COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : ?Lava, Leser, Bücher? Gegenwartsliteratur aus Island Autor/in : Paul Stänner Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 02.10.2011 Besetzung : Erzähler (Kommentar) Sprecherin (Overvoice,Zitate) Sprecher (Overvoice, Zitate) Regie : Klaus-Michael Klingsporn Produktion : O-Töne, Musik Lava Leser Bücher Moderne Literatur aus Island Regie Atmo blubberndes Wasser Erzähler Island ist eine Insel im Nordatlantik, weit draußen. Zu den touristischen Pflichtzielen auf Island gehören die Geysire. Geysire, das ist das eine isländische Wort, das es in den internationalen Sprachgebrauch geschafft hat, Sagas ist das andere. Der Name des Vulkans Eyjafjallajökull wird es vermutlich nicht schaffen. Dann eher schon der des Geysirs ?Strokkur?, zu Deutsch: Butterfass. Inmitten eines Lavafeldes gelegen schleudert er seine Fontänen 25 bis 30 Meter in die Luft. Regie Atmo Strokkur, das alte Butterfass, bricht aus, 2 x Erzähler Isländer rechnen gern per capita ? pro Kopf. Und sie sind stolz darauf, dass sie ? gerechnet gegen die Zahl der Einwohner ? die höchste Dichte an Schriftstellern auf der Welt haben. Einerseits ? wie sie einräumen - sicherlich ein Ergebnis der alten literarischen Traditionen schon aus den Anfängen der Besiedlung im 9. Jahrhundert. Andererseits ? wie sie einräumen ? das Ergebnis eines beklagenswerten Klimas aus Regen und Schnee. Als ich Island besuche, um Schriftsteller zu treffen, herrscht strahlender Sonnenschein. Regie Straßengeräusche, dann übergehend in Atmo Eymundsson Oton Jónsdóttir (englisch) Sprecherin Irgendwie haben in meiner Familie alle geschrieben. (muss man vielleicht nicht übersetzen) Erzähler Audur Jónsdóttir, Mitte dreißig, ist die Enkelin von Halldór Laxness, dem Literatur-Nobelpreisträger und Nationalheiligen der Isländer. Sie kennt es nicht anders: Schreiben war in ihrer Familie wie Ein- und Ausatmen. Oton Jónsdóttir Sprecherin Mein Großvater war ein berühmter Schriftsteller. Meine Mutter schrieb Kolumnen und übersetzte, und mein Vater schrieb über Insekten, meine Tante schrieb Filmskripte ? alle schrieben. Als ich neun oder zehn Jahre alt war, war es für mich eigentlich gar nicht außergewöhnlich, zu schreiben, weil alle es taten. Als ich mein erstes Gedicht schrieb, fand ich, dass das Schreiben einem ein gutes Gefühl gibt und irgendwie hilft. Erzähler Eigentlich ist es noch Sommer, aber es ist frisch in Reykjavik. Audur Jónsdóttir trägt einen dicken Norwegerpullover. Wir haben uns in die erste Etage eines Buchladens zurückgezogen, blicken aus den großen Fenstern hinab auf eine schmale Straße. ?Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt? heißt der Roman, über den wir sprechen. Sprecherin ((grundsätzlich: vielleicht bekommen die Zitate einen eigenen Raum?!)) Nein, nein, nein. Das ist doch bekloppt. Warum habe ich ja gesagt? Ich hätte so tun sollen, als hätte ich keine Ahnung davon. Nach fünf Jahren im Verlag lasse ich mir immer noch jede Drecksarbeit aufs Auge drücken. Erzähler Sunna arbeitet in einem Verlag. Sie bekommt einen undankbaren Job: Sie soll den Supermarkteinkäufern für das Weihnachtsgeschäft ein Buch schmackhaft machen. Supermärkte nehmen aber nur solche Bücher ins Sortiment, die garantiert weggehen wie warme Semmeln. Und das steht bei diesem Titel nicht zu erwarten ? es ist ein Kinderbuch, aber schwere Kost. Sunna probiert Verkaufsargumente. Sprecherin Vielleicht so: Sehen Sie mal, in diesem liebevoll gemachten Buch schlüpft Pu der Bär in die Rolle des Protagonisten aus August Strindbergs Inferno und verhilft ihm mit ähnlichen Methoden zu mehr Weisheit wie in Benjamin Hoffs fantastischem Kinderbuch Tao und Pu der Bär, wo Pu der Bär dem Leser die Lehren des Taoismus auf seine einmalige Art nahe bringt. Sie mögen sich vielleicht fragen, wie das taoistische Gedankengut von Pu zu so schweren Strindberg?schen Sätzen passt wie: ?Ich erwarte etwas Schlimmes, auch wenn ich noch nicht zu sagen vermag, was.? Aber genau diese Widersprüche sind der Clou des Buches. Erzähler Wie gesagt, ein Kinderbuch. Audur Jónsdóttir hatte schon zwei Romane veröffentlicht und lebte gerade in Barcelona, als ihr die Idee zu dem Buch kam. Dann bekam sie den Auftrag, zur Frankfurter Buchmesse zu fahren. Oton Jónsdóttir Sprecherin Ich bin dann zur Frankfurter Buchmesse gereist, um darüber zu berichten. Und so kamen sehr eigentümliche Dinge zusammen ? ich lebte in diesem Viertel Raval in Barcelona, dazu kamen Gedanken über die Frankfurter Buchmesse und über den Buchmarkt in Island, wo ich gerade zwei Bücher veröffentlicht hatte, und dann schrieb auch noch ein Freund von mir an einer Kriminalgeschichte. Erzähler All diese Elemente aus sehr unterschiedlichen Erlebniswelten verdichteten sich zu einem Gemisch, das einen Roman auslöste. Die Frankfurter Buchmesse spielte eine besondere Rolle. Oton Jónsdóttir Sprecherin Die Frankfurter Buchmesse kontrolliert das Gehirn der Welt. Dort entscheiden die Verleger und Buchhändler, was die Welt im kommenden Jahr lesen wird. Und damit üben sie große Macht aus? Erzähler Oder sie stürzen tragisch und tief: Dass zwei isländische Verleger auf der Buchmesse die Lizenzen für ein depressives Kinderbuch einkaufen, hat einen realen Hintergrund: Oton Jónsdóttir Sprecherin Ein Freund von mir ist Verleger. Er hatte früher ein Alkoholproblem ? jetzt hat er aufgehört zu trinken ? und in Frankfurt kaufte er von einem Taxifahrer nach einer Party sogar noch stärkere Sachen. Am Tag danach ging er auf die Buchmesse und kaufte ein ziemlich schräges Kinderbuch?. Erzähler ? was einen dann doch zweifeln lässt an der These, die Frankfurter Buchmesse sei das Hirn der Welt. Wie auch immer: Sunna ist also dazu verdammt, dieses Buch über einen Bären, der an Strindbergschem Weltuntergangsschmerz leidet, als Massenware in die Supermärkte zu bringen. Dann erfährt sie in den Nachrichten, dass ihre alte Freundin Arndis vermisst wird. Sie kennen einander aus gemeinsamen Tagen in Barcelona, eine gute Gelegenheit für die Autorin, ihre Erfahrungen in Spanien in der Romanhandlung zu verarbeiten. Sprecherin Arndís muss wahnsinnig geworden sein. Man nimmt automatisch an, dass Leute, die einfach abhauen, wahnsinnig geworden sind. Hören sie auf, wahnsinnig zu sein, wenn man sie wieder findet? Das hängt sicher davon ab, in welchem Zustand man sie wieder findet. Doch daran mag ich gar nicht denken. Ich musste sie finden. Erzähler Unsere Vorstellung von dem, was ein Verbrechen ist, wird in diesem Roman hinterfragt. Aber der Roman ist nicht allein ein philosophischer oder rechts-philosophischer Text, sondern vor allem eine Erzählung ? aber zugleich auch wieder eine Erzählung, die sich selbst reflektiert. Eigentlich ? so die Erwartung der Leser ? ist am Ende eines Krimis die Welt wieder in Ordnung. Nicht so bei Audur Jónsdóttir: Oton Jónsdóttir Sprecherin Statt wie nach einem Horrorfilm oder nach einem Jahrmarktsbesuch erleichtert zu sein, dass der Schrecken vorüber ist, wollte ich, dass man weiterdenkt an all die tausend möglichen Verbrechen und nicht an das, das aufgeklärt wurde. Regie Strokkur, das Butterfass Erzähler An der neuen Oper von Reykjavik werden die letzten Bauarbeiten durchgeführt. Eigentlich sollte in der Finanzkrise, die Island besonders hart getroffen hat, das Projekt auf Eis gelegt werden. Aber dann entschieden die Isländer, das Haus gegen alle Widerstände fertig zu stellen. Jetzt ist der grün funkelnde Kubus am Hafen so etwas wie ein Monument des Überlebenswillens und der Zähigkeit der unbeugsamen Wikinger. Oton Bjarnason Sprecher Als ich 20 Jahre alt war, hatte ich bereits an 16 verschiedenen Orten gelebt, auch im Ausland. Ich führte eine Zigeunerexistenz. Um mich an diese Orte zu erinnern, führte ich ein Tagebuch. Ich habe damit angefangen, als ich vierzehn war? Erzähler In der Nähe der Oper residiert in einem dreigeschossigen, wenig auffälligen Gebäude das Ministerium für Industrie, Energie und Tourismus. Hier treffe ich Bjarni Bjarnason, für unser Gespräch nutzt er das Büro seiner Frau Katrin Júliusdóttir. Sie ist als Angehörige der Sozialdemokratischen Allianz die Ministerin, der diese drei Schlüsselressorts der isländischen Wirtschaft unterstehen ? Industrie, Energie und Tourismus. Mit ihrem bescheidenen Büro würde sich bei uns kaum ein Abteilungsleiter zufrieden geben, schon gar nicht in einem Ministerium. Oton Bjarnason Sprecher Ich habe immer noch meine Tagebücher, es sind mittlerweile achtzig an der Zahl, und so wurde das Schreiben, das Aufschreiben die Klammer, die alles zusammenhielt. Als Teenager war es für mich ganz selbstverständlich, Geschichten und Gedichte zu schreiben. Ich benahm mich wie ein Schriftsteller, bevor es mir bewusst wurde. Das passiert einfach, und eines Tages findet man heraus: Oh ? vielleicht bin ich ja ein Schriftsteller und vielleicht sollte ich damit meinen Unterhalt verdienen. Erzähler Was den Unterhalt angeht, so ist auch für einen isländischen Schriftsteller die Ehe mit einer Ministerin hilfreich. 1989 erschien sein erstes Buch, mittlerweile sind etliche hinzugekommen und auch einige Preise wie 2001 der Halldor Laxness Preis des Isländischen Rundfunks für einen Roman, der auf Deutsch ungefähr den charmanten Titel ?Die Kannibalin und ihr Ehemann? tragen würde. Auch für diesen Roman waren die Tagebücher der Steinbruch, aus dem das Material für Personen und Handlung gewonnen wurde. Tagebuch schreiben ist ein Lebensstil geworden. Oton Bjarnason Sprecher Ich gehe immer ins selbe Café, bestelle eine Tasse Kaffee und beobachte die Leute. Manchmal lese ich ein wenig, das ist auch sehr gut, man bekommt Anregungen, denkt: Oh, etwas in der Art möchte ich gern machen, und dann fängt man an zu schreiben?.und ist absorbiert. Erzähler Den Wiener Kaffeehausliteraten hätte man im hohen Norden vielleicht nicht vermutet, aber Reykjavik hat eine sehr moderne Caféhaus-Kultur entwickelt. Im Regelfall also sitzt Bjarnason in seinem Café, wo er mittlerweile als Dauergast Prozente bekommt. Dort empfängt er hin und wieder Besucher und wenn nicht, dann schreibt er. Häufig sind es seine Träume, die er notiert, die ihm eine eigene poetische Wahrheit offenbaren. Auf dem Besprechungssofa des Ministeriums erzählt er von einem Traum, der als richtungweisend gelten darf. Oton Bjarnason Sprecher Die meisten Sätze, die ich erinnere, sind auf Isländisch, aber manche auf Englisch. Zum Beispiel ? als ich in London lebte, hatte ich eine japanische Freundin. Ich bin mit einem Satz auf Englisch wach geworden und der lautete: If you are with somebody who is far away, you look into the snow and say: If you are there, if you are there, let me stay. Das habe ich mit meiner Beziehung in Verbindung gebracht und der Frage: Soll ich bei ihr bleiben? Aber wenn man sich das Gedicht anschaut, kann man es auch verändern und sagen: If you are with somebody who is far away, you look into the snow and say: If you?re there, if you?re there, let me go. Dann hätte man -snow und go- und -stay und away-. Das kann man auf zweierlei Weise verstehen. Am Morgen habe ich das mit meiner damaligen Freundin diskutiert. Sie meinte, es sollte auf stay enden, und ich meinte, es sollte auf go enden. Am Ende habe ich sie verlassen. Erzähler Was uns immerhin einen Eindruck vermittelt von der Macht des Wortes. In seinem bislang ? in Island, aber auch international ? erfolgreichsten Roman steht eine biblische Figur im Mittelpunkt. Oton Bjarnason Sprecher Die Jungfrau Maria, wie sie als junge Frau in der Welt von heute lebt. So könnte man es beschreiben. Sie sieht sich selbst nicht als die Jungfrau Maria, aber alle anderen versuchen, sie in diese Rolle mit all den religiösen Aspekten zu drängen. Sie aber will ein ganz normales Leben führen. In einer Szene kommt ein Schatten über sie, um sie zu schwängern, der heilige Geist eben. Aber sie will das nicht, weil sie einen Mann liebt, für den sie sich entscheidet. Sie will ein ganz normales Leben führen, aber dass wird sehr schwer für sie. Erzähler Dieser Roman wird vermutlich unter dem Titel "Die Rückkehr der Heiligen Jungfrau Maria" im Herbst des kommenden Jahres auf Deutsch erscheinen. An Bjarnasons Person kann man es festmachen: Schreiben auf Island hat eine große Bedeutung fast schon für die alltägliche Lebenspraxis. Und daraus leitet sich auch eine besondere gesellschaftliche Stellung der Literaten ab. Regie Gesang Gode Steindór Andersen (CD Januar 2011 ,Track 1009) Oton Bjarnason Sprecher Schreiben ist unsere wichtigste Tradition. Wir hatten im Mittelalter keine Maler, wir durften nicht tanzen oder Musik machen, aber wir hatten immer unsere Poeten. Und sie waren wichtig im Kampf um die nationale Unabhängigkeit. Als wir nach Unabhängigkeit strebten, erinnerten uns die Schriftsteller immer an die Sagas und machten klar, dass wir ein hoch entwickeltes Land seien, das unabhängig sein sollte. Literatur ist also die Basis unserer Kultur. Deswegen trifft man in Island auf so viele Schriftsteller und viele sind überzeugt, schreiben sei leicht ? sie setzen sich hin und machen es. Regie Musik frei für einen Moment Erzähler In einem Musikgeschäft singt vor einer Handvoll geladener Zuhörer Steindór Andersen. Andersen ist Rezitator, der unter anderem mit der international bekannten Gruppe Sigur Rós gearbeitet hat. Außerdem ist er der Ober-Gode, also der Oberpriester, einer mehrere tausend Köpfe umfassenden Gemeinde von Gläubigen, die Odin, Thor und die alten Götter verehren. Steindór Andersen rezitiert Reimgedichte aus dem 19. Jahrhundert, die die Sehnsucht nach den natürlichen Schönheiten seines Landes schildern. Regie Musik wieder unterlegen Oton Bjarnason Sprecher Wir können nicht mehr so leben, wie wir vor der Krise gelebt haben. Stattdessen ist ein romantisches Gefühl von Nostalgie aufgekommen. Man muss nicht mehr das neueste Auto haben, das größte Haus und so weiter. Die Menschen suchen jetzt nach einem bescheideneren Leben. Wie die Musik von Sigur Rós, die auf alten Mythen basiert, so läuft alles wieder auf ein natürliches Leben hinaus, alte Sagas und all das ? die Menschen suchen in der Vergangenheit nach Inspiration, wie man heute mit dem Leben umgehen soll. Regie Musik auslaufen lassen, Strokkur, das Butterfass, Atmo in der Küche von Mínervudóttir, wir reden Erzähler Die Lindargata verläuft ein wenig landeinwärts parallel zur Küstenlinie. Hier stehen einige der historischen Häuser, die der Altstadt von Reykjavik ihr eigentümliches Aussehen verleihen. Das Haus, in dem Gudrún Eva Mínervudóttir lebt, ist irgendwann im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert gebaut worden. Im Hintergrund läuft die Spülmaschine. Wir stehen am Fenster, wo man die Struktur der Hauswand sehen kann. Von innen nach außen gibt es erst eine Lage Bretter, dann irgendein Dämmmaterial - Gudrún Eva vermutet Schafswolle - dann eine weitere Lage Bretter mit Nut und Feder verbunden. Schlussendlich ist als Außenhaut eine Lage bunt lackiertes Wellblech aufgenagelt, das die Holzschichten gegen den Regen, den Schnee und die feuchten Winde vom Meer schützt. Nur ? man hat das Gefühl, ein solches Haus müsse im Regen klingen, als befände man sich immer Inneren einer Blechtrommel. Oton Mínervudóttir Sprecherin Ich finde, es macht ein wundervolles Geräusch. Die Blechdächer und Blechwände sind berühmt als Regentrommeln, so ist es wirklich schön, wenn man ruhig daheim sitzt, während es regnet?ich weiß nicht, ob es am Regen liegt, aber ich lese viel. Erzähler Isländische Namen setzen sich zusammen aus dem Vornamen des Vaters oder der Mutter und einem angehängten ?son oder -dóttir für die Tochter. Mínervudóttir ist also die Tochter einer Minerva, und in der Tat ähnelt sie ein wenig den Frauenstatuen, die in meinem Griechischschulbuch abgebildet waren. Sie hat ein feines, junges Gesicht und trägt langes, dunkelbraunes, gewelltes Haar, das sie im Nacken zusammen gebunden hat. In Deutschland ist jetzt ihr Roman ?Der Schöpfer? erschienen. Sprecherin Tatsächlich, da stand ein Auto, ein knallgrüner Renault, und eine Frau mit blonden Kringellöckchen stieg aus, aber das war wohl das einzig Puppenhafte an ihr. Was wollte sie hier? Was auch immer ihr Anliegen war, sie würde warten müssen, bis er gegessen hatte. Vollkommen konzentriert auf dieses Hungergefühl achtete er kaum auf die Frau, die sich über den geöffneten Kofferraum beugte. Wagenheber. Felgenschlüssel. Erst jetzt bemerkte er den platten Reifen. Oton Mínervudóttir Sprecherin Da kommen viele Zufälle zusammen und erschaffen schräge Situationen. Für mich beginnt so die Geschichte, es ein einfaches Verfahren, ein Fremder kommt in eine Situation, die anfangs stabil war, und alles verändert sich. Für Sveinn, die männliche Hauptfigur, ist das so. Erzähler Sveinn ist gerade in keiner guten Verfassung, als vor seinem Haus ? und damit auch vor der Werkstatt, in der er lebensechte Puppen erschafft ? eine Frau eine Reifenpanne hat. Trotz seines Restalkohols hilft er ihr. Er lädt sie zu einer Mahlzeit ein, was Lóa zu ihrem eigenen Erstaunen annimmt, und so starten diese Zufälle eine Handlung. Zufällig ist auch der Ort der Handlung. Oton Mínervudóttir Sprecherin Ich glaube, ich bin an der Stelle vorbeigefahren, wo nachher alles spielt. Das Haus, das ich beschreibe, gibt es nicht, aber es könnte dort stehen. Man kann sich gut eine aufgegebene Werkstatt vorstellen, die jemand wegen der billigen Miete genommen und etwas anderes daraus gemacht hat. Erzähler Lóa, nach einer stark alkoholisierten Nacht beim Puppenmacher Sveinn, irrt morgens durch die Werkstatt und findet seine Puppen. Lóa hat eine Tochter, die unter einer Art Autismus leidet ? sie verschließt sich gegen die Menschen und die Welt und ist dem Tod näher als dem Leben. Lóa sieht die Puppen und beschließt, eine zu stehlen. Sprecherin Vielleicht gelang der Puppe das, was allen anderen misslungen war, und sei es nur durch das Vorbild ihres Sex-Appeals. ?Sie mich an, ich bin ein Abbild der perfekten, gesunden Frau.? Erzähler Lóa hofft, diese Puppe, die eigentlich sexuell fehlorientierten, kontaktlosen Männern eine Begleiterin ersetzen soll, könnte für ihre Tochter Margrét so etwas wie ein Vorbild sein, ein Leitbild, das unaufdringlich gegenwärtig ist und Margrét die Schönheit eines gesunden Körpers vor Augen stellt. Oton Mínervudóttir Lesung auf Isländisch Sprecherin Wenn Margrét die Puppe bei sich hätte, wäre ihre Einsamkeit vielleicht nicht mehr so schmerzhaft. Die Puppe könnte womöglich dazu beitragen, dass sie ihre Isolation durchbrechen und sich zurück in die Welt tasten könnte. So behandelte man doch Phobien. Einer Puppe konnte man zwar nicht unbedingt vertrauen, aber auch nicht misstrauen. Sie wartete immer dort, wo man sie zuletzt abgelegt hatte, und verhielt sich nie so, dass es einen überraschte. Regie Lesung auslaufen lassen, blenden Erzähler Es entsteht ein Dreieck zwischen Sveinn, Lóa und Margrét, vermittelt ausgerechnet über eine Puppe, weil der unmittelbare Kontakt zwischen den Menschen nicht möglich zu sein scheint. Oton Mínervudóttir Sprecherin Ich sehe dies als Teil der menschlichen Kondition, dass wir versuchen, uns irgendwie aufeinander zu beziehen, dass das aber schwierig ist, und trotzdem versuchen wir es weiter. Deswegen habe ich dieses Zitat auf dem Vorsatzblatt des Buches - Sprecher Lóa, Lóa, Lóa, ich würd so gern `ne Brücke zu dir baun. Oton Mínervudóttir Sprecherin - darum geht es in diesem Buch, eine Brücke zu bauen zwischen Köpfen. Und ich glaube, danach sehnen wir uns so verzweifelt, dass wir schon Angst davor bekommen. Erzähler Mit ihrer Mutter, einer Musiklehrerin, ist sie durch Island gezogen. Dauernd musste sie den Wohnsitz und die Freunde wechseln. Sie sagt, dies sei eine schöne Kindheit gewesen ? andererseits sagt sie aber auch, dass sie sich in ihren Träumen als Jugendliche immer nach einer Wohnung und einem Heim gesehnt habe. Jetzt scheint sie dort angekommen zu sein. Mit einer leichten Handbewegung deutet sie auf ihren Schwangerschaftsbauch, der ja wohl anzeigen soll, dass sie in eine neue Phase der Sesshaftigkeit getreten ist. Ist auch dies ein Zufall? Oton Mínervudóttir Sprecherin Zufälle spielen eine große Rolle dabei, wie sich das Leben entwickelt, und manchmal sind sie so überwältigend, dass man fast ein religiöses Gefühl bekommt. Ich finde es nicht schwierig, wenn ich schreibe, Dinge durch einen Zufall auszulösen, das erinnert mich immer an mein eigenes Leben. Regie Strokkur, das Butterfaß Regie Atmo Eintreten bei Josepsson Erzähler Eine halbe Stunde außerhalb von Reykjavik lebt in einer Doppelhaushälfte Aevar Örn Josepsson. Wir gehen gleich in den Garten, denn Josepsson ist in einer für isländische Verhältnisse beneidenswerten Lage. Sein Haus ist umgeben von Bäumen, zarten, schlanken Bäumen zwar, aber immerhin: Bäumen. Wir bleiben im Garten, wo die Sonne scheint und die un-isländischen Bäume rauschen, und sprechen über seinen Kriminalroman ?Wer ohne Sünde ist?. Ich finde, der Plot ? ein Fernsehprediger nach amerikanischem Vorbild assistiert der Drogenmafia - sei ein wenig klischeehaft. Und das Mordopfer Ólafur ist ein Säufer, der zu Gott gefunden hat ? auch ein Klischee. Josepsson ist von dem Vorwurf sichtlich nicht angetan. Oton Josepsson Ob das ein Klischee ist, weiß ich nicht, aber das entspricht auch der Realität, vielleicht ist die Realität ein bisschen klischeehaft auch. Es scheint mir so manchmal. Sprecher Eine halbe Stunde später wurde seine Bitte erhört. Meister Magús höchstpersönlich, der geistige Führer der heiligen WAHRHEIT, erschien in imposanter Gestalt auf dem Bildschirm und erhob seine unnachahmlich inspirierte Stimme. Schon jetzt freute sich Ólafur auf den morgigen Tag. Oton Josepsson Und es ist immer das Gleiche. Jede Zweite Sendung ist: Schick uns Geld! Schick uns Geld! damit wir die Welt retten können, die armen Seelen auf der Welt retten können, wir brauchen Geld, Schick uns Geld! und deine Seele wird ewig leben. Jesus ist das eine Wort, Geld das zweite, das scheint auch klischeehaft zu sein, aber irgendwie entspricht es auch der Wahrheit. Sprecher Die Osterpredigten des Meisters waren berühmt bis über die Kreise der WAHRHEIT hinaus, wie die Gemeinde meist genannt wurde, sowohl von denen, die des Segens teilhaftig geworden waren, zum Licht gefunden hatten, als auch den anderen, die immer noch in der Finsternis nichtiger Eitelkeit und auf dem Pfad des Verderbens wandelten, wie es der Meister es so zutreffend ausgedrückt hatte. Erzähler Josepsson hatte zunächst eine Passage eingefügt, in der der selbstgefällige und überhebliche Fernsehprediger gelegentlich von seinen Geschäftsfreunden aus der Drogenmafia ein junges Mädchen zur Verfügung gestellt bekommt. Aber dann entschied der Autor, dies sei wohl eher zu viel des Bösen. Die Zeitungen übertrafen noch seine Fantasie. Oton Josepsson Eben jetzt in diesen letzen Monaten, da ist eine Sache hochgekommen die man lange verschwiegen hat, man hat davon gewusst, es wurde erst 96, 95 davon erzählt, sogar in den Zeitungen, aber jetzt erst kommt?s richtig hoch. Unser damaliger Bischof hat sich an mehreren Frauen vergangen, und die kriegen erst jetzt so ein bisschen Rückhalt von der Gesellschaft und der Kirche. Die Kirche hat gezögert, das dauerte Monate, die haben immer und immer wieder - seit letztem Jahr sind - (Telefon und Katze) Erzähler Dann muss der Autor kurz ans Telefon, und ich habe Zeit, mich mit der Katze zu beschäftigen. Oton Josepsson - immer und immer wieder sind in diesem letzten Jahr Geschichten und Beweise gekommen gegen diesen ehemaligen Bischof. Zuletzt ist seine eigene Tochter vorgetreten und hat erzählt, dass er sich auch an ihr vergangen hat und dass sie auch wusste, wie er sich verhalten hat gegenüber anderen Frauen, und trotzdem hat es Monate gedauert, bis der jetzige, der heutige Bischof und der Kirchenrat eine kleine Entschuldigung in die Welt geschickt haben. Erzähler Was für den Romanautor eine echte Frustration ist ? wenn die Wirklichkeit schlimmer ist, als er es seiner Fantasie zumuten möchte. Immerhin, der Bischof von Reykjavik hat nicht gemordet. Eine traurige Passage in dem Krimi schildert das lange Sterben des ermordeten Säufers und Gläubigen Ólafur. Ólafur steckt ein Messer im Leib: Oton Josepson Lesung auf Isländisch, frei, dann Sprecher Ólafur schüttelte den Kopf, doch der rührte sich nicht. Der Fernseher muss kaputt sein, dachte er, oder er ist irgendwie falsch eingestellt. Die Fernbedienung lag vor ihm auf dem Tisch, war aber ebenso unerreichbar wie das Glas. Das verwirrte ihn. Er müsste doch die Fernbedienung zu fassen bekommen können, oder das Glas, beides war in Reichweite. Und doch? Regie Lesung auf Isländisch läuft weiter, dann abblenden Regie Strokkur das Butterfass Regie Atmo Atlantik (wie oben) und Zitat Sprecherin Bis auf das Rauschen der Brandung war alles still. Wie hatte Katrín nur glauben können, dass die Sache funktionieren würde? Zu dritt, mitten im Winter in einem verlassenen Dorf am Arsch der Welt, ohne Strom und Heizung und nur mit dem Schiff zu erreichen. Wenn etwas passierte, waren sie ganz auf sich alleine gestellt. Sie waren alle keine großen Outdoorfans und beherrschten vieles besser, als alte Häuser zu renovieren. Regie Brandung Ende, Straßenatmo Erzählung ?Geisterfjord? heißt der Roman von Yrsa Sígurdardóttir. Drei junge Menschen gehen in den entlegenen Westfjorden an Land, um in einem verlassenen Ort, einer Geisterstadt, ein Haus wieder herzurichten. Nicht nur, dass dieser Ort seit den 1950er Jahren brach liegt und nur noch im Sommer von Feriengästen bewohnt wird, die Gegend um Hesteyri ist in der Geschichte bekannt als eine Region der Hexen und Spukgestalten. Oton Yrsa Sprecherin Ich wähle den Ort aus, fahre eine Zeitlang dorthin, wandere umher und schaue, was ich von der Umgebung nutzen kann. Meine Bücher umkreisen Island, einige spielen in Reykjavik, andere auf dem Land, und weil ich aus einer Stadt komme, muss ich ein Gespür bekommen für den Ort der Handlung. Erzähler Ich treffe die Autorin an einem Samstagvormittag in einem ruhigen Büro im achten Stock. Der große Konferenzraum mit den schon in die Jahre gekommenen weißen Drehsesseln erlaubt einen wundervollen Blick über die Bucht von Reykjavik bis weit in die Berge hinein, die auch im Sommer noch von Schnee bedeckt sind. Yrsa Sigurdadóttir, Mitte vierzig, schlanke Figur und straff zurückgekämmte braune Haare, arbeitet hier als Ingenieurin. Oton Ysra Sprecherin Ich leite die Konstruktions- und Umweltabteilung von Verkis, das ist eine der größten Ingenieurfirmen in Island. Im Moment liegen meine Aufgaben eher im Management, aber bis vor kurzem war ich die technische Leiterin des größten Wasserkraftwerks in Island. Im kommenden Monat werde ich wahrscheinlich die stellvertretende Projektleiterin einer großen geothermischen Anlage werden, die wir im Norden bauen werden. Erzähler Yrsa Sígurdardóttir ist bekannt geworden mit Kriminalromanen, deren Heldin Dora Gudmundsdóttir ist, eine Rechtsanwältin aus Reykjavik. Schon in diesen Romanen spielten obskure Rituale und bizarre Geschehnisse eine Rolle, so musste ein deutscher Student eines unschönen Todes sterben, weil er sich zu sehr in alte Manuskripte vertieft hatte. In ihrem neuen Roman hat sie sich vom Kriminalgenre ab und einem neuen Themenkreis zugewandt, der Geistergeschichte. Man will ja niemandem zu nahe treten, aber dass Ingenieure schreiben ist doch eher ungewöhnlich. Rechtsanwälte, Mediziner, Journalisten sowieso ? aber die Vertreter der kalten, rationalen Technik? Und dann noch Geistergeschichten! Als Erklärung für die Schreiblust Yrsa Sígurdardóttirs müssen wahrscheinlich wieder die Literatur als kulturelle Basis des Landes und das schlechte Wetter herhalten. Sie selbst sieht das so: Oton Yrsa Sprecherin Ursprünglich habe ich fünf Kinderbücher geschrieben, eines davon kommt jetzt im Herbst in Deutschland heraus. Ich habe angefangen zu schreiben, weil mein Sohn damals Bücher von einem Buchclub bekam. Und die waren so schlecht, dass ich dachte, das kann so schwer nicht sein, wenn die veröffentlicht werden. Also schrieb ich mein erstes Kinderbuch, und das wurde sofort veröffentlicht. Von da ab wurde es ein Buch pro Jahr, im Wesentlichen. Erzähler Yrsa Sigurdadóttir sitzt auf dem Chefsessel an der Stirnseite des Konferenztisches und erläutert ganz im Jargon einer Ingenieurin, die auch das Umweltmanagement beaufsichtigt, wie angenehm sie es fand, neben ihrer Serienheldin Dora auch einmal mit Charakteren zu arbeiten, die man ?entsorgen? kann. Was immer sie in der Zukunft schreiben wird, diese Personen aus dem Roman ?Geisterfjord? wird sie nicht wieder verwenden. Ich wollte wissen, inwieweit ihr Denken als Ingenieurin, ihre professionellen Erfahrungen im Umgang mit Problemen und Krisen, ihre Arbeit als Autorin beeinflussen. Oton Yrsa Sprecherin Meine Stärke als Autorin, hat man mir gesagt, liegt in der Konstruktion des Plots. Unter den isländischen Autoren gelten meine Plots als die dichtesten. Und das hat wohl zu tun mit meinem beruflichen Hintergrund als Ingenieurin, alle Fäden in der Hand zu behalten, und an die Sache heranzugehen mit dem Auge eines Technikers, ich habe sehr genau im Blick, was ich tue. Erzähler Ihre Bücher sind in 30 Sprachen übersetzt worden, sie ist eine Erfolgsautorin. Dabei hat die Abteilungsleiterin eigentlich keine Freizeitsorgen, gewöhnlich gilt man in so einer Position als ausgelastet. Als Beststellerautorin könnte sie doch leicht ihren Angestelltenberuf aufgeben und sich ganz dem Schreiben widmen ? was für viele Autoren der Ideal- und Glückszustand wäre. Nicht so Yrsa Sígurdadóttir - Einerseits: Oton Yrsa Sprecherin Ich liebe meinen Job und dann ? als Schriftstellerin ist man die meiste Zeit allein mit dem Computer. Aber ich mag es, mit anderen zu agieren, das hält mich unter Spannung. Wenn ich nur schreibe, dann denke ich, ooch, ich habe so viel Zeit, ich mach das morgen, und am Ende gerate ich in Panik. Ich habe darüber nachgedacht, aber ich will es nicht. Erzähler Andererseits ? in den Zeiten wirtschaftlicher Krisen ist eine berufliche Zusatzversicherung nicht schlecht. Oton Yrsa Sprecherin Es hilft, wenn man zwei Jobs hat, wirklich, man denkt, wenn der eine nicht funktioniert, dann habe ich immer noch den anderen. Es ist ein guter Puffer, das ist wie ein Sicherheitsnetz. (lacht) Regie Strokkur, das Butterfass Sprecherin Ich lebe allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Wir haben es wahnsinnig gemütlich. Das Bett ist ein Krankenhausbett, andere Möbel brauche ich nicht, bis auf ein Klo, dessen Benutzung ich enorm beschwerlich finde. Regie Atmo belebte Straße, dann Atmo Cafe Erzähler Als Hallgrímur Helgason das Café betritt ? Geschäftsleute haben hier ihre Papiere ausgebreitet, zwei Frauen tratschen im Hintergrund ? habe ich große Probleme, mir vorzustellen, dass Helgason auch schon als Komiker aufgetreten ist. Er guckt grimmig, ist ernst wie eine Statue. Er hat einen Bohèmeroman geschrieben über einen Taugenichts in 101 Reykjavik, das ist das Zentrum der Hauptstadt. Und er hat in ?Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen" einen kroatischen Auftragskiller nach Island versetzt. Jetzt hat er in ?Eine Frau bei 1000 Grad? eine alte Frau porträtiert, die mit einer Handgranate und Lungenkrebs im Bett liegt. Mir scheint, der immer sehr streng blickende Helgason hat Schwierigkeiten, sich in Menschen hineinzuversetzen, die ein ganz normales Leben führen. Oton Helgason Sprecher Irgendwie kann ich über solche Menschen nicht schreiben, aber ich träume davon. Eines Tages werde ich es vielleicht schaffen, über normale Menschen zu schreiben, die einen alltäglichen Job haben, Kinder, in ein Sommerhaus ziehen? Erzähler So überzeugend klingt dieser Traum nun auch wieder nicht, darauf wird der Literaturbetrieb wohl noch eine Weile warten müssen. Helgason beschreibt sich als eine Art Kaffeefilter, wo oben alle möglichen Beobachtungen und Erlebnisse hineingeschüttet werden und unten dann der Kaffee, beziehungsweise, der Roman herauströpfelt. Die Heldin seines neuesten Buches hat er kennen gelernt, als er vor Jahren seiner Ex-Frau im Wahlkampf half. Oton Helgason Sprecher Ich sollte ihr helfen und bekam eine Liste von Leuten, die ich anrufen und bewegen sollte, für die Sozialdemokraten zu stimmen. Und die Nummer 5 auf meiner Liste war eine alte Dame, die in einer Garage lebte. Sie war lungenkrank, aber sie hatte einen Computer und war die ganze Zeit im Internet. Sie war 80 Jahre alt, und ich war fasziniert von dieser Frau und nahm mir vor, über eine Figur wie sie einen Roman zu schreiben. Als ich sie noch mal treffen wollte, war sie schon verstorben. Ich entschied mich dann, den Roman trotzdem zu schreiben. Sprecherin Die Handgranate ist ein Ei aus Hitlers Zeiten, das mir im Krieg in die Hände gefallen ist und mich durch sämtliche Höhen und Tiefen meines Lebens begleitet hat, durch all meine sauren und zähen Ehen und Liebschaften. Lange Zeit bewahrte ich sie jedenfalls in meinem Schmuckkästchen auf. ?Was ist denn das??, fragte mich Bæring aus den Westfjorden einmal, als wir uns auf den Weg in den Festsaal des Hotels machten. ?Parfüm. Feu de Cologne.? ?Echt?? staunte der Seebär. Männer mögen für gewisse Dinge ganz brauchbar sein ? schlagfertig sind sie nicht. Erzähler Zusammen mit der handgranatenverliebten Erzählerin erleben wir ein halbes Jahrhundert europäischer und Weltgeschichte und dies in allen Höhen und Tiefen. Herbjörg Maria lebte während des Krieges zumeist in Deutschland, weil ihr Vater sich den Nazis und der SS angeschlossen hatte ? keine gute Wahl. Oton Helgason Sprecher Ich dachte, so könnte man gut die Geschichte Islands im 20. Jahrhunderts erzählen, auf die Weise, dass die alte Dame Island ist. Sie hat so viel durchgemacht: Wir kamen von den Dänen zu den Amerikanern, dann waren wir unabhängig, dann brach alles zusammen, jetzt wir wissen nicht, wo wir hingehören, sollen wir der EU beitreten? Und sie war genauso, hatte Beziehungen und Scheidungen, ging von hier nach dort, und es ging ihr schlecht, und ich wollte auch darüber schreiben, wie ignorant und isoliert und zurückgeblieben wir in den Zeiten des Krieges als Nation waren. Erzähler Helgasons Heldin ist eine faszinierend schräge Frau. Alt, wehrhaft, bösartig ? sie hat sich eine Internetidentität zugelegt und macht als angeblich 20jährige Schönheitskönigin rund um den Globus Männer verrückt, die sich in langen Trainingsstunden fit machen für den Moment, da sie in Island ihrer Angebeteten gegenübertreten werden. Ich frage Helgason nach der Stellung der Schriftsteller nach der Krise ? man könnte erwarten, dass die Menschen, wenn es ihnen schlecht geht, das Geld knapp ist und die Unsicherheit groß, als erstes an der Kunst sparen. Regierungen machen es überall so. Oton Helgason Sprecher Die Menschen haben nach der Krise sogar mehr Bücher gekauft. Sie haben realisiert, die wahren Werte Islands sind die Literatur, Kunst und Kultur und nicht das Geldscheffeln der Banken, und deshalb bekommt man als Schriftsteller eine größere Aufmerksamkeit als früher. Vor fünf Jahren haben viele nur noch über Geschäftsleute geredet, businessmen, heute sprechen sie wieder über Künstler, weil sie wissen, Künstler sind diejenigen, die Island aus dieser Schande befreien können, die die Krise darstellt. Erzähler Viele Menschen haben viel Geld verloren, und auch das Geld selbst, die Krone, hat viel von seinem Wert verloren, aber gerade deswegen, sagt Helgason, gehe es dem Land gut. Die Isländer hätten ihre Luftschlösser vom schnellen Reichtum abgerissen und wieder zu sich gefunden. Und weil das so ist, bekennt sich Helgason zur politischen Aufgabe des Künstlers. Oton Helgason Sprecher Ich glaube an das soziale Engagement des Künstlers, um die Menschen wach zu halten. Aber in den letzen zwei Jahren habe ich mich nur um das Schreiben gekümmert und alle Fernsehsendungen und Artikel bleiben lassen. Aber wenn mein neues Buch fertig sein wird, dann komme ich zurück, kritisiere und beschwere mich. Regie Atmo Lokal frei und dann Strokkur, das Butterfass Regie Musik Jon Leifs Sprecher Die nächste Nachricht, die mich aus Island erreichte, lautete, dass sie auch Snorri Sturluson umgebracht hatten. Gissur hatte Mörder und Schergen zu Snorri nach Reykholt geschickt, sie verfolgten den Dichter bis in den Keller hinab und schlugen ihn dort mit der Axt tot. Oton Karason (Isländisches Deutsch) Snorri ist der bekannteste Dichter aus der isländischen goldenen Zeit, also die Jahrhunderte, wenn man schrieb die Sagas, die Eddas und großen Bücher und Snorri war ein genialer Autor, er schrieb geniale Bücher wie die Heimskringla über die norwegischen Könige und dann die Egil-Saga, die größte und beste von die isländischen Sagas, er war auch Teilnehmer in dem Bürgerkrieg in dem Land und dafür war er ermordet (worden) in 1241. Erzähler Einar Karason ist bei uns und europaweit mit der ?Goldinsel?-Trilogie bekannt geworden, die das Leben im Island der 50er Jahre schilderte. Nun hat er zwei Romane geschrieben, die in das isländische Mittelalter zurückgehen, ein dritter Part ist noch in Arbeit. In dem Roman ?Feindesland? wurde Bezug genommen auf den Mord vom September 1241 an dem Krieger und Dichter Snorri Sturluson, dem Autor der ?Edda? und der ebenso blutigen wie faszinierenden Saga von Egil Skalla-Grimsson. Oton Karason Das war eine sehr dramatische Zeit. Gissur, vielleicht die Hauptperson in diesem Roman, er war auch ursprünglich ein Friedensmann aber dann war das ganz einfach so, er musste kriegen gegen seine Feinde. Erzähler In seinem neuen Roman ?Versöhnung und Groll?, dem zweiten Teil der Trilogie, verfolgt Karason die Bemühungen des Clanführers Gissur, nach all dem grausamen und ausufernden Morden des Bürgerkrieges - darüber kann man in den Sagas nachlesen ? endlich Frieden zu stiften. Sprecher Nun führten mir meine und Thordurs Reden klar vor Augen: Es reichte. Genug Leute waren erschlagen worden. Da standen wir nun beide vor dem norwegischen König und rechneten die Gefallenen der Kämpfe auf, die uns allen nichts als Niederlagen gebracht hatte. Denn auch die überlegene Seite konnte ihre Siege nie genießen, da sofort wie Pilze auf einem Misthaufen furchtbare Pläne von Vergeltung und Rache aufschossen, die zu neuem Blutvergießen führten. Erzähler Ich treffe Einar Karason am Rande des Universitätsgeländes im Nordischen Haus, wo gerade eine internationale Tagung über isländische Sagas stattfindet. Wir denken uns in das isländische 13. Jahrhundert hinein. Oton Karason Wir haben Dokumente von diesen Zeit, über verschiedene Leute und Handlungen und so weiter und was ich fand so interessant war zu sehen, die Leute von diesen Zeit waren genau wie uns, mit genau derselben Humor, mit dieselbe Ambitionen und so weiter, so ich dachte, das macht es so interessant. Erzähler Gissur, Führer einer Großfamilie, hat die Idee, eine Hochzeit unter den Kindern der traditionell verfeindeten Familien zu arrangieren. Sprecher ? und als wir uns verabschiedeten, war allen klar, dass ein neuer Tag auf Island anbrechen würde und die Zeit von Angst und Schrecken hinter uns lag. Erzähler Der Roman ist aus den Erzählungen der einzelnen Figuren montiert, die größtenteils auf historische Vorbilder zurückgehen. Diese gleichsam dokumentarische Montage gibt der Erzählung eine große Wucht, weil sie die Emotionen der Romangestalten dem Leser ungefiltert übermittelt. Denn statt der Versöhnung kommt es anders: Groll, Rachsucht, kleiner Männer Angst vor den spitzen Zungen ihrer Frauen ? und wieder wird die Mühle aus Mord und Totschlag in Bewegung gesetzt. Der Leser fühlt sich erinnert an Regionen wie Nordirland oder den Nahen Osten, wo die generationenlange Traumatisierung durch Gewalttaten und Unsicherheit und die alltägliche Normalisierung von Mord und Totschlag jegliche Vorstellung von Frieden absurd erscheinen lassen. Oton Karason Wenn ich schreibe einen Roman, so ich denke nicht an solche Parallelen. Aber wenn man Glück hat mit seiner Arbeit, kann man die Parallele klar sehen, wenn das Arbeit ist fertig das ist vielleicht besser zu schreiben über die alten Zeiten als heute, weil man hat selbst keine Verbindung mit den Leuten. Regie Strokkur, das Butterfass, eventuell noch einmal Musik aus dem Anfang der Karason-Passage, dann Regie Atmo Friedhof, die Bäume usw. Erzähler Steinunn Sígurdardóttir treffe ich in Berlin, auf dem St. Matthäus Friedhof in Schöneberg. Hier sind der verarmte Eisenbahntycoon Strousberg, die Gebrüder Grimm, der Historiker Sybel und andere Berühmtheiten begraben. Wir treffen uns hier, weil Steinunn Sígurdardóttir behauptet, eine Friedhofsratte zu sein. Oton Steinunn Sagt man das auf Deutsch? Eine Friedhofsratte? (lacht, darüber Erzähler) Erzähler Nein, das ist eine isländische Erfindung. Oton Steinunn Ich weiß das eigentlich nicht, ich weiß nur, dass ich Friedhöfe sehr liebe, es war schon immer so. Also in Reykjavik haben wir einen urschönen Friedhof, es heißt der Alte Friedhof, (isländisch) und es fing schon an im Gymnasium, und wir gingen oft spazieren und auch wenn man einen Geliebten hatte, dann ging man gern spazieren auf dem Friedhof. Und mein erster Geliebter hat sogar einen Film mit mir gedreht auf dem Friedhof, als wir jung waren. Regie Atmowechsel Friedhofscafe Erzähler ?Der gute Liebhaber? - um über dieses Buch zu sprechen, setzen wir uns in das Friedhofscafé, einer der Lieblingsorte der weltgewandten Autorin, die seit drei Jahren in Berlin lebt. Ihr Held ist ein Mann, dem es nach landläufigen Begriffen richtig gut geht: Er ist wohlhabend, unabhängig, pendelt zwischen den USA und Europa und verführt Frauen allein schon mit seinem gewissen Lächeln. Soweit ein Macho-Roman. Dann trifft er auf Doreen Ash, sie ist seine Geliebte für eine Nacht und benimmt sich ganz und gar daneben. Sprecherin Diese Liebhaberin hatte sogar die Stirn besessen, anschließend Licht zu machen, sich im Bett aufzusetzen und zu rauchen. Ohne zu fragen, ob sie rauchen durfte. Hätte sie das getan, hätte er ihr einen Bademantel und Hausschuhe verpasst und sie auf den Balkon geschickt. Außerdem hatte sie seine gelbe chinesische Schale als Aschenbecher verwendet, ein Ming-Juwel, das für Konfekt vorgesehen war, wenn er im Bett las. Die Ming-Schale jemals wieder für Konfekt zu verwenden, war unvorstellbar. Sie musste eigentlich entsorgt werden, denn bei jedem Anblick würde sie ihn gnadenlos an eine Frau erinnern, die im Bett keine Lebensart besaß. Erzähler Doreen, die Psychiaterin, schafft es, Karl dazu zu bewegen, seine Jugendliebe Una, (also: die Einzige), die sich wegen eines banalen Vorfalls von ihm getrennt hat, wieder aufzusuchen. Mit Hilfe von Doreen stellt sich allmählich heraus, dass der scheinbar so erfolgsgesegnete Macho Karl ein Problem hat ? er ist ein Muttersohn. Oton Steinunn Also wissen Sie, ich glaubte, dass das Wort Muttersohn von mir erfunden worden sei, (Isländisch) aber dass es das auf Deutsch gibt, hat mich total verwundert, nicht wenigstens, dass ein Buch von Martin Walser jetzt gerade erschienen ist mit diesem Namen ?Muttersohn?. Erzähler Vielleicht haben wir es mit einer kulturübergreifenden Erscheinung zu tun ? der Muttersohn als beschädigter Held der modernen Beziehungen. Ihr neuer Roman, der schon fertig, aber noch nicht veröffentlich ist, spielt in ihrer aktuellen Wahlheimat. Oton Steinunn Er spielt hauptsächlich in Kreuzberg, das ist meine Lieblingsgegend und ich wohnte da auch die ersten drei Jahren, ich will eigentlich nicht zuviel darüber verraten, aber ich kann sagen, dass die Hauptpersonen, dass sind Freunde, ein deutscher Arzt und ein französischer Obdachloser?(abblenden mit S-Bahn-Geräusch im Hintergrund) Regie Atmo blubbernde Quelle , Musik 1