz aufrichtig davon überzeugt, dass speziell wir Deutsche eine besonders hohe Kultur repräsentieren; ich bestreite das. Heer und Polizei bedeuten freilich auch eine Kultur, aber doch einen niedrigeren Grad, und ein Volks- und Staatsleben, das durch diese zwei Mächte bestimmt wird, ist weitab von einer wirklichen Hochstufe. Erzählerin Thomas Mann hat es bemerkt, auch Egon Friedell, Gerhart Hauptmann, Kurt Tucholsky, viele andere, die über ihn geschrieben haben: Theodor Fontane wurde je älter, desto moderner. Das gilt besonders für sein Verhältnis zur literarischen Avantgarde seiner Zeit. O-Ton D‘Aprile 85.50 Fontane war immer an neuen Entwicklungen interessiert, das hatten wir schon im Bezug auf die Sozialdemokratie, aber natürlich gilt es auch für die literarischen Entwicklungen, dass er versucht hat, da auch immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Und auch noch als alter Mann auf der Höhe der Zeit zu sein, und es geht ja nicht nur in der Richtung, das Fontane versucht hat, da bestimmte Literaten zu fördern, sondern was das interessante Phänomen ist, ist viel eher, dass diese junge Generation Fontane als einen der ihren ansieht. Also die neuen Literaten und nicht zuletzt die beiden deutschen Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, die eben Fontane als einen der ihren ansehen, obwohl sie über 40 Jahre jünger sind und Fontane eigentlich schon einer ganz anderen Generation angehört und dann in Fontanes Werk eben Dinge finden, an die sie selber anknüpfen können. Zitator Kerr Der älteste unter den deutschen Literaten ist zugleich der entschlossenste Parteigänger der Jüngsten. Er wird von ihnen geliebt wie kein zweiter. Erzählerin Schreibt der später berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr. Der alte Fontane bewundert die naturalistischen Dramen des Norwegers Henrik Ibsen. Und wird zum wichtigen und neidlosen Förderer der jungen deutschen Naturalisten. Als die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ im Oktober 1889 einen handfesten Theaterskandal auslöst, stellt sich Fontane hinter Hauptmann und schreibt anerkennend über dessen herausragendes dramatisches Talent. O-Ton D‘Aprile 85.50 ff # Wie weitgehend Fontane überhaupt sozusagen sich da in dieser neuen Berliner Avantgarde Bewegung gemischt hat, das habe ich auch erst bei der Recherche zu diesem Buch gesehen, dass er z.b. diesen doch ziemlich revolutionären Theaterverein „Freie Bühne“, dort sofort Gründungsmitglied wird. Und an dieser Bühne werden dann eben die ganzen modernen Autoren Ibsen, Dostojewski, Hauptmann und viele andere aufgeführt, die am königlichen Theater, wo er eigentlich Kritiker war, gar nicht aufgeführt werden durften. # Und er ist da unglaublich involviert in die moderne Berliner Literaturszene und zwar in beiden Richtungen. Die Richtung, dass er sich interessiert und engagiert, aber vor allem auch in der Richtung, dass die Jungen eigentlich ab seinen Berlin-Romanen, also ab „Irrungen, Wirrungen“ Fontane von den jungen Naturalisten, von solch Theaterkritiken wie Alfred Kerr oder im Theaterleuten wie Otto Brahm, aber auch von beiden Brüdern Mann als ein moderner Autor wahrgenommen wird und zwar der Autor, an den sie anknüpfen konnten, fast als der einzige moderne Autor. Zitator Heinrich Mann Der moderne Roman wurde für Deutschland erfunden, verwirklicht und auch gleich vollendet von einem Preußen, Mitglied der französischen Kolonie, Theodor Fontane. Erzählerin Das schreibt Heinrich Mann über den Schriftstellerkollegen, der am 20. September 1898 im Alter von 78 Jahren gestorben war. Das letzte Wort dieser Langen Nacht hat selbstverständlich der Alte Fontane selbst, und zwar mit seiner wohl bis heute bekanntesten Ballade. Zitator Fontane- Ballade // Zitator Fontane Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, Ein Birnbaum in seinem Garten stand, Und kam die goldene Herbsteszeit Und die Birnen leuchteten weit und breit, Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl, Der von Ribbeck sich beide Taschen voll, Und kam in Pantinen ein Junge daher, So rief er: »Junge, wiste 'ne Beer?« Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.« So ging es viel Jahre, bis lobesam Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam. Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit, Wieder lachten die Birnen weit und breit; Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun ab. Legt mir eine Birne mit ins Grab.« Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus, Trugen von Ribbeck sie hinaus, Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht Sangen »Jesus meine Zuversicht«, Und die Kinder klagten, das Herze schwer: »He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?« So klagten die Kinder. Das war nicht recht - Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht; Der neue freilich, der knausert und spart, Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt. Aber der alte, vorahnend schon Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn, Der wußte genau, was damals er tat, Als um eine Birn' ins Grab er bat, Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus. Und die Jahre gingen wohl auf und ab, Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab, Und in der goldenen Herbsteszeit Leuchtet's wieder weit und breit. Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her, So flüstert's im Baume: »Wiste 'ne Beer?« Und kommt ein Mädel, so flüstert's: »Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick gew' di 'ne Birn.« So spendet Segen noch immer die Hand Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Musikliste 1. Stunde Titel: Ghosts Länge: 03:51 Interpret und Komponist: Hauschka Label: Sony Classical Best.-Nr: 19075842422 Plattentitel: A Different Forest Titel: Pittoresque 2 Länge: 02:14 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Pittoresque 1 Länge: 03:14 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: As little as light Länge: 03:04 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: The Hour Glass Länge: 02:34 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Ménétriers et glaneuses (Souvenir d'un pélerinage à Font-Romeu) (3) Länge: 06:15 Solist: Jordi Masó (Klavier) Komponist: Déodat de Séverac Label: MDR 2. Stunde Titel: La Lune Länge: 02:44 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Au soleil Länge: 02:33 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Marsch Nr. 10 aus: 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Allegro aus: Marsch Nr. 10 Länge: 00:46 Orchester: Philharmonische Staatsorchester Hamburg Dirigent: Ingo Metzmacher Komponist: Mauricio Kagel Label: Sony Classical Best.-Nr: 072435569 Titel: Marsch Nr. 4 aus: 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Vivace aus: Marsch Nr. 4 Länge: 00:27 Orchester: Philharmonische Staatsorchester Hamburg Dirigent: Ingo Metzmacher Komponist: Mauricio Kagel Label: Sony Classical Best.-Nr: 072435569 Titel: Hike Länge: 02:53 Interpret und Komponist: Hauschka Label: Sony Classical Best.-Nr: 19075842422 Plattentitel: A Different Forest Titel: Ghosts Länge: 02:51 Interpret und Komponist: Hauschka Label: Sony Classical Best.-Nr: 19075842422 Plattentitel: A Different Forest Titel: As little as light Länge: 02:26 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: The Hour Glass Länge: 02:24 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 3. Stunde Titel: Pittoresque 2 Länge: 02:14 Ensemble: Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Pittoresque 2 Länge: 01:27 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Pittoresque 1 Länge: 04:25 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Au soleil Länge: 02:23 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: Curious Länge: 02:16 Interpret und Komponist: Hauschka Label: Sony Classical Best.-Nr: 19075842422 Plattentitel: A Different Forest Titel: Hike Länge: 02:53 Interpret und Komponist: Hauschka Label: Sony Classical Best.-Nr: 19075842422 Plattentitel: A Different Forest Titel: La Lune Länge: 04:04 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060 Titel: The Hour Glass Länge: 02:36 Ensemble: Arthouse Ensemble Komponist: Wolfgang Roth, Lars Kurz Label: Massive Bass Best.-Nr: 1060