Die Angst vor dem Vergessen Eine Lange Nacht über Demenz Autor: Burkhard Plemper Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Jan Tengeler SprecherInnen: Martin Bross Bettina Scholmann Volker Hengst Sendetermin: 22. September 2018 Deutschlandfunk Kultur 22./23. September 2018 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik (Eberhardt Weber) Einblendung 001 (Michael, 74:) Ja, hab ich in der Familie gehabt, kenn ich ja Einiges von. Ich kann nur hoffen, dass mir das nicht selber mal passiert. (Christine, 69:) Ja, Alterserscheinung, ich hab auch Angst davor, 'ne Nachbarin hat das ... es entwickelt sich langsam und ich frag mich, wie man sich davor schützen kann Angst? Weil ich meiner eigenen Sinne nicht mehr Herr bin, ich bin darauf angewiesen, dass man es mit mir gut meint.... Erzähler Demenz erscheint als Schicksal des Einzelnen, dem zunächst der Alltag entgleitet, bevor er - wie es heißt - seiner Persönlichkeit beraubt nur mit Hilfe anderer überlebt. Dieses Gespenst der Demenz ist auch das Zerrbild einer Gesellschaft, von der es heißt, sie sei allmählich überaltert und könne die Hilfe für die vielen Verwirrten nicht mehr lange leisten. Rund 1,7 Millionen Menschen sollen es derzeit in Deutschland sein; ihre Zahl könnte sich - sagen Schätzungen - bis zum Jahr 2050 verdoppeln. ‚Die Angst vor dem Vergessen' - in der ersten Stunde dieser Lange Nacht kommen Menschen mit Demenz zu Wort. Es geht auch um die Frage: Ist Demenz eine Krankheit oder doch nur Teil des natürlichen Alt-Werdens? In der zweiten Stunde begleiten wir Betroffene und Angehörige auf der Suche nach einem alternativen Umgang mit dem Phänomen, u.a. bei einem Besuch in einer Einrichtung in den Niederlanden, die oft als Demenzdorf bezeichnet wird. In der dritten Stunde dieser Langen Nacht zeigen Theatermacher und Literaturwissenschaftler, was ein anderer Blick auf die Demenz bewirken kann. Musik hoch und auf Schluss Einblendung 002 Rohra: Ich heiße Helga Rohra - heute sag ich meinen Namen.... Erzähler Eine zierliche Frau steht auf der Bühne, den Blick ins Publikum gerichtet, das Mikrophon fest in der Hand. Sorgsam wählt sie ihre Worte. Das Thema ist heikel und es fällt ihr schwer, den richtigen Ausdruck zu finden. Einblendung 003 Rohra: Vor einem Jahr - jetzt im März ist es ein Jahr - da bekam ich diese Diagnose .... Erzähler Helga Rohra, damals 56, hat eine spezielle Form der Demenz. Von der berichtet sie erstmals vor großem Publikum. Über 200 Interessierte sitzen vor ihr in Stuttgart. Aus ganz Deutschland sind sie angereist. Angehörige, professionelle Helfer, vor allem aber Menschen mit Demenz, die nicht wollen, dass nur ÜBER sie geredet wird. Demenz - diese "Geißel der alternden Gesellschaft" - wie oft zu hören ist, dieser "Zerfall der Persönlichkeit", bis nur noch "eine leere Hülle zurückbleibt", der man eine "baldige Erlösung" wünscht. Dieses Vokabular des Grauens ist in Stuttgart nicht zu hören, auf dem Kongress, den sie mit "Stimmig" überschrieben haben, weil die Veranstalter es stimmig finden, dass Menschen mit Demenz sich selbst zu Wort melden. Der Gedanke an das, was die später vielleicht erwartet, lässt viele Menschen auf der Straße erschauern: Einblendung 004 (Mathilda, 38:) Ja, macht mir Angst, sehr, weil ich selber mit Demenzkranken ... arbeite und das auch in der Familie habe und das macht schon Angst. (Kathrin, 41:) Ja, ich denke, dass ich's wissen will, von jetzt aus gesehen, ja. Ich weiß nicht, ob man sich dann im entscheidenden Moment daran erinnern kann, es müsste ja helfen, zu wissen, ich bin generell vergesslich, also: Glaub mal den Anderen, was sie sagen. (Milofa:) Angst? Sehr, weil ich gehöre zu Menschen, die langsam älter werden, ich bin jetzt 52 Jahre alt und, ja, ich denke ab und zu daran. Es ist schrecklich. Wissen? Lieber nicht. Erzähler Helga Rohra war 56. Einblendung 005 Rohra: Die Diagnose erhielt ich einfach so ... ich saß da vor meinem ... Neurologen und er fragte, wollen Sie's wissen? Und ich sagte ‚ja, ich will es wissen' ... REST UNTER TEXT WEGZIEHEN! Erzähler Was macht so viel Angst? Ist es so schlimm, wie Viele befürchten? Ist es möglich, mit oder trotz einer Demenz ein gutes Leben zu haben? Sie werden in dieser Langen Nacht keine Bagatellisierung hören. Und keine romantische Verklärung des Zustands, unter dem viele Menschen leiden. Demenz ist eine Herausforderung für diese Gesellschaft und demzufolge sind gesellschaftliche Lösungen erforderlich - und möglich. Begleiten Sie uns zu Familien, die durch die Demenz eines Angehörigen an den Rand ihrer Belastbarkeit geraten. Erleben Sie eine Wohngemeinschaft, in der Menschen mit Demenz dank professioneller Hilfe gemeinsam ihren Alltag bewältigen. Begleiten Sie eine Pflegekraft auf der Dementenstation eines Heimes. Bilden Sie sich selbst ein Urteil, was dran ist an der spektakulären Idee eines Demenzdorfes in Holland. Lernen Sie Versuche kennen, Städte und Gemeinden zu ‚demenzfreundlichen Kommunen' zu machen. Selbstverständlich kommen die Betroffenen zu Wort wie Helga Rohra beim Kongress in Stuttgart: Einblendung 006 Rohra: "Betroffen" gefällt mir grundsätzlich nicht und B. hat einmal dieses Herabziehende 'BE'troffen, man wird 'BE'sorgt, Angehörige sind sehr besorgt über einen, ich habe noch keinen passenden Ausdruck, ich sage einfach, im Frühstadium sind sie etwas 'schwächer', ich sage einfach, ich schwächel etwas, wenn ich in der Gruppe bin, ja, wir sind eine große Familie, die etwas schwächelt. Erzähler Die ‚große Familie' ist ihre Selbsthilfegruppe. Regelmäßig treffen sie sich und tauschen Erfahrungen aus, Menschen im Frühstadium einer Demenz wie die frühere Simultandolmetscherin. Auf dem Kongress redet sie mit anderen Teilnehmern, zum Beispiel mit einem Neurologen und Psychiater, ehemals Chefarzt einer norddeutschen Klinik für Geriatrie und Rehabilitation, der neugierig das Gespräch sucht. Einblendung 007 Dr. St.: Ich bin sozusagen jetzt sehr enthusiastisch, was ich hier mithöre, mit begleite und mit erfahre, welche gute Stimmung hier ist, es ist sozusagen mitreißend, es macht richtig Spaß, hier 'rumzugehen und zu hören, dass Menschen mit Demenzen sehr wohl zurechtkommen. Sie müssen sich erheblich mühen, müssen erheblich mehr aufwenden, aber sie machen mit, und das ist noch mal begeisternd. Erzähler Gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin ist er in den Süden gereist. Einblendung 008 Dr. St.: Die hat mich auch mit dazu gebracht, mitzugehen, das ist noch mal unterstützt worden von meiner Ehefrau, die gesagt hat, "Nein mach das, ich freu mich, wenn Du hingehst. Und wenn Du dich in die Gesellschaft mit einbringst". Erzähler Es war nämlich nicht der volle Terminkalender, der den Endfünfziger hätte abhalten können, sich mit Helga Rohra und den Anderen auf dem Kongress zu treffen. Einblendung 009 Dr. St.: Ich bin selber Demenzkranker auch, also ich hab mich untersuchen lassen und die Diagnose war eindeutig. MUSIK Sprecherin Bekannt sind Demenzen als eine Erscheinung des hohen Alters: Zwischen dem 70. und 75. Lebensjahr wird bei knapp jedem dreißigsten eine Demenz festgestellt; bei den über 90-Jährigen ist es jeder Dritte. Das heißt umgekehrt, dass zwei Drittel der Menschen dieses Alter bei klarem Verstand erleben. Die häufigste Form ist das, was Alzheimersche Krankheit genannt wird. Benannt ist dieses Phänomen nach Alois Alzheimer, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach dem Tod seiner verwirrten Patientin Adele D. Veränderungen in ihrer Hirnsubstanz festgestellt hat. Erzähler Selten kommt es vor, dass jemand in relativ jungen Jahren Symptome einer solchen Verwirrtheit zeigt. Der norddeutsche Arzt auf dem Kongress in Stuttgart war noch unter Sechzig, Helga Rohra mit ihrer speziellen Form der Demenz erst 54, als ihr auffiel, dass etwas nicht stimmte. Einblendung 010 Rohra: .... ich bemerkte Ausfälle, das war Mitte 2008, und - äh - das geht ... mit so kognitiven Einschränkungen, Sie verlieren ein Vokabular, das Sie immer parat hatten. Sie meinen zuerst, Sie sind erschöpft und mein Arzt sagte, das ist ein Burn-out, und die Diagnose erhielt ich, äh, endgültig März 2009 ... Erzähler ... nachdem Durchblutungsstörungen, eine Depression und andere behandelbare Krankheiten ausgeschlossen waren. Ihre Symptome bezeichnet die eloquente Mittfünfzigerin als "Schwächeln". Einblendung 011 Rohra: Vor einem Jahr schwächelte ich sehr sprachlich, ich konnte die Sätze nicht richtig bilden, äh, ich wollte etwas sagen und ich musste umschreiben - den Begriff. Oder ich sage, ich will meine Hausschuhe und ich sage, ich such meine Hosenschuhe, also diese Wortverstellungen, die Orientierung ist sehr eingeschränkt, vor allem räumlich, und dieses Kurzzeitgedächtnis, oder mitten im Redefluss weiß man dann nicht mehr, weiß ich dann nicht mehr, was ich sagen, weitersagen möchte, aber wenn Sie den richtigen Gesprächspartner haben, der, "ah, Du hast ja davon gesprochen". Dann ist es so wie ein Link, wissen Sie, und dann kann es wieder weiter gehen. Erzähler Dass es weiter geht, ist wichtig. Auch wenn das Horrorvokabular in vielen Berichten anderes vermuten lässt, ist das Leben mit der Diagnose nicht zu Ende. Aber hart ist es, sehr hart. Auch beim Neurologen aus dem Norden. Einblendung 012 Dr. St.: Das ist etwa ein halbes Jahr, ich hab einen großen Schrecken gekriegt, als ich die Diagnose kriegte, war sehr deprimiert auch. Ich hab ne sehr gute Familie, mit vier Kindern und 'ner sehr toughen Ehefrau, und die hat gesagt, 'Du machst weiter da. Also Du bleibst dabei und läufst nicht weg. Du stellst Dich dieser Diagnose, und versuchst, damit zurecht zu kommen, Du wirst damit zurechtkommen.' Und das, was ich jetzt hier mitbekommen hab, die sind ja noch viel schwerer betroffen, ich bin ja noch am Anfang, und das macht Mut. Sprecherin Du stellst Dich dieser Diagnose und Du wirst damit zurecht kommen! .... Erzähler ... hat seine Frau gesagt. Und er hat die Herausforderung angenommen. MUSIK Einblendung 013 Barbara, 51: Wenn jemand seine Umgebung nicht mehr wahrnimmt, seine Verwandten nicht mehr erkennt, das ist ja traurig. kann man nur hoffen, dass derjenige, der dement ist, trotzdem schöne Augenblicke für sich wahrnimmt. Jonas, 19: Die Sache ist, wenn man dann dement ist, ist, weiß man dann eigentlich, dass man Alzheimer hat? ... Angst? Muss man halt schauen ... Erzähler ... sagen Menschen auf der Straße, die nicht unbedingt damit rechnen müssen, in den nächsten Jahren eine Demenz zu entwickeln. Und wenn, ist es dann nicht ein Schicksalsschlag wie jeder andere auch? Im Deutschen Hygienemuseum in Dresden findet eine Veranstaltungsreihe zur gesellschaftlichen Herausforderung Demenz statt, überschrieben mit "Lieber tot als dement. Die Angst vor der Demenz und wie man ihr begegnet." Heinrich Grebe ist dabei, Forscher am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Er hat an zweihundertfünfzig Pressetexten untersucht, welche Bilder und Deutungen von Demenz durch Publikumsmedien transportiert werden. Einblendung 014 Grebe: Es gibt einmal eine defizitorientierte Herangehensweise an das Thema. Da wird die Situation von Betroffenen sehr düster beschrieben: Demenz als das Leben, kein Mensch mehr zu sein. Das ist 'ne Aussage, die trifft der Bildzeitungskolumnist Franz Josef Wagner in Bezug auf die Situation von Walter Jens. Das war ein großes mediales Thema ... ... Frage pl: ... Das ist jetzt aber kein Problem der BILD-Zeitung, also Karasek hat sich auch entsprechend geäußert ... Vielen Dank, dass Sie das sagen! Es gibt ja immer die Assoziation, die BILD-Zeitung ist tendenziös in bestimmte Richtung und dann gibt es die Qualitätspresse wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Neue Züricher Zeitung, die Süddeutsche Zeitung usw., da wird doch hochgradig differenziert berichtet und auch über das Thema Demenz sehr differenziert berichtet ... Das ist nicht so! Auch in diesen Zeitungen herrschen die gleichen defizitorientierten Tendenzen vor: Das wird nicht gesagt, es ist das Leben, kein Mensch mehr zu sein, sondern wird ein bisschen vorsichtiger formuliert: ‚Die Gedächtnisfestplatte wird gelöscht', ‚Das Personsein löst sich auf', ‚Der Mensch wird leer'. Aber semantisch, in Bezug auf die Bedeutung, ist das Alles sehr ähnlich: Der Mensch wird leer, die leere Hülle. Das ist ein Bild, das umgeht in Bezug auf die Situation von Betroffenen. Zitator: Er lebt und ist doch tot .... Erzähler ... urteilte Helmut Karasek im Hamburger Abendblatt über Deutschlands damals prominentesten Menschen mit Demenz, den brillanten Geist aus Tübingen, Rhetorik- Professor Walter Jens. Zitator: Jens lebt - lebt? vegetiert? verkümmert? verendet? - in Tübingen .... Erzähler fragte Karasek angesichts des Verlustes Jens' bisher bewunderter Fähigkeiten. Von da ist es nicht weit zur Einschätzung Frank Ochmanns im "stern: Zitator: Bis heute .... endet dieses Leiden so entsetzlich, dass kaum mehr von einem Menschen bleibt als eine welke Hülle und Kinder ihren kranken Eltern nur noch den Tod wünschen, damit das tagtägliche Sterben ein Ende hat. Erzähler Was ist entsetzlicher: die Demenz oder die Haltung, in den davon betroffenen nur noch eine welke Hülle zu sehen? Ist das die Wegbereitung der Euthanasie für diejenigen, denen angeblich nichts Menschliches mehr eigen ist? Der Kulturwissenschaftler Grebe hat auch untersucht, wie die Situation der Angerhörigen von Menschen mit Demenz dargestellt wird: Einblendung 015 Grebe: Das ist ein ganz entscheidender thematischer Zusammenhang. Und in diesen defizitorientierten Beschreibungen wird auch da ein düsteres Bild gezeichnet: Alzheimer zerstört die Familie. Erzähler Nun ist hinlänglich bekannt, wenn auch zu wenig beachtet, dass die meisten Menschen mit Demenz von ihren Angehörigen versorgt werden - wie es auch meistens Familienmitglieder sind, die jemanden pflegen. Das ist zweifellos enorm belastend und übersteigt die Kräfte der Bezugspersonen bei weitem. Zu hören ist von ihnen aber auch, dass ihnen die Pflege und der Gepflegte etwas geben. Einblendung 016 Grebe: Und dann der dritte Zusammenhang, der da behandelt wird - erstens die Betroffenen, zweitens die Familie - und drittens die gesamte Gesellschaft, also Deutschland als Ganzes, die Welt als Ganzes: ‚Alzheimer als Bedrohung für die Weltwirtschaft', das ist ein Titel, den ich zitiere aus den Kieler Nachrichten. ... Wenn man so über Demenz schreibt, wenn man sagt ‚das ist die Pest des 21. Jahrhunderts', wenn man sagt ‚die Demenzrepublik', wenn man sagt, ‚das ist die Gefahr für die Weltwirtschaft', dann wird das als unüberwindliche Herausforderung, als Bedrohung von apokalyptischem Ausmaß, dann wird das tatsächlich so dargestellt. Erzähler Im Mittelpunkt dieser Darstellungen stehen das Erinnerungsvermögen und dessen Verlust. Interessant für den Kulturwissenschaftler Grebe ist, welche Vorstellung wir vom Gedächtnis haben: Einblendung 017 Grebe: Alle kennen wahrscheinlich das Bild, dass das Gedächtnis 'ne Festplatte ist. Das ist 'ne verbreitete Vorstellung, die sich u. a. darin niederschlägt, dass wir sagen ‚ich hab was abgespeichert' u.s.w.u.s.f. Das Gedächtnis ist 'ne Festplatte bzw. das Gedächtnis ist 'n Gefäß, in dem alle unsere Erinnerungen und letzten Endes auch unser Personsein gelagert ist (!). Der Inhalt letzten Endes dessen, was wir sind, liegt im Gedächtnis. So, und jetzt kommt Demenz. Und die mediale Darstellung ist: Demenz macht das Gedächtnis, macht das Gedächtnisgefäß leer. Demenz löscht die Gedächtnisfestplatte und löscht damit auch Alles, was den Menschen ausgemacht hat. MUSIK Erzähler Tagespflegestätte der Caritas im Sauerländischen Arnsberg. Mit sechs anderen Hochbetagten sitzt Herta W. um einen großen Esstisch. Einblendung 018 Herta W.: Das sind alles nette Leute, alle gleich alt, haben den gleichen Stand, sind zuhause über, kein Platz oder was weiß ich, ja. Erzähler .... und damit wendet sich die 87jährige wieder ihrem Pudding zu. Eine Szene, wie sie tagtäglich zu beobachten ist, landauf, landab. Sehr präsent ist die alte Dame, wenn ein Besucher sie anspricht, geradezu aufgekratzt, kann sich aber nach kurzer Zeit nicht mehr daran erinnern, vergisst, mit wem sie gerade geredet oder was sie gerade getan hat. Es ist das klassische Bild einer fortgeschrittenen Demenz, Diagnose ‚Alzheimer'. Wird damit - um bei dem von Heinrich Grebe kritisierten Bild zu bleiben - ihre Gedächtnis-Festplatte gelöscht und Alles, was sie als Menschen ausgemacht hat? Einblendung 019 Grebe: Wenn man die Probleme thematisiert, z. B. Orientierungslosigkeit, räumliche Fragen, auch Gedächtnisprobleme und davon auf den existentiellen Status der Betroffenen schließt - also: verlieren sie ihre Persönlichkeit, sind sie noch Menschen, vielleicht nicht mehr ganz so vollwertige Menschen usw. - das ist hoch problematisch. Einblendung 020 Herta W.: Ich war Sekretärin in einem Büro und hatte jeden Tag Ärger, ja fünf Jahre hintereinander Lehrlinge, hab sie ausgebildet, das heißt, nicht nur fünf Jahre, längere Zeit noch, insgesamt fünf Lehrlinge hab ich gehabt, ne ... Erzähler Herta W. kann sich an Vieles noch erinnern. Aber welcher Wochentag gerade ist und ob es eben Himbeer- oder Schokopudding gegeben hat, ist für sie nicht wichtig. Der Kulturwissenschaftler Heinrich Grebe zeigt, dass die mediale Darstellung mit ihrer Reduzierung von Menschen mit Demenz auf ihre Defizite natürlich Auswirkungen hat: Einblendung 021 Grebe: Wenn jetzt Angehörige z. B. immer wieder lesen ‚Die Betroffenen werden leer, das sind leere Hüllen', und sie orientieren sich in ihrer Alltagspraxis an dieser Metapher, dann hat diese Metapher, dann hat diese mediale Beschreibung alltagspraktische Folgen, nämlich u. U. die Folge, dass die Angehörigen nur noch den Körper pflegen, aber das Menschliche, den Versuch zu unternehmen, die kommunikative Beziehung herzustellen, dass sie das abbrechen, weil: Es ist ja sowieso überflüssig, es ist ja sowieso leer. Und da gibt es entsprechende Untersuchungen, die das zeigen, das Phänomen des sozialen Todes, das Risiko des sozialen Todes, das mit diesen Beschreibungen zusammenhängt ... Erzähler Das fängt damit an, dass ‚Wir', ‚die Normalen', von ‚den Dementen' reden und sie damit auf mutmaßliche Defizite reduzieren. Die Aktion Demenz, eine Initiative von Forschern und Praktikern, fordert deshalb nachdrücklich, sie ‚Menschen mit Demenz' zu nennen. Es hat sich ja auch eingebürgert, ‚Menschen mit Behinderung' nicht als ‚die Behinderten' schon sprachlich auszugrenzen. Gegen eine solche Ausgrenzung und den sozialen Tod wehrte sich auch die damals 56jährige Dolmetscherin aus München, Helga Rohra: Einblendung 022 Rohra: Wissen Sie, ich bin sehr traurig, weil, ich konkret habe bei allen Ämtern hier in München gesagt, ich möchte integriert werden. Aber ich kann Ihnen sagen, innerhalb von sechs Wochen wurde ich in eine Rente geschickt, in eine volle Erwerbsminderungsrente, die unwiderruflich ist, und ich habe die Kraft für mich zu sprechen und ich werde an Türen klopfen und sagen, ich möchte mal Anrufe entgegennehmen und ich möchte ein Telefon für Erkrankte oder für Angehörige von Demenzerkrankten einrichten. Also arbeiten nach Möglichkeit. Und für mich ist nicht das Geld wichtig, für mich ist es der Sinn, und dass ich sehe, ich werde gebraucht. Erzähler Und manchmal sieht es so aus, als sei das plötzliche Gefühl der Nutzlosigkeit der Beginn des schleichenden Abbaus. Zum Beispiel bei Hans-Ulrich, 61 Jahre alt, Jurist, ehemals leitender Angestellter eines großen Versicherungskonzerns. In einem ruhigen Moment auf einer Reise sprachen er und seine Frau darüber, dass er des Öfteren nicht mehr wusste, was im Augenblick zuvor geschehen war. Durchblutungsstörungen konnten die Ärzte ausschließen, auch den Verdacht einer Depression. Übrig blieb schließlich eine "Demenz vom Typ Alzheimer", wie die Ärzte sagten. Kurze Zeit zuvor war er in Rente gegangen, Jahre vor der regulären Altersgrenze. Einblendung 023 Hans-Ulrich: Nach dem sechzigsten Lebensjahr oder ein bisschen früher hatte die Allianz angeboten, um mal wieder ein paar Leute - wie soll ich's nett formulieren? - äh, um ein - Die Allianz wollte Leute loswerden, also ein bisschen die Anzahl der Tätigen verringern, und denn hatten wir Angebote von Seiten der Gesellschaft, eben auszusteigen und dann in Ruhestand zu gehen. Erzähler Es ist das, was man in Wirtschaftskreisen ein "sozialverträgliches Abschmelzen der Belegschaft" nennt. Plötzlich ist der Halt eines geregelten Arbeitsalltags weg. Sicherlich wäre es gewagt, darin den Auslöser einer Entwicklung zu sehen, die Mediziner schließlich als Demenz diagnostizieren. Vielleicht werden bereits vorhandene Probleme in dieser Situation nur plötzlich sichtbar? Auffällig ist das Zusammentreffen schon. Hans-Ulrich sitzt am Tisch in seinem gepflegten Einfamilienhaus in einem Vorort Hamburgs. Ruhig und gefasst berichtet der sportlich und fit wirkende Mann von den Alpträumen, die ihn nach der Diagnose plagten. Einblendung 024 Hans-Ulrich: Ja, dass man irgendwann hilflos, völlig hilflos ist und nur noch auf andere angewiesen ist, wo man sonst eigentlich sehr selbständig immer war. Früher war ich mal der Chef ab und zu im Ring, und jetzt hat meine Frau das eigentlich völlig übernommen. Erzähler Nach Jahrzehnten des Zusammenlebens müssen die Eheleute ihre Beziehung neu definieren. Einblendung 025 Hans-Ulrich: Zurzeit bin ich, meine ich, noch nicht so eingeschränkt, dass ich irgendwie völlig betreut werden müsste und dergleichen mehr. Sondern meine Frau nimmt mich einfach bei der Hand, und dann geht's los. Und da gibt's - sie macht dann Vorschläge, was wir unternehmen können, und das machen wir dann auch. Da gehe ich also regelmäßig mit, sagen wir es mal so. Ich bin also nicht der Anstifter, sondern da ist sie die Anstifterin und will mich auf Trab halten. Erzähler Das Paar reist viel - sie können es sich leisten. Gemeinsam besuchen sie europäische Großstädte, genießen Kultur und die anregende Atmosphäre. Schwierigkeiten - die gibt es, wenn Hans-Ulrich darauf besteht, seine Selbständigkeit zu wahren, zuhause, in der vertrauten Umgebung seines Elternhauses: Einblendung 026 Hans-Ulrich: Ich kann mich also hier sehr gut orientieren. Meine Frau ist da etwas zurückhaltender, möchte also zum Beispiel nicht, dass ich alleine mit dem Fahrrad zum Friedhof fahre oder so und gieße. Da hat sie immer Angst, dass ich nicht wiederkomme. Aber das sehe ich eigentlich locker, und jetzt habe ich inzwischen auch wieder denn hingekriegt, dass ich auch mal wieder alleine mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren kann, weil ich die ganze Gegend hier eigentlich seit fünfzig Jahren kenn. Da ist eigentlich, hab ich mich bisher nie verirrt. Und Leute und andere denken dann immer, ich - das ist ganz gefährlich, wenn ich losfahre, weil ich die Verkehrsregeln nicht mehr kenne und totgefahren werde und so. Und da gehe ich eigentlich immer gegen an und möchte auch mal gerne denn ins Grüne da hinten radeln, am Öjendorfer See, das ist alles sehr schön. Aber da hat meine Frau immer Angst. Erzähler Er hat versucht, sie zu beruhigen: Sie sind zusammen mit dem Rad gefahren, er vorweg. So konnte sie sehen, dass er's sehr wohl noch kann. Ein neuer - eigentlich ganz alter - Freiraum, den er sich für den Moment erkämpft hat. Einblendung 027 Hans-Ulrich: Das macht mir keinen Stress, das ärgert mich nur, dass man kein Vertrauen hat, wenn ich sage: Ich kann das, dass man nicht auch dazu steht. Das ist ja schließlich mein Risiko, das nehme ich in Kauf. Wenn irgendwas passiert, dann fall ich eben auf die Nase oder wer weiß was auch immer. Und ich nehme auch das in Kauf - oder ich sage mal so, meine Frau legt Wert darauf, dass ich immer Geld dabei habe, um meinetwegen einen Anruf zu tätigen oder ein Taxi zu holen, dass, wenn irgendwas passiert ist und dass man immer 'was in der Tasche hat, wo man hingehört, und dergleichen mehr. Insofern habe ich da gar keine Bedenken, die anderen haben da immer Angst, dass 'was passiert. Ich hab da weniger Angst. MUSIK Erzähler Was ist das eigentlich, was Hans-Ulrich und Helga Rohra schildern und viele andere genauso erleben: Ist es eine mögliche - wenn auch seltene und unangenehme - Form des Alterns? Oder ist es eine Krankheit? Einblendung 028 Förstl: Ich bin von meinen Kollegen schon mal sehr, sehr gescholten worden, als ich mich öffentlich geäußert habe zu dieser Frage und behauptet hab, man könne es eigentlich nicht als Krankheit bezeichnen, da es so regelhaft im Alter auftritt ... Erzähler ... hat sich der Direktor der Münchener Klinik für Psychiatrie rechts der Isar Professor Hans Förstl vorgewagt. Vehementen Widerspruch gibt es aus der Praxis: Einblendung 030 v. Lützau-Hohlbein: Für mich ist das eine Krankheit. Es ist wirklich eine Krankheit, denn es sind Symptome, Zustände, die für mich krankheitsbedingt sind. Ich kann mich nicht damit anfreunden, dass ich das als eine Begleiterscheínung des Alters sehe ... Erzähler ... steht für Heike von Lützau-Hohlbein fest, die jahrelang ihre Mutter betreut hat, als die eine Demenz entwickelte. Aus der familiären Sorge ist so etwas wie eine Lebensaufgabe geworden: als ehrenamtliche Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft hat die Informatikerin als die Lobbyistin der Verwirrten gewirkt. Einblendung 031 Wojnar: Es ist eine schwere Krankheit, die vor allem alte Menschen trifft. Erzähler ... stellt auch Dr. Jan Wojnar klar. Lange Jahre hat der Gerontopsychiater als Heimarzt die Bewohner in den damals städtischen Pflege-Einrichtungen Hamburgs betreut. Einblendung 032 Wojnar: ... und ich finde das oft unverantwortlich, wenn man versucht, die Demenz nur als eine Alterserscheinung zu bagatellisieren, weil man dadurch auch dem Kostenträger gute Argumente liefert, eventuell weniger Geld in diesen Bereich zu investieren und dadurch das Leben der Demenzkranken viel schlimmer gestalten als es möglich wäre. Erzähler Mit der Definition als Krankheit werden Menschen mit Demenz zu Patienten und haben Anspruch auf Leistungen des medizinischen Systems. Ist das sinnvoll? Mancher wird sich erinnern, wie lange es gedauert hat, Alkoholabhängige als therapiebedürftig anzusehen und nicht mehr als liederliche Trunkenbolde, die es trockenzulegen oder zu verwahren galt. Andererseits war noch bis 1992 Homosexualität im internationalen Klassifikationssystem ‚ICD 9' unter der Nummer ‚Dreihundertzwei Punkt Null' als eine Krankheit verzeichnet, die behandelt werden sollte - was heutzutage grotesk anmutet. Einblendung 033 Dörner: Ich denke, es ist zunächst mal wissenschaftlich seriös, sich bei der Frage ob das Krankheit oder pures Altern ist, das wissen wir einfach nicht genau. Und solange wir das nicht wissen, sollten wir uns da auch vornehm zurückhalten ... Erzähler ... rät Professor Klaus Dörner, Arzt, Psychiater, ehemals Leiter eines großen Landeskrankenhauses, Nestor der deutschen Sozialpsychiatrie. Professor Reimer Gronemeyer, emeritierter Soziologe an der Universität Gießen und Vorsitzender der Aktion Demenz, lehnt den Begriff ‚Krankheit' als ‚Pathologisierung' und ‚Medikalisierung' dieses Phänomens der alternden Gesellschaft strikt ab. Zitator: "Demenz ist keine Krankheit!" Erzähler ... hat er deshalb sein Buch genannt, in dem er den Medizinern die Deutungshoheit streitig macht. Die Biologin Cornelia Stolze rät gar: Zitatorin/ "Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist" Erzähler .... und geht in ihrem gleichnamigen Buch scharf mit allen ins Gericht, denen sie Geschäftemacherei mit der Situation der Menschen mit Demenz vorwirft. Die Auseinandersetzung um die Einordnung der Demenz ist in der Tat ein Streit nicht nur um die Deutungshoheit. Es geht um Geld, viel Geld, um die Kosten für und die Einnahmen aus Betreuung, Versorgung und Pflege der Betroffenen, um lockende Etats für die Forschung, um einen Markt, der viel verspricht. Zitatorin: "Die Zahl der Demenzkranken steigt rasant - doch nur wenige Unternehmen erkennen die Geschäftschancen" ... Erzähler ... bedauerte "medbiz - Magazin für Gesundheitswirtschaft" der Financial Times Deutschland. Diese Wirtschafts-Zeitung, die es schon lange nicht mehr gibt, verbreitete dann Hoffnung für wenigstens einen Teil ihrer jung-dynamischen Leserschaft: Zitatorin: "Die Pharmazeutische Industrie hat die Demenzpatienten längst entdeckt" ... Erzähler ... frohlockte die Autorin über die Vorreiter und mahnte eine ähnliche Entwicklung in anderen Zweigen der Wirtschaft an, etwa bei Unternehmen, die technische Überwachungssysteme entwickeln. Zitatorin: In Singapur spricht man von einem silbernen Tsunami. Auch in Deutschland wird die Gesellschaft immer älter. Erzähler Zweifellos. Und mit dieser Entwicklung lassen sich gute Geschäfte machen. Für die Kanalisierung der gewaltigen Geldströme geht es dann natürlich um die Definition dessen, was als Problem gesehen wird. Was haben die Ärzte da zu bieten? In der Reihe der systematisch erarbeiteten oder zufällig entdeckten Erkenntnisse der Medizin steht Alois Alzheimer mit seiner Arbeit neben den ganz Großen wie dem Erforscher der Tuberkulose Robert Koch oder dem Retter der Mütter Ignaz Semmelweis, der die Ursache des Kindbettfiebers fand. Die Erfolgsgeschichte der nach Alzheimer benannten Krankheit begann mit einem Vortrag im Jahre 1906 vor einer Versammlung damals so genannter Irrenärzte über seine Patientin Auguste D.. Die zeigte bereits mit 51 Jahren die Auffälligkeiten, die heute bei einer Reihe vor allem älterer Menschen festgestellt werden. Zwei Phänomene der Moderne mussten dazu kommen: Die Tatsache, dass immer mehr Menschen in den Industrie-Nationen durch verbesserte Lebensbedingungen relativ gesund ein Alter erreichen, das in früheren Zeiten nur Wenigen vergönnt war. Dazu kommt die enorme Leistungsfähigkeit der Medizin. Die hilft Vielen, Krankheiten zu überstehen, die ihre Großeltern nicht überlebt hätten. Aber dann gibt es Probleme bei den Synapsen, schlagen Plaques und Fibrillen im Hirn gnadenlos zu - verkünden Neurologen und Psychiater. Die lassen Alte erst wunderlich und dann unerträglich werden. Das mag schon immer so gewesen sein, fällt aber erst auf, seitdem die Zahl der Hochbetagten so enorm zugenommen hat. Wenn das, was gemeinhin als "Alzheimer" bezeichnet wird, tatsächlich eine Krankheit ist, müsste ja ein als Ursache festgestelltes Merkmal die Gruppe der Kranken von der der Gesunden trennen. Einblendung 034 Förstl: Ich bin mir aus meiner nervenheilkundlichen Sicht einigermaßen sicher, dass es so etwas wie - in Anführungszeichen - normales Altern, gesundes Altern geben könnte. Aber Alles, was ich kenne, beruflich, ist krankhaftes Altern. Und auch, wenn jemand die Stadien der eindeutigen ... Jetzt habe ich mir gerade widersprochen, wie ich merke ... Also, Alles, was ich an Altersveränderungen wahrnehme, was die Leistung betrifft, was die Hirnveränderung betrifft, das ist nicht vorteilhaft im höheren Alter. Erzähler ... bekennt der Psychiater Förstl freimütig die Schwierigkeiten, ‚Alzheimer' richtig einzuordnen. Einblendung 035 Gronemeyer: ... Ich erinnere mich an meine Kindheit, ... Erzähler ... unterstreicht der Soziologe Reimer Gronemeyer die Bedeutung einer exakten Definition. Er erinnert sich nämlich ... Einblendung 036 Gronemeyer: ... an eine Frau, die nach heutigen Maßstäben und Diagnosen wahrscheinlich Alzheimerkrank wäre, wo damals, auf der Nordseeinsel gesagt wurde, ‚die ist eben tüdelig'. Und dafür hatte man auch seine Erklärung: Der war nach Ansicht der Kinder eine Fliege ins Ohr gekrochen und die war ins Gehirn gelangt und summte da herum. Nicht unbedingt ein naturwissenschaftlich haltbares Argument, aber es war die Folge, dass sie in ihrem sozialen Kontext sehr gut weiterleben konnte und mit den Aufgaben betraut war, die sie bewältigen konnte. Erzähler Sozialwissenschaftler wie Reimer Gronemeyer kritisieren, dass alte Menschen, die ein bestimmtes Verhalten zeigen und auffällig sind, deshalb etikettiert werden. Einen solchen Einwand nehmen naturwissenschaftlich orientierte Schulmediziner nicht ernst. Aber vielleicht lassen die sich durch die Bedenken eines Vordenkers ihrer Zunft verunsichern. Als solchen kann man Peter J. Whitehouse getrost bezeichnen, Psychiater und Neurologe in den USA; er forscht und lehrt an der Case Western Reserve University in Cleveland/Ohio. Für mehr als drei Jahrzehnte war er dem gängigen Erklärungsmuster verhaftet, hat multinationale Pharmafirmen beraten und Millionen Dollar an Forschungsmitteln verbraucht. Diesem Star seines Berufsstandes ist irgendwann aufgefallen, dass sein wissenschaftliches Fundament höchst fragil war. In "Mythos Alzheimer. Was Sie schon immer über Alzheimer wissen wollten, Ihnen aber nicht gesagt wurde" - so der Titel der deutschen Übersetzung - bemüht er sich, die grundlegenden Annahmen dieses Mythos zu erschüttern. Einblendung 037 Whitehouse: The myth of Alzheimer is, that it is one thing. It is it not in my opinion and in opinion of many experts, it is multiple things. So, the first part it's not a single disease, the second part of the myth is that it is related to aging, that is to say, that as we age, all of us have some of the biological processes that effect our memory, and some of are fortune enough to die before we have serious problems, and unfortunately others have more serious memory problems. VOICE OVER Der Mythos Alzheimer ist, dass es ein einzelnes Phänomen (eine einzige Sache) ist. Das ist es nicht, weder nach meiner Meinung noch der vieler Experten. Erst einmal: Es ist keine singuläre (einzige) Krankheit! Der zweite Teil des Mythos ist, dass es ´was mit dem Altern zu tun hat`. Man muss sagen: Wenn wir altern, laufen bei uns allen einige der biologischen Prozesse ab, die unser Gedächtnis beeinflussen. Einige von uns haben das Glück zu sterben, bevor wir ernste Schwierigkeiten bekommen, und unglücklicherweise haben andere erhebliche Gedächtnisprobleme. Erzähler Das kennen wir von Krankheiten wie Krebs zum Beispiel. Es ist bekannt, dass viele alte Männer mit einem Prostata-Karzinom sterben, aber nicht an einem solchen Tumor. Aber da ist zumindest einigermaßen klar, was abläuft und was die Krankheit ist. Whitehouse betont, dass - heißt es in der deutschen Ausgabe seines Buches - ... Zitator: ... die so genannte Alzheimerkrankheit sich vom normalen Alterungsprozess nicht wirklich unterscheiden lässt und dass kein Krankheitsverlauf mit einem anderen identisch ist ... Erzähler ... und weiter kritisiert er seine Kollegen ... Zitator: ... dass wir nicht einmal wissen, wie wir die Alzheimerkrankheit diagnostizieren sollen, geschweige denn, wie die Zahlen der von der Krankheit Betroffenen darzustellen sind. Erzähler Ein harter Vorwurf. Whitehouse beklagt, dass mit dem, was Mediziner heute als "Alzheimer" bezeichnen, erst recht, was sie zur Bekämpfung oder Behandlung der "Alzheimer-Krankheit" veranstalten, dem Namensgeber "schweres Unrecht" angetan wird. Einblendung 038 Whitehouse: Plus, perhaps not in Germany, but in the rest of the world, the word 'Alzheimer' is a little mysterious, and finally the power of the word is the fear. We have created this sence of this is a condition worse than death, and that people should be very afraid, and therefore they should hope for a magic solution to their fear. VOICE OVER Dazu kommt - vielleicht nicht in Deutschland aber im Rest der Welt - dass der Begriff 'Alzheimer' ein bisschen mysteriös ist, schließlich liegt die Macht dieses Wortes in der Angst. Wir haben damit klar gemacht, dass es schlimmer ist als der Tod und die Leute sich davor fürchten sollten. Und sie sollten auf eine magische Antwort auf ihre Angst hoffen. Erzähler Dieses Argument würden die Vertreter der herkömmlichen Medizin normalerweise nicht einmal achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Einen der ihren, der Whitehouse zweifellos ist, können sie aber nicht einfach ignorieren. Einblendung 039 xxx: Der Peter Whitehouse ist ein sehr erfahrener Alzheimerforscher, auch ein Mann der ersten Stunde, der früher grundlagenmäßig auch gearbeitet hat, auch ein sehr ethisch interessierter Kollege .... Erzähler .... möchte ihm der Direktor eines namhaften Deutschen Forschungsinstituts den Respekt nicht versagen - beim Symposion eines großen Pharmaherstellers. Deshalb sei zum Schutz seiner Reputation sein Name hier verschwiegen .... Einblendung 040 xxx: Also, ich bin weit davon entfernt, ihm zu unterstellen, dass er eine Verschwörung da konstruiert. .... Aber das ist - sagen wir mal - eine sehr abstrakte Sicht der Dinge, dass - sagen wir mal - so ein Kartell zwischen Alzheimer Gesellschaften, Alzheimer-Forschern und Industrie bestünde, was ja ein Teil seiner These da ist, Krankheitserfindend quasi, ja. Das ist, glaube ich, eine Verkennung der Realität..... Erzähler Natürlich ist es nicht nur der Wunsch der Alzheimer-Forscher, auch diesem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, es ist auch der Ehrgeiz, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen. Wichtiger ist die darauf aufbauende Suche nach einem Impfstoff oder einer wirksamen Therapie, deren Entdeckung neben Ruhm auch sehr viel Geld verspricht. Und da sind die eifrigen Forscher - wie sie selbst zugeben - noch sehr, sehr weit entfernt von dem, was den Menschen helfen könnte, die auf Heilung hoffen. Was aber sagt Peter Whitehouse diesen Patienten, denn schließlich ist er nicht nur Forscher, sondern auch Arzt? Einblendung 042 Whitehouse: First I say, that I hope, that I'm wrong. Tomorrow I will read the paper and there will be the cure. So I'm willing to be honest and say I don't know of the answers either, but I'm saying that I'm suspicious enough, that that story is not likely to be true. That we must think about other ways of creating hope. For me, the hope is not in magic bullets, not in future promises, it is in the communities, that we all live in. VOICE OVER Erst einmal sage ich, dass ich hoffe, falsch zu liegen: Morgen lese ich ein Paper und es gibt die Heilung. So muss ich ehrlicherweise sagen, ich weiß die Antwort auch nicht. Aber ich bin misstrauisch genug zu sagen, dass diese Geschichte wohl nicht wahr ist, dass wir über andere Wege nachdenken müssen, um Hoffnung zu schöpfen. Für mich liegt diese Hoffnung nicht in Zauberpillen, nicht in Versprechungen für die Zukunft. Sie liegt in den Gemeinden, in denen wir alle leben. Erzähler Möglicherweise ist ja auch Alles gar nicht so furchtbar, wie Viele gegenwärtig befürchten, setzt der Münchner Klinik-Direktor Förstl der aufkommenden Panik etwas entgegen: Einblendung 043 Förstl: Vielleicht müsste man eine Überlegung anstellen, wodurch der Mensch so alt wird in unserer westlichen Gesellschaft. Und das gibt dann auch wieder etwas Hoffnung. Denn wir werden ja so alt, weil wir so lang so gesund bleiben und davon profitiert natürlich auch das Gehirn. Das zeigt sich auch an den Zahlen aus der Epidemiologie: Man erkennt, dass die Demenzrate pro Altersstufe etwas absinkt. Dieser Effekt konkurriert damit, dass die Lebenserwartung steigt. Und wie das Rennen ausgeht, zwischen den Organsystemen, zwischen diesen beiden Rechengrößen, das ist heute noch gar nicht entscheidbar. Es ist sicher vernünftig, mit hohen Zahlen zu rechnen und entsprechend motiviert an die Sache heranzugehen. Erzähler Diese Erkenntnisse aus der epidemiologischen Forschung sind für diejenigen, die mit fortschreitendem Alter ängstlich erste Anzeichen von Vergesslichkeit und Verwirrtheit an sich oder ihren Angehörigen zu sehen meinen, ein schwacher Trost. Der frühere Heimarzt Jan Wojnar hat es tagtäglich erlebt. Er geht davon aus, dass es natürlich furchtbar ist für Menschen, zu merken, dass ihnen der Alltag entgleitet. Wenn sie diese Anfangsphase durchlitten haben, haben nicht mehr sie, sondern ihre Angehörigen damit zu kämpfen: Einblendung 044 Wojnar: Und das ist eben das Problem, auch den Angehörigen zu verdeutlichen, dass die Kranken nicht leiden, dass sie nicht vegetieren, in einem Nichts einfach auf den Tod warten, sondern dass sie unter Umständen ein - sogar ein lustvolles Leben führen. Erzähler Diese Erfahrung spielt - wie der Kulturwissenschaftler Grebe kritisiert hat - in den meisten Medien keine Rolle. Jan Wojnar stellt nicht die Sichtweise seiner Kollegen auf das Thema Demenz infrage, fordert aber, die Betroffenen anders zu benennen: Einblendung 045 Wojnar: Deshalb meine ich, es wäre vielleicht sinnvoll, in diesem Stadium nicht so sehr von Kranken zu sprechen, sondern eher von einer neuen ethnischen Minderheit mit einer eigenen Sprache, die man als Dementisch bezeichnen könnte, mit eigenen Bräuchen, die etwas abweichend von unsrigen sind, und mit Verhaltensweisen, die unseren sozialen Normen nicht entsprechen. Erzähler Da wird dann der Arzt, der entsprechend seinem Selbstverständnis darauf beharrt, dass Demenz eine Krankheit ist, zum Ethnologen, der eine ihm fremde Kultur entdeckt. Und liegt mit seiner Einschätzung nahe bei seinem Psychiatriekollegen Klaus Dörner, der den bisherigen Erklärungsversuchen misstraut. Einblendung 046 Dörner: Andererseits ist das etwas, was die Menschen, die Bürger im Allgemeinen, ja auch nicht so furchtbar interessiert, sondern sie interessiert mehr, wie man so lebt. Weil immer mehr Menschen im Zustand der Demenz leben, pfeifen die Spatzen von den Dächern und dass auch jeder einzelne, also auch ich und Sie und wir alle, eine zunehmende Wahrscheinlichkeit haben, je älter wir werden, dass wir die letzte Zeit unseres Lebens im Zustand der Demenz leben. Um das deutlich zu machen, was es eigentlich bedeutet, hab ich dann einfach mal gesagt, es ist schlicht und einfach von der Menge her und von der Wahrscheinlichkeit her und dass prinzipiell alle Leute betroffen sind, ist es eine neue menschliche Seinsweise. Erzähler Nun haben von den über Neunzigjährigen etwa zwei Drittel k e i n e Demenz, aber die Betrachtung als neue menschliche Seinsweise hat Charme. Einblendung 047 Dörner: Neu deswegen, weil es früher ja 'was ganz Seltenes war. Es gab zwar immer schon Demenz, aber immer nur ganz selten. Und jetzt ist es ein Massenphänomen, ein Massenschicksal, und dann kann man schon mal sagen, es ist eine menschliche Seinsweise, so wie das Kindsein, das Jugendlichsein, das Erwachsensein, so kann man eben eine Zeit seines Lebens auch im Zustand der Demenz leben. Erzähler ... und sei es mit der Fliege im Kopf, wie der Soziologe Gronemeyer das Phänomen in seinen Kindertagen gedeutet hat. Glück hat, wer mit seiner Demenz in einem verständnisvollen Umfeld aufgehoben ist. Und trotzdem - bei allem Verständnis und aller Fürsorge ... Einblendung 048 Wojnar: Demenz ist schlimm für die Betroffenen im Anfangsstadium, das heißt, zu merken, man funktioniert nicht mehr so wie früher, man wird vergesslich, eventuell von der Umgebung ausgelacht oder nicht verstanden, ist schlimm. Erzähler Das hat Jan Wojnar immer wieder von Menschen mit Demenz gehört, die bei ihm Rat und Hilfe gesucht haben. Helfen kann gerade in dieser ersten Phase der Orientierungs- und Hilflosigkeit eine Selbsthilfegruppe. Hans-Ulrich, der Jurist, Anfang Sechzig, hat eine solche Gruppe bei der Alzheimer Gesellschaft gefunden. Einblendung 049 Hans-Ulrich: Ja, ich glaube, wir machen da alle neue Erfahrungen, welche Macken oder Besonderheiten da bei dem Einzelnen sind - manche singen gerne, manche wandern gerne, manche sind ganz still, und dann kann man die mal mit ein paar Scherzen auflockern, oder ich bring dann mal irgendwie - ja, ich bin eigentlich, ich sag mal, ein lustigerer Typ, und kann die denn gerne mal aufheitern. Dass mal andere, die nicht so weit - oder die schon weiter daneben sind -, dass die aufgemuntert werden und mal mehr aus sich herauskommen. Weil wir uns gegenseitig kennen und wissen, das stört keinen, wenn man mal einen Fehler macht und dergleichen mehr. Man muss nicht immer so fehlerlos arbeiten, sondern kann auch mal was sagen, was denn letztlich Blödsinn ist. Erzähler Es ist ein geschützter Raum. Ganz offen können die Mitglieder über sich und ihre Probleme reden, über ihre Beziehungen zu den Anderen, die mit mehr oder weniger Verständnis auf sie reagieren. Sie sind unter sich. Nur eine Anleiterin gibt es. In Kiel hat die Sozialarbeiterin Michaela Kaplaneck eine solche Gruppe gegründet. Sie respektiert die Verletzlichkeit der Teilnehmer, will sie aber nicht ‚in Watte packen': Einblendung 050 Kaplaneck: Die Menschen haben gemerkt, ich respektiere sie als Person. Ich reduziere sie nicht auf ihre Demenz, ich nehme sie als ganzen, vollständigen, wertvollen Menschen wahr. Und das erleben die nicht überall. Auch nicht in ihrer Familie unbedingt. Das wissen die unheimlich zu schätzen und ich habe es eben geschafft, zu jedem einzelnen Gruppenteilnehmer eine ganz gute, gefestigte Arbeitsbeziehung aufzubauen, und das erlaubt mir, sie mit meiner Moderation, mit meiner Gesprächsführung an ihre Grenzen zu bringen, ohne dass jemand zusammenbrechen muss. Das find ich ganz erstaunlich - und es ist mir gelungen. Darüber bin ich ganz froh und die Teilnehmer sind es auch und das melden sie mir zurück nach jeder Sitzung. 'So viel wie heute habe ich seit 14 Tagen nicht gesabbelt und ich geh jetzt so erleichtert nach Hause und es war schön bei Ihnen zu sein.' Erzähler Sie erleben sich ein Stück weit wie früher, in der Zeit vor der Diagnose, in der sie als ernst zu nehmende Gesprächspartner galten. So wollen sie auch weiterhin gesehen werden. Bei ihren Treffen wird ihnen bewusst, dass sie viel mehr können als die Menschen um sie herum ihnen für gewöhnlich zutrauen, schildert Michaela Kaplaneck ihren Eindruck. Im Alltag verstummen sie schnell, wenn sie das Gefühl haben, dass sie etwa dem Gespräch am Tisch nicht folgen können. Die neue Erfahrung ist ... Einblendung 051 Kaplaneck: ... dass sie aber in der Gruppe merken, Mensch, die anderen Teilnehmer, die gehen auf meine Sprachschwierigkeiten ein, die lassen mich zu Wort kommen oder Frau Kaplaneck achtet darauf, dass ich auch zu Wort komme, und erleben das natürlich alles unheimlich entlastend und selbstbewusstseinsfördernd. Das hat wirklich etwas damit zu tun, nehme ich den Menschen die Selbstbestimmung oder ermutige ich sie, weiterhin selbstbewusst die Person zu bleiben, die sie eigentlich immer schon waren und weiter sein werden, egal ob mit oder ohne Demenz. Erzähler Was in der Gruppe geschieht, bleibt auch in der Gruppe, es ist ein intimer, geschützter Raum, für Menschen ohne Demenz - außer der Anleiterin - nicht zugänglich. Das ist auch Helga Rohra wichtig, der ehemaligen Dolmetscherin aus München. Sie fühlt sich geborgen in ihrer ‚großen Familie', wie sie ihre Selbsthilfegruppe nennt: Einblendung 052 Rohra: Die Gruppe macht sehr unterschiedliche Sachen ... es sind so 10-15 Teilnehmer, wir treffen uns regelmäßig, also es ist ein Ritual geworden, jeden Montag 18:00 Uhr, die gleiche Adresse. Da sind Seminare, da werden z.T. Themen besprochen, wie gehe ich in der Partnerschaft um mit dieser Diagnose, welche neuen Werte gibt jetzt, welche Prioritäten in meinem Leben mit der Diagnose? Wie oute ich mich jetzt mit dieser Diagnose? Aber wir machen auch viele lustige Sachen, also am gleichen Abend. Es wird gespielt, es wird gesungen, wir machen Lachyoga, also es gibt viel Humor, und es ist einfach, wie soll man sagen, richtig schön. Erzähler Sie wehren sich gegen die erdrückende Umarmung derer, die in ihrer wohlmeinenden Fürsorglichkeit immer nur sehen, was sie nicht mehr können, und ihre noch vorhandenen Fähigkeiten unterschätzen. Das wollen sie nicht mehr länger hinnehmen. Einblendung 053 Rohra: Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich, äh, ich nenne mich in einem Anfangsstadium des Schwächezustandes bin, und ich erhebe meine Stimme auf die Art und Weise, dass ich aktiv was tun möchte, auch für diese Gruppe, die mich aufgefangen hat, das heißt, wenn es eine Tagung gibt, wenn es so Infostände gibt, in der Stadt in Bayern, wir kommen jetzt aus München, äh, dazustehen, die Menschen aufzuklären, zu informieren, was heißt Demenz, sie brauchen keine Angst zu haben, wir sind da und sie können mit uns reden, wir verstehen eine ganze Menge, wir haben viele Ressourcen. Und eine Vision habe ich, ich möchte soweit gehen, dass die Alzheimer Gesellschaft uns Betroffenen auch einen Platz in ihrem Vorstand einräumt und sagt, wir haben das Recht und wir können auch selbst bestimmen, was ja andere bis jetzt getan haben. Erzähler Das ist Jahre her und Helga Rohra ist inzwischen in der Alzheimergesellschaft als nimmermüde Aktivistin etabliert und als Referentin weltweit unterwegs. Dabei ist sie eine Frau mit Demenz, mit all den Schwierigkeiten und Problemen, die nun mal dazu gehören. Einblendung 054 Rohra: Die ersten Monate ist man natürlich sehr herabgezogen und Sie haben nicht die Kraft dazu, etwas zu unternehmen. Aber durch die Gruppen werden Sie auch bewusst, welche Ressourcen in Ihnen stecken, und mein Bestreben ist, integriert zu werden, noch beruflich, noch mit den Fähigkeiten, die ich habe. Und da erwarte ich von der Gesellschaft, dass auch Leute mit einer neurologischen Erkrankung auch integriert werden, so wie ein Behinderter, der jetzt ein Spastiker ist oder Zerebralparese oder durch eine Amputation, Ja, es gibt viele schwierige Behinderungen und ich nenne unseren Zustand, das ist im Endeffekt eine Behinderung, damit müssen wir leben. Und da müssten wir mehr Unterstützung von der Gesellschaft kriegen, und da erwarte ich ja auch die Unterstützung für mich und alle hunderte und tausende andere, die in dieser Situation sind. Erzähler Und Unterstützung auch für die Angehörigen! Mehr als zwei Drittel der Menschen mit Demenz in Deutschland werden schließlich von ihren Angehörigen versorgt und betreut. Um sie - die Angehörigen und Betroffenen - und den konkreten Umgang mit Demenz soll es u.a. in der zweiten Stunde unserer heutigen Langen Nacht gehen. Musik 2. Stunde Musik Erzähler In der zweiten Stunden der Lange Nacht besuchen wir Familien, die Angehörige mit Demenz versorgen, besuchen ein Heim und lernen Versuche kennen, Menschen mit Demenz möglichst lange in ihrer angestammten Umgebung leben zu lassen. Musik hoch Erzähler Erschöpft sitzt die fünfzigjährige Anne auf der Bank vor ihrer Doppelhaushälfte. Es ist später Vormittag. Verschnaufpause, Erholungszigarette. Anne hat ihre Mutter zu sich, ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten ins Haus geholt und sorgt für sie. Die Vierundachtzigjährige hat im ersten Stock ihr Zimmer, wohnlich eingerichtet. Da sitzt sie in ihrem bequemen Sessel und blättert in der Zeitung. Morgens und abends kommt jemand vom Pflegedienst und hilft ihr bei der Toilette. Den Tag über ist ihre Tochter für sie da. Bei ihr ist sie vor fünf Jahren eingezogen, nachdem ihr Mann gestorben war. Einblendung 055 Ursula: Ja, ich sollte ja nicht alleine bleiben, ne. Ich hab ja hier 'ne Wohnung gehabt und denn hat se gesagt ‚Du kommst zu uns!' Meine Kinder freu'n sich - KICHERT - PLEMPER: Und wie war das für Sie, haben Sie das gerne gemacht oder fanden Sie es alleine besser? Ursula: Nee, ich find das gut .... Besser so als alleine. Erzähler Damals war die alte Dame noch völlig klar im Kopf. Aber irgendwann ist sie auf der Treppe gestürzt. Ihr Knochenbruch musste operiert werden. Und sie kam völlig verändert aus der Klinik und Reha zurück, erinnert sich ihre Tochter Anne: Einblendung 056 Anne: Da wusste sie nicht mehr, wo sie ist, wo sie steht, dass sie da die Tür 'rein muss - sie wusste gar nichts mehr. Einfach Alles weg oben, kann man sagen. Erzähler Was passiert war, liegt im Dunkeln. Der Verdacht liegt nahe, dass die Verwirrtheit eine Folge der Narkose war; nicht eine vorübergehende Störung, sondern eine dauerhafte Schädigung. Ein weiteres Problem ist Ursulas Diabetes. Tochter Anne hat festgestellt, dass ihre Mutter ständig etwas zu essen sucht - dabei gibt es regelmäßige Mahlzeiten. Wenn sie etwas findet, erst recht etwas Süßes, könnte wieder der Zuckerspiegel entgleisen, fürchtet Anne. Einblendung 057 Anne: Ja, dann ging das 'n bisschen, aber die Demenz ist jetzt seit paar Wochen noch schlimmer geworden, auch was das Essen betrifft: Also, ich pack schon und mach und tu, die Schränke sind schon fast leer und der Kühlschrank auch. Aber, was im Kühlschrank noch ist, wird auch aufgegessen - sei es 'n Marmeladenglas, Fische oder .... ja. Erzähler Die Mutter sitzt oben in ihrem Zimmer, die Tochter unten in der Küche. Ihr Mann ist bei der Arbeit, der vierzehnjährige Sohn in der Schule. Sollte auch sie das Haus verlassen, wird es schwierig: Weil Ursula auch schon die Kindersicherung am Kühlschrank geknackt hat, versteckt sie die Lebensmittel in einer Kühlbox irgendwo im Haus. Und legt nach ihrer Rückkehr Alles wieder zurück ins Kalte. Ihr Mann und ihr Sohn sind schon ziemlich genervt. Und sie auch. Einblendung 058 Anne: Ich stoß' öfters mal an meine Grenzen, oh ja. Ich werde ärgerlich, wütend - im Moment. Legt sich dann wieder, aber bin richtig wütend. Erzähler Zum Glück ist dann Annes Schwester da. So oft es geht, kommt sie aus dem Nachbardorf rüber, hilft Anne und leistet ihrer Mutter ein wenig Gesellschaft, im Zimmer oben im ersten Stock, in der Polsterecke vor der Schrankwand mit den Fotos von früher. Einblendung 059 Atmo Gespräch Erzähler Meistens sitze sie oben, sagen die Töchter, sehe ab und zu aus dem Fenster in den kleinen Vorgarten und auf die schmale Straße, auf der auch mal ein Auto vorbeifährt. Für Anne war es selbstverständlich, dass ihre Mutter Ursula irgendwann zu ihr ziehen würde. Einblendung 060 Anne: Ich hab meine drei Kinder großgezogen, wir waren tagtäglich zusammen, ich kenn' das gar nicht anders! Und ich bin auch froh, dass ich se zu mir genommen hab, muss ich ganz ehrlich sagen. Es war immer mein Wunsch, ich hab immer schon von geredet und hab das dann auch so gemacht. Erzähler An diesen Wunsch und an das Versprechen, für die Mutter zu sorgen, fühlt Anne sich gebunden - trotz aller Schwierigkeiten. Sind Angehörige überfordert - so sagen Fachleute - kommt es auch in Familien vor, dass alte Menschen sich nur irgendwie durchgefüttert und verwahrt fühlen. Einblendung 061 Atmo Anne: Oma, kommst Kaffee trinken....? Ja.... Erzähler Mühsam steigt Ursula die steile Holztreppe runter ins Erdgeschoss und setzt sich zu Anne in die Küche. Äußerlich entspannt sitzen sie sich gegenüber und trinken ihren Kaffee. Ursula vermisst ihren Enkel, Annes Sohn. Einblendung 062 Atmo Gespräch: U: Is' Leon oben? .... A: Mhm. U: .... weil's so ruhig ist. A: Mhm. Der fährt auch noch nach Hitzacker zu seiner Freundin, bis Sonntag, dann biste wieder alleine oben - waste nich abkannst - LACHT - U. .... dann guckt keiner mal rein und .... A: Ne! .... Hast ja dein' Fernseher noch.... U: Ja .... Erzähler Da ist auch die Abwechslung in der Tagespflege im Nachbardorf dreimal die Woche ein schwacher Trost, wenn die Zeit nicht verrinnt. Aber die Auffassung ist weit verbreitet, dass es in den Familien für Pflegebedürftige und Menschen mit Demenz am besten sei. Und wann geht das nicht mehr? Einblendung 063 Anne: Wenn se uns nicht mehr erkennt, wenn se wirklich nicht mehr weiß, wer wir überhaupt sind, oder sie fängt an, noch wegzulaufen.... Erzähler .... Ursula ist inzwischen wieder in ihrem Zimmer .... Einblendung 064 Anne: .... Wenn der Tag kommt, wo es wirklich gar nicht mehr geht - ich bin sehr hart und da gehört viel zu, bis das so weit ist - und denn hab ich auch meine Schwester. Und wenn es ganz und gar nicht mehr geht, dann ist ein Pflegeheim.... Aber so lang nehme ich Alles auf meine Kappe mit meiner Mutter - egal, was kommt! MUSIK Erzähler Meist bleibt es an den Töchtern hängen, wenn die Eltern nicht mehr alleine klar kommen, pflegebedürftig oder verwirrt werden. Einblendung 065 Atmo Autofahrt Erzähler Eine einsame Landstraße. Dörte, 42, fährt vor der Arbeit noch mal schnell im Nachbardorf bei ihren Eltern vorbei. Einblendung 066 Dörte: Das mach ich jeden Tag, wir telefonieren und ich schau immer einmal nach dem Rechten, ob Alles in Ordnung ist, ob meine Mutter Hilfe braucht... Ja, das mach ich jeden Tag. Einblendung 067 Atmo: Dörte im Haus Erzähler Und wie jeden Morgen schließt Dörte die Haustür auf, eilt die Treppe in den ersten Stock hinauf, dann noch drei Stufen - barrierefrei ist das natürlich nicht - und steht im Wohnzimmer des großen Hauses. Einblendung 068 DÖRTE: Guten Morgen! ILSE: Guten Morgen! DÖRTE: Hallo Papa, guten Morgen, Papa! Guten Morgen... Erzähler Reinhard, der alte Tischler, sitzt in seinem Sessel, etwas zur Seite gekippt, Ilse, seine Frau, Dörtes Mutter, auf dem Sofa daneben. Mit einem Lächeln im Gesicht ergreift er Dörtes Hand und hält sie fest. Einblendung 069 Dörte: Ja, Ich geh mal kurz in die Küche, gucken, ne. Lässt Du mich einmal los?! Ja, machst Du das mal? Lässt Du mich einmal los, bitte! .... Du, ich muss mal einmal in die Küche, darf ich mal meine Hand haben? Erzähler Mit eisernem Griff umklammert der kräftige Mann die Hand. Einblendung 070 Dörte: Darf ich meine Hand haben, bitte! Erzähler Mühsam entwindet Dörte sich der Umklammerung. Einblendung 071 Dörte: Dankeschön! Ich komm sofort wieder, ne. Du, ich komm sofort wieder. LACHEN Einblendung 072 Atmo, unter Text weiter laufen lassen .... Erzähler Vor zwei Stunden war der Pflegedienst da gewesen, wie jeden Morgen und jeden Abend, hat den Achtzigjährigen aus dem Bett geholt und angezogen. Das wäre wirklich zu viel für die fast gleichaltrige Ilse. Gemeinsam mit Dörte richtet sie Reinhard im Sessel auf. Einblendung 073 Atmo Dörte: Wollen wir uns jetzt hier wieder festhalten? Sehr schön, gucke mal, Papa. Und jetzt einmal wieder zum Aufstehen kommen? .... Ja, wunderbar. Erzähler Die eine links, die andere rechts, ziehen sie ihn langsam hoch. Einblendung 074 Atmo Dörte: .... Ja, ein bisschen sortier'n. Alles los? Einmal hoch .... einmal mittkommen... Alles los? Jetzt wollen wir mal mit Dir laufen, ne. Wir laufen jetzt mal ... Woll'n wir da hinlaufen...? Erzähler Langsam geht Dörte mit ihrem Vater durch die geräumige Wohnung, den langen Flur entlang .... Einblendung 075 Atmo Dörte: .... Woll'n wir jetzt ein Stückchen weitergehen, Papa? Reinhard: Ja .... Dörte: Super machst Du das, super .... Wir drehen jetzt mal .... Erzähler .... und kehren wieder zurück. Reinhard stützt sich auf seinen Rollator und setzt mechanisch einen Fuß vor den anderen. Dass er früher Tischler war, sieht man im ganzen Haus: getäfelte Wände, zum Teil auch die Decken holzverkleidet. Und an der einen Hand fehlen zwei Finger. (KURZE PAUSE!) Vor sieben Jahre zeigte Reinhard die ersten Symptome, verwechselte Tageszeiten und Wochentage, kam nicht allein klar, als seine Frau für kurze Zeit ins Krankenhaus musste. Einblendung 076 Ilse: ... und dann haben die Kinder zu mir gesagt, Mama, ich müsste mit ihm zum Arzt, das hab ich dann auch gemacht. Erst zum Hausarzt, der hat dann festgestellt hat (!), dass Einiges auch nicht stimmte: Er sollte eine Uhr malen .... Eine Uhr wurde gezeichnet, da sollte er zehn Minuten nach elf reinzeichnen und das hat nicht geklappt; es war absolut nicht möglich. Erzähler Die Diagnose: Demenz vom Typ Alzheimer. Rasch baute Reinhard ab. Nachts geisterte er durchs Haus und tagsüber durchs Dorf. Trotzdem wollte er weiter Auto fahren. Seine Frau nahm ihm die Schlüssel weg. Ständig gab es Streit. Zwei Jahre ging das so. Einblendung 077 Ilse: .... dann fing das an ruhig zu werden. Seitdem ist er auch ruhig, umgänglich - ja. Erzähler ... ist Ilse froh, dass die Zeit der Kämpfe vorbei ist. Einblendung 078 Ilse/Dörte: Es ist besser geworden, für uns besser geworden. Die Zeit vorher war sehr anstrengend, manchmal recht aasig.... Ja, das war aber auch, lag aber auch ein bisschen damit dran, dass wir ihn auch nicht wirklich verstanden haben und sicherlich auch falsche Dinge von ihm abverlangt haben, weil wir einfach auch noch nicht mit der Krankheit so gut umgehen konnten.... Erzähler .... hat die Tochter Verständnis für ihren damals ‚schwierigen' Vater. Einblendung 079 Dörte: Und dann kommt das manchmal schon zu so Situationen, wo er, weil er auch einfach gar nicht mitkommen konnte vom Kopf her, dass er dann ärgerlich wurde. Erzähler In dieser Zeit haben sie durchaus darüber nachgedacht, ob ein Heimplatz für Reinhard nicht die bessere Alternative wäre. Einblendung 080 Ilse: Wenn ich denke, ich sollte da jeden Tag - oder jeden zweiten Tag - hinfahren, das könnte ich nicht. Und ihn dann wieder .... da weggehen .... das würde mir sehr schwer fallen.... Erzähler .... sind sich Ehefrau und Tochter einig. Einblendung 081 Dörte: Ich weiß, dass wir ganz speziell auf ihn eingehen können und ihn dadurch gut versorgen, er ist dadurch sehr ruhig, sehr ausgeglichen. Ja, und ich finde es einfach für uns ein sehr schöner Weg .... Wir möchten ihn zuhause behalten. Ja! Erzähler Möglich ist das nur, weil die Familie zusammengehalten hat und alte Freunde sie nicht verlassen haben. Einblendung 082 Ilse: Sind immer bei uns, auch heute noch. Nein, zurückgezogen überhaupt nicht. Sicher war für sie auch ungewohnt, die haben sich sicherlich auch damit auseinandergesetzt, bisschen auseinandersetzen müssen, aber sie sind auch heute noch für uns da. Wenn ich um Hilfe gebeten habe und mal in Not geraten bin, hab ich immer Hilfe erfahren - von allen Seiten, das kann ich nicht anders sagen, es ist auch heute noch so, es ist auch heute noch so. Erzähler Dazu haben sich Ilse und Dörte rechtzeitig professionelle Hilfe gesucht. Die gibt es auch auf dem Land. Einblendung 083 Dörte: Wir bekommen Hilfe über den Pflegedienst, den wir morgens und abends haben, wenn's auch mal nötig tut, am Mittag noch dazu - das ist ganz unterschiedlich, aber es reicht in der Regel morgens und abends. Und wir gehen (!) dreimal die Woche in die Tagespflege, da fühlt er sich sehr, sehr wohl - das hatten wir am Anfang auch nicht gedacht; als wir ihn den ersten Tag hingebracht haben, haben wir noch gedacht 'oh jeh, was jetzt wohl passiert?'. Und da ist genau das Gegenteil passiert von dem, was wir erwartet haben. Einblendung 084 Atmo: Autofahrt Erzähler Zweimal die Woche fährt Ilse ihren Mann in die benachbarte Kleinstadt zur Tagespflege. Dort wird er den Tag über beschäftigt, verpflegt, sieht andere Menschen und wird, wenn sie nicht gerade arbeiten muss und Spätdienst in der Apotheke hat, von Tochter Dörte wieder abgeholt. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht. Ankunft zuhause. Einblendung 085 Atmo Dörte: Wollen wir aussteigen, Papa? Darf ich den Gurt haben? Jetzt müssen wir gucken, dass wir schön mit viel Schwung raussteigen. Hilfst Du mir dabei? ATMO ... Erzähler Reinhard sieht sie an - möchte seiner Tochter wohl den Gefallen tun, weiß aber offensichtlich nicht, wie. Die dreht ihren Vater auf dem Beifahrersitz zur Tür - ein spezielles Drehkissen macht das möglich - hebt seine Beine an und setzt seine Füße auf den Garagenboden. Einblendung 086 Atmo Dörte: Und jetzt hilfste mit? Ja, guut! Ganz toll.... Schön hinstellen! Ja .... sehr gut .... Erzähler Mit einem Schwung zieht sie Reinhard aus dem Auto, hakt ihn unter und bugsiert ihn langsam zur Haustür. Ilse ist dazu gekommen und macht auf der anderen Seite das gleiche. Einblendung 087 Atmo Dörte: Nee, die müssen wir anlassen noch, Papa. Ach herrjeh.... Erzähler Für Reinhard scheint klar zu sein: Er ist zuhause, streift die Schuhe ab und steht mit Socken auf dem kalten Betonboden. Einblendung 088 Atmo Dörte: Papa, wir müssen doch die Schuhe wieder anziehen! .... Da reinsteigen ... Erzähler Die zierliche Ilse hält ihren großen schweren Mann und Dörte will ihn dazu bewegen, wieder in die Schuhe hineinzuschlüpfen. Einblendung 089 Atmo Dörte: .... und jetzt übernehm ich das wieder .... Darf ich deine Hand haben?.... Dankeschön .... Erzähler Langsam führt sie den alten Mann ins Haus. Einblendung 090 Atmo Dörte: .... Guck, und jetzt wollen wir uns da rauf setzen .... Erzähler Vor Jahren schon haben sie einen Treppenlifter installiert, als der Weg in die Wohnung im ersten Stock für Reinhard zu beschwerlich wurde. Einblendung 091 Atmo Dörte: ....Einmal da dich festhalten! ... sehr schön ... hast du prima gemacht ... Erzähler Aber auch dann sind es noch drei mühsame Stufen bis zum Wohnzimmer. Für den Rest des Tages kommen Ilse und Reinhard allein klar. Und abends wird wieder jemand vom Pflegedienst helfen und den alten Herrn ins Bett bringen. Zur Not kommen die Helfer auch zwischendurch vorbei, wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Einblendung 092 Atmo Autofahrt unter Text Erzähler Dörte fährt wieder zurück zu Mann und Kindern - immer auf dem Sprung. Und wenn all das nicht mehr reichen sollte, was macht Ilse dann mit ihrem Mann. Doch ins Pflegeheim ...? Einblendung 093 Ilse: Im Moment kommt das für mich nicht in Frage, dass ich meinen Mann ins Heim gebe. Man kann aber nicht sagen, dass ich das gar nicht will: Mir kann ja auch etwas zustoßen, dass sich auch, dass wir dann gezwungen sind, ihn dann ins Heim zu geben. MUSIK Einblendung 094 Atmo Heim Hilko läuft über den Flur, klopft, redet.... Erzähler Elisabeth Alten- und Pflegeheim in Hamburg-Eimsbüttel, zentrale Lage, quirliger Stadtteil, ein Haus mit gutem Ruf. Es ist kurz nach sieben. Pfleger Hilko hat Frühdienst auf der Dementenstation. Einblendung 095 Atmo Hilko: Bongiorno Ragazzo, Francesco .... Guten Morgen!... Du tust wieder so, als wenn Du schläfst, oder was?.... Bongiorno!.... ATMO weiterlaufen lassen Erzähler Sie kennen sich, der Pfleger und der alte Herr, vor langer Zeit zugewandert aus Italien. Während der sich im Bad die Zähne putzt, räumt Hilko das Zimmer auf, streift sich die Gummihandschuhe über, zieht Betttuch und Unterlage ab und stopft beides in den Wäschesack auf dem Flur. Einblendung 096 Atmo Hilko: Kommst zurecht? Wenn 'was ist, klingelste bitte! Ja. Erzähler Im Zimmer nebenan sitzt ein alter Mann auf seinem Bett, schon fast angezogen. Eine Socke hat er etwas schief am Fuß, die andere hält er in der Hand. Eigentlich braucht er jetzt nur ein wenig Unterstützung von seinem Pfleger. Doch der nimmt ihm die Socke aus der Hand, streift sie über den Fuß und zieht die andere gerade. Schließlich leben auf dieser Station dreiunddreißig alte Menschen. Einblendung 100 Hilko: Heute ist 'n Luxustag. In der Regel sind wir zu dritt in der Pflege und einer im Service - manchmal haben wir auch das Pech, dass wir zu zweit sind - und das heißt dann dementsprechend kommen die meisten Bewohner definitiv zu kurz. Erzähler Francesco ist inzwischen angezogen. Hilko holt ihn ab und bringt ihn zum Frühstück. Ständig schaltet er um: (SCHNELL!) vom gehetzten schnellen Schritt auf dem Weg ins Zimmer zum (LANGSAM!) langsamen Gang mit dem alten Herrn den langen Flur des ehemaligen Krankenhauses entlang zum Essensraum. In der kleinen Stationsküche schmiert inzwischen die Servicekraft die Brötchen - für die Bewohner, die das mit Anleitung und Hilfe vielleicht ja auch selbst könnten. Aber die Zeit ... Nächster Arbeitsschritt: Der Pfleger eilt durch den Speiseraum und verteilt Medikamente. Alles genau dosiert - die Arznei und die Zuwendung Einblendung 103 Atmo Hilko/Anita: .... und Dich heute zu sehen .... Wir beide gehören zusammen, ne? Das sag mal, ne Joa. Meine Nase läuft! Hast 'n Schnupfen gekriegt, Anita, oder was? Weiß ich nicht. Muss ja einer mitgebracht haben... Ich war's diesmal nicht! .... geschenkt .... Ich war's aber nicht Atmo läuft weiter! Erzähler Der erste Moment des Innehaltens. Einblendung 104 Atmo Hilko/Anita: ... Und nochmal! Erzähler Alltag wie in vielen der über dreizehntausend deutschen Pflegeheime. Dabei brauchen gerade Menschen mit Demenz Ruhe und eine entspannte Atmosphäre. Hektik kann ihre Situation verschlimmern. Pfleger Hilko versucht zumindest den Stress nicht auf sie zu übertragen. Einblendung 105 Atmo: Frühstück im Plüschzimmer - weiter laufen lassen! Erzähler Es gibt ein besonderes Angebot auf der Station: Zweimal pro Woche sitzen acht der verwirrten alten Damen und Herren im so genannten ‚Plüschzimmer' um den geradezu festlich gedeckten runden Tisch. Einblendung 106 Atmo: Die Milch, die reich' ich gleich rum .... Erzähler Es könnte ein Treffen mit der Verwandtschaft sein oder alten Freunden, in der ‚guten Stube', die Viele früher hatten: das besondere Zimmer, das nur zu besonderen Anlässen genutzt wurde. Einblendung 107 Atmo Frau: .... Meine alten Zähne .... das schaffen sie noch. ... ALTERNATIVE: OHNE EINBLENDUNG - TEXT: Erzähler Eine alte Dame nimmt ein Rosinenbrötchen aus dem herumgereichten Korb ... Erzähler Die alte Dame nimmt das weiche Rosinenbrötchen aus dem herumgereichten Korb. Sie weiß, was sie kauen kann und entscheidet selbst darüber. Drei junge Frauen - fachkundig, eingestellt speziell für die Begleitung durch den Alltag - helfen, wo es nötig ist - nicht mehr. Eine liest vor: Einblendung 108 Atmo Vorlesen: Die Geschichte heißt .... Frühstück im Café. Es war an einem schönen Mittwoch-Morgen, die Uhr zeigte gerade neun Uhr, also früh genug, um etwas zu unternehmen. Ich wollte mir heute mal etwas Gutes gönnen ... ATMO LÄUFT WEITER Erzähler Die alten Damen - zwei Herren sind auch dabei - lauschen aufmerksam der Geschichte, die sie vielleicht selbst so ähnlich erlebt haben oder gern erlebt hätten. Die Erzählerin - etwas ungeschickt - kam im Café mit dem netten Herrn am Nachbartisch ins Gespräch... Einblendung 109 Atmo Vorlesen: Ich wollte nach dem Schild greifen ... Aber dummerweise stieß ich dabei mein Glas Apfelsaft um. Oh Schreck! Wie war mir das peinlich. Aber Erich lachte nur ... (Einblendung 110 Atmo: Hilko eilt übern Flur ins Dienstzimmer, öffnet Schrank, stellt Medikamente) Erzähler Währenddessen eilt Pfleger Hilko über den Flur ins Dienstzimmer, schließt den großen Schrank mit den Medikamenten auf, nimmt diverse Schachteln heraus und zählt einzelne Pillen ab - wie es auf dem ärztlichen Verordnungsblatt in der Heimakte der Bewohner steht. Wer alt ist, hat oft mehrere gesundheitliche Probleme. Einige lassen sich zumindest lindern. Immer wieder ist zu hören, dass Menschen in Pflegeheimen mit Medikamenten ruhig gestellt werden, um den knappen Pflegekräften die Arbeit zu erleichtern. Das weist Hilko weit von sich: Einblendung 111 Hilko: Einige Bewohner brauchen sicherlich Medikamente, um ruhig zu werden, weil sie innerlich so getrieben sind, aber das sprechen wir auch immer mit unseren Neurologen und Hausärzten ab. Es ist nicht so, dass wir uns damit die Arbeit leichter machen wollen. Also das ganz bestimmt nicht. Erzähler Konzentriert zählt er weiter Tropfen, Kapseln und Dragees. Einblendung 112 Außen-Atmo Spaziergang Straße/Park Erzähler Die Vorlesestunde im Plüschzimmer ist beendet und die Gruppe ist aufgebrochen in den benachbarten Park. Es ist ein Vorteil, dass das Heim in einem lebendigen Viertel liegt und der Park mit Wiesen, großen alten Bäumen und glatten Wegen gleich hinter dem Haus beginnt. Einige aus der Gruppe sind ganz gut zu Fuß, andere gehen langsam, gestützt auf Stock und Rollator oder eingehakt bei einer der drei jungen Begleiterinnen, die Halt und Sicherheit vermitteln. Wer gar nicht mehr laufen kann, den schieben sie im Rollstuhl. Die eine oder andere müssen die Betreuerinnen zum Spaziergang motivieren, fast überreden. Nicht aber Eva, Mitte Siebzig: Einblendung 113 Plemper/Eva/Begleiterin: Geh'n Sie immer spazieren? Was machen Sie den ganzen Tag?Das möchten Sie gern wissen, nich? Dann können wir ja mal tauschen. Dann sind Sie nämlich einjesperrt .... woll'n Sie das?.... Na also, dann tauschen Sie lieber nicht mit uns! Biste eingesperrt, Eva? Wir gehen doch 'raus.... Ja, aber nich immer. Ich möchte immer draußen sein....! Erzähler ... und vor allem selbst darüber bestimmen und nicht unbedingt mit der Gruppe unterwegs sein - trotz all der Angebote in einer für die Branche vorbildlichen Einrichtung mit Kulturprogramm und Bewegungsangeboten, Bastelstunde und Café im Haus. Einblendung 114 Atmo: Mittagessen Erzähler Um zwölf Uhr gibt's Mittagessen. Die meisten der dreiunddreißig Bewohnerinnen und Bewohner der Dementenstation sitzen im großen Speiseraum, einige in den kleineren Nachbarräumen. Einblendung 115 Atmo: Für wen war das, Wanda? ... Erzähler Hochbetrieb: Pflegekräfte, Alltagsbegleiterinnen, Praktikantinnen nehmen von der Frau im Küchenservice die Teller entgegen und steuern einen der Tische an. Je nach Orientierung und Kaufähigkeit ist das Essen schon zerkleinert, sind die Kartoffeln zu Mus gestampft. Einblendung 116 Atmo: Guten Appetit! Erzähler Bei all der Hektik gelingt es dem Pfleger, einer alten Dame ein dankbares Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Für außenstehende Betrachter ist es nicht unbedingt das, was sie sich für ihr Alter oder das ihrer Angehörigen wünschen. Einige bezeichnen das Leben im Heim gar als ‚Horror'. Den hat Hilko durchaus erlebt in Häusern, in denen er zuvor gearbeitet hat: Einblendung 118 Hilko: Wenn man sich dann vorstellt, ein Wohnbereich mit sechzig Bewohnern, das sind dann halt drei, vier Pflegekräfte, dann auch noch nicht eingearbeitet, vielleicht von der Zeitarbeit - das ist dann einfach auch ein ganz anderes Arbeiten - da kann ich mir durchaus vorstellen, dass es der Horror sein kann. Definitiv. Erzähler ... und schon ist er wieder unterwegs. Was ist die Lösung: ein besseres Heim oder Besseres als ein Heim? Der Vorkämpfer der Sozialpsychiatrie Professor Klaus Dörner kritisiert grundsätzlich, dass wir bestimmte Menschen und ganze Gruppen aus der Gemeinschaft ausschließen: Einblendung 119 Dörner: Das haben wir ja über 100 Jahre oder 150 Jahre etwa mit den psychisch Kranken gemacht, von einem bestimmten Grad an natürlich immer, mit den geistig Behinderten, auch mit den körperlich Behinderten, auch mit den in Gänsefüßchen missratenen Jugendlichen. Und als die Alten sich dann entsprechend vermehrt haben, dass sie überhaupt zu einem gesellschaftlichen Problem wurden, aufgrund ihrer Vermehrung, ist man mit ihnen genauso umgegangen, wie mit den psychisch Kranken, mit den Behinderten und hat dafür ein flächendeckendes System an Institutionen, also Altenpflegeheime gegründet und gedacht wir gehen damit genauso um wie mit allen anderen. Knapp 100 Jahre hat das auch so einigermaßen funktioniert. Im Gegensteil, es ist sogar, die Akzeptanz der Heime war in der Anfangszeit relativ groß, was vor allem damit zusammen hing, dass man in der Anfangszeit das Heim betrieben hat nach dem Prinzip der gesunden Mischung. Das heißt, da gab es dann immer fittere Alte und weniger fitte Alte und die konnten sich gegenseitig so mit Sinn versorgen, mit Bedeutung für andere versorgen, dass das für alle Beteiligten ein einigermaßen bekömmliches Leben war. Erzähler Das ist vorbei, seitdem alte Menschen erst in sehr hohem Alter und wenn es gar nicht mehr anders geht, ins Heim kommen - die Kehrseite der Maxime ‚ambulant vor stationär'. Natürlich ist es sinnvoll und entspricht meist dem Willen der Gepflegten, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung zu leben. So ist in den letzten Jahren der Altersdurchschnitt der Heimbewohner gestiegen und damit der Aufwand für ihre Pflege. Dementsprechend gesunken sind ihre Möglichkeiten, aktiv zu sein. Musik? Erzähler In der Lüneburger Heide, tiefste norddeutsche Provinz, hatten einige Leute deshalb eine Idee: Ein Dorf wollten sie bauen, nur für Menschen mit Demenz, erklärten sie der staunenden Öffentlichkeit und gründeten einen Verein, um das ehrgeizige Projekt zu realisieren. Im Vorstand: Heinz Meierhoff, Geschäftsführer des Roten Kreuzes im Landkreis Uelzen und größter Anbieter von Pflegeleistungen. Begeistert erläutert er im Kreis seiner Mitstreiter die Baupläne: Einblendung 121 Atmo Meierhoff: Hier ist das Gesamtgelände zu sehen, Veranstaltungsräumlichkeiten in diesem Zentralgebäude, die Verwaltung, dann die fiktiven Geschäfte (!!!), ein Café - realistisch - ein Vorplatz, eine Kapelle oder Andachtsraum oder sonstwie nutzbarer Raum und im Halbkreis die ganzen Gebäude.... Erzähler Vorplatz, Kapelle, Andachtsraum, Café und natürlich die Verwaltung sollen realistisch sein, die Geschäfte - sagt der Geschäftsführer - aber fiktiv - wahrscheinlich wie der begehbare Kaufmannsladen in der Spielecke eines Kindergartens. Einblendung 122 Atmo: Autofahrt Doku, schnell, dann langsam, offenes Fenster Erzähler Die Kurstadt Bad Bevensen haben sie dafür ausgesucht oder - besser gesagt - ein Gelände, das irgendwie noch zur Gemarkung gehört. Vom Kurpark im Zentrum geht es zwei Kilometer raus aus der Kleinstadt, die Landstraße entlang, irgendwann rechts ab und dann noch vierhundert Meter durch den Wald. Einblendung 123 Atmo Wald Doku Erzähler Ein verwildertes Areal von vierzehn Hektar, eingefasst mit einem Jägerzaun, grünlich überzogen, ein paar Latten sind lose, einige fehlen. Große alte Bäume stehen auf dem Grundstück, dazwischen sind Reste von Fundamenten erkennbar. Ein Krankenhaus hatte da mal gestanden, vor langer Zeit, verschiedene Gebäude, über das Gelände verteilt. Es muss durchaus idyllisch gewesen sein, aber wohl zu weit ab vom Schuss. Einblendung 124 Meierhoff: Wir planen hier ein Demenzdorf .... Erzähler .... erklärt DRK-Geschäftsführer Meierhoff .... Einblendung 125 Meierhoff: Im ersten Aufgalopp - sagen wir aus dem Verein - versuchen wir's mal mit vier Wohneinheiten à jeweils zwanzig Betreuungsplätzen, also achtzig. Das Areal gibt Möglichkeiten für die Weiterentwicklung her, aber erst mal mit achtzig anfangen und dann weiterschauen. Erzähler Vier Wohngebäude sind auf dem Plan eingezeichnet, den Heinz Meierhoff auf einem großen Stein ausgebreitet hat, vier Häuser in einem Halbkreis, zugänglich durch ein Zentralgebäude im Mittelpunkt. Es scheint niemandem aufgefallen zu sein, aber das erinnert an die klassische Bauweise amerikanischer Gefängnisse des 19. Jahrhunderts. Natürlich sollen die Fenster nicht vergittert sein und keine hohe, stacheldrahtbewehrte Mauer das Ensemble umschließen. Aber die Idee ist trotzdem bedrückend: Draußen im Wald soll eine Anstalt entstehen. Einblendung 126 Laas: Das sehe ich anders ... Erzähler ... wendet Ellen Laas ein, Stadträtin in Bad Bevensen ... Einblendung 127 Laas: Diese Wohnanlage wird offen sein - natürlich wird sie geschützt sein, weil auch die an Demenz erkrankten Menschen einen Schutz brauchen, sie können sich nicht frei bewegen ... Erzähler .... denn die modrigen Holzlatten werden durch einen stabilen Zaun ersetzt werden ... Einblendung 128 Laas: .... wir haben die Situation jetzt schon in Heimen, in denen Menschen, die an Demenz erkrankt sind, betreut sind, dort können sie sich nicht frei bewegen, in unserer Wohnanlage können sie sich mit Hilfe von Pflegepersonal und auch durch die Unterstützung Ehrenamtlicher, die ganz ausdrücklich gewünscht ist und auch Bestandteil unseres Konzeptes ist, bewegen .... Erzähler ... will die Stadträtin - neue Arbeitsplätze und das Wohlergehen des durch Gesundheitsreformen gebeutelten alten Kurbads im Blick - kein schlechtes Licht auf ihre geplante Anstalt fallen lassen. Einblendung 129 Laas: Es soll auch so sein, dass die Personen, die es noch können, mit Ehrenamtlichen oder mit Pflegepersonal durchaus die Möglichkeit haben, in die Stadt zu gehen. Erzähler Wahrscheinlich auf den Rollator gestützt die vierhundert Meter durch den Wald und dann die zwei Kilometer die Landstraße entlang, vielleicht ja sogar bis zum Kurpark. Oder es gibt einen Ausflug in der Gruppe mit dem Auto, wenn denn das Personal Zeit dafür hat. Einen Unterschied zur Haftanstalt soll es in dem geplanten Demenzdorf geben: Man soll relativ leicht hineinkommen. Einblendung 130 Laas: Menschen von außerhalb werden ausdrücklich eingeladen, auch die Wohnanlage mit zu besuchen, sich hier aufzuhalten; unsere Idee ist, hier auch einen Veranstaltungsort mit zu etablieren, Kino, Theater, Konzerte und so weiter, ein Café, das einfach Alle einlädt, hier dran auch dran teilzunehmen. Erzähler Während anderswo Anstalten aufgelöst werden, damit wir Menschen mitten in der Gemeinschaft betreuen und pflegen, während nicht nur die Fachwelt über Inklusion redet, begeistert man sich im Landkreis Uelzen für das Gegenteil. Eine Kritik, die Ute Simon nicht gelten lässt, ebenfalls im Vorstand des Demenzdorfvereins und Mitarbeiterin des Roten Kreuzes: Einblendung 131 Simon: Wir denken, dass es dem Inklusionsgedanken nicht widerspricht, in dem Sinne, dass jemand sich hier eben frei bewegen kann und seinen Bewegungsdrang, der häufig ja mit diesem Krankheitsbild verbunden ist, ausleben kann, und vielleicht kann man das ein bisschen so sagen: Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg zum Prophet (!) kommen. Das heißt, die Inklusion muss ein Stück weit in der Einrichtung stattfinden und nicht umgekehrt. Erzähler .... was vielleicht ein Missverständnis ist: Inklusion kann nicht dadurch stattfinden, dass Menschen vor den Toren der Stadt aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Einblendung 132 Meierhoff: Wir haben uns das angeschaut und haben Menschen kennen gelernt, die nicht mit traurigen Gesichtern durch die Anlage liefen, sondern glücklich, zufrieden waren. Erzähler .... versucht Geschäftsführer Meierhoff das Image seines Projektes zu retten. Angeschaut haben er und seine Kolleginnen das weltweit bekannte Vorbild derartiger Einrichtungen: De Hogeweyk in Holland. MUSIK Erzähler Weesp vor den Toren Amsterdams, eine idyllische Kleinstadt wie aus dem Bilderbuch: Grachten durchziehen das Zentrum, kleine Häuser ducken sich an ziegelgepflasterten Straßen, Radfahrer warten, bis sich die Klappbrücke am kleinen Hafen wieder schließt, und blicken verträumt den Segelbooten nach ... Aber es gibt auch ein anderes Gesicht der Stadt, nicht weit vom Zentrum entfernt: Moderne Gewerbebauten entlang der Straße, dann - ein wenig weiter draußen - Häuserblocks: groß, breit, hoch. Der übliche Massenwohnungsbau. Und mittendrin ein Karree, zweigeschossig, in sich geschlossen. Die beiden Flügel der gläsernen Schiebetür gleiten zur Seite, ein paar Schritte und der Besucher steht in der Eingangshalle vor einem Empfangstresen. Eine zweite Glastür gibt den Blick frei auf einen kleinen gepflasterten Platz, dahinter eine Gasse. Aber diese Tür öffnet sich nicht, solange nicht die Außentür geschlossen ist. Sicherheitsschleuse, der Eingang zum berühmten Demenzdorf De Hogeweyk. Einblendung 133 van Amerongen: Nein, wir haben kein Demenzdorf gebaut, .... Erzähler .... schraubt die Leiterin Yvonne van Amerongen-Heijer erst mal die Erwartungen ein bisschen runter, die durch zahlreiche Berichte in den Medien geweckt wurden. .... Einblendung 134 van Amerongen: .... wir haben eine Umgebung entwickelt, wo Menschen mit eine schwerhafte Demenzkrankheit sich wohlfühlen und sich sicher fühlen und wo man ein normales Leben haben kann. Erzähler So normal das Leben eben sein kann, hinter einer Sicherheitsschleuse. Die funktioniert in umgekehrter Richtung genauso: Wer aus der Gasse kommt und den kleinen Platz überquert, steht in der Eingangshalle. Erst wenn die innere Tür geschlossen ist, kann sich die äußere öffnen. Einblendung 135 van Amerongen: Es scheint so, dass man nicht frei ist, rauszugehen und reinzukommen; das ist aber nicht so. Es ist aber so, dass unsere Bewohner nicht sicher sind im Draußen. Denn die verstehen die Umwelt nicht, die verstehen nicht, die verstehen das (!) Verkehr nicht, die verstehen nicht, was geschieht. Denn diese Menschen sind wirklich am Ende von Demenzkrankheit. Erzähler Aber kann die Lösung darin liegen, diese Menschen in einer abgeschotteten Welt vor dem Alltag in Sicherheit zu bringen? Ist es nicht heutzutage angebracht, sie mit entsprechender Hilfe in ihrer normalen Umgebung zu belassen? Einblendung 136 van Amerongen: Solange das möglich ist, dass Menschen mit Demenz in eine normale Umgebung weiter leben können, machen wir das, das ist auch das Idee, das unsere Regierung hat: Man kann hier in den Niederlanden so lange wie möglich zuhause bleiben. Und 85 Prozent von unsere Bewohner hier in den Niederlanden, die Demenzkrankheit haben, die können zuhause bleiben, bis am Ende. Aber für 15 Prozent ist es nicht möglich, das ist nicht gut. Und für die Menschen haben wir eine Umgebung entwickelt, die gut ist, wo man gut leben kann. Einblendung 137 Atmo Aussen De Hogeweyk Einblendung 138 Atmo Innen Halle Erzähler Gut Einhundertfünfzig Menschen mit Demenz in unterschiedlichem Stadium leben in De Hogeweyk. Es mutet tatsächlich an wie ein kleines Dorf: Ein Theater grenzt an das Verwaltungsgebäude mit der Eingangshalle, davor ein Bassin mit Springbrunnen, ein paar Gartenstühle lassen erahnen, dass dort bei gutem Wetter die Leute zusammensitzen. Auf der anderen Seite des Platzes ist die Eckkneipe - es gibt das gleiche Bier wie in den Kneipen im Zentrum der Stadt. Daneben öffnet sich eine Durchgangshalle mit Supermarkt und Restaurant, an denen vorbei es auch zu den Wohngebäuden geht. Einblendung 139 Atmo Aussen De Hogeweyk Einblendung 140 Atmo Innen Wohngruppe Erzähler In einer der zwanzig Wohngruppen lebt Henk: Die Gasse vom zentralen Platz entlang, dann links zwischen den Häusern durch einen bepflanzten Innenhof, eine Treppe rauf, einen breiten Gang unter freiem Himmel entlang, bis zur Wohnungstür seiner Gruppe. Es ist zehn Uhr morgens und Henk war wohl noch ein bisschen müde. In einem geräumigen Wohnraum - im Zentrum der große Esstisch, dahinter eine offene Küche - liegt er angezogen auf dem Sofa, die Pantoffeln ordentlich davor abgestellt, und wacht gerade auf. Die Kuckucksuhr an der Wand tickt leise, eine der Betreuerinnen stellt ein Tablett mit Bechern auf den Tisch. Zeit für den Vormittagskaffee. Natürlich - wir sind in Holland - gibt es dazu Poffertjes, frisches Schmalzgebäck. Einblendung 141 Atmo: Henk bietet Schmalzgebäck an Erzähler Henk nimmt den Teller, geht rum und versorgt seine Mitbewohnerinnen. Erzähler Mit sechs anderen Frauen und Männern lebt der Achtundsiebzigjährige in dieser Gruppe. Jeder hat sein eigenes Zimmer, individuell gestaltet. Früher hat er als Kupferschmied gearbeitet, war in einem Universitätsinstitut für die Geräte zuständig. Einblendung 143 Henk: Det ist sehr gut hier, gutes Haus. Kann helpe mit Alles. Helfen .... mit allerlei Dinge Overvoice Das ist sehr gut hier, ein gutes Haus für alle, es ist wunderbar. Eine gute Umgebung hier, eine feine Ablenkung. Man kann schön mit allem mithelfen hier, helfen mit allerlei Dingen. Erzähler Das Bett in seinem Zimmer ist vom Haus gestellt, denn irgendwann könnte Pflege erforderlich sein; die übrige Einrichtung kann jeder mitbringen. Bei Henk sind das die Kommode, die Fotos an der Wand und der Sessel in der Ecke. Der alte Handwerker lebt in einer Wohngruppe im so genannten ‚häuslichen Stil'. Das ist so, wie wahrscheinlich viele Menschen in den Niederlanden leben, aufgeräumt, gemütlich und/aber schlicht. In einer anderen Gruppe ist es der künstlerische Stil mit modernen Bildern und Skulpturen, oder der bäuerliche, der indonesische - das Land hat eine lange Kolonialgeschichte - oder der ‚bürgerliche Stil', mit üppiger Polstergarnitur, funkelndem Kronleuchter, weiß gedecktem Tisch und gutem Wein in der Vitrine in der Ecke. Einblendung 144 van Amerongen: Das Besondere ist hier, dass jede Person, die hier lebt, sein eigenes individuelles Leben weitermachen kann mit unsere professionelle Unterstützung. Dass Alles, was wir hier machen, so organisiert ist, dass es für die Bewohner gut ist. Erzähler .... erklärt Yvonne van Amerongen. Diese Fortsetzung des früheren Lebens - zumindest mit einigen Accessoires - ist Grundlage des Konzepts. Einblendung 145 van Amerongen: Weil wir alle Menschen sind, die eigene Ideen übers Leben haben? Und wenn man hier kommt, wenn man hier wohnt, dann ist es doch am besten, dass man mit anderen zusammen wohnt, die dieselben Ideen übers Leben haben; das sind die letzten Jahre vom Leben. Wenn wir wirklich Qualität vom Leben haben möchten, dann soll man auch eine gute Zuhause haben. Und das ist mit Menschen, mit wem man gute Freunde sein kann. Erzähler Wer sich früher keine Sorgen ums Geld machen musste, versteht sich eben besser mit Menschen, denen es genauso geht. Luxuriöse Residenzen fürs Alter gibt es ja einige. Das Besondere in De Hogeweyk ist aber, dass das Leben in allen Wohngruppen dasselbe kostet: 5000 Euro im Monat. Also ist auch die einfache Ausstattung für den Handwerker nur etwas für Gutbetuchte? Einblendung 146 van Amerongen: Nein, wir haben dasselbe Budget als (!) jede Pflegeheim in die Niederlande; wir sind non-profit und haben nichts mehr, keinen Euro. Erzähler Das Geld wird voll aus den Sozialkassen finanziert. Damit sind alle Kosten für die Unterbringung in De Hogeweyk abgegolten. Bis auf besondere Freizeitangebote - die werden extra in Rechnung gestellt. Henk hat sich an diesem Vormittag für das gemeinsame Singen in der Kneipe entschieden. Er wartet an der Tür seiner Wohngruppe, zusammen mit Johanna, seiner Freundin. Die sitzt im Rollstuhl, er wird sie schieben. Aber Henk wartet. Den kurzen Weg, den er so häufig geht, findet er nicht allein. Johanna ist ihm da auch keine Hilfe. Die Idee, dass Menschen mit Demenz sich in dieser übersichtlichen, geschützten Umgebung frei und selbständig wie in einem Dorf bewegen können, stößt an ihre Grenzen. Eine Betreuerin geht mit. Einblendung 147 Atmo Halle/Kneipe Ankunft .... Charmeur! .... Erzähler Mit einem Küsschen begrüßt der alte Herr galant die Frau, die den Vormittag gestaltet. Etwa zwanzig Bewohnerinnen - Henk ist der einer der wenigen Männer - sitzen um einen langen Kneipentisch, einige in ihren Rollstühlen. Die Einen blicken voller Erwartung in die Runde, Andere sind in sich gekehrt, scheinen den Trubel um sie herum nicht wahrzunehmen. Einblendung 148 Atmo Musik ‚Daar in dat kleine Café an de haven....' Mitsingen Erzähler Henk strahlt und tätschelt Johannas Hand; die lächelt ihn an. Es gibt Kaffee, der Zapfhahn hinterm Tresen wird noch nicht gebraucht - es ist Vormittag. Die Anleiterin bemüht sich um gute Stimmung, singt lauthals mit und versucht, die Besucherinnen auch dazu zu bringen. Bei den Einen ist das nicht nötig; die kennen die Lieder und den Text mit allen Strophen. Bei den Anderen ist es vergeblich; die bleiben stumm, machen aber einen entspannten Eindruck. Das Repertoire ist umfangreich, Schlager der vergangenen Jahrzehnte. Die alten Damen wippen im Takt, wiegen sich hin und her, schunkeln ein wenig. Es geht ihnen offensichtlich gut. Einblendung 149 Atmo Musik ‚Daar in dat kleine Café an de haven....' Mitsingen AUSBLENDEN Atmo Außen/ Atmo Innen Wohngruppe Esszimmer Maarten redet mit Henk Erzähler Zurückgekehrt in die Wohngruppe - wieder in Begleitung - wird Henk schon erwartet: Maarten, sein Schwiegersohn, ist da; der guckt, wie andere Angehörige auch, von Zeit zu Zeit mal rein, geht in Henks Zimmer und bringt erst mal ein wenig Ordnung in den Stapel Fotos auf der Kommode. Alle zwei Wochen holt Maarten ihn zur Familie. Sie haben auch probiert, ihn bei sich wohnen zu lassen. Ein halbes Jahr lang. Dann ging es nicht mehr. In einem herkömmlichen Heim sei es furchtbar gewesen für Henk. Vor drei Jahren hörten sie dann von De Hogeweyk. Einblendung 150 Maarten: That is perfect here for this sort of persons living in a small group, everytime is someone arround, look after them. Have their own meals. It's perfect for the family .... Voice over Es ist perfekt für diese Menschen. Sie leben in einer kleinen Gruppe, jederzeit ist jemand da und sieht nach ihnen. Sie haben ihre eigenen Mahlzeiten. Es ist perfekt auch für die Angehörigen. Erzähler Ihr Besuch ist erwünscht. Andere Besucher sind auch gern gesehen: Es steht jedem offen, betont die Leiterin, nach De Hogeweyk zu kommen, in der Kneipe sein Bier zu trinken, im Supermarkt einzukaufen, im Restaurant 'was zu essen oder ins Theater zu gehen. Allerdings kommen die Nachbarn aus den Wohnblocks, die hinter der zweigeschossigen Einrichtung hoch aufragen, praktisch nie in diese künstliche Welt. Einblendung 151 van Amerongen: ... nicht künstlich, ist Alles ganz normal. Zum Beispiel: Wir haben zusammen gegessen im Restaurant - was war künstlich? Es ist eine normale Restaurant, jeder kann hier kommen. Unser Supermarkt ist ganz normal, die Häuser sind ganz normal. Was wir nicht normal haben, ist das Unsichere von normale Welt für Menschen mit Demenzkrankheit. MUSIK Erzähler Im Laden des kleinen Zentrums kauft, wer mag und noch kann, mit den Betreuern für die Wohngruppe ein und kocht hinterher gemeinsam. Einblendung 152 Atmo Supermarkt: .... dat is coffee .... Milk for de coffee....Zucker Erzähler Henk - in Begleitung - geht am Regal entlang und sucht aus, was sie in seiner Gruppe brauchen. Dieser Supermarkt ist etwas Anderes als das, was in der deutschen Provinz geplant ist, anders als der ‚fiktive' kleine Laden, den es mal fernab im Wald in der Lüneburger Heide geben soll. Die Expertin aus den Niederlanden glaubt auch nicht, dass man mit der dort geplanten Größe von Achtzig Bewohnern ‚Dorf' spielen kann. Einblendung 153 van Amerongen: Wenn man das so machen möchte, wie wir das gemacht haben - wir sind weit vom Zentrum von Stadt und wir haben kein Supermarkt in der Nähe und Theater in der Nähe und so weiter - also, wenn man das so macht, dann ist 150 wirklich das Minimum. Wir haben hier 152 Bewohner, aber wir machen auch in die Stadt gehen, nach Supermarkt, im Stadt gehen kann und so weiter, dann ist es gut möglich. Erzähler Und sie legt nochmal Wert darauf, dass sie kein ‚Demenzdorf' gebaut haben, sondern das ‚Verpleghuis Hogewey', eine Pflegeeinrichtung; allerdings, betont sie stolz, eine sehr gute. Während in anderen Heimen mit einhundertfünfzig Plätzen die Bewohner von ihrer Station aus den langen Gang entlang und in ein anderes Stockwerk gehen, um zur Physiotherapie zu kommen, verlassen sie in De Hogeweyk das Haus ihrer Wohngruppe und gehen durch die Gassen und über den zentralen Platz zum flachen Gebäude mit der Aufschrift ‚Fysiotherapeut'. Oder sie gehen nebenan zum ‚Mozartsaal', in dem sich die Gruppe der Klassikliebhaber trifft. Das ist es, was viele Besucher begeistert, die sich von der schönfärberischen Bezeichnung ‚Dorf' nicht abbringen lassen. Radikale Kritiker dagegen halten nichts davon, Heime auf diese Weise ‚aufzuhübschen'. Sie fordern, die Institutionen aufzulösen und die Bewohnerinnen und Bewohner ambulant zu versorgen - in ihrer gewohnten Umgebung. Einblendung 155 van Amerongen: Wäre sehr schön, wenn das möglich ist .... Erzähler .... findet auch die holländische Expertin van Amerongen .... Einblendung 156 van Amerongen: .... sobald es möglich ist, dass unsere Welt demenzfreundlich ist, das machen wir direkt. Aber das ist nicht so, das ist für Menschen mit Demenzkrankheit nicht sicher draußen. Man erfahrt allerhand Situationen, die man nicht versteht. Und das ist nicht, fühlt nicht gut. Die haben eine Enttäuschung, was ist jetzt geschehen, ich versteh nicht, was geschieht, und fühlen sich nicht wohl. Erzähler Besser wäre es natürlich, sieht auch sie, ihr Verpleghuis Hogewey wäre überflüssig: Einblendung 157 van Amerongen: Das gibt zwei Möglichkeiten: Die Welt wird demenzfreundlich sein oder man hat ein Medizin gefunden. Das dauert noch sehr lange, das hab ich gehört. Und bis dann, ja, versuchen wir es so. Es wäre wirklich am besten, dass die Welt demenzfreundlich wird! Erzähler Freundlich sieht die kleine, abgeschottete Welt in De Hogeweyk aus. Halb so groß, sicherlich nicht so komfortabel, dafür vielleicht billiger sollte die Anstalt tief im Wald in der Lüneburger Heide eines Tages sein. Daraus ist nichts geworden. Angesprochene Investoren haben ihr Interesse verloren und der Verein Demenzdorf hat sich aufgelöst. Kritiker sagen, das sei auch gut so. Und wenn in de Hogeweyk nur zufriedene Gesichter zu sehen sind, ist das der Maßstab? Oder gilt es nicht vielmehr, die Welt demenzfreundlich zu machen? Denn - jetzt wird's ein bisschen pathetisch - wir können den Grad der Zivilisation unserer Gesellschaft doch daran erkennen, wie wir Menschen, die aus der Rolle fallen, in unserer Mitte dulden und mit ihnen umgehen. Weniger pathetisch und ganz praktisch heißt das, da anzufangen, wo sich die Menschen begegnen - in der Nachbarschaft, im Quartier, in der Kommune. Einblendung 158 Gronemeyer: Das erste ist, dass wir vielleicht begreifen müssen, warum uns die Demenz so auf die Nerven geht. Erzähler .... schlägt der Theologe und Soziologie-Professor Reimer Gronemeyer aus Gießen vor. Er ist Vorsitzender der Aktion Demenz, eines Zusammenschlusses von Praktikern und Wissenschaftlern, die dafür streiten, Menschen mit Demenz nicht aus unserer Mitte zu verbannen und in Institutionen unterzubringen - oder sie der Fürsorge oft überforderter Familienangehöriger zu überlassen. Uns dieser gesellschaftlichen Herausforderung zu stellen, fällt uns nicht leicht: Einblendung 159 Gronemeyer: Ich denke, wir sind Menschen, die sich vor allem verstehen als souverän autonom Entscheidende, als Individuen. Und das ist in dieser Krassheit neu und deshalb gibt es auch diese große Abwehr der Demenz, sie trifft uns ins Mark. Das ist aber auch die Chance, die die Menschen mit Demenz uns bieten, uns einmal neu zu sehen, sie als unsere Zwillingsgeschwister zu begreifen, die uns etwas über uns mitteilen. Und wenn wir da sensibler werden, dann könnte sich das Gespräch mit denen, der Umgang mit denen ändern. Und das wäre der erste Schritt. Erzähler Es geht aber nicht darum, den verwirrten Alten einen Gefallen zu tun: Einblendung 160 Gronemeyer: Der Weg in die demenzfreundliche Kommune ist einer, der gerade angefangen hat, der natürlich mühsam ist, aber der auch eine schöne Herausforderung ist, weil wir mit einmal nicht mehr darüber nachdenken, wie versorgen wir die Menschen mit Demenz besser, sondern wie wird unsere Kommune für Alle bewohnbarer. Das ist natürlich schneller gesagt und leichter gesagt als in die Tat umgesetzt, aber da gibt es verheißungsvolle Anfänge und Ansätze und die gilt es auszubauen. Und dann ist die demenzfreundliche Kommune der Ort, in (!) dem es Menschen aller Altersstufen vielleicht besser geht und sie sich gewärmter fühlen. Musik Erzähler Um verheißungsvolle Ansätze zum Thema Demenz, die es auch in Deutschland gibt, soll es in der kommenden Stunde unserer Langen Nacht, nach den Nachrichten, gehen. Musik hoch 3. Stunde Musik Erzähler In der zweiten Stunde der Langen Nacht über Demenz ging es um den Versuch, die Institution Heim weiterzuentwickeln. Die Idee, Menschen mit Demenz in einer Art ‚Dorf' leben zu lassen, ist umstritten. Die Alternative? Sie möglichst lange in ihrer angestammten Umgebung zu lassen. Zum Beispiel im hessischen Main-Kinzig-Kreis, in Erlensee, einer Kleinstadt mit Vierzehntausend Einwohnern bei Hanau. Einblendung 162 Atmo: Hannelore/Lotty Wortwechsel Erzähler In einem Viertel mit gepflegten Vorgärten vor ebensolchen Einfamilienhäusern will sich Hannelore mit ihrer Mutter Lotty auf den Weg machen. Es hat angefangen zu nieseln. Einblendung 163 Atmo Hannelore: Halt mal bitte den Schirm, dass wir nicht nass werden! Ich kann ihn doch nicht alleine halten.... Nimm doch mal bitte....! Lotty: NEIN!! Erzähler Hannelore hat ihre Mutter Lotty bei sich aufgenommen, versorgt sie Tag und Nacht. An diesem Morgen bringt sie die alte Dame mit ihrem Rollstuhl zu einer Nachbarin zwei Straßen weiter. Das soll ein paar Stunden Entlastung bringen - für beide. Einblendung 164 Atmo Hannelore: Halt doch mal ... Lotty: .... ich nehm's nicht!.... Erzähler Dann wird Lotty eben nass. Hannelore, angespannt, um Fassung bemüht, schiebt den Rollstuhl, ihre Mutter ist genervt. Es ist nicht weit zu Annelies Schönbohm. Die hat zweimal in der Woche Menschen mit Demenz bei sich zu Gast, zuhause, in ihrer Wohnung. Wir kennen das von den Tagesmüttern, die mehrere Kinder für einige Stunden betreuen. Dieses Prinzip wenden sie im hessischen Landkreis auf verwirrte Alte an. ‚So wie daheim' heißt das Projekt, das längst als Regelangebot etabliert ist. Denn wie daheim sollen sich die Alten fühlen, wenn sie Annelies Schönbohm oder ihre Mitstreiterinnen besuchen. Die hat sie schon erwartet, ist die paar Stufen vor der Haustür heruntergekommen, hilft Lotty aus dem Rollstuhl, hakt sie unter und führt sie, Hannelore auf der anderen Seite, durch die Diele in die Essecke des geräumigen Wohnzimmers. An einem großen runden Tisch sitzen schon vier andere alte Damen. Die Gastgeberin rückt für Lotty einen Stuhl in die Runde, legt ihr einen Arm um die Schulter und versucht, ihre düstere Stimmung etwas aufzuhellen. Einblendung 166 Lotty: Lassense mich bitte in Ruh! Erzähler ... und die Nachbarin lässt sie in Ruhe. Einblendung 167 Hannelore: Das größte Problem ist, dass meine Mutter bei uns nicht zuhause ist. Erzähler ... erklärt Hannelore in der Diele ... Einblendung 168 Hannelore: Zuhause ist sie, das weiß ich nicht, sie möchte immer wieder nach hause, kann mir aber auch nicht sagen, wo ihr Zuhause ist - wahrscheinlich da, wo sie geboren ist, wo sie als Kind aufgewachsen ist - und das kann ich ihr leider nicht verständlich machen, dass das halt nicht mehr geht, weil - ihre Heimat ist Ostpreußen - und da geht's halt auch nicht mehr zurück. Atmo Schönbohm: Das sind Drachen, die man steigen lassen kann.... Haben Sie das schon mal gesehn?.... Am Strand .... Erzähler Währenddessen frischen die alten Damen alte Erinnerungen auf. Annelies Schönbohm und eine weitere Nachbarin zeigen ihnen Bilder mit Strandszenen in einem Buch. Dem kann sich Lotty, gerade zuvor noch ziemlich grantig, nicht entziehen. Einblendung 169 Lotty: Ich bin vorbei gegangen, hab geguckt.... und weiter hab ich auch nicht geguckt.... Erzähler Gezielt sprechen die ehrenamtlichen Helferinnen mögliche Erlebnisse von früher an, die in der Erinnerung der Alten oft noch erstaunlich präsent sind. Einblendung 170 Atmo: Musik ‚Auf der Lüneburger Heide....' Erzähler Das gilt auch für die alten Volkslieder und Schlager, deren Texte sie noch immer drauf haben, von der ersten bis zur letzten Strophe. Einblendung 171 Atmo: Musik .... Bester Schatz, bester Schatz, bester Schatz, Du weißt es ja.... ATMO LÄUFT WEITER ... Erzähler Lotty ist angekommen, singt lauthals und mit leuchtenden Augen den Refrain. Für diese Nachbarschaftshilfe hat sich Annelies Schönbohm wie die anderen Helferinnen - meist sind es Frauen - fortgebildet: Sie ist informiert, was Demenz eigentlich ist, und hat trainiert, wie sie schwierige Situationen mit ihren vergesslichen Gästen bewältigen kann. Etwa, wenn die ein wenig Zeit brauchen, sich bei den Besuchen wirklich einzufinden. Während ihre Kollegin mit den Gästen ‚Elfer raus' spielt, bereitet sie in der Küche das Mittagessen vor. Alles läuft routiniert ab, aber trotzdem ist jeder dieser Tage eine Herausforderung für sie: Einblendung 172 Schönbohm: .... schon mal Allen gerecht zu werden, dass jeder zu Wort kommt, dass jeder ... ja .... sich entfalten kann so, wie es ihm möglich ist. Erzähler Irgendwann hatte sie von dem Projekt gehört und war angetan von der Idee, alte Menschen in ihrer Umgebung vor Einsamkeit zu bewahren. Einblendung 173 Schönbohm: Ich muss sagen, es macht mir unheimlich Freude; es ist 'ne Bereicherung und auch 'ne sinnvolle Aufgabe - nicht nur für die pflegenden Angehörigen, die für einige Stunden entlastet werden, sondern auch für die Gäste. Sie haben soziale Kontakte, die sie pflegen können.... Es macht einfach Freude, wenn man sieht, wie gerne sie kommen und wie viel Freude sie da dran haben. (Einblendung 174 Atmo Tischdecken) Erzähler Die Salatsauce hat sie angerührt, die Lasagne aus dem Ofen geholt. Die alten Damen haben die Karten weggeräumt und helfen, den Tisch zu decken. Einblendung 175 Atmo Schönbohm: Wollen wir noch gemeinsam beten: Komm, Herr Jesus, RUNTERZIEHEN ... sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen. Erzähler Während die anderen andächtig innehalten, greift Lotty schon beherzt zu und kaut. Einblendung 176 Atmo Schönbohm: Guten Appetit, lassen Sie's sich gut schmecken! Erzähler Es ist ein Angebot für Menschen mit Demenz, die nicht pflegebedürftig sind. Zum Beispiel sollen sie noch auf der Toilette klar kommen, wenn man ihnen zeigt, wo die ist. Das Ziel ist, sie vor der Vereinsamung zu bewahren, die Menschen droht, die sich zurückziehen, wenn sie merken, dass sie auch in ihrer vertrauten Umgebung nicht mehr klar kommen. Zweiundzwanzig derartige Gruppen gibt es inzwischen im Main- Kinzig-Kreis, etwa achtzig alte Frauen und Männer nehmen teil. Sie zahlen Vierundvierzig Euro pro Besuch dafür, die von der Pflegekasse erstattet werden. Die Gastgeberinnen erhalten eine Aufwandsentschädigung. Einblendung 177 Atmo: Karadeniz spricht mit Gästen Erzähler Von Zeit zu Zeit kommt Gabriele Karadeniz vorbei. Die Sozialpädagogin hat die Helferinnen geschult und steht ihnen zur Seite. Viele Menschen sind bereit, sich ehrenamtlich zu engagieren. Das Projekt kommt gut an, wird gebraucht und ist deshalb ein Regelangebot des Landkreises geworden. Finanzielle Probleme gibt es nicht. Um so erstaunlicher ist es, dass es nicht landauf landab Nachahmer gefunden hat. Einblendung 178 Karadeniz: Jeder denkt: ‚Das geht doch nicht ... Erzähler ... hat Gabriele Karadeniz eine Erklärung ... Einblendung 179 Karadeniz: ... es gibt die Familie, die sich kümmert, es gibt professionelle Dienste, die dafür ausgebildet sind; die sollen sich kümmern und müssen sich kümmern....'. Aber was wir halt machen, ist, jemandem Unterstützung geben, der im Alltag einfach net (!) alleine sein kann, der sich ganz doll freut und auch ganz viel davon profitiert, wenn er in 'ner Gruppe sein kann.... Und die Idee ist noch nicht da, es ist - glaube ich - noch net so weit gediehen, dass Leute sagen ‚Das gehört dazu, wir werden immer mehr Menschen haben, die ein bisschen Unterstützung brauchen, und das können wir auch leisten.' Das ist - glaube ich - einfach noch net angekommen. Erzähler Das hat auch im Main-Kinzig-Kreis einige Zeit gedauert und einige Mühe gekostet, war Lokalpolitikern und Kreisverwaltung aber ein wichtiges Anliegen. Einblendung 180 Atmo Schönbohm: Schaun Sie mal, wer da kommt! .... Hallo .... Erzähler Hannelore ist da, um ihre bis dahin gut gelaunte Mutter Lotty abzuholen. Einblendung 181 Atmo Hannelore: Alles gut? Lotty: Wie is, fahrn wir nach Hause? Hannelore: Ja, jetzt fahrn wir nach Hause. Lotty: Dann is gut. Hannelore: Jetzt geht's los. Lotty: Dann bin ich zufrieden. Erzähler Die beiden Gastgeberinnen haken Lotty rechts und links unter und führen sie vorsichtig, Schritt für Schritt, die Stufen hinunter zu ihrem Rollstuhl. Hannelore sieht so aus, als habe ihr der halbe Tag ohne die Sorge für die Mutter gut getan. Einblendung 182 Hannelore: Ja, Ich hab heute morgen Einkäufe getätigt, habe meinen Haushalt versorgt, habe dann - unter anderem - einen Termin für meine Mutter in der Kurzzeitpflege gemacht - da wir auch mal etwas Urlaub machen wollen, meine Mutter macht dort auch Urlaub und ist da eigentlich auch immer ganz gerne - und dann habe ich mich noch ein bisschen ausgeruht, mich darauf vorbereitet, meine Mutter jetzt wieder abzuholen... Atmo Lotty: Mach', es fängt an zu regnen, da werd' ich nass!.... Erzähler Lotty wartet schon ungeduldig am Fuß der Treppe im Rollstuhl. Einblendung 183 Atmo Lotty: Muss jetzt 'ne Dreiviertelstund fahren bis nach Friedeland....! Hannelore: OK, das machen wir jetzt auch.... ok Lotty: Kommst du mit? Hannelore: Ja sicher komm ich mit. Lotty: Ich dachte, ich sollt' alleine fahren! Hannelore: Nein, nein, ich fahr mit dir, wir machen das gemeinsam, ne. Lotty: Aber bleib' doch hier.... Hannelore: Wir machen das gemeinsam .... Tschüss.... Erzähler Und schiebt ihre wieder einmal empörte Mutter durch den einsetzenden Nieselregen nach Hause. MUSIK Erzähler Es wird Zeit, das Konzept dieses Nachbarschaftsprojektes und anderer guter Ansätze zu verbreiten. Das machen die Mitglieder der Aktion Demenz mit ihrer Idee der demenzfreundlichen Kommune. In der werden die Bürger aktiv - ob mit oder ohne Demenz. Es ist aber auch eine Aufgabe von Kommunalpolitikern, ein solches zivilgesellschaftliches Engagement zu befördern. Nicht nur in Sonntagsreden, sondern tatkräftig, im Alltag. Etwa in Arnsberg im Sauerland. Dort haben sie diese Idee schon früh aufgegriffen. Seniorenfreundlich war die Stadt mit ihren etwa achtzigtausend Einwohnern sowieso, hatte abgesenkte Bordsteine und längere Grünphasen an der Ampel - was man eben für die vielen Alten so tut. Aber der langjährige Bürgermeister Hans-Josef Vogel wollte mehr, in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts - zu einer Zeit, in der das Thema Demenz noch nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen war. Der Kommunalpolitiker zieht eine historische Parallele: Einblendung 184 Vogel: Als erstmals viele Menschen an AIDS erkrankt sind, haben sich viele Gruppen gebildet, die in der AIDS-Hilfe zusammen gearbeitet haben, die dort Enormes geleistet haben, weil das offizielle System ausgefallen war. Es muss uns jetzt Ähnliches wieder gelingen, dass wir Kräfte mobilisieren, auch vor dem Hintergrund, dass wir wissen, dass zukünftig immer mehr Menschen alt werden, die keine Kinder haben, die kinderlos groß geworden sind. Da kann man natürlich nicht sagen "das war's". Da braucht man neue Alterssolidaritäten. Das mit anzuregen, das wollen wir in Arnsberg versuchen. Erzähler Deshalb sind der Bürgermeister und seine Mitarbeiter in der Verwaltung an die Öffentlichkeit gegangen. Ob auf der Kanzel in der Kirche oder beim Schützenfest, beim Kaffeeklatsch in der Altentagesstätte oder im Schulunterricht - überall sollte Demenz zum Thema werden. Auch in Fortbildungskursen, etwa bei der örtlichen Caritas. So ist es ihnen gelungen, Berührungsängste abzubauen. Ehrenamtliche gehen zum Beispiel in die Familien und entlasten so für ein paar Stunden die Angehörigen. Einblendung 185 Gronemeyer: Der zweite Schritt kann ganz vielfältig klein, mit viel Phantasie in Gang gesetzt werden ... Erzähler ... denkt der Soziologe Gronemeyer als Vorsitzender der Aktion Demenz weiter: Einblendung 186 Gronemeyer: Warum haben wir nicht eine Situation, dass an dem einen oder anderen Restaurant, an dem einen oder anderen Café ein Schild steht: "Hier sind Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen willkommen!"? Wir wissen ja, dass es viele Familien gibt, wo jemand mit Demenz in der Familie lebt, die nicht mehr rausgehen, die "verhäuslichen", die die Tür zu machen. Wir müssen versuchen, sie in die Öffentlichkeit zurück zu holen, in die Sportvereine, in das Kino, in die Gaststätten. Erzähler So sinnvoll diese Forderung ist, so schwer fällt es manchmal, sie im Alltag zu erfüllen: Es ist den Kindern nun mal ungeheuer peinlich, wenn sich ihr alter Vater in aller Öffentlichkeit - na, sagen wir - daneben benimmt. Und der Restaurantbetreiber fürchtet vielleicht, dass seine Gäste sich belästigt fühlen und künftig wegbleiben könnten. Für Reimer Gronemeyer ist das ein nur auf den ersten Blick einleuchtendes Argument. Denn die Zahl der Hochaltrigen nimmt zu und Gastronomen könnten ein Interesse daran haben, diese bisherigen Kunden nicht zu verlieren. Einblendung 187 Gronemeyer: Das ist ein bisschen ein Nützlichkeitsargument. Darüber hinaus muss man sich irgendwie in eine Richtung begeben, dass die Gesamtgesellschaft ihre Vorzeichen ändert und sagt: Ausschließen bringt da nichts - so wahr es mich selber treffen kann, so wahr geht es darum, diesen Anblick mit zu tragen. Ich meine, in unserer Öffentlichkeit in Deutschland ist ja über lange Zeit dieser Prozess, dass die aus der Öffentlichkeit verschwinden, sehr betrieben worden und wir müssen uns einfach trauen, solche Menschen wieder in unser öffentliches Leben zurückzuholen und mit ihnen umgehen zu können. Das ist nicht einfach, aber es ist gleichzeitig auch etwas ganz Schönes. Erzähler So gern Lokalpolitiker auch etwas Schönes auf den Weg bringen - und sich damit schmücken - so begrenzt sind ihre Möglichkeiten: Die Gemeinde-Kassen sind nicht gut gefüllt. Was eine Kommune lebenswert macht, fällt unter die so genannten ‚Freiwilligen Leistungen', die nicht einklagbar sind und als erstes gestrichen werden. Bürgermeister Vogel hält dagegen: Einblendung 188 Vogel: Wer heute in einer Stadt gestalten will, darf nicht nur in den Haushaltsplan einer Stadt schauen, sondern soll sich das Potential seiner Bürgergesellschaft anschauen. Und das zu unterstützen, weil das nicht von selbst geht, dafür auch Mitarbeiter einzusetzen, die koordinierende Aufgaben haben, die anregen, die quasi als Animateure tätig sind, die sich mit den Themen beschäftigen, die das weiter vermitteln, die Kommunikation betreiben, die Menschen ansprechen, die zum Mitmachen, zu Initiativen ermuntern, ich glaube das ist eine neue Rolle, die wir in den Städten noch lernen müssen. Erzähler Die ehrenamtlich engagierten Bürger ersetzen allerdings nicht die Arbeit von Profis - worauf vielleicht manch klammer Stadtkämmerer spekulieren dürfte. MUSIK Erzähler Aber auch eine Kommune, die demenzfreundlich sein soll, ist keine heile Welt. Wer wird gerufen, wenn jemand auffällig wird, renitent, uneinsichtig ist, im Supermarkt an der Kasse durchgeht, ohne zu bezahlen? Klar, die Polizei. Einblendung 189 Atmo: Straße Einblendung 190 Atmo: Innen Wachraum/Besprechung Polizei Erzähler Polizeirevier im niedersächsischen Uelzen. Im Erdgeschoss nehmen die Beamten Notrufe entgegen und schicken die Streifenwagen los. Im ersten Stock, im großen, braun getäfelten Besprechungsraum, sitzen an einem Vormittag eine Oberkommissarin und ihr Kollege mit zwei Expertinnen zusammen. Silke Jäschke vom Seniorenbegleiterbüro und Petra Heinzel, die Fachfrau der Stadtverwaltung, haben den Polizisten erklärt, wie Menschen mit Demenz ‚ticken' - und wie man mit ihnen umgehen kann. Jetzt sind sie wieder da, um zu hören, was das gebracht hat. Einblendung 191 Polizistin: Meine Kollegin und ich sind zu einem Einsatz gerufen worden, wo es hieß, dass eine alte Dame in einem Bistrot steht und nicht bezahlen will. Und wir sind natürlich unter dem Vorzeichen losgefahren, ok - da ist 'n Delinquent, der will nicht bezahlen, also 'ne Straftat. Dass irgendwas nicht stimmte - das haben wir sofort gemerkt, aber wenn man so auf einer Spur ist - nämlich in Richtung Delinquenz - dann umzuschwenken auf jemanden, der wirklich geistig nicht mehr in der Lage ist zu begreifen, was er da eigentlich gemacht hat, das war interessant, das bei mir und meiner Kollegin zu erleben. Und es stellte sich dann eben heraus: Diese alte Dame hatte tatsächlich 'was bestellt, hatte das bekommen, hatte es auch aufgegessen und hatte einfach nicht genug Geld mit, das zu bezahlen. Und der Bistrot-Besitzer hat überhaupt nicht verstanden, dass es sich um jemanden handelt, der nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten das Alles getan hat. Zumal diese alte Dame auch immer so lachte und dazu aggressiv war. Und das war einfach 'ne ganz merkwürdige Situation. Und dann haben wir es aber doch irgendwann aufklären können, bzw. haben diesen Bistrot-Besitzer beruhigen können und haben dann zu der alten Dame gesagt: ‚Kommen Sie, wir bringen Sie jetzt nach Hause!' Da war sie auch ganz erleichtert. Und wir natürlich auch, wir waren auch erleichtert, dass sich diese Situation irgendwie klären ließ. Bis es darum ging, dass diese Dame einsteigen sollte. Und da ist mir erst wirklich klar geworden, was Demenz eigentlich bedeutet: Wir standen da zwanzig Minuten und haben versucht, diese Dame in das Auto zu bekommen. Und irgendwann hab ich gemerkt, die weiß nicht mehr, wie einsteigen geht! Sie weiß nicht mehr ‚das sind meine Knie und die muss ich jetzt einknicken und muss ich eine bestimmte Bewegung machen, um in das Auto zu kommen. Sie stand an der offenen Tür und hat immer gesagt ‚ja, Auto...'. Wir haben beide mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung standen, ihr einen unbewussten Prozess, den wir ja ganz früh lernen - einsteigen und nie darüber Gedanken machen - versucht zu erklären. Es ging einfach nicht. Erzähler Diese Erkenntnis war neu für die beiden Polizistinnen; die Situation war es nicht: Sie sind es gewohnt, dass jemand nicht mitfahren will, sich dagegen wehrt, was sie dann ‚Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte' nennen. Diesen Widerstand brechen sie für gewöhnlich, mit Gewalt, packen zu, legen Handfesseln an und verfrachten die renitente Person in den Streifenwagen. Einblendung 192 Polizist: Ich kann einen kranken Menschen sicherlich nicht so anfassen wie einen Straftäter, der nicht will und sich womöglich aggressiv verhält. Erzähler ... wirft ihr Kollege ein. Einblendung 193 Und damit sind wir ruckzuck am Ende unserer Möglichkeiten. Erzähler Die Kollegin hat's bei der alten Frau mit sanftem Druck versucht: Einblendung 194 Polizistin: Sobald wir sie anfassten, fing sie an wie am Spieß zu schreien. Und zwar nicht 'n bisschen, sondern richtig laut. Das war ja auch der Grund, warum dann immer mehr Passanten da standen. Das wird dann wirklich schwierig irgendwann: Der Bürger von außen sieht nur, da ist die Polizei mit 'ner alten Dame. Die bugsieren die da in den Streifenwagen und sie will das nicht und schreit. Und das ist natürlich ganz schlecht für die Außenwirkung. Erzähler Die Expertinnen nicken verständnisvoll. Eine schwierige Situation: Denn die Beamtinnen waren für die verwirrte Frau nun nicht mehr die hilfreichen Streitschlichter, die versuchten, sie aus einer verfahrenen Situation zu holen, sondern Vertreterinnen der Staatsgewalt, die sie zu etwas zwingen wollten. Zum Glück wurden die in dem Moment nicht woanders gebraucht und hatten Zeit, die guten Ratschläge anzuwenden. Einblendung 195 Polizistin: Man muss erst mal merken ‚ich bin hier in 'ner Sackgasse und jetzt muss ich kreativ sein und mir überlegen, wie komme ich aus dieser Sackgasse wieder raus? Und das unter Stress, gerade wenn die Einsatzlage das nicht zulässt, ist das wirklich schwer. Wirklich. Und zum Beispiel die Idee, dass wir 'nen Krankenwagen rufen könnten, sind wir überhaupt nicht gekommen, denn diese Dame, die war mobil und alles. Und da will man ja die Kollegen, die sonst Leben retten, will man ja auch nicht ... zusätzlich noch mehr Kräfte ranziehen. Erzähler Das Ziel der Expertinnen ist es, eine solche Eskalation zu vermeiden. Deshalb bieten sie Schulungen an für Unternehmen und Einrichtungen, deren Mitarbeiter mit Menschen in Kontakt kommen, die irgendwie neben der Spur sind. So sollte jedem Busfahrer klar sein, dass er an der Endhaltestelle eine - vielleicht sogar noch leicht bekleidete - alte Dame nicht einsam ins Dunkel ziehen lässt, sondern sie anspricht und vielleicht Hilfe herbeiruft. Der Sparkassenangestellten sollte auffallen, dass ein alter Mann sich ständig vergewissern will, ob denn sein Geld noch da ist, das er doch lieber in Sicherheit bringen möchte. Und die Kassiererin im Supermarkt muss wissen, dass sie nicht in jedem Fall einen notorischen Ladendieb vor sich hat, sondern vielleicht eine alte Frau oder einen alten Mann, die damit überfordert sind, die Ware auch zu bezahlen. Wenn sich die Situation nicht klären lässt und auch die herbeigerufenen Polizisten trotz aller Schulung im Umgang mit verwirrten Personen nicht mehr weiter wissen, rufen sie den Rettungsdienst. Die Polizistinnen in Uelzen haben vorher doch noch die Kurve gekriegt. Und was hätten die Retter machen sollen mit einer Frau, die - allem Anschein nach - kein medizinisches Problem hat? Oft ist es schon schwer genug, einem verletzten alten Menschen klar zu machen, dass er dringend in die Klinik muss. Einblendung 196 Schön guten Tag, kommense rein, es geht um meinen Vater, der ist 82 Jahre alt, der wohnt hier allein .... RUNTERZIEHEN ATMO LÄUFT WEITER... Erzähler Endlich sind sie da, zwei Männer vom Rettungsdienst der Feuerwehr Hamburg Einblendung 197 ... er lag hier im Flur aufm Boden, ich weiß nicht wie lange ... Erzähler ... berichtet aufgeregt der Sohn, der den alten Mann gefunden hat. Er fürchtet, dass der sich bei einem Sturz verletzt, sich vielleicht sogar die Hüfte gebrochen hat. Mit Mühe und Not hat er ihn in einen Sessel verfrachtet. Routine für die Retter. Einblendung 198 Schön guten Tag, ... wie heißen Sie? Ich bin der Herr Müller. Wie geht es Ihnen? Ja, mir geht's gut, sehnse doch, oder? Ja, was haben Sie denn für Probleme? Ach, da ist nix. Da is nix, sagen Sie... Was ist denn passiert? Nix passiert, da kam der Sohn und ich lag aufm Boden ... RUNTERZIEHEN Erzähler Gespannt verfolgen knapp dreißig junge Kolleginnen und Kollegen die Szene - eine Ausbildungsklasse des Feuerwehr-Rettungsdienstes. An diesem Tag sind sie zu Gast im Hamburger Marienkrankenhaus. Der Chefarzt der Geriatrie hat sie eingeladen, um ihnen "die Welt aus der Sicht der Demenzkranken" zu erklären - so der Titel des Seminars. Der ‚Sohn' und sein ‚Vater' sind Ausbilder. In dieser Übung zeigen sie, was sie in langen Jahren als Sanitäter im Rettungswagen erlebt haben. Der Patient, der keiner sein will, ist genervt und versteht nicht, was der ganze Zauber überhaupt soll - wo für ihn doch alles in Ordnung ist. Einblendung 199 ... ich würd ganz gern einmal gucken, ob wirklich Alles in Ordnung ist! Ne, brauchen Sie nicht - sind Sie denn der Notarzt? Wir sind vom Rettungsdienst. Sind Sie der Notarzt? Wir sind keine Notärzte, aber wir ... Sie sind nicht mal Notarzt, ich dachte, Du hast den Notarzt gerufen ... Vati, nun lass die doch mal machen ... Da kommen solche Jungspunde von der Feuerwehr ... Erzähler Da hat er Recht, aber auch ein Sanitäter kurz vor der Pensionierung hätte beim ihm keine Chance. Er beharrt darauf, dass nicht passiert sei und es ihm gut gehe. Einen Fingerclip, um die lebenswichtige Sauerstoffsättigung des Blutes zu messen, will er sich nicht anlegen lassen. Noch ein Versuch: Einblendung 200 Ich würd vorschlagen, wir machen jetzt einmal den Clip an den Finger ... Ich würd vorschlagen, Sie gehen jetzt wieder ... LACHEN ... Erzähler ... was natürlich nicht infrage kommt. Alle Versuche, den störrischen Alten aus seiner Abwehrhaltung zu locken, schlagen fehl. Der zweite Sanitäter probiert es anders: Einblendung 201 Sitzen Sie denn immer in diesem Sessel oder haben Sie normalerweise ... Ja, hier guck ich meistens Fernsehen und verbring meinen Tag. OK, und wenn Sie auf Klo müssen, können Sie auch alleine laufen? Ja, das klappt. Wollen wir es einmal kurz probieren? Ne ne, ich muss ja gar nicht. LACHEN Aber wenn wir jetzt gehen wollen, müssen wir den Weg zur Tür finden. Wenn Sie jetzt gehen wollen? Ja, mein Sohn ist doch da, der zeigt Ihnen, wo die Tür ist ... LACHEN Aber ich will einmal sehen, ob Sie das noch hinkriegen. ... Dann warten wir jetzt auf den Notarzt... Vielen Dank! APPLAUS // Erzähler Die Übung dauerte selbstverständlich wesentlich länger und ... Einblendung 202 ... das eine oder Andere war sicherlich etwas krasser als es Ihnen in der Praxis begegnen könnte, aber wir erleben solche Situation mitunter doch auch. .... Erzähler ... möchte der Ausbilder die jungen Kollegen nicht entmutigen, aber doch auf das vorbereiten, was ihnen im Dienst widerfahren wird. Menschen mit Demenz sind ihnen beim Praktikum an den Rettungswachen noch nicht begegnet, aber den einen oder anderen Volltrunkenen mit Platzwunde haben sie schon in die Notaufnahme geschoben. Immer wieder kommt es vor, dass sie nicht hilfreich, sondern offensichtlich bedrohlich wirken - erst recht bei Patienten, die verwirrt sind. Einblendung 203 Man versucht dann dem Patienten ein Gefühl zu vermitteln, dass man ihn versteht - selbst wenn man ihn nicht versteht. Und das fällt sehr schwer, wenn man in der Situation noch nie war wie der Patient. Erzähler ... fasst einer der Auszubildenden das Lernziel des Seminars zusammen: auch in solchen Fällen einen Kontakt herzustellen. Das Wichtigste hat der Kollege bei seinem unwilligen Patienten sofort festgestellt: Der war nicht in Lebensgefahr. Zur Begrüßung hat er seine Hand ergriffen und dabei unauffällig den Puls gefühlt. Das Herz schlug regelmäßig und ansprechbar war er auch. Begegnungen dieser Art nehmen zu - nicht nur beim Rettungsdienst. Immer mehr Menschen werden immer älter. Damit steigt auch das Risiko, dass ihnen der Alltag entgleitet. Damit müssen wir klar kommen. Jeden Tag aufs Neue. MUSIK Erzähler Was machen wir, wenn das Leben in der eigenen Wohnung irgendwann zu beschwerlich wird, Angehörige mit der Sorge, vielleicht auch der Pflege, überfordert sind? Es ist auch legitim, dass die eine solche Aufgabe nicht übernehmen wollen. Und vielleicht sind überhaupt keine Angehörigen da. Was dann? Da gibt's doch noch die Wohngemeinschaften, wenn es kein Heim sein soll. Sie werden immer beliebter. Einblendung 204 Atmo Christine: Guten Morgen, Emmi! Emmi: Morgen! Ch: Gut geschlafen? E: Ja, bestens! Ch: Na, das ist ja schön, prima.... LÄUFT WEITER ... Erzähler Emmi, schon in den Neunzigern, kommt ausgeruht zum Frühstück. Christine hat den langen Esstisch schon gedeckt. Sie hat Dienst an diesem Morgen in der Wohngemeinschaft in St. Georg, dem Innenstadt-Viertel am Hamburger Hauptbahnhof. Einblendung 205 Atmo Wohnküche ... Erzähler Sechs alte Damen und ein Herr mit Demenz leben in dieser WG der Amalie- Sieveking-Stiftung. Christines Kollege Helmut kommt dazu, Lotte an der Hand. Einblendung 206 Atmo Gespräch Helmut:.... und Emmi kennste auch. Lotte: Emmi hieß die? He: Sie heißt Emmi. Weißte denn noch, wie ich heiß'? Lo: Ne. He: ich hab jetzt auch mein Schildchen nicht um, das ist kaputt gegangen. Lo: das ist kaputt gegangen, das hab ich gesehn. He: Ach, das haste gesehen? Das ist schon mal gut! ‚Helmut'! .... Dann ist gut.... He: Was machen wir denn heute Morgen mal? Was wolln wir machen? Wennse Alle am Tisch sitzen.... Lo: Schlafen könn' wir nicht.... He: Ne, das ham wir ja gemacht, das können wir ja nicht den ganzen Tag machen....Wir setzen uns einfach noch mal erst hin....pass mal auf, Emmi macht auch mit ... Emmi, was machen wir heute? Emmi: Rätselraten! He: Rätselraten? Em: Ja! He: Oha....Ja? Em: Mhm! .... He: Na gut .... Em: Oder den Ball immer so prrrt .... prrrt ..... He: Das könnwer auch machen, da muss der Tisch aber frei sein. Da muss der Tisch erst frei sein.... Atmo: Geräusche Wohnküche ... LÄUFT WEITER ... (Siehe 205) Erzähler Mit weit ausholender Bewegung zeigt die zierliche, ziemlich fit wirkende Emmi, dass sie einen Ball über den langen Tisch kullern möchte, hin und her. Einblendung 207 Atmo: Em: Ja ja He: .... Da haben einige ja noch gar nicht gefrühstückt. Erzähler Denn Alle können schlafen, so lange sie wollen. Mittlerweile ist es halb elf. Also Rätselraten: Einblendung 208 Atmo Helmut: Wir fangen an mit dem Buchstaben 'T' .... Emmi: Ja. Der Tiber! He: Ne, erst 'ne Stadt. Eine Stadt mit 'T'? Lotte? Lotte: .... die Hunger hat.... He: .... die Hunger hat, aha. Hast Du noch Hunger? Em: Tripolis! He: Jetzt noch eine Stadt in Deutschland ... RUNTERZIEHEN ... Erzähler Die Bewohnerinnen werden nicht einfach versorgt, sie bewältigen mit Hilfe von Pflege- und Betreuungskräften gemeinsam ihren Alltag - so gut sie können. Zum Konzept gehört auch der Einkauf im Supermarkt zwei Straßen weiter. An diesem Tag ist das die Aufgabe von Emmi und Helmut. Die Alten sind im Quartier sichtbar und nicht hinter Mauern versteckt. Einblendung 210 Atmo Küchenarbeit Emmi/Helmut Erzähler Die offene Küche ist der Mittelpunkt des gemeinsamen Alltags. Was sie ihr Leben lang konnten, können sie in der Wohngemeinschaft weiter tun. Emmi hilft Helmut, Paprika in feine Streifen zu schneiden, fein säuberlich in atemberaubendem Tempo Einblendung 211 Atmo Emmi: Das ist nicht gut. Helmut: Jo, das machst du schon.... Du nimmst das ja noch genauer wie ich.... Emmi: genauer 'als' .... He: Richtig! .... Em: Komparativ bitte mit 'als'! .... Erzähler Emmi war früher Lehrerin. Sie ist die aktivste der kleinen Gruppe und hilft gern. Einblendung 212 Emmi: Immer nicht, aber, wenn ich Lust habe, denn ich bin ja schließlich einundneunzig Jahre alt, da tu ich immer nur das, was mir Spaß macht! Erzähler Das ist ihr Lebensmotto. Und wenn das auch noch die Fachleute gut finden, weil es ‚Kompetenzen erhält' - wie sie sagen - und ‚den Abbau von Fähigkeiten verlangsamt', ist es um so besser. Einblendung 213 Emmi: Wir kommen gut miteinander aus, am liebsten lachen wir miteinander.... Aber nie bösartig lachen, nicht Auslachen, sondern Mitlachen! Erzähler Gelegenheiten gibt es genug. Manches ist einfach komisch in ihrem Alltag. Einblendung 214 Helmut: Lotte. hast du großen Hunger oder kleinen Hunger? Lotte: Das weiß ich doch jetzt noch nicht! He: Da hast du auch wieder Recht.... Lo: Ich hab doch noch gar nichts gegessen.... He: .... dumme Frage, ne ... bitte sehr! Lo: Danke! Atmo: Essen am Tisch Erzähler Die Herausforderung für die Betreuungs- und Pflegekräfte ist, mit solchen Situationen geradezu spielerisch umzugehen: Die Alten ernst zu nehmen mit dem, was sie sagen und tun, sie nicht lächerlich zu machen, sondern mit ihnen über das Komische zu lachen - was etwas Befreiendes hat. Und es gilt, ihnen immer nur so weit zu helfen, wie es tatsächlich erforderlich ist - aber auch nicht weniger. Etwa beim Essen. Bei Ilse genügt es, wenn die Betreuerin Christine daneben sitzt und sie immer wieder ermuntert - egal, wie lange das dauert. Währenddessen muss Helmut dem ‚Doktor', wie sie den alten Arzt respektvoll nennen, das ‚Essen reichen'; so sagen die Fachleute. Für andere ist es ‚füttern'. Einblendung 215 Atmo Walter bei Ilse im Wohnzimmer: .... und gelernt hast du bei Foto Grimm inne Colonnaden.... Il: Ja .... Wa:.... da bist du jeden Tag mit'm Fahrrad von Lemsahl nache Colonnaden .... Erzähler Am Nachmittag sitzt Walter bei Ilse am Bett. Der 87Jährige hat sie zu Hause betreut und gepflegt, bis er selbst mit seinen Kräften am Ende war. Das ist jetzt die Aufgabe der Profis. Er besucht täglich seine Frau, knüpft an alte Erinnerungen an und ist einfach da. Ilse liegt auf ihrem Bett, das die Helfer in den großen Tagesraum geschoben haben. So kann sie sich entspannen und trotzdem am Geschehen in der Gruppe teilhaben. Einblendung 216 Atmo Walter: Helmut! ... LÄUFT WEITER Erzähler Ilse muss zur Toilette gebracht werden. Das schafft Walter nicht mehr. Helmut kommt. Einblendung 217 Atmo He: Soll ich mal? .... Guck mich mal an! .... Was singen wir jetzt - mit Amsterdam das wieder? Tatadam pampampampampampam, Tulpen aus Amsterdam.... Erzähler Ilse hat Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu koordinieren. Helmut stellt sich vor sie, nimmt ihre Hände, bewegt sich im Takt und animiert sie, sich dem Rhythmus anzupassen. Gemeinsam - Walter schiebt ein bisschen von hinten - schaukeln sie zur Toilette. Vieles ist so in dieser und in anderen Wohngemeinschaften, wie es dem Standard in Pflege und Betreuung entspricht - oder besser: entsprechen sollte. Das Personal hat einfach mehr Zeit als die Kollegen in großen Einrichtungen und die Gruppe ist klein. Das haben die Angehörigen so gewollt. Sie sind verantwortlich dafür, was geschieht: Die WG ist nämlich kein Heim, sondern - wie es im Sozialgesetzbuch heißt - die ‚eigene Häuslichkeit'. Sie haben für die Bewohnerinnen einen ganz normalen Mietvertrag für das WG-Zimmer unterschrieben. Den jeweiligen Anspruch auf ambulante Pflegeleistung haben sie sozusagen ‚in einen Topf geworfen' und gemeinsam einen Pflegedienst ausgesucht. Der sorgt dafür, dass sich rund um die Uhr Fachpersonal um die verwirrten Alten kümmert. Erst allmählich wird diese Form der Versorgung etwas bekannter. Für Heino, der sich als gesetzlicher - ehrenamtlicher - Betreuer um eine alte Bekannte in der WG kümmert, war die Idee neu: Einblendung 218 Heino: Dann haben wir uns ein wenig darüber schlau gemacht, was eigentlich eine WG war, vorher wusste ich das also auch nicht, und dann haben wir festgestellt, das ist etwas ganz Besonderes, hier wird man liebevoll umsorgt und da haben wir gesagt ‚das ist das Richtige'. So bin ich da reingekommen. Erzähler Regelmäßig kommt Heino mit seiner Frau vorbei. Er sitzt am Tisch und hält Evas Hand. Das Paar hat dafür gesorgt, dass die verwirrte alte Dame einen Platz gefunden hat, an dem sie für den Rest ihres Lebens bleiben kann. Einblendung 219 Heino: Also, ich glaube, es gibt nichts Besseres als Wohnform. Vielleicht ist es etwas aufwendiger, weil man etwas mehr Verantwortung übernimmt: Wenn man in einem Heim ist, wird einem letztendlich schon ziemlich viel abgenommen, während wir uns hier in unserer WG um Alles kümmern müssen. Die Pflege übernimmt natürlich der Pflegedienst, aber auch das ganze Drumherum - wenn die Waschmaschine kaputt ist oder es mal Mieter gibt, die sich beschweren, dass wir zu viel laufen oder so etwas. Da gilt es dann eben, ja, füreinander da zu sein und gemeinsam dieses Problem zu lösen. Erzähler Die Kosten sind unterschiedlich, je nach Region, auf dem Dorf anders als in der Stadt. In etwa entsprechen sie dem, was auch bei einem ganz normalen Heim um die Ecke fällig wird. Für den, der das nicht selbst bezahlen kann, springt - wie im Heim auch - die Sozialhilfe ein. Am Geld sollte die Idee also nicht scheitern ... MUSIK Erzähler Wenn sich an unserer gesellschaftlichen Reaktion auf Menschen mit Demenz etwas ändern soll, müssen sich die Vorstellungen ändern. Henriette Herwig, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Düsseldorf, forscht über ‚Alte im Film und auf der Bühne', über ‚Merkwürdige Alte' - so die Titel zweier ihrer Bücher - und darüber, was Schriftsteller aus ihnen machen. Einblendung 220 Herwig: Mich interessieren ganz besonders literarische Umsetzungen und Darstellungsweisen des Problems, die auch ästhetische Qualitäten haben, was bedeutet, dass sie das Phänomen unter Umständen multiperspektivisch ausleuchten, dass sie eben gerade nicht mit stereotypen Vorstellungen des alten Menschen oder auch des demenzkranken Menschen arbeiten, sondern vielleicht auch Überraschendes zum Vorschein bringen... Erzähler Es geht ihr aber nicht darum, dass Autoren - wie oft Journalisten - die Situation nur beschreiben, sondern ... Einblendung 221 Herwig: ... dass sie uns wachrütteln, dass sie uns auf unsere Vorurteile aufmerksam machen, dass sie helfen, die Vorurteile und vielleicht auch die normativen Vorstellungen, die sich dahinter verbergen, zu überdenken, zu relativieren, dass sie uns vielleicht auch schockieren... Erzähler Da fällt uns natürlich zuerst ein, wie Arno Geiger sich mit seinem Vater auseinandersetzt, beschrieben als ‚Der alte König in seinem Exil'. Dessen Verhalten ist - vorsichtig ausgedrückt - oft ziemlich anstrengend: Die Familie leidet und der schreibende Sohn lässt uns daran teilhaben. Auch an der schwieriger werdenden Kommunikation, geprägt durch eine verdrehte Sprache des Alten. Einblendung 222 Herwig: Die neuen sprachlichen Wendungen des Vaters, die vielleicht auf die durch die Demenz gestörten kognitiven Ordnungsmuster zurückzuführen sind, wirken auf ihn aber nicht als krankhaft, sondern im Gegenteil sogar als brillant, kreativ, poetisch und dadurch rückt er sie in die Nähe des poetischen Sprachgebrauchs, der Poesie, und das ist wiederum dann etwas, das er selber mit dem Vater teilt. Erzähler Nun sind nicht alle, die Sorge tragen für einen Menschen mit Demenz, Schriftsteller und reagieren auch nicht mit Anerkennung ob der Kreativität, wenn ihr Angehöriger versucht, ihnen etwas mitzuteilen. Das ist der Moment, in dem es weniger um die Brillanz, die Form, geht, oft auch weniger um den Inhalt als vielmehr darum, irgendwie in Kontakt zu bleiben. Das ist auch Arno Geiger schwer gefallen, wie er uns mitfühlen lässt, auch wenn er den - schwachen - Trost der Poesie hat. Die Kulturwissenschaftlerin Herwig stellt die Definition einer Demenz als Krankheit nicht in Frage. In der Regel orientieren sich auch die Autoren, deren Werke sie untersucht hat, an den medizinischen Krankheitsbildern. Einblendung 223 Herwig: Aber sie kontextualisieren sie, sie betten sie in persönliche Lebensgeschichten, in Familiengeschichten ein. Sie geben dem Krankheitsbild möglicherweise eine neue Deutung und das kann ganz unterschiedlich sein. Erzähler Als Beispiel führt sie Jonathan Franzens Essay My Fathers Brain an, in dem der amerikanische Schriftsteller seinen Vater als eine starke Persönlichkeit beschreibt - durch alle Phasen der Demenz hindurch bis zum Schluss. Einblendung 224 Herwig: Bis dahin, wie Franzen es dann formuliert, dass der Vater darauf bestehen würde, auf seine eigene Art und Weise zu sterben. Und da erhebt der Text, der literarische Text, der ja hier auch biografische und autobiografische Wurzeln hat, Einspruch gegen die neurophysiologische Diskursmacht. Erzähler Die Kunst besteht darin, eine solche Lebenssituation nicht zu bagatellisieren, gar in ein romantisches Licht zu tauchen, sich aber auch nicht in einem reinen Katastrophenbild zu verlieren. In dieser geglückten Gratwanderung zeige Geiger eine besondere literarische Qualität: Einblendung 225 Herwig: Der Text erzählt in sehr dichter Weise einen Krankheitsverlauf, der sich in der Realität ja quälend langsam hingezogen hat. Und er schafft, indem er Sätze des Vaters, z.B. "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter", zitiert, schafft er komische Pointen. Und er macht dadurch etwas erträglich, was in der Realität vielleicht unerträglich wäre. Das wird in dem Text auch selber kommentiert, nämlich dadurch, dass die Schwester des Ich-Erzählers es nicht erträgt, ihren Vater im Altersheim zu besuchen, aber es sehr gut erträgt, es zu lesen, was ihr Bruder darüber schreibt. Wie kommt das? Das muss mit genau dem zusammenhängen, dass durch dieses Maß an Verdichtung von Pointen eine Heiterkeit erzeugt wird, die im Leben nicht da wäre. Und das bringt mich auch zu einem sehr wichtigen Aspekt, im Zusammenhang mit positiver Altersdarstellung: Der Humor, die Selbstironie, die Gelassenheit - das kann dann eben in einer Weise zum Ausdruck kommen, wie es in einem dokumentarisch protokollierten Bericht vom Pflegealltag vermutlich nicht der Fall wäre. Erzähler Kann man das auf die Bühne bringen? Eine gesellschaftliche Herausforderung, dargestellt an einem persönlichen Schicksal, auf eine Art inszeniert, dass ein breites Publikum nicht abgeschreckt, aber auch nicht mit einer kitschigen Lösung eingelullt wird? Einblendung 226 Deuflhard: Ja auf jeden Fall ... Erzähler ... ist sich Amelie Deuflhard sicher. Die Hamburger Intendantin inszeniert ihre Kulturfabrik Kampnagel als einen Ort des gesellschaftlichen Diskurses. Da ist die Herausforderung Demenz auch eine fürs Theater. Einblendung 227 Deuflhard: Es gibt ja eine ganze Reihe von Regisseuren auch, die sich mit dem Thema beschäftigen, auf sehr unterschiedliche Art und Weise und man muss natürlich aus meiner Sicht ästhetisch die richtige Form finden... Erzähler Die Theatermacherin, die auch selbst die Herausforderung einer Demenz in ihrer Familie erlebt hat, denkt daran, etwa die Orientierungslosigkeit der Verwirrten im Raum in einem Tanzprojekt darzustellen. Aber nicht in perfekter, bis ins letzte Detail ausgefeilter Fassung. Einblendung 228 Deuflhard: Man macht das dokumentarische Theater mit den Akteuren, die quasi Spezialisten für ihr Leben sind. Das würde bedeuten, man arbeitet mit dementen Menschen. Und die zweite Möglichkeit ist, man arbeitet mit Schauspielern und lässt die das Thema spielen, wie auch immer. Ich persönlich würde eher so einen dokumentarischen Ansatz bevorzugen, mit den Experten, also quasi dann auch mit den Dementen und einer Mischung aus Dementen und nicht dementen Menschen. Und das Theater muss ja auch nicht das Leben genau nachspielen, man kann ja auch über Fiktionalität vieles von dem darstellen, was in Wirklichkeit ist, finde ich auch eine sehr gute Möglichkeit. Erzähler Das hat der preisgekrönte französische Stückeschreiber Florian Zeller getan. Le Pére, Der Vater, ist eine tragische Farce in fünfzehn Szenen, aufgeführt allein von Schauspielern ohne Demenz im Hamburger St. Pauli-Theater. Volker Lechtenbrink spielt einen alten Mann, der bei seiner Tochter und deren Mann lebt - oder doch nicht? Er ist verwirrt: Einblendung 229 Und genau das passiert auch ein bisschen mit dem Zuschauer weil er auch irgendwann nicht mehr weiß wo er ist. Bin ich bei der Tochter bin ich bei dem Vater, wer wohnt da eigentlich? ... Erzähler ...sagt Ulrich Waller. Er ist der Intendant des St. Pauli-Theaters und hat das Stück inszeniert. Einblendung 230 Waller: Und das war so der Ansatz der Arbeit, dass man dieses Gefühl, was man wohl haben muss, wenn man von dieser Krankheit betroffen ist, dass die Zuschauer plötzlich davon auch was mitkriegen und zwar nicht, in dem darüber geredet wird, sondern indem man das sinnlich miterlebt. Erzähler Die Uhr des alten André Uhr ist verschwunden - vermutlich gestohlen von der Pflegerin, die seine Tochter ihm auf den Hals gehetzt hat, und so weiter. Alles drin, was Zuschauern vertraut ist, die selbst einen Menschen mit Demenz in ihrer Nähe haben oder sich mit dem Thema beschäftigen. Faszinierend ist, wie sich die Verwirrung des Hauptdarstellers auf das Publikum überträgt: Der Autor Zeller lässt den Regisseur die Rollen der jungen Leute doppelt besetzen, die sich von Szene zu Szene abwechseln. Dem ist Ulrich Waller in seiner Inszenierung natürlich gefolgt. Einblendung 231 Waller: Also das war für alle eine Zeitlang erst mal verstörend, die verschwinden auch wieder und dann tauchen wieder die alten auf, das zieht die Schraube ja auch noch mal zusätzlich an. Ich war ja jetzt nicht in den Köpfen der Zuschauer. Man merkte, dass da schon erst mal so ein Erstaunen war. Gut ist auch die Komik, wenn man darüber streitet über das, was man gerade sieht und was man gerade wahrnimmt, und die einen ihre Wirklichkeit behaupten, also die wir Normalen erleben, und er, der außerhalb dieser Normalität steht, behauptet genau dasselbe. Und als Zuschauer denkt man für eine Sekunde, weil man das ja gerade miterlebt hat, wie er guckt: Eigentlich hat er auch recht. Und dann wird es spannend. Erzähler Das heißt aber nicht, dass die Zuschauer das auch zu schätzen wissen. Die einen wollen vielleicht nicht auch noch im Theater sehen, was sie in ihrer Umgebung ertragen. Und die anderen interessieren sich nicht dafür. Einblendung 232 Waller: Also die Menschen waren erst mal erschlagen und dann war erst mal Ruhe und dann haben sie sich sozusagen auch das, was sie gerade erlebt haben über den Applaus vielleicht noch mal weggeklatscht. Aber gleichzeitig ist das ja auch immer ein Signal oder ein Zeichen dafür, was man gerade erlebt hat oder ob einen das begeistert hat oder nicht. Es ist nicht so, dass man danach erlebt hat, dass die Leute ruhig waren und irgendwie rausgegangen sind und gesagt haben: "Lass mich damit in Ruhe!" Nein im Gegenteil, dass man das so auf eine Bühne stellt und somit auch wieder in den Fokus der Gesellschaft rückt, weil man ja ungern über Krankheiten redet, hatte ich immer das Gefühl, dass die Menschen dankbar dafür sind und dass sie das unbedingt wollen und eigentlich froh sind, dass man endlich anfängt darüber zu reden... Erzähler ... und dem Publikum ein derart schweres Thema auf eine im besten Sinne unterhaltsame Art nahebringt. Das kann auch mit sehr jungen Zuschauern gelingen: Studiobühne im Hamburger Ohnsorg-Theater, der kleine Saal des Hauses, das einem breiten Publikum eher durch schrullige Figuren bekannt ist, die mit ‚Tratsch im Treppenhaus' - gern auf Platt - norddeutsche Lebensart verkörpern. Einblendung 233 Atmo: Aufführung .... Erzähler Eine bunte Schar von Kindern aus dritten Klassen mehrerer Grundschulen sieht andächtig zu, wie ein Junge - etwa in ihrem Alter - mit seiner Großmutter klar kommt. Nicht einfach, denn die ist Tüdelig in'n Kopp - so heißt das Stück. Einblendung 234 Atmo: Aufführung Geld suchen LÄUFT WEITER Erzähler Die alte Großmutter vergisst dauernd etwas, verwechselt Dinge, wird misstrauisch, holt ihr Geld von der Bank, versteckt es in der Wohnung und sucht es anschließend - wobei das Publikum mit lauten Zurufen hilft. Edda Loges spielt die Großmutter als eine sympathische alte Frau, was den Stoff für die Kinder nicht leichter macht. Einblendung 235 Loges: Das ist ja nun mal die Realität. Und ich denke, Kinder, die so klein sind, die wollen auch gern wissen, was mit der Oma passiert. Und in den nächsten Jahren wird ja viel mehr auf uns zukommen und dass die Kinder dann auch damit umgehen können und merken, dass es nicht ganz so schlimm ist im Anfang. .. Erzähler Der Einzige, dem sie traut, ist ihr Enkel, der mit der schwierigen Situation klarkommen muss. Christopher Weiß spielt ihn. Einblendung 236 Weiß: Was aber natürlich wichtig war für uns, war, dass der Junge mit dieser Krankheit auch spielerisch umgehen darf. Und es nicht gleich bewertet - zwar spürt, da ist irgendwas nicht in Ordnung, aber es nicht benennen kann, es eher intuitiv wahrnimmt und sich dann auch ein bisschen auf das Spiel der Oma einlässt. Und durch das Spielerische man ganz lange auch 'ne Leichtigkeit in dem Stück entwickeln kann, wo man dann eher andockt, als wenn es gleich sehr problematisch wird. Ehlers: Das kommt sehr gut an bei den Kindern, die gehen da ein bisschen leichter mit um als Erwachsene vielleicht... Erzähler ... ist Cornelia Ehlers Erfahrung, die das Stück nach der Vorlage des schwedischen Kinderbuch-Autors Ulf Nielsen auf die Bühne gebracht hat. Einblendung 237 Ehlers: Sie empfinden ein starkes Mitgefühl - das erfahren wir immer wieder in den Nachgesprächen, wenn die Kinder den beiden Schauspielern Fragen stellen, dann merkt man, sie gehen mit uns sie merken, mit Oma stimmt 'was nicht, und stellen die entsprechenden Fragen. Erzähler An diesem Tag haben die Kinder im Ohnsorg-Theater eigentlich gar keine Fragen. Sie wissen Bescheid, wovon sich Cornelia Ehlers im Publikumsgespräch überzeugt. Einblendung 238 Ehlers/Kinder: Was war denn da los mit Oma, mit ihrem Kopf? Ich glaub, das ist irgendeine Krankheit, wo sich die Menschen dann verändern. Die werden dann ganz schön vergesslich. Ja! Die Krankheit heißt 'Demenz'. Ja. Hängt auch mit Alzheimer zusammen. E: Genau! Erzähler Das eine oder andere Kind hat das in der eigenen Familie erlebt. Aber das Wissen, worum es dabei geht, habe sie aus dem Unterricht. Eine Klasse ist dabei, die in einem Schulprojekt Menschen mit Demenz getroffen hat. Sie haben sich gemeinsam eine Aufführung erarbeitet. Dabei haben sie erlebt, was sie an diesem Tag in der Inszenierung von Cornelia Ehlers bei der Oma gesehen haben: Einblendung 239 Ehlers/Kinder: Was war denn gleich, was habt Ihr gemerkt? Die haben auch ganz viel vergessen. Ja? Was haben die zum Beispiel vergessen? Wenn wir's geübt haben, dann war es nicht immer so, dass sie es dann wussten. ... Also am Freitag üben wir immer mit denen so ein Theaterstück und - zum Beispiel - wenn wir dann am nächsten Freitag wiederkommen, dann haben die meistens auch vergessen, wer wir sind und wie wir heißen. Und in Eurer Premiere, haben die da auch Sachen vergessen? Ja, manchmal. Und dann haben wir denen das zugeflüstert. Ja, ich habe Brigitte manchmal zugeflüstert. Und wenn sie so nicht richtig wusste, was ich mein, dann hab ich gesagt 'Du kannst improvisieren!' Dann hat sie irgendwas gesagt. Und die Leute wissen ja nicht, ob das dazugehört und deswegen ist das ja kein Problem. E: Genau ... Einblendung VOR 240 GESANG: Jeden Morgen geht die Sonne auf Erzähler Freitagmorgen halb elf, Theatersaal des Bürgertreffs Altona-Nord. Die Schüler aus dem Ohnsorg-Theater haben eingeladen. Acht von ihnen treffen an diesem Vormittag wieder acht alte Menschen aus einem benachbarten Pflegeheim - ‚ihre Senioren', wie sie die Alten nennen. Unter dem Titel Vier verschiedene Fröhlichkeiten wollen sie ihren Mitschülern zeigen, was sie sich gemeinsam erarbeitet haben. Das ist nicht so etwas wie schmückendes Beiwerk zum Lesen, Schreiben und Rechnen. Das Wahrnehmen der gesellschaftlichen Realität und die kulturelle Bildung gelten als Schlüsselqualifikationen an der Grundschule Arnkielstraße - die ist ja auch UNESCO- Projektschule. Einblendung 240 Atmo Aufführung Musik, Lachen .... Erzähler Das gemeinsame Lied zum Anfang ist verklungen. Gespannt sitzen alte und junge Mitspieler auf ihren Stühlen im Kreis, die zuschauenden Schüler hinter ihnen auf Polstern am Boden. Die Lehrerin Jutta Wilhelm hat sie begrüßt und jetzt geht es um die Geschichte von Frederick, der Maus. Er und seine Mit-Mäuse sammeln, was nützlich ist in der kommenden dunklen Jahreszeit: Sonnenstrahlen, Töne und bunte Bilder, symbolisiert durch bunte Tücher. Die schwingen die Kinder und geben sie an ihre Senioren weiter, die es ihnen nachtun - so gut es geht. Henry hilft seiner Seniorin dabei: Einblendung 241 Henry: Ich war mit Renate ein Team und meine Aufgabe war halt, Renate zu unterstützen, weil sie hatte 'nen Schlaganfall und hat seitdem schwere Probleme und dann sollte ich ihr halt helfen, wenn sie zum Beispiel aufstehen muss oder - deswegen war ich mit ihr zusammen, weil - also ein Team, weil ich sie dann unterstützen sollte. Sie dachte, dass ich das gut kann. Erzähler Für die Alten ist es eine Abwechslung vom Alltag im Heim. Einblendung 242 Frau: Das macht immer Spaß, hier zu sein und mit uns Allen, das macht mir immer Freude. Das lebt auf, nicht? LACHT Ja. Pl: Und geht das mit den Kindern? Die sind merkwürdigerweise auch immer hier sehr, sehr, leben hier direkt dafür. Schön! Und das spüren wir ja, nicht. Man darf das nicht sagen, aber wir spüren das. LACHT Dankeschön. Sie haben auch mitgespielt. Ja. Wie war's? Schön. Wir haben das schon mal gemacht, vor vier, fünf Wochen, glaube ich. Und das ist das zweite Mal, für mich jedenfalls. Und das ist schön, ganz neu und ganz anders als alle Theater. Erzähler In diesem Projekt sind Klaus und die anderen Senioren nicht Zuschauer, sondern Akteure, im Team mit ihren Kindern. Beide erleben sich in anderen Rollen als gewohnt. Klaus' Begleiterin hatte die Aufgabe ... Einblendung 243 Kind: ... ihn zu unterstützen und ihm zu helfen, wenn er Hilfe braucht. Aber ich finde, wenn man sich kennt, ist es nicht so schwer. Braucht der Dich? Nicht wirklich. Ich finde, der kann das auch schon gut alleine. Aber manchmal braucht man eben Unterstützung. Erzähler Eine Erkenntnis, die bei gelernten Altenpflegern als Ausdruck höchster Professionalität gilt: Nur so viel zu helfen, wie unbedingt nötig ist. So behalten verwirrte alte Menschen ihre Fähigkeiten. Das haben die Grundschüler in diesem Projekt bei Jutta Wilhelm gelernt, ihrer Klassenlehrerin: Einblendung 244 Wilhelm: Uns ist ganz wichtig, dass die Schüler einmal eine Hemmschwelle überwinden zum Thema Demenz, die viele Erwachsene haben, dass sie ganz natürlich mit dieser Krankheit umgehen, denn es wird immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft betreffen, diese Krankheit zu haben. Ein zweiter Grund ist, dass die Schüler lernen, Verantwortung zu übernehmen. Und diese Verantwortung, die übernehmen sie natürlich so positiv, dass sie das Ergebnis auch gleich sehen. Wenn sie Verantwortung übernehmen, was bedeutet das? Der Senior kann an dem Projekt teilnehmen - das könnte er sonst nicht. Sie lernen, sich in einer ganz anderen Wahrnehmung zu begreifen - eben nicht als Kind, dem man immer sagt, was es tun muss, um sich weiterzuentwickeln, sondern sie übernehmen plötzlich diese Rolle des Erwachsenen eigentlich und sagen den Senioren, was sie tun müssen, damit sie teilnehmen können. Das ist für das Kind 'ne tolle Erfahrung. Und außerdem haben sie riesenviel Spaß miteinander. Erzähler Das kann die neunjährige Leyla bestätigen. Auch ihr hat es Spaß gemacht - bei aller Mühe: Einblendung 245 Leyla: Ja, also manchmal war es schon anstrengend, wenn man öfters 'was erklären musste, aber sonst war es eigentlich ganz gut. Wie sind denn die Senioren? Also, die sind ganz lieb und so, aber manchmal sprechen sie ein bisschen leise, dann versteht man sie nicht. Aber eigentlich sind sie auch ganz lieb. Erzähler Damit ist vielleicht die Grundlage geschaffen, damit die kommende Generation einen verständnisvollen Umgang mit den verwirrten Alten findet. Eine gute Aussicht, die die Kinder und ihre Senioren am Ende ihrer Aufführung so auf den Punkt bringen. Einblendung 246 Lied: Die Gedanken sind frei ...APPLAUS UNTERZIEHEN, WEITERLAUFEN LASSEN Erzähler: Das war: Die Angst vor dem Vergessen. Die Lange Nacht über Demenz, eine Sendung von Burkhard Plemper. Es sprachen: Martin Bross Ton und Technik: Regie: Jan Tengeler Redaktion: Monika Künzel Musik hoch (Bobo) Musikliste 1. Stunde Titel: T. on a white horse Länge: 03:15 Interpret und Komponist: Eberhard Weber Label: ECM-Records Best.-Nr: 829116-2 (ECM 1084) Plattentitel: The Following Morning Titel: Travels Länge: 01:50 Interpret: Pat Metheny Group Komponist: Pat Metheny, Lyle Mays Label: ECM-Records Best.-Nr: 823270-2 Plattentitel: Works Titel: Sueño con Méxiko Länge: 02:25 Interpret und Komponist: Pat Metheny Label: ECM-Records Best.-Nr: 823270-2 Plattentitel: Works Titel: Travels Länge: 00:50 Interpret: Pat Metheny Group Komponist: Pat Metheny, Lyle Mays Label: ECM-Records Best.-Nr: 823270-2 Plattentitel: Works Titel: Every Day (I Thank You) Länge: 00:50 Interpret und Komponist: Pat Metheny Label: ECM-Records Best.-Nr: 823270-2 Plattentitel: Works Titel: Every Day (I Thank You) Länge: 04:30 Interpret und Komponist: Pat Metheny Label: ECM-Records Best.-Nr: 823270-2 Plattentitel: Works 2. Stunde Titel: Are you going with me? Länge: 03:02 Interpret: Pat Metheny Group Komponist: Pat Metheny Label: ECM-Records Best.-Nr: 817138-2 Plattentitel: Offramp Titel: Au lait Länge: 03:40 Interpret: Pat Metheny Group Komponist: Pat Metheny Label: ECM-Records Best.-Nr: 817138-2 Plattentitel: Offramp Titel: Malafemmena Länge: 02:50 Interpret: Quadro Nuevo Komponist: Antonio de Curtis Label: FINE MUSIC Best.-Nr: 123-2 Plattentitel: Tango bitter sweet Titel: Paroles, paroles Länge: 04:45 Interpret: Quadro Nuevo Komponist: Gianni Ferrio Label: FINE MUSIC Best.-Nr: 123-2 Plattentitel: Tango bitter sweet 3. Stunde Titel: Apnea Länge: 02:50 Interpret: Fresu - Galliano - Lundgren Komponist: Fresu Label: ACT Best.-Nr: 9812-2 Plattentitel: Mare Nostrum 2 Titel: Leklat Länge: 00:40 Interpret: Fresu - Galliano - Lundgren Komponist: Lundgren Label: ACT Best.-Nr: 9812-2 Plattentitel: Mare Nostrum 2 Titel: Apnea Länge: 00:40 Interpret: Fresu - Galliano - Lundgren Komponist: Fresu Label: ACT Best.-Nr: 9812-2 Plattentitel: Mare Nostrum 2 Titel: Toscane Länge: 01:50 Interpret: Philip Catherine Komponist: Catherine Label: ACT Best.-Nr: 9594-2 Plattentitel: The String Project - Live in Brussels Titel: Giselle Länge: 03:20 Interpret: Fresu - Galliano - Lundgren Komponist: Fresu Label: ACT Best.-Nr: 9812-2 Plattentitel: Mare Nostrum 2 Die Angst vor dem Vergessen Eine Lange Nacht über Demenz Seite 2