COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Nachspiel, 6. Oktober 2013 Helden unter falscher Flagge Taiwans Sportler kämpfen um internationale Anerkennung Autor: Ronny Blaschke Redaktion: Hanns Ostermann/Thomas Wheeler Die Eröffnung der Olympischen Spiele 2012 in London. In spektakulären Choreografien stellen hunderte Statisten die Kulturgeschichte Großbritanniens nach: Revolution und Aufbruch, mit Stolz und feinem Humor. London soll ein anderes Bild vermitteln als Gastgeber Peking vier Jahre zuvor. Weniger Superlative, mehr Gelassenheit. Keine politischen Debatten, stattdessen Transparenz und Freizügigkeit. Die Briten versprechen ein sportliches Festival in einer gewachsenen Demokratie, in der sich jeder verwirklichen kann. Mehr als 60000 Zuschauer bejubeln den Einmarsch der Teams. Auf den Videowänden erscheinen Präsidenten und Minister. Aus demokratischen und autoritär geführten Ländern. Sie schwenken Fähnchen ihrer Nationen. Lächeln, winken, inszenieren sich als freundliche Patrioten. Es ist fast Mitternacht, als die Stadionsprecher die Sportler aus "Chinese Taipei" willkommen heißen. Der Gewichtheber Chen Shih-chieh schwenkt vor seinem mächtigen Körper eine weiße Flagge, verziert mit einer Sonne und den olympischen Ringen. Reporter auf der Pressetribüne schauen verdutzt, blättern im Programmheft. "Chinese Taipei"? Existiert nicht. Eine Nationenflagge mit olympischen Ringen? Frei erfunden. Chen Shih-chieh führt die Athleten aus Taiwan ins Stadion. Aus einem eigenständigen Staat, demokratisch regiert. Doch die Sportler verschweigen in London ihre Wurzeln: wie bei allen internationalen Wettkämpfen müssen sich Taiwaner hinter falschen Symbolen verstecken. Ein Politikum, weltweit einmalig. Eine Reise zu den Sportlern ohne Namen: Die Insel Taiwan liegt im Westpazifik vor dem chinesischen Festland. Auf einer Fläche so groß wie Baden-Württemberg leben 23 Millionen Menschen. In der nördlich gelegenen Hauptstadt Taipeh treffen sich Moderne und Tradition: Tempel schmiegen sich an gläserne Einkaufszentren. In den engen Straßen mischt sich der Dieseldunst der Motorroller mit dem Suppengeruch der Garküchen. Wer mehr über die historischen Streitpunkte des Landes erfahren möchte, sollte die Nationale Gedächtnishalle aufsuchen, einen wuchtigen Bau mit geschwungenem Dach, am Kopfende eines riesigen Platzes. Fotos, Dokumente und Militärrituale erinnern an Chiang Kai-shek. Der General der nationalistischen Kuomintang hatte 1949 den chinesischen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten um Mao Tse-tung verloren. Chiang Kai-shek flüchtete mit zwei Millionen Gefolgsleuten nach Taiwan. Im Exil pflegte er die Hoffnung, das Festland zurück zu erobern. Mao stürzte die Volksrepublik in die Isolation. So galt die Führung Taiwans bei den Vereinten Nationen als Repräsentanz des Riesenreichs. Der offizielle Name Taiwans sollte diesen Anspruch unterstreichen: "Republik China". "Als Chiang Kai-shek nach Taiwan kam, hatte er natürlich nicht die Demokratie im Sinn, sondern eine ganz, ganz harte Diktatur." Tang Shao-Cheng ist Forscher am Institut für Internationale Beziehungen der Chenchi Universität in Taipeh. In den achtziger Jahren hat er in Bonn und München studiert. Er hat sich mit der deutsch-deutschen Annäherung im Kalten Krieg beschäftigt, um Rückschlüsse für den Konflikt zwischen China und Taiwan zu ziehen. "Und damals gab es in Taiwan auch Leute, die anders denken. Die wurden entweder liquidiert oder ins Gefängnis geschickt. Und das hat eigentlich ziemlich lange gedauert, bis Ende der achtziger Jahre." Mehr als zwanzig Jahre repräsentierte das durch Kriegsrecht geführte Taiwan das "wahre China". Doch die Volksrepublik, die Taiwan stets als abtrünnige Provinz betrachtete, wurde mächtiger. 1971 übernahm Peking im UN-Sicherheitsrat den Sitz der Republik China. Taiwan verschwand von der Weltbühne, wurde auf Druck Chinas aus den internationalen Organisationen gedrängt. Ein Staat nach dem anderen kappte die diplomatischen Beziehungen, doch Taiwan trotzte der Isolation. In den achtziger Jahren setzte auf der Insel ein Prozess der Demokratisierung ein. Sie gipfelte 1996 in der ersten freien Präsidentschaftswahl. "Taiwan hat in den letzten 35 Jahren eine enorme Aufbauleistung erbracht." Michael Zickerick, Generaldirektor des Deutschen Instituts Taipei. "Taiwan hat etwas Wesentliches geschaffen, nämlich den Beweis, dass chinesische Gesellschaft und Demokratie zusammengehen kann. Mit allem, was dazu gehört: also Rechtssicherheit, Meinungsfreiheit, freie Wahlen. Taiwaner haben zum Beispiel ihre freiwillige Umsetzung der Grundzüge der Human-Rights-Charta überprüfen lassen. Man muss sich das vorstellen: das Land hat eigentlich gar keine Veranlassung, das zu tun. In vielen Bereichen bemühen sie sich auch, internationale Standards einzuhalten, ohne an die eigentlich gebunden zu sein." Michael Zickerick erfüllt die Aufgaben eines Deutschen Botschafters in Taiwan - offiziell ist dieser Titel nicht. Nur 23 Länder erkennen die Republik China als souveränen Staat an, in Europa nur der Vatikan. Die USA, Japan oder Deutschland verfolgen die sogenannte Ein-China-Politik, sie wollen ihr wirtschaftliches Geflecht mit Peking nicht gefährden. Taiwan, eine der 25 größten Volkswirtschaften der Welt, darf kein UN- Mitglied sein. "Natürlich steht es nicht zu erwarten, da wir keine diplomatischen Beziehungen haben, dass unsere Frau Merkel oder andere hierher kommen, so lange sie in Amt und Würden sind. Es sind hier übrigens neben uns noch siebzig bis achtzig Vertretungen hier aus anderen Ländern, nicht nur aus der EU, die das genauso halten wie wir auch. Das hat schon mit der Situation zu tun, dass China für uns eben ein ganz besonderer Partner ist. Und dass wir natürlich Dinge vermeiden wollen, die unsere Beziehungen zur Volksrepublik erschweren." Ein China, zwei Systeme - nach dieser Formel legen die Volksrepublik China und die Republik China ihre Gebietsansprüche unterschiedlich aus. 2005 hat Peking per Gesetz militärisches Eingreifen erlaubt, sobald Taipeh sich von dieser Doppeldeutigkeit lossagen sollte. Jede unliebsame Äußerung von Politikern Taiwans wird auf dem Festland mit Säbelrasseln kommentiert. Mehr als 1000 Raketen sind auf die Insel gerichtet. Doch wie wirkt sich diese Drohkulisse auf den Sport aus? Wie leben die Athleten in Taiwan im Schatten der Supermacht? Antworten gibt es im Nationalen Trainingszentrum für Leistungssport, im Süden der Insel, 350 Kilometer von Taipeh entfernt. In einer geschwungenen Ellipse umfährt der Hochgeschwindigkeitszug das Gebirge im Landesinneren. Bis Taichung auf halber Strecke ist Taiwan dicht besiedelt. Wohnkomplexe, Fabriken, Technologiezentren. In südlicher Richtung öffnen sich weite Felder, Obst-, Gemüse-, Getreideanbau. Nach anderthalb Stunden erreicht der Zug Kaohsiung, die zweitgrößte Stadt Taiwans mit einem der größten Häfen in Asien. Von hier sind es wenige Autominuten bis zum Außenbezirk Zuoying, dem Herzen des taiwanischen Sports. Auf einem weitläufigen Gelände reihen sich Flachbauten aneinander, gesäumt von Sportplätzen, umgeben von Palmen. In einer hellen Trainingshalle legt Tsai Wen-yee den Notizblock beiseite und wuchtet zwei Gewichtscheiben von der Matte. Tsai Wen-yee, ein zierlicher Mann mit durchtrainierten Armen, ist für viele Taiwaner ein Vorbild. Bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles gewann der Heber Bronze im Fliegengewicht. "Ich habe Anfang der siebziger Jahre mit dem Gewichtheben begonnen, als ich 15 Jahre alt war. Damals wurden Taiwaner international immer mehr ausgegrenzt, vor allem durch China. Ich wollte einen kleinen Beitrag leisten, um dagegen zu protestieren. Auf dem Festland hatte es damals rund 60000 Gewichtheber gegeben, bei uns weniger als fünfzig. Dass ich in Los Angeles die Bronzemedaille gewonnen habe, macht mich sehr stolz. Wir Taiwaner können uns eben doch behaupten." Seit mehr als zwanzig Jahren ist Tsai Wen-yee als Trainer tätig. Er hat sich intensiv mit der Geschichte seines Landes beschäftigt. Er führt seine Gäste gern durch das Hauptgebäude des Trainingszentrums und deutet auf die gerahmten Fotos der Medaillengewinner. Er bittet in den Festsaal, wo schon Präsidenten und Minister die Sportler zu Wettbewerben verabschiedet haben. Und er erklärt die Symbole. Die richtigen und die falschen, den Stolz und die Demütigung. "Es ist traurig, dass wir unsere Wurzeln verstecken müssen. Das widerspricht dem Geist der Olympischen Spiele, der Frieden stiften und Menschen zusammenbringen soll. Doch gerade bei Olympia mischt sich die Politik immer wieder ein. Seit Jahrzehnten müssen wir dort Machtdemonstrationen über uns ergehen lassen, dabei geht es uns vor allem um Sport. Wir wollen so gut abschneiden wir möglich, aber das wird uns oft erschwert." Vor den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki, drei Jahre nach dem Chinesischen Bürgerkrieg, eskalierte der Konflikt zwischen Kommunisten und Nationalisten auch im Sport. Das Internationale Olympische Komitee gewährte beiden Staaten eine Teilnahme, Taiwan zog zurück. Vier Jahre später in Melbourne hissten die Organisatoren für Taiwan die Flagge der Volksrepublik. Die Sportler rissen sie herunter, daraufhin zog Peking seine Athleten empört zurück und trat aus dem IOC aus. Unter dem Reformer Deng Xiaoping kehrte China Ende der siebziger Jahre zurück. Zum Leidwesen Taiwans: Nach langen Verhandlungen erklärte sich die Republik China bereit, künftig als "Chinese Taipei" an Wettbewerben teilzunehmen. Möglich macht das die Doppeldeutigkeit des Namens "Chinese Taipeh": Die Volksrepublik betrachtet Taipeh als Stadt Chinas. Dagegen schreibt Taiwan dem Adjektiv "Chinese" keine staatliche, sondern eine ethnische und kulturelle Bedeutung zu. Tsai Wen-yee: "Mit diesem Namen wird ein olympischer Grundsatz beschädigt: nämlich das alle Sportler die gleichen Rechte haben. Wir treten unter einem falschen Namen an, das ist jedes Mal wie ein Stich ins Herz. Besonders traurig hat mich der Vorfall in London gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in Europa möglich ist." Vor den Sommerspielen 2012 waren auf der Regent Street im Zentrum der britischen Hauptstadt 206 Flaggen der Teilnehmernationen aufgehängt worden. Nicht von der Regierung, sondern von einer privaten Unternehmer-Vereinigung. Sechs Flaggen nebeneinander, in alphabetischer Folge. Das rotblaue Banner Taiwans mit der weißen Sonne am linken Rand hing zwischen Syrien und Tadschikistan. Drei Tage vor der Eröffnungsfeier wurde die Flagge Taiwans abgenommen, auf Druck der Chinesischen Botschaft. Der deutsche Korrespondent Klaus Bardenhagen hat die Reaktionen in Taiwan beobachtet. "Das hat, wie ich mich erinnere, zuerst auf Facebook die Runde gemacht und hat sofort Empörungswellen ausgelöst. Und dann sind die klassischen Medien auch drauf eingestiegen. Gab's dann auch gleich Fotos und Youtube-Videos, jedes Statement dieser Geschäftsleute-Vereinigung wurde dann auch hier gleich weiter vermeldet. Also von der Medienberichterstattung, von den Ausmaßen, hätte man den Eindruck haben können, dass ist eine offizielle diplomatische Affäre, die da gerade irgendwo stattfindet." Für ein dreimonatiges Journalistenstipendium und einen Mandarin-Sprachkurs kam Klaus Bardenhagen 2008 nach Taipeh. Er ist geblieben und berichtet vor allem für Fernseh- und Rundfunkstationen über die diplomatische Isolation des Inselstaates, aber auch über den Alltag der Taiwaner. "Also die Menschen in Taiwan haben ein ganz angeknackstes nationales Selbstbewusstsein. Sie sagen: Wir auf dieser kleinen Insel haben zunächst mal dieses Wirtschaftswunder vollbracht. Wir sind doch ein relativ wohlhabendes Land geworden, wir bieten unseren Leuten einen guten Lebensstandard. Wir beliefern die ganze Welt mit Computern und Chips und Bauteilen. Jetzt sind wir auch noch demokratisch geworden. Und trotzdem werden wir immer vor die Tür gestellt oder mit dem ausgestreckten Arm behandelt international. In anderen Organisationen, in der Welthandelsorganisation, müssen wir uns auch einen Kunstnamen ausdenken, bis hin zu Filmfestivals, Sportveranstaltungen und sogar zu Sachen wie dem internationalen Treffen der Feuerwehrkapellen." Beispiel 2008: Vor den Sommerspielen in Peking sollte das Olympische Feuer auch durch Taiwan getragen werden. Danach sollte ihr Weg über Chinas Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau aufs Festland führen. Die Volksrepublik rechnete Taiwan der inländischen Route zu, erst nach Verhandlungen akzeptierte sie Taipeh als ausländische Stadt. Die Bedingungen: In einem Umkreis von mehreren Kilometern durften Taiwaner weder ihre Flagge schwenken noch ihre Hymne spielen. Taiwans Regierung zog die Teilnahme zurück. Internationale Unterstützung, zum Beispiel durch das IOC, blieb aus. Zweimal ist die 1983 eingeführte Hymne von "Chinese Taipeh" bei Olympischen Spielen erklungen. In Athen 2004 gewannen Chen Shih-hsin und Chu Mu-yen jeweils Gold im Taekwondo. Ihre Siege wurden als nationale Selbstbehauptung beschrieben, sie traten in Talkshows auf, unterschrieben Werbeverträge, besuchten Schulen und Kindergärten. Der damalige Präsident Chen Shui-bian verlieh ihnen den "Glänzenden Stern". Bis heute sind es die einzigen Olympia-Siege für Taiwan. Mit 21 Medaillen liegt das Land auf Platz 69 im ewigen Medaillenspiegel der Sommerspiele. Im Trainingszentrum in Kaohsiung sind die Helden Chu Mu-yen und Chen Shih-hsin allgegenwärtig. Auf Wandplakaten, auf Fotos in den Regalen, und vor allem in den Gedanken der Nachwuchsathleten. In der Taekwondo-Halle am Kopfende des Areals bereiten sich 35 Sportler auf einer blauen Matte auf ihr Training vor. Mit dabei ist Wei Chen-yang, einer von 44 taiwanischen Olympiateilnehmern in London. Der 21-Jährige startet in der Gewichtsklasse bis 59 Kilo. Er trägt neonfarbene Sportschuhe und hat seine Haare nach oben drapiert. Im Alter von acht Jahren hat Wei Chen-yang mit Taekwondo begonnen. "Taekwondo hat eine große Tradition in Taiwan, viele Kinder und Jugendliche gehen dieser Sportart nach. In vielen Schulen ist Taekwondo ein wichtiger Teil des Unterrichts. Ich bin damit aufgewachsen und kann mir nicht vorstellen, wieder ohne den Sport zu leben." Chiang Ching-kuo, der Sohn des Nationalhelden Chiang Kai-shek, war 1966 als Verteidigungsminister Taiwans in Südkorea zu Gast. Er beobachtete, wie koreanische Soldaten durch Taekwondo ihre Koordination verbesserten. Chiang Ching-kuo lud ihre Trainer nach Taiwan ein. Der Kampfsport etablierte sich auf der Insel in der Marine, später in Armee und Polizei. 1969 öffnete in Kaohsiung die erste Privatschule, bald wurde Taekwondo in Universitäten und Regelschulen angeboten. Inzwischen sollen mehr als eine Million Mitglieder in 700 Schulen und Vereinen aktiv sein, so wie der Spitzenathlet Wei Chen-yang. "Für die meisten ist Taekwondo ein Freizeitsport, aber ich möchte irgendwann eine Olympische Medaille gewinnen. Dafür verzichte ich auf Partys oder späte Treffen mit meinen Freunden. Ich bin sehr stolz, mein Land in der Welt vertreten zu dürfen." Wie ausgeprägt kann der Stolz sein, wenn das Heimatland auf der vielleicht wichtigsten Weltbühne mit einer Tarnung auftreten muss? "Das ist nicht schön, aber wir kennen es nicht anders. Unser Wettbewerb in London hat das überstrahlt, diese vielen Zuschauer, ich war total überwältigt. Da ist es nebensächlich, dass wir als Chinese Taipeh starten. Im Olympischen Dorf wurde ich öfter von anderen Sportlern gefragt, ob wir zu China gehören. Ich habe unsere Situation erklärt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch alle verstanden haben. Ich bin mir ja nicht mal sicher, ob ich es selbst verstanden habe." Wenige Gehminuten von der Trainingshalle entfernt liegt das Stadion, in dem 2009 die World Games eröffnet wurden, die Weltspiele der nicht olympischen Sportarten. Aus der Luft sieht das geschwungene Dach der Arena wie ein Fragezeichen aus. Es besteht aus fast 9000 Solarmodulen, die der Stadt Kaohsiung mehr als eine Million Kilowattstunden Elektrizität liefern. Das Stadion ist das erste weltweit, das ausschließlich durch Sonnenenergie betrieben werden kann. Die Eröffnungsrede der World Games vor fast 5000 Athleten hielt Taiwans Präsident Ma Ying-jeou. Deshalb blieben die chinesischen Sportler der Feier fern. Eine Machtdemonstration, wie so oft. Dass die Taiwaner selbst in ihrer Heimat als Chinese Taipei antreten mussten, hat nur kurz für Verstimmung gesorgt, sagt der deutsche Korrespondent Klaus Bardenhagen: "Da hat man gemerkt, wie stolz die Leute in Taiwan darauf sind, ihr Land der Welt zu präsentieren. Das sind ja Sportler und auch Fans aus über hundert Ländern nach Taiwan gekommen. Und plötzlich hat man das olympische Dorfgefühl da. Da liefen dann auf dem Nachtmarkt abends Leute mit Trainingsanzügen von Frankreich aus dem Jiu-Jitsu-Team durch die Gegend. Oder das Drachenbootteam aus Russland hat man da gesehen. Und plötzlich hatten die Menschen hier in Taiwan das Gefühl: wir werden jetzt vom Rest der Welt wahrgenommen. Die kommen jetzt zu uns ein bisschen, wie das in Deutschland 2006 bei der WM war. Da denken die Leute noch bis heute dran." Kaohsiung hat die World Games zur Modernisierung genutzt: Für Parkanlagen, Brücken, Nahverkehr. Die Zeugnisse der verblassenden Schwerindustrie, die Fabrikbrache mit Türmen und Schienen, wurden in ein Bahnmuseum umgewandelt. Die Taiwaner folgen dem Zeitgeist. Und sie leiden unter Problemen, die in Europa und Nordamerika gut bekannt sind: Die Spannungen zwischen Arm und Reich wachsen, die Gesellschaft altert, das einst rasende Wirtschaftswachstum stagniert. Welche Rolle kann Sport in einer Gesellschaft spielen, die sich an Wohlstand gewöhnt hat? "In Taiwan gibt es keine mächtige Industrie, unser Land ist vor allem durch Fleiß, Kreativität und gute technische Ideen nach vorn gekommen. Die Menschen wissen, dass vor allem Bildung die Zukunft ihrer Kinder sichert. Daher ist Sport bei uns nicht so wichtig wie in anderen Ländern." Zurück in der Hauptstadt Taipeh, ein Besuch bei Wang Han-chung, einem der einflussreichsten Sportfunktionäre Taiwans. Wang Han-chung hat als Physiotherapeut und Sportlehrer gearbeitet, später als Erziehungswissenschaftler. Mittlerweile koordiniert er die Förderung der rund 1000 Spitzenathleten, sein Büro mit 25 Mitarbeitern ist dem Bildungsministerium angegliedert. Immer wieder beschreibt Wang Han-chung die Unterschiede zwischen dem chinesischen und dem taiwanischen Fördersystem, doch die Begriffe "Volksrepublik", "Festland" oder "Peking" spricht er nicht aus. "Wir leben in einer Demokratie. Nur wenn junge Menschen Interesse haben, sich dem Sport zu verschreiben, fördern wir sie. Dann schaffen wir ihnen ein passendes Umfeld, ohne Druck auszuüben. Wichtig ist, dass sie die Schule oder Universität nicht aus den Augen lassen. Wir pflegen unsere Partnerschaften mit Lehrern und Professoren. Achtzig Prozent unserer Förderathleten studieren parallel, sie sind keine Profis. Wir haben die Pflicht, sie für das Leben nach dem Sport vorzubereiten." Eine Vereinslandschaft mit ehrenamtlichen Betreuern wie in Deutschland gibt es in Taiwan nicht: es fehlen Sportstätten, die Menschen haben weniger Freizeit. Sie finden sich lose zusammen, in Freizeitteams, Betriebsgemeinschaften, Hochschulgruppen. Politiker und Funktionäre wie Wang Han-chung wollen den Sport in der Gesellschaft stärken. Die Regierung bietet Sponsoren Steuervorteile an. Ehemalige Athleten erhalten zinsgünstige Darlehen für die Gründung von Fitnessstudios oder Taekwondo-Schulen. Menschen mit Gebrechen erhalten Zuschüsse für Bewegungstherapien. Und Leistungssportler können eine Studienförderung beantragen, damit sie ihre Bildung nicht vernachlässigen, sagt Wang Han-chung. "Wir sind ein kleines Land. Bei Olympia können wir keine Medaillen erzwingen, daher konzentrieren wir uns in der Förderung auf wenige Sportarten, die bei uns verwurzelt sind und in denen wir körperlich mithalten können. Taekwondo zum Beispiel, auch Bogenschießen oder die leichteren Klassen im Gewichtheben. Wichtiger ist es aber, die Gesundheit und Lebenserwartung der Menschen zu fördern. Deshalb sind erfolgreiche Profisportler als Vorbilder für die Gesellschaft so wichtig." Der größte Sportheld der Taiwaner kommt aus Amerika. Jeremy Shu-How Lin, Sohn taiwanischer Einwanderer, ist in Kalifornien aufgewachsen. Lange bewarb er sich für ein Basketballstipendium an einer Universität, vergeblich. Er ging nach Harvard, studierte Betriebswirtschaft und schaffte über Umwege 2012 den Durchbruch in der Profiliga NBA. Für die New York Knicks erzielte Jeremy Lin in seinen ersten fünf Spielen in der Startformation 136 Punkte, Rekord. Sowohl in den USA als auch in Taiwan brach eine Hysterie um den Spielmacher aus. An den Häuserwänden von Taipeh hingen Plakate, sagt der deutsche Korrespondent Klaus Bardenhagen, Magazine druckten Titelgeschichten, für das Kino entstand ein Dokumentarfilm. "Und es war einfach wochenlang das beherrschende Thema hier. Und er reist auch einmal im Jahr her und besucht seine Großeltern. Also für die Leute in Taiwan ist Jeremy Lin einer von uns. Dazu kommt noch die Geschichte, dass er diese Entwicklung vom Underdog zum Superstar hatte. Dass er zunächst ein Ersatzspieler war, den kein Verein so richtig haben wollte. Da zeigt sich auch: Wenn man nur hart genug übt und lernt, dann wird man auch Erfolg haben. Ob das jetzt Jeremy Lin ist oder Ang Lee, der Regisseur, der auch in Taiwan geboren wurde, und jetzt seinen zweiten Oscar gewonnen hat. Und es gibt da diesen Begriff The Glory of Taiwan, das ist jemand, dessen Ruhm auf uns alle abstrahlt, auf den wir alle stolz sein können. Und ich bin mir schon sicher, dass in einem Land mit einer relativ kleinen Bevölkerung wie Taiwan, was auch noch in dieser Isolation steckt, dass das diesen Effekt noch verstärkt." Inzwischen spielt Jeremy Lin für die Houston Rockets. Die New York Times analysierte, dass Lin die Klischees vieler Amerikaner von asiatischen Einwanderern verändere. Das gilt auch für die Profigolferin Yani Tseng aus dem taiwanischen Guishan. Sie startete in der amerikanischen Turnierserie LPGA durch und lag 109 Wochen auf Platz eins der Weltrangliste. Heldenstatus genießt auch Wang Chien-ming, einer von vier taiwanischen Baseballspielern in der US-Profiliga MLB. Wang Chien-ming hatte an einem der wenigen Sportinstitute in Taipeh studiert. Im Jahr 2000 unterzeichnete er einen Vertrag bei den New York Yankees. Einen großen Teil seines Gehalts überwies er an seine Eltern, die viele Jahre in einer Metallverarbeitungsfabrik gearbeitet hatten. Baseball ist in Taiwan besonders beliebt. Der Sport wurde von den Japanern eingeführt, die Taiwan zwischen 1895 und 1945 als Kolonie besetzt hielten. Zu einer Leitfigur anderer Art wurde Wu Ching-kuo, Präsident der Aiba, des Weltverbandes der Amateurboxer. Wu Ching-kuo gab im Mai 2013 seine Kandidatur für das höchste Amt im Weltsport bekannt, für die Präsidentschaft des IOC. In einem Luxushotel in Taipeh eröffnete er vor zehn Fernsehkameras seinen Wahlkampf. Der Architekt und frühere Basketballspieler Wu Ching-kuo kündigte an, Korruption im Sport bekämpfen zu wollen und Bildung zu fördern. Ein Reporter der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua fragte Wu Ching-kuo, ob auch die Sportfunktionäre aus der Volksrepublik, aus Hongkong und Macau hinter seiner Kandidatur stehen würden? Wu Ching-kuo antwortete wie so oft: höflich, diplomatisch, mehrdeutig. "Ich finde, das ist eine sehr gute Frage. Zunächst mal, Macao hat keine Delegierten für die Wahl des IOC-Präsidenten. Die drei Delegierten vom Festland, und der aus Hongkong, wir sind gute Freunde seit vielen Jahren. Ich habe in dieser Angelegenheit nur positive Reaktionen erfahren. Diese seltene Gelegenheit sollten wir nicht versäumen, wir müssen kämpfen. Ich habe von der Bevölkerung viel Aufmunterung erfahren. Wir kulturell verbundenen Chinesen dürfen bei dieser Wahl nicht fehlen. Wir wollen international eine wichtige Rolle spielen." Wu Ching-kuo war von Anfang an Außenseiter. Die Delegierten wählten in Buenos Aires den Deutschen Thomas Bach zum Präsidenten des IOC. Und dennoch verdeutlichte Wu Ching-kuo, dass das Verhältnis zwischen Taiwan und China enger wird, außerhalb der höchsten diplomatischen Ebene: In den vergangenen vier Jahren verabschiedeten die Volksrepublik und die Republik China 18 wirtschaftliche Abkommen, die taiwanischen Direktinvestitionen in Unternehmen auf dem Festland werden auf 100 Milliarden Dollar geschätzt. Seit 2008 dürfen Touristen aus China die Insel bereisen, jährlich wächst die Zahl der Direktflüge. Vor zehn Jahren war das noch undenkbar, sagt Lin Chu-chia, der stellvertretende Minister Taiwans für Festland-Angelegenheiten. "Im letzten Jahr kamen zwei Millionen Touristen vom Festland nach Taiwan. Sie besuchen die Nationalparks, sie sind auch an den Städten interessiert. Und am Abend bleiben sie in den Hotels und schauen Fernsehen. Wir haben viele politische Talkshows. Da wir dieselbe Sprache sprechen, Mandarin, verstehen sie jedes Wort. Und dann sind die Menschen vom Festland wirklich überrascht, wie wir politisch streiten, und wie wir sogar unsere Vorgesetzten kritisieren. Das würde auf dem Festland nie passieren, aber in Taiwan können die Touristen sehen, wie Demokratie wirklich funktioniert." Als hochrangiger Politiker Taiwans hat Lin Chu-chia keine Möglichkeit, in offizieller Mission mit Spitzenvertretern aus Industrieländern zu sprechen. Die Republik China setzt daher auf Soft Power, auf sanfte Machtausübung. Sie knüpft ein Netzwerk von kulturellen Außenstellen, die Taiwan bekannt machen sollen, durch Konzerte, Lesungen, Diskussionsrunden. Büros gibt es bereits in Tokio, Paris oder Los Angeles. "Wir wollen keinen Ärger machen. Wenn wir eine bessere Beziehung zu Festland-China haben, dann sinkt auch die Wahrscheinlichkeit rapide, dass es zu militärischen Konfrontationen kommt. Unser internationaler Spielraum wird von der chinesischen Regierung stark beschnitten. Aber auch wir haben eine Würde. Deshalb machen wir uns viele Gedanken, um die Werte von Taiwan in die Welt zu tragen. Dabei kann uns auch der Sport enorm helfen. Wir arbeiten sehr hart, um unseren internationalen Freiraum zu vergrößern." Ob Taiwan irgendwann selbst die Olympischen Spiele austragen darf? Lin Chu-chia lacht, als habe er gerade einen Witz gehört. Seine Heimat folgt einem Weg der kleinen Schritte. 2017 findet die Universiade in Taipeh statt. 10000 Sportler aus 160 Ländern: Gemessen an der Teilnehmerzahl gelten die Weltspiele der Studenten als zweitgrößtes Sportereignis der Welt. Wir wollen nicht die Größten sein, sagt Lin Chu-chia. Taiwan möchte nur den Olympischen Grundsatz verwirklichen, der für viele längst verblasst ist: Dabei sein ist alles. Musik in der Sendung: Asia Vol. 1, LC 07126, Cezame Argile Track 11: Delicate Flower Track 12: Whispering Breeze China: Klänge unserer Geschichte, LC 2427 Ellpsis Arts Tack 4: Lily Yuan Track 8: Huihong Ou 9