Deutschlandradio Kultur, Literatur, 9.3.2008, 0.05 Uhr „Tangente Süd" Literarische Versuche, heutige Räume zu beschreiben Von Eveline Passet und Raimund Petschner Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Anfang von Vindonissa Intro: steht eine Weile frei, unterlegt dann sehr leise das Stasiuk-Zitat Zitator (Andrzej Stasiuk): Kein Auto kam uns entgegen, Menschen waren nicht zu sehen. Einmal blinkte hinter einer dunklen Scheibe ein Gesicht. Die gelblichen, vollgesogenen Wiesen strömten talwärts und wurden unten vom anschwellenden Bach aufgenommen. Und überall hing Reglosigkeit. Gardinen in den Fenstern, verschlossene Türen, Pforten, Hoftore, leere Bushaltestellen, nicht einmal ein dummes Huhn. Nur wir, das Wasser unten und die Rauchsträhnen über den Hütten bewegten sich. Die bis an die fernsten Ränder menschenleere Landschaft sah aus wie eine Kulisse, in der erst etwas passieren sollte oder schon passiert war. Raum beherrschte die Gegend, jeden Winkel der Welt füllte er aus wie flüssiges Glas. O-Ton Katharina Raabe: Ich fand ja früher Orts- und Landschaftsbeschreibungen so was von erzlangweilig und hab das auch bei Proust eigentlich erst kennengelernt, was das sein kann, also, was für einen Zauber das hat. Das muß etwas mit dieser Geduld des Immer-wieder-Hinsehens zu tun haben – das Sibylle-Berg-Zitat in das Luftholen von K.R. eingeschoben, so daß deren O-Ton wie nicht unterbrochen erscheint Zitatorin (Sibylle Berg): Wie konnte sie denen daheim sagen, daß es eigentlich so war wie zu Hause, nur mit ein paar Schlingpflanzen? O-Ton Katharina Raabe (Fortsetzung): – und um nochmal zurückzukommen auf die Nicht-Orte, ich glaub, daß einem da die Geduld einfach schnell ausgeht, in so einem Internet-Café. Tangente Süd Literarische Versuche, heutige Räume zu beschreiben Von Eveline Passet und Raimund Petschner O-Ton Katharina Raabe (Fortsetzung): Man hat alles sofort überblickt, und das, was daran interessant ist, hat man verstanden, und man kehrt eigentlich nur zurück, um zu kucken, ob es dann vielleicht dreimal so viele Bildschirme gibt, die da jetzt stehen. Aber das ist ja keine ästhetische Information. Sprecher: Menschen, ob Schriftsteller, Leser oder fiktive literarische Gestalten, bewegen sich durch Räume, leben und handeln an Orten. Sie durchqueren die Ankunftshalle eines Flughafens und haben ihre Kindheit zwischen Dreschmaschine und Jauchegrube verbracht oder auf dem Teppich eines Kinderzimmers, in das der Staubsaugerlärm von nebenan dringt; sie sitzen in Internet-Cafés, kaufen in Supermärkten ein und stehen auf Hochhaustürmen, von wo sich ihnen unter dem Weichzeichner des Smogdunstes die Straßenschluchten einer Weltmegastadt eröffnen; manchmal auch reisen sie in den Regenwald oder an die Ostsee. Sind diese Orte als Gegenstand der Literatur alle in gleichem Maße tauglich? Ist es der eine mehr, der andere weniger, wie Katharina Raabe, Verlagslektorin bei Suhrkamp, meint? Oder stimmt gar jene von Martin Mosebach geäußerte Vermutung, daß unsere heutige Zeit – Sprecherin: – einer neuen Vereinheitlichung des Stils und Geschmacks wie einst im 18. Jahrhundert sehr nah ist, in der die Beschreibung der Räume nicht mehr lohnt – Sprecher: – und sich die räumliche Atmosphäre, das Bild wieder nur aus den Worten und Gedanken der Figuren, ihrer Stimmung und vielen winzigen Spuren zusammensetzen werden? Musik: Paquito d’Rivera, The Jazz Chamber Trio: Anfang (O:25-0:35) von Preludio y Merengue: kurz zäsurierend einsetzen Sprecherin: Dem englischen Schriftsteller Alain de Botton geht die Sprache angesichts jener für das Geschäft der Literatur scheinbar untauglichen, da vereinheitlichten Räume keineswegs aus: Zitator (Alain de Botton): Aus der Bodenperspektive verwandelt sich das weiße Licht nach und nach in die Gestalt eines riesigen zweigeschossigen Rumpfes, dessen vier Triebwerke wie die Ohrringe an unglaublich langen Tragflächen hängen. In dem leichten Regen bildet sich ein Schleier aus feuchten Wolken hinter dem Flugzeug, das sich matronenhaft dem Rollfeld nähert. Dahinter liegen die Vororte von Slough. Es ist drei Uhr nachmittags. In den Einfamilienhäusern wird das Teewasser aufgesetzt. In einem Wohnzimmer flimmert ein Fernseher bei stummgeschaltetem Ton. Grüne und rote Schatten streichen still über Mauern. Alltag. Und über Slough befindet sich ein Flugzeug, das ein paar Stunden zuvor in Singapur abgeflogen ist. Sprecher: Gibt es eine eine Poesie der Flughäfen, der Wartehallen, Tankstellen, wie Alain de Botton meint, der Transit-Räume und Nicht-Orte, und wie ist sie ihnen abzugewinnen? Sprecherin: Bedürfen sie eines anderen literarischen Verfahrens oder Genres, eines anderen Blicks oder Autors als Orte, deren Literaturträchtigkeit sich unmittelbar aufdrängt? (Pause) Aber welche sind die Orte und Räume, deren ästhetisch-literarischer Gehalt sich unmittelbar preisgibt? (Pause) Der von der Geschichte geschlagene, von unvereinbaren Geschmackskonzepten ruinierte Raum, meint Martin Mosebach, bevorzugt zu finden im untergehenden Ostblock. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Anfang von Oogoogajoo: steht eine Weile frei, unterlegt dann wieder sehr leise das Stasiuk-Zitat Zitator (Andrzej Stasiuk): Am Straßenrand gingen schwankende Jungen, die Nacht kam ihnen entgegen und war so riesig, daß jeder sich von ihr die Erfüllung sämtlicher Wünsche erhoffte. Unter den Bäumen, an den Kiosken, in den Gärten standen Tische und Stühle aus Plastik. Sie glichen Herden kleiner Skelette. Die Leute tranken Le?ajskie Bier oder klebrigen Obstwein voller Hitze. Die Frauen saßen da, die Hände auf dem Bauch gefaltet, die Männer gestikulierten, Kinder aßen Chips und bildeten eigene Grüppchen – in getreuer Nachahmung der Erwachsenen. Die weiß-roten Schirme von Prince, die weiß-blauen von Rothmans, Purpur im Westen, im Osten dunkles Blau. Sprecherin: Die Werke des Polen Andrzej Stasiuk mögen wie eine Untermauerung der Mosebachschen Hypothese erscheinen. Ihre eigentlichen Protagonisten sind Orte, nicht Menschen. In dem Roman „Die Welt hinter Dukla“ sind es Orte im südöstlichen Polen, nahe der ukrainischen Grenze, Orte an der Peripherie, doch gleichwohl vom Verschwinden bedroht, da Teil des neuen Europa. So zumindest eine gewisse Angst, die bei Stasiuk immer wieder zum Ausdruck kommt, eine Angst, – O-Ton Katharina Raabe: – daß in dem Moment, wo er sich abwendet und nicht mehr darüber spricht, das schon verschwunden ist. Das bezieht sich aber eigentlich viel mehr auf Landschaften und auf bestimmte Situationen, daß da irgendeine Kuh auf Straßenbahngleisen steht. Das sind Dinge, die werden verschwinden, weil es bald keine Kühe dort mehr gibt. Das wird dann alles so separiert werden wie bei uns. Zitator (Andrzej Stasiuk): Der Alte und der Greis stritten darüber, ob es eine Welt ohne Pferde überhaupt geben werde. Sprecherin: „Die Welt hinter Dukla“, auf Polnisch erstmals 1997 erschienen, ist kein Roman im üblichen Verstande des Worts, der Autor warnt den Leser gleich auf den ersten Seiten: Zitator (Andrzej Stasiuk): Es wird keine Handlung geben, keine Geschichte, zumal in der Nacht, wenn der Raum der Orientierungspunkte beraubt ist, wenn wir von Rogi nach Równe fahren und weiter über Miejsce Piastowe. [...] Es wird keine Handlung geben mit ihrem Versprechen eines Anfangs und der Hoffnung auf ein Ende. Die Handlung ist Vergebung der Sünden, Mutter der Dummen, doch sie kommt um im aufsteigenden Licht des Tages. Sprecherin: „Die Welt hinter Dukla“ ist das Umkreisen und Einkreisen eines Raumes, eines geographischen, aber auch eines Erinnerungsraums: Es sind die Orte der Kindheit, an die der Erzähler wieder und wieder zurückkehrt – und jedes Zurückkehren fügt den früheren Erinnerungsschichten und gesehenen Bildern Veränderung zu: Ergänzung, Umschichtung, Abwandlung. Weshalb das „hinter“ im Titel – „Die Welt hinter Dukla“ – nicht nur lokal, sondern auch temporal und übertragen zu verstehen ist. (Pause) So entsteht aus bildhaften Bruchstücken allmählich ein Raum aus ineinander verschachtelten Orten und Zeiten, ein komplexer, sich selbst genügender Raum: Gerüche, Farben, Licht, Bauwerke, Gegenstände, Tiere, Pflanzen. Zitator (Andrzej Stasiuk): Ich ging auf den Platz an der Post. Er war leer. Die Händler waren weggefahren. Sie hatten die Gestelle mitgenommen, an denen sie bunte elektrostatische Kreationen aufhängten. Wenn der Wind wehte, sprangen zwischen Blusen und Hemden krachend Funken über. Luft fuhr in die glitzernden bunten Hüllen, und die Frauen berührten diese Phantome, nahmen den Stoff zwischen zwei Finger, rieben ihn mit Lust, Kennerschaft und Bewunderung und stellten sich anstelle dieser beweglichen und zarten Leere die eigenen Körper vor. Gelb, Orange und Rosa, goldene Knöpfe, Fältchen und Plastikbroschen, Kettchen, Rüschen, roter Lack, brüchiges Schnallenblech, Stöckelschuhe mit spitzen Kappen und Pfennigabsätze, schäumende Brustkrausen, schattige Décolletés, die Flora und Fauna der Applikationen, die Glastupfen des Flitters, der Plastikglanz der Eidechsenlycra und die insektenhafte Transparenz der Puffnylons mit pyrogener Spitze, Sterne, ferne Länder, sehnsüchtige Planetarien, luziferische Fiktionen aus Fil d’Ecosse, Clips-Monde, gelochtes Geschmeide, Schlangenhaut und die Sonnengebete der Spangen. Das Stasiuk-Zitat, das nicht unbedingt bis zum Ende durchgehalten werden muß, wird heruntergeblendet, während das Sibylle-Berg-Zitat allmählich aufgeblendet wird. Zitatorin (Sibylle Berg): Was für eine überaus reizende Stadt, dachte Miki, als sie weich über Brücken glitt, das Panorama Hongkongs links und rechts, das Meer – gewaltig geputzt sah das aus, und es störte sie nicht einmal. Normalerweise mochte Miki Meere nicht, und auch in Los Angeles hatte sie es nur als Teil der Kulisse akzeptiert, über der die Sonne im Smog versank. Meer war groß und langweilig. Es zu benutzen mühsam, ständig schwappte einem Salzbrühe ins Gesicht, Quallen streifen Gliedmaßen, Sog zerrte am Leib, und danach klebte die Haut. Miki zog ein Wannenbad und Berge vor. [...] Miki fuhr mit dem Lift direkt in die Wohnung, so gehört sich das, und stand in den überzeugendsten Räumen, die sie je gesehen hatte. Dunkles Holz am Boden, weiße Flauschteppiche, 50er-Jahre-Möbel, skandinavisches Design, die hervorragend mit dem Blick durch die komplett verglaste Front zum Meer hin harmonierten. Sprecher: Auch Silbylle Bergs „Die Fahrt“ aus dem Jahr 2007 ist kein Roman mit durchgehender Handlung, mit dem Versprechen eines Anfangs, sich crescendohaft verdichtenden Ereignissen und einer Lösung am Ende, die wie immer sie aussähe, Hoffnung eröffnen würde – auf einen Neubeginn oder anderen Anfang, auf Vergebung der Sünden, Katharsis. In Shortstory-artig abgeschlossenen kurzen Kapiteln treten rund drei Dutzend Protagonisten auf, denen jeweils ein Ort beigegeben ist: „Frank, Berlin“, „Ruth, Tel Aviv“, „Igor, Gden, Ukraine“, „Miki, Hongkong“ usw. Die Protagonisten reisen viel, und so wechseln die Orte in Jet-Geschwindigkeit; es wird auch ein wenig umhergelaufen und viel herumgesessen – in Abfertigungshallen, in Ikea-bestückten Wohnungen oder naturnahen Hütten auf einer burmesischen Mietinsel für Aktivurlauber. Wenn die Figuren in Bewegung sind, klickt sich ihr Auge durch die Umgebung, und der Kopf setzt unter den Schnappschuß die einsortierende, erledigende Bildunterschrift: „überaus reizend“, „groß und langweilig“, „die überzeugendsten Räume, die sie je gesehen hatte“. O-Ton Katharina Raabe: Ich glaube, es ist nicht das Perfekte, was abstößt, sondern das, was nicht mehr zu einem spricht. Also, das ist ja auch so eine Trivialität, daß man in Osteuropa die Geschichte an jeder Wegbiegung noch sieht, da es einfach kein Geld gab, um alles niederzureißen, mit neuen Bauwerken oder mit neuer Straßenpflasterung zu versehen, sondern daß es dort Spurensuche geben kann. Also, ich würde nicht sagen, den Autoren im Westen ist es zu perfekt, sondern es ist zu wenig imaginationskräftig, das, was hier so gut funktioniert. Sprecher: Wie steht es aber um das Funktionieren und die Imagination, wenn Sibylle Berg versucht, ein nicht-westliches Bewußtsein zu gestalten? Sie läßt eine ihrer Figuren, das junge Mädchen Amirita, aus ihrem indischen Dorf zum ersten Mal nach Bombay kommen, um dort ihr Glück zu versuchen: Zitatorin (Sibylle Berg): Amirita stand eine Stunde am Bahnhof Bombays, ehe sie sich imstande fühlte, auf die Straße zu treten. Millionen Menschen, Autos, Restaurants, Geschäfte, Flugzeuge am Himmel – es schien ihr das Paradies zu sein. Und wie die jungen Mädchen sich kleideten. Mit Hosen und bauchfreien Oberteilen, sie saßen auf Mopeds, die sie alleine lenkten, Amirita hatte das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein, zur richtigen Zeit. Sie lief am ersten Tag durch die Straßen und fand sogar einen Job. [...] An jenem ersten Tag in Bombay hatte Amirita das Gefühl, ihre Zukunft begänne jetzt. Sie lief durch das kleine Viertel hinter dem Taj-Mahal-Hotel, alte Villen, moderne Restaurants, Music-Stores, Dinge, die Amirita nie zuvor gesehen hatte, und sie war sich sicher, daß sie bald ein Teil dieser glänzenden Welt sein würde. Sprecher: Auch hier nichts als benennende Aufreihung und das Sortieren der Dinge auf egozentrische Interessen hin. Und mit den Protagonisten aus der reichen Hemisphäre teilt die junge Inderin aus armen Verhältnissen auch die konfektionierte Sprache: „es schien ihr das Paradies zu sein“, „ihre Zukunft begänne jetzt“. In Sibylle Bergs Roman ist der Blick der Figuren noch vor dem Raum vereinheitlicht. (Pause) Und in der Tat geht der Erfahrung des materiellen, wirklichen Raumes stets die informationell-visuelle, die virtuelle Raumerfahrung voraus. Amirita weiß, wie Europa aussieht – Zitatorin (Sibylle Berg): – das kannte sie aus den Filmen: saubere Luft, Berge, Gärten, Parkplätze, von denen man essen konnte – Sprecher: – und Ruth in Tel Aviv, die sich fragt, wie sie denen daheim klarmachen kann, daß es „so war wie zu Hause, nur mit ein paar Schlingpflanzen“, Ruth hat nach ihrer Ankunft in der neuen Stadt alles darangesetzt – Zitatorin (Sibylle Berg): – sich so schnell wie möglich auszukennen, damit sie ihr Leben wie gewohnt würde fortsetzen können. [...] Ruth hatte es schon immer furchtbar anstrengend gefunden, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Darum haßte sie auch Urlaube. Sie fühlte sich wie nicht vorhanden an Orten, da keiner sie benötigte. Sprecherin: Sibylle Bergs Figuren sind entbunden aus begrenzenden Räumen und einengenden Rollen; oder, wie Amirita – eher eine Ausnahme im Bergschen Universum – beginnen gerade sich zu entbinden. Doch statt im offenen Raum an Beziehungsvielfalt zu gewinnen und an Beziehungskraft, gleiten sie an der Fülle der oberflächenhaft glatten, rasch und flott bezeichneten Objekte immerzu ab. Die Welt entmaterialisiert sich, und es tritt, wie bei dem Franzosen Michel Houellebecq, die mörderische Leere der scheinbar befreiten Gesellschaft zutage. Zitatorin (Sibylle Berg): Das gab es also wirklich, solche Filmsituationen ohne Film, dachte sie und sah den Mann befremdet an, und sich sah sie, unmotiviert in dieser Wohnung stehend, in einem Land, das sie nichts anging, [...]. Alles sehr befremdlich, dachte sie, als sie in die Stadt zurückgefahren wurde. Sehr, sehr befremdlich. Mehr fiel ihr zu der ganzen Situation und ihrem Leben im Augenblick nicht ein. Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: Anfang von track 7 (elles bavardaient en hirondelle): zäsurierend Zitator (Lutz Seiler): Die Postmoderne hat mit ihren Fixierungen auf Leichtigkeit, Geschwindigkeit, Flimmern und Fliegen an vor allem entmaterialisierenden Vorstellungen gearbeitet – Sprecherin: – schreibt Lutz Seiler in einem Aufsatz, in dem er den Voraussetzungen seines Schreibens nachgeht und der um die Begriffe „Abwesenheit“, „Müdigkeit“, „Schwere“ kreist. Texte, heißt es dort weiter, die auf Materialität aus sind, auf Substanz, auf Stofflichkeit, suchten darin – Zitator (Lutz Seiler): – das Gewicht der Dinge. Das Gewicht nicht nur als Eigenschaft, sondern als Sprachform der Dinge. Sprecherin: Wie aber läßt sich das Gewicht der Dinge in Sprachform bringen? Vielleicht erscheinen Sibylle Bergs Figuren auch deshalb in jener Halbwirklichkeit der Vorabendserien, weil sie sich eines Alltagsjargons bedienen, der, wenn er nicht verwahrlost ist, so doch eine deutliche Neigung zur Schnelletikettierung hat und die realen Dinge im permanenten Bilder- und Infofluß entwirklicht. das folgende Zitat eingeschoben sprechen, nicht ausstellend Zitatorin (Sibylle Berg): Die Stadt wirkte wie von einem wahnsinnigen Bodybuilder nach einer Überdosis Steroide hinejakuliert. Sprecherin: Wie also läßt sich den Dingen durch Sprache eine materielle Schwere beigeben, damit der Raum, in dem die Figuren eines Textes sich bewegen, einen von deren Wollen und Treiben unabhängigen Eigenwert erlangt? (Pause) Durch Weggehen und Wiederkommen, meint Katharina Raabe, und hat Autoren wie Stasiuk im Sinn: O-Ton Katharina Raabe: Man kann im Grunde einen Ort, den man immer und immer wieder beschreitet und der ein auratischer Ort für einen selber ist, den kann man im Grunde nur durch die ständige Bewegung, durch das Weggehen und das Wiederkommen neu sehen und auf eine Weise sehen, daß einem wirklich auch unabgezogene, unklischierte Worte kommen. [...] Die Beschreibung selber ist natürlich etwas in der Zeit Verlaufendes, und mit diesem Widerspruch muß man ja als Autor auch arbeiten. Und deswegen glaube ich, dieses ständige Hin-und-her-Gehen, das Wiederkehren, das Zurückkommen, Den-Eindruck-Überprüfen, auch die erste Intuition oder die erste Schau nochmal zu überprüfen – ein bißchen ähnlich wie wenn man eine Skizze macht und die dann ausarbeitet – das scheint mir auch was Wichtiges zu sein bei dieser Art von literarischem Arbeiten. Sprecherin: Weggehen und Wiederkehren, die Eindrücke überprüfen, in Abwesenheit über den Ort, die Dinge nachsinnen, sich entsinnen. So entfaltet sich Raum in seiner eigensinnigen Materialität. Zuletzt auf dem Papier, in Sprache. Zitator (Lutz Seiler): sonntags dachte ich an gott sonntags dachte ich an gott wenn wir mit dem autobus die stadt bereisten. am löschteich an der straße stand ein trafohaus & drei & vierzig kabel kamen aus der luft in dieses haus aus hart gebrannten ziegelsteinen; dort im trafo an der straße wohnte gott. ich sah wie er in seinem nest aus kabel enden hockte zwischen seinen ziegelwänden ohne fenster dort am grund im dunkel an der straße hinter einer tür aus stahl saß der liebe gott; er war unendlich klein & lachte oder schlief Sprecher: Die Tür aus Stahl, könnte man meinen, ist kein poetischer Gegenstand. Und doch schreibt der Autor selbst, daß immer, wenn er dieses Gedicht vorlas, ihm schien, als gelangte er durch diese Tür an der Straße in einen Erzählraum. Das andauernd surrende Geräusch, das Tönen der Elektrizität und jenes kleine Warnschild mit Totenkopf und Blitz hoben diesen Ort unter anderen heraus. Zitator (Lutz Seiler): Magische Plätze waren das. Durch jedes dieser Kabel konnte eine Geschichte kommen, die ich mir, wenn ich wollte, nur anzuhören brauchte. Ich mußte nur etwas näher an den Trafo heran, vielleicht das Ohr an den Stahl der Tür legen, etwas, wofür Angst schon genug bereitstand. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Oogoogajoo, ab ca. 3:30, 3:35: kurz zäsurierend Sprecher: Magische Plätze: sie stellen eine Unterbrechung dar in der Homogenität des Raums – wie der sakrale Ort, der sich deutlich abgrenzt vom profanen. Nur kann das Magische auch außerhalb der Religion und überall dort entstehen, wo Orte zu uns sprechen – Sprecherin: – und Unbekanntes in sich bergen, das Unbekanntes in uns wachruft, es umschmeichelt oder sich an ihm scheuert. So ist es mit Orten, die einen Menschen daran erinnern, daß er ein Kind war, und daß die Kindheit nicht so gründlich vergangen ist wie das Erwachsenenleben glauben macht. (Pause) Etwa bei Lutz Seiler. O-Ton Katharina Raabe: Der hat in seinem „Territorium der Müdigkeit“ über die Landschaft seiner Kindheit geschrieben, die es auch nicht mehr gibt. Das war ein Uranabbaugebiet in Thüringen, dessen Orte dann irgendwann tatsächlich in die Tiefe gerissen wurden. Und er hat aus diesen Orten, aus einem dieser Orte, in dem er aufgewachsen ist, all das mitgebracht, was aus ihm die Poesie, die Lyrik erst hervorgetrieben hat, nämlich die ständige Müdigkeit. Dort war so viel Uran im Boden, daß die Menschen alle irgendwie blaß, kränklich usw. waren. Und zugleich war es aber auch eine unglaublich schöne, rätselhafte, in ihrer Zerstörtheit auch immer wieder irgendwie verlockende Landschaft. Zitator (Lutz Seiler): Besuchern wird der sogenannte ‚Revitalisierungspfad Nr. 5’ empfohlen, der über einen Rundkurs von 11 Kilometern allerhand bereithält. Sprecher: Und gegen Revitalisierung ist nun wahrhaftig nichts zu sagen. Auch gegen die Anbindung der Provinz, ihr Näherrücken an die Stadt und an Arbeitsplätze, Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten ist kein Einspruch zu erheben. Wäre da nicht ein poetischer Stachel. Zitator (Lutz Seiler): Für mich war es seltsam und befremdend, daß plötzlich ein Schild mit dem Namen ‚Korbußen’ an der Autobahn auftauchte. Dieses Dorf hatte in meiner Vorstellung viel weiter draußen gelegen, in jeder Beziehung, es hatte nichts zu tun mit Autobahnen. Der Anschluß an die Autobahn schien mir gleichbedeutend mit der endgültigen Zerstörung einer Exterritorialität, wie man sie den Lieblingsorten der Kindheit noch zuspricht, wenn in Wirklichkeit nichts mehr dazu Anlaß gibt. Sprecher: Autobahnabfahrt, Globus-Markt und Managerflugplatz auf dem Territorium der Müdigkeit ... (wobei Lutz Seiler, das sei zwischenhinein gesagt, keineswegs altersmüde ist, wie auch die anderen hier versammelten Autoren: alle sind zwischen 1960 und 1974 geboren). Wie wendet sich die Literatur jenen Nicht-Orten zu, die funktionell bestimmt sind und seriell gestaltet – beispielsweise und im Extrem ein Geldautomat an einem internationalen Flughafen? Wie geht die Literatur damit um, wenn dort, wo der Wald der Kindheit war, sich nun ein Autobahnzubringer befindet? Wenn Orte, die Geheimnis, Geschichte und Eigenheit besaßen, ersetzt werden durch programmierten Raum? Sprecherin: Wie geht sie mit der Austilgung all dessen um, was Seiler ‚Existentialien’ nennt: Schwere und Abwesenheit, das Müde, Langsame, Sperrige? Wer sich dem Vergehenden zuwendet, dazu noch dem Langsamen, und wer Müdigkeit nicht nur negativ konnotiert, ist freilich ein Ketzer. In der Gesellschaft des Dynamismus ist er ein Anders- oder Nichtgläubiger. Seiler und Stasiuk wagen sich auf ein Terrain, dessen grüne Grenze zur Nostalgie sie in die Nähe des Vorwurfs derselben bringen könnte: O-Ton Katharina Raabe: Nostalgie in der Literatur beginnt dort, wo vergangene Zustände als wünschenswert in ihrer Wiederkehr beschrieben werden. Empathie ist der Ausdruck dafür, daß man sich einfühlt in eine Landschaft und Räume, die eine Vergänglichkeit haben wie wir alle auch. Zitator (Andrzej Stasiuk): Nur das, was unvollkommen ist, kann uns trösten, weil wir dann begreifen, daß wir nicht einsam sterben werden. O-Ton Katharina Raabe (Fortsetzung): Es ist eigentlich diese Affinität zu einer Landschaft und Stadt- und Dorfsituation, die kaputt und zerstört ist, die ist alles andere als idyllisch – wenn man dort mal war, will man sofort wieder verschwinden –, aber es ist genau der Versuch zu fragen: Was lebt da eigentlich noch, und was geht da zugrunde und warum. Und wenn man die Grenze jetzt beschreiben soll ganz strikt zwischen Nostalgie und Empathie, ist es, glaube ich, wirklich dieses, daß man es nicht zurückhaben will. Man möchte nicht eine heile Restitution dessen, was jetzt kaputt vor einem liegt, sondern man will mit dem Kaputten sozusagen mitgehen, wie man jemanden begleitet, dessen Leben endet. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Introitus, Anfang bis 0:41: unterlegt das Stasiuk-Zitat; der punktuelle Ton bei 0:41 steht am Ende des Zitats frei Zitator (Andrzej Stasiuk): Der Wis?ok unter der Brücke sah aus wie eine Asphaltstraße. Sprecherin: Wir sind wieder im Polen des Andrzej Stasiuk, im Polen der Gegenwart. Zitator (Andrzej Stasiuk, Fortsetzung): Nichts spiegelte sich darin. Der Bus war lang und bequem. Er schwankte, brummte, und brachte einen irre bunten Film, bestimmt aus Kalifornien, denn es gab Palmen, Swimmingpools, lange Autos, nackte Frauen, und Blut floß. Dieser Bildschirm sah aus wie ein Fenster in die wahrere Seite der Welt. Ringsum war alles graubraun und verschwommen bis zum Horizont, dort leuchtete ein Viereck voll himmlischer Farben, und die Menschen verschwendeten sich an Reichtum, Liebe und Tod. Der Herr neben mir nahm die Pelzmütze ab und schaute abwechselnd auf den Bildschirm und aus dem Fenster. Beides muß ihn gelangweilt haben, denn er faltete schließlich die Hände auf dem Bauch und schlief ein. Sprecherin: Katharina Raabe hat im Jahr 2006 ein Buch mitherausgegeben, das den Titel trägt: „Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas“ – mit literarischen Texten und Photographien, die sich letzten und verlorenen Orten zuwenden, ohne irgendeine Uhr zurückdrehen zu wollen. Mitschwingen sollte „das Imaginäre der verschwindenden Orte“. (Pause) Das heißt: es sollte erlaubt sein, sich zu erinnern, es sollte eingestanden sein, daß Umbrüche nicht ohne Schmerz und Trauer vor sich gehen, und es sollte klar gesagt werden dürfen, daß der Fortschritt ins Normgerechte hinein, ins Optimierte, Beschleunigte nicht unbedingt ein Fortschritt ist, der die Menschen humaner und glücklicher macht. Sprecher: Der Nostalgievorwurf blieb auch hier nicht aus. O-Ton Katharina Raabe: Und deswegen habe ich mich unheimlich aufgeregt über den Vorwurf der Nostalgie. Weil er eigentlich nur zeigt, wie leicht man Autoren, die das wagen, mißverstehen kann. Daß man jemanden wie Stasiuk tatsächlich mißverstehen kann, wenn der sagt, ich finde etwas Metaphysisches in einem alten Kino, in dem ich sitze und mir vorstelle, wann da zuletzt ein Film gelaufen ist, wenn ich es geschafft habe, über die zerbrochenen Stufen da reinzugehen. Ich weiß aber nicht, was daran nostalgisch ist, daß jemand sich Vergangenes, für immer Verschwundenes noch einmal in Erinnerung ruft, als ob es seine persönliche Erinnerung wäre. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Introitus, 1:10 – 1:20: zäsurierend Sprecher: Die Gegenwart lasse sich, schreibt Alain de Botton, mit einer langen Filmrolle vergleichen, auf der Erinnerung, aber auch Antizipation bestimmte Aufnahmen als Höhepunkte auswählen. Die Gegenwart ermüde uns – wie ein schlechter Erzähler – oft mit Wiederholungen, irreführenden Hervorhebungen, folgenlosen Handlungssträngen, mit Banalität und Kontingenz. Sprecherin: Orte, die zu uns sprechen, haben jedoch solche Türen wie das Trafohaus bei Lutz Seiler. Türen, hinter denen es summt, wenn nicht gar Gott – oder eine Göttin – dahinter wohnt. Türen, die versprechen, man könne durch sie in einen Erzählraum gelangen. Türen, deren Präsenz stärker sein kann als das, was alles an Regungen, Reizen, an Störung und Stopfung in einem wirkt, der alltäglich unterwegs ist. (Pause) Zum Beispiel in einem Flughafen. Zitator (Alain de Botton): Bei der Ankunft in Amsterdams Flughafen Schiphol stoße ich, kaum daß ich ein paar Meter durch das Flughafenterminal gegangen bin, auf einen von der Decke hängenden Wegweiser, der den Weg zu den Ankunftshallen, zum Ausgang und zu den Schaltern für Umsteiger weist. Es ist ein leuchtendes gelbes Schild von schlichter Machart, einen Meter hoch, zwei breit: eine Tafel aus Kunststoff in einem erleuchteten Aluminiumkasten, an Stahlstangen von einer Decke herabhängend, die überzogen ist mit einem Geflecht aus Kabeln und Belüftungsrohren. Trotz seiner Einfachheit, ja Nüchternheit versetzt mich dieser Wegweiser in ein Entzücken, das mit dem Wort ‚exotisch’ zwar ungewöhnlich, aber zutreffend bezeichnet ist. Das Exotische begegnet mir gleich mehrfach: im doppelten a von ‚Aankomst’, in der Nachbarschaft eines u und eines i in ‚Uitgang’, in der Verwendung englischer Unterzeilen, in dem Wort für Schalter, ‚balies’, und in der Wahl praktischer, moderner Schriften wie Frutiger oder Univers. Der Wegweiser bereitet mir solche Freude, weil er den ersten schlüssigen Beweis dafür liefert, woanders angekommen zu sein. Er ist ein Symbol des Auswärtsseins. Mit flüchtigem Blick zwar vielleicht nicht erkennbar, wäre ein solcher Wegweiser in genau dieser Form in meinem eigenen Land nicht anzutreffen. Sprecher: Wenn Alain de Botton sagt: „in meinem eigenen Land“, so hat der geborene Schweizer England vor Augen, wo er seit langem lebt und in dessen Sprache er schreibt. Zitator (Alain de Botton, Fortsetzung): Dort wäre er weniger gelb, wäre die Schrift weicher und nostalgischer, dort gäbe es – aus Gleichgültigkeit gegenüber den Orientierungsproblemen Fremder – keine Unterzeilen in anderen Sprachen, und die eigene Sprache enthielte keine doppelten a’s – eine Wiederholung, in der ich verwirrt das Vorhandensein einer anderen Geschichte und Mentalität wahrnahm. Zitatorin (Sibylle Berg): Wie konnte sie denen daheim sagen, daß es eigentlich so war wie zu Hause, nur mit ein paar Schlingpflanzen? Sprecher: Denen daheim, die womöglich gar nicht mehr zu Hause sind! Zitatorin (Sibylle Berg): Vielleicht war es Reiselust, dachte Frank, als er eines folgenschweren Abends einen Dokumentarfilm über Shanghai sah. Das Paris des Ostens. Großartige Nachtaufnahmen, Wolkenkratzer, Bars, die aussahen wie alte Opiumhöhlen, nur mit hübschen jungen Frauen darin, das war die Zukunft, und sie fand jetzt statt. Hatten sie in dem Dokumentarfilm erzählt, und Frank saß eine halbe Stunde später verwirrt an seinem Computer. Er hatte einen Flug gebucht und ein Hotelzimmer. [...] Frank haßte es, zu verreisen. Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: Anfang von track 2 (la mort): unterlegt das de-Botton-Zitat, verschwindet aber vor „Aus Sehnsucht ...“ Zitator (Alain de Botton): In Amsterdam, an der Ecke Tweede Helmers Straat und Eerste Constantijn Huygens Straat, sehe ich eine Frau von Ende zwanzig, die ein Fahrrad über das Pflaster schiebt. Sie hat das rotbraune Haar zu einem Knoten geschlungen und trägt einen langen grauen Mantel, einen orangefarbenen Pullover, flache braune Schuhe und eine praktisch aussehende Brille. Offenbar ist sie in diesem Teil der Stadt zu Hause, denn ihr Schritt ist zuversichtlich und ohne Neugier. In einem an der Lenkstange befestigten Korb liegen ein Laib Brot und ein Karton mit der Aufschrift Goodappeltje. Für die Frau ist es nichts Besonderes, wenn ein t und ein j nebeneinander, ohne einen Vokal dazwischen, auf einem Karton Apfelsaft stehen. Es hat nichts Exotisches für sie, daß sie ihr Fahrrad zu Läden und zwischen hohen Häuserzeilen schiebt, die alle am obersten Stockwerk einen Haken haben, an dem man Möbel aufzieht. Aus Sehnsucht erwächst das Bedürfnis zu verstehen. Wohin geht die Frau? Woran denkt sie? Wer sind ihre Freunde? Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: track 2 (la mort), ab ca. 0:26, d.h. ab der Stelle, wo sich das Anfangsmotiv wiederholt: unterlegt den Sprechertext Sprecher: Da sieht einer sich ein – und denkt sich ein – in ein Bild der Welt. Ein begrenztes, zufälliges Bild, wie die Wegweisertafeln im Flughafen Schiphol oder die Ecke zweier Straßen in Amsterdam. (Pause) In dem jeweiligen Bild der Welt ist für Alain de Botton ein Bild von der Welt verborgen, eine Haltung zur Welt, eine Perspektive auf die Welt. In das Bild, das sich bietet, ist eine Art, das Leben zu nehmen, die Welt zu sehen, eingegangen. Und ist doch nicht einfach zu erschließen. Wohin geht die Frau? Woran denkt sie? Wer sind ihre Freunde? sind Fragen, die das, was ihn an Orten interessiert, gewissermaßen personalisieren. Das Mädchen geht weiter. Was bleibt, ist der Ort, aus dem sie kommt und für den sie steht: er ist weiterhin umkreisbar. Sprecherin: Aber Shanghai ist die Zukunft für den zappenden Konsumenten in Sibylle Bergs Roman: „Das war die Zukunft, und sie fand jetzt statt“. Pfeilförmig, linear, selbstüberholend. Sprecher: Die Frage bleibt offen: Ist Sibylle Berg literarische Gestalterin der Außengelenktheit, der industriell gestylten knallbunten Welt im Kopf, der denkfaulen Sprache und der Beziehungsflüchtigkeit – oder sind diese Qualitäten auch ihren Texten als solchen eigen? Dann würden sie als ein kultureller Verstärker dienen für das, was sie – bei wohlwollender Betrachtung – gestalten und kenntlich machen. Sprecherin: In ihrem Werk „Die Fahrt“ kommt jedenfalls zum Ausdruck, daß die Räume der jederzeit und billig erreichbaren Ferne, noch bevor sie vereinheitlicht sind, im Blick des Reisenden an Ferne : an Unverfügbarkeit, Geheimnis und Tiefe verloren haben. Die Tür, hinter der Gott wohnt – im Trafohaus im Gedicht von Lutz Seiler – weist auf eine viel größere dahinterliegende Ferne als etwa das Meer in Hongkong, von dem Sibylle Berg ihre Figur Miki denken läßt, es zu „benutzen“ sei mühsam, eine Badewanne sei praktischer. Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: Anfang von track 7 (elles bavardaient en hirondelle): zäsurierend Zitator (Alain de Botton): Sowohl in der Erinnerung als auch in der Vorausschau besitzt das Bild von einem Ort eine gewisse Reinheit: der Ort selbst darf ungetrübt und klar hervortreten. [...] Anders gesagt, wir sind offenbar am ehesten irgendwo ganz ‚da’, wenn es uns erspart bleibt, außerdem leibhaftig an diesem Ort anwesend zu sein. Sprecherin: Quallen, salzige Brühe, Reizung der Haut, wie bei Miki in Hongkong, gehören zweifellos zur praktisch gelebten unreinen Gegenwart. Die Räume der Gegenwart, so zeigt Alain de Botton, haben Türen nicht nur durch Erinnerung an wirklich Gelebtes, sondern auch durch Reminiszenzen an gesehene Filme, gelesene Bücher, angeschaute und erlebte Bilder. So beschreibt er eine Raststätte „auf ihrem Wall oberhalb der Autobahn, fern der bewohnten Welt“, mit dem Ventilator, der sich dreht, und dem strahlenden Lächeln der Frau auf dem Foto über der Theke, die auf ewig erstarrt ist in dem Moment, da sie in ein Schinkensandwich beißt. Zitator (Alain de Botton): Das Gebäude war von kümmerlicher Architektur, in ihm roch es nach Bratfett und Bodenreiniger mit Zitrusduft, die Speisen waren pappig, die Tische besprenkelt mit Ketchup-Pfützen von den Mahlzeiten längst weitergereister Kunden – und trotzdem rührte irgendetwas daran mich an. Sprecherin: De Botton spricht nicht aus, was ihn eigentlich anrührt an dieser Raststätte neben der Autobahn von London nach Manchester, fern der bewohnten Welt, nennt aber schließlich den Namen Edward Hopper – jenes amerikanischen Malers ikonisch gewordener Bilder vom Für-sich-Sein in anonymen Räumen, deren Beleuchtung, deren Ruhe eine karge Geborgenheit gibt: Hotel, Motel, Cafeteria, Tankstelle, Eisenbahnabteil. Ein Selbstgenuß der Verlorenheit, des Unterwegsseins als Unbekannter, eine kalte und todtraurige Wonne der Unauffindbarkeit spricht aus vielen dieser Bilder. Und es scheint, daß die von Edward Hopper ins Bild gebrachte mentale Verfassung durch Orte unserer Gegenwart – transitorische Orte, an denen keiner lange bleibt, gesichtslose Orte auf den ersten Blick – aufgerufen werden kann. Musik: Paquito d’Rivera, The Jazz Chamber Trio: A Night in Tunesia, 0:20 – 0:27: zäsurierend Sprecher: Vielleicht aber auch nicht. (Pause) Möglich wäre immerhin, daß manche der transitorischen Orte nicht einmal mehr diese spröde und kühle Restgeborgenheit haben, die ihnen in Edward Hoppers Bildern noch eigen ist. Und es kann nicht darum gehen, Atmosphäre zu wiederholen, Befindlichkeiten zu kopieren, sich zwischen London und Manchester oder in Hamburg und Berlin in ein Bild von Edward Hopper zu setzen. (Pause) Vielmehr geht es de Botton darum, durch Orte – Räume – das Thema der Verlassenheit, der Geborgenheit in der Verlassenheit, des schönen Für-sich-Seins aufrufen zu lassen. (Pause) Was immer daraus werden mag, in der Sprache, in der Literatur. Zitator (Alain de Botton): Das Fehlen vertrauter häuslicher Gegenstände, das helle Licht und das anonyme Mobiliar sind eine gewisse Erleichterung nach den falschen Tröstungen des Zuhauses. Der Traurigkeit nachzugeben ist hier vielleicht einfacher als in einem Wohnzimmer mit Tapeten und gerahmten Fotografien, dem Dekor einer Zuflucht, die nicht hielt, was sie versprach. Sprecher: So führt der studierte Philosoph Alain de Botton in seiner im Original 2002 erschienenen „Kunst des Reisens“, diesem narrativen Essay, auch in eine Kunst des Lebens ein. Freilich läßt diese sich nicht regel- und rezepthaft fassen. Aber unabdingbar gehört zu ihr, Orte und Räume, die nur zum Benutzen und Nutzen, nicht zum Anschauen gemacht sind, dennoch mit allen Sinnen achtungsvoll wahrzunehmen. Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: Anfang von track 16 (allegro : adagio), nur die ersten 6, 7 Sekunden: zäsurierend Zitator (Serhij Zhadan): Man könnte den Bummelzug nehmen und mehrmals umsteigen, zum Beispiel nachts auf dem merkwürdigen Bahnhof Hrakowe, wo sich stundenlang keine Menschenseele zeigt, nur irgendwo links riesige Silos in den Himmel ragen, eine graue Multifunktionsanlage, öde Erinnerung an die abgefuckte sowjetukrainische Landwirtschaft, dir bleibt nichts anderes übrig, als mitten in der Nacht auf die Stahlbrücke zu treten, die Gott weiß warum über den Bahnsteigen entlangführt, in den Himmel zu schauen und zu warten, daß die Sonne oder sonst irgendwas auftaucht, und wenn die Sonne dann – so gegen fünf – wirklich auftaucht, siehst du plötzlich, wie sie ihre Strahlen bewegt, ganz vorsichtig wie eine Flunder, die über eine ferne, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumte Schnellstraße rollt, du schaust lange, sehr lange, so lange, bis ein Bummelzug kommt, drei Stunden vielleicht. [...] Man könnte auch trampen. Sprecherin: In Serhij Zhadans 2005 auf Ukrainisch publiziertem Buch „Anarchy in the UKR“ bewegt sich ein Ich-Erzähler an Orten des industriereichen Ostens der Ukraine, der sein Gepräge in sowjetischer Zeit erhalten hat, er streift durch Charkiw und Luhansk – das ehemalige Woroschilowgrad –, durch Donezk oder Guljaj-Pole – Zentrum des Machno-Anarchismus der Jahre 1917 – 21. Doch vor allem schreitet er die Topographien der Sowjetära ab, in deren Spätphase seine Kindheit und Jugend fiel: die Trampelpfade längs der Gleise, die Busbahnhöfe und Ferntrassen, die Vergnügungsparks und Krankenhäuser, Lenindenkmäler, Kulturpaläste ... Zitator (Serhij Zhadan): Die Kulturpaläste, die von den Gewerkschaften der Rüstungsbetriebe unterhalten wurden, große Säle mit schlechter Beleuchtung und schweren Vorhängen, die ständig klemmten und sich nicht öffnen ließen, Notausgänge hinter der Bühne, kleine Zimmer vollgestopft mit selbstgebauten, meist geklauten Apparaturen, kleine Probebühnen – Kaderschmieden sozusagen –, wie viele solcher Gebäude waren über ganz Charkiw verteilt, von Kindheit an habe ich mich in diesen Palästen herumgetrieben [...]. Sprecherin: Von Kindheit an hat er sich herumgetrieben an diesem ideologisch hochgradig besetzten Ort, der dem offiziellen Verständnis nach ein „mächtiges Zentrum der Kultur- und Aufklärungsarbeit unter den Werktätigen“ war, wo deren Bedürfnissen „fürsorglich Rechnung getragen“ wurde. Wo er als Jugendlicher Punkmusik machte. Zitator (Serhij Zhadan): Während der Sowjetzeit sind hier doch herrlich asoziale Sachen gelaufen, damals, in den fernen Zeiten, als die Megamaschine gerade ihre ersten Pannen hatte, der Punk endgültig und unwiderruflich siegte [...]. Sprecher: Die historische Spurensuche des Serhij Zhadan gilt dem kleinen Leben, das nicht mehr bereit war zu erstarren unter der allgegenwärtigen Ideologie. Sprecherin: Und er tut dies in einer Sprache, die jeder Zügelung wenn nicht den Stinkefinger, so zumindest den Rücken zeigt. Von der ersten Seite an startet sein Ich-Erzähler durch zu einem atemlosen, assoziationsreichen, von verrückten Metaphern durchsetzten Monolog, dessen Sätze sich bisweilen über eine Seite ziehen können, und reißt so den Leser hinein in eine Rastlosigkeit, die auf den ersten Blick so ganz anders erscheint als jene von Sibylle Bergs Figuren. Die sind zwar, nicht anders als Zhadans Ich-Erzähler, mit ständigen Ortswechseln befaßt, doch werden sie oftmals gezeigt in Situationen, in denen sie, erschlafft, irgendwo sitzen – auf einem Balkon oder dem Bett eines Hotelzimmers, einer Wohnung. Womöglich gibt es aber einen gemeinsamen Kern: Zitator (Serhij Zhadan): Hielte ich inne, könnte ich feststellen, daß die Besiedlung des Raumes, die Inbesitznahme der damit verbundenen Erinnerung viel interessanter und faszinierender ist als die bloße Anhäufung von Räumen und das endlose Abspulen von Erinnerungen. Je öfter du unterwegs anhältst, je länger deine Pausen sind, desto größer ist die Chance, schließlich all die Details zu entdecken, die dir entgehen, wenn du nicht anhältst, das ist nicht einmal eine Frage des Blickwinkels, sondern der Geschwindigkeit deiner Bewegung, wenn ich anhielte, könnte ich entdecken, daß das nicht einfach die Änderung meiner Vorstellung von der Landschaft ist, sondern eine Änderung der Landschaft und damit auch meiner selbst. Zitatorin (Sibylle Berg): Er überlegte, [...] ob es einen Ort gäbe, der alles ändern würde. Zitator (Serhij Zhadan): Ich habe Angst vor Geschwindigkeit, ich habe Angst zu reisen, nur anzuhalten, davor habe ich noch mehr Angst. Zitatorin (Sibylle Berg): Es war schwer, sich wohl in sich zu fühlen, wenn man dort nie anzutreffen war. Musik: Janá?ek, Piano Works, Violin Sonats: track 8 (la parole manque), 0:47 – 0:54: zäsurierend Sprecherin: Das sowjetische System bot seinen Subjekten klar programmierte Orte an. Indem man diese umprogrammierte, indem man im Kulturpalast „herrlich asozialen“ Punk machte, zu Füßen des Lenindenkmals abhing, im Wehrlager soff – was übrigens in vergleichbarer Weise auch für die Erwachsenen galt –, widmete man die Orte um, zog ihnen ihre ideologische Haut ab, gab ihnen andere Besetzungen, schrieb ihnen die eigene Geschichte ein: kleine und zahlreiche Geschichten statt der einen großen, Menschenmaß statt Heldenmaß. Zitator (Serhij Zhadan): In meiner Downtown war kein Gebäude zufällig, irgendwer hatte jedes einzelne sorgfältig und genau ausgewählt, so daß es zu jedem irgendwelche Geschichten und Episoden gab, und wenn man jetzt auch nur ein Gebäude einrisse, bräche das Gesamtbild auseinander, klaffende Löcher würden die umliegende Leere in Staub verwandeln. Sprecher: So hat man sich nicht nur Räume angeeignet, sondern auch Identität. Eine Identität, die aus der Spannung und dem Gegenhalten zu einer rigiden Ordnung erwuchs, ein Kampf, der nicht zuletzt auf dem Terrain der Räume ausgetragen wurde. Heute gilt für diese Räume anything goes, heute befinden sich im Kulturpalast „ein Möbelgeschäft, irgendwelche Boutiquen und Geschäfte“, und im Hotel Charkiw, dessen Zugang einst schärfstens kontrolliert und limitiert war, fahren die Menschen mit dem Fahrstuhl spazieren. Sprecherin: Mit dem Ende der klaren Raumdefinitionen wurden auch die Menschen aus ihren klar umgrenzten Rollen und Gegenrollen entlassen. Der Nutzungsbeliebigkeit für die alten Orte entspricht die neue Vielfalt an möglichen Selbstentwürfen. Wie Sibylle Bergs Protagonisten befindet sich Zhadans Ich-Erzähler in einer Phase der Ratlosigkeit. Und wie diese durch die Welt reisen, um einen Ort zu finden, an dem es besser wäre, wo sie ankommen könnten im eigenen Leben, reist er in einer Art Selbstvergewisserung an die Orte, die beigetragen haben zu dem, der er geworden ist. (Pause) Von Sibylle Bergs Protagonisten kommen einige wenige an, einer etwa im Kibbuz, wo er sich – Zitatorin (Sibylle Berg): – aufgehoben fühlte, aller Fragen entledigt, ganz im Moment mit der Ziege, den Kollegen, die ihm zulächelten – Sprecherin: Sie kommen an und fühlen sich „unerklärlich glücklich“ oder finden zumindest das Leben „gar nicht so schlecht“, sobald sie Teil einer Gemeinschaft sind mit klaren Regeln und Mustern, sobald sie ihre Rigiditätsinsel gefunden haben. Sprecherin: Zhadans Ich-Erzähler dagegen verweigert sich dem Ankommen. Er sucht zwar Selbstvergewisserung, sucht sie an den Orten der eigenen Vergangenheit, aber auch an den Orten des Machno-Anarchismus der frühesten Sowjetära. Als wolle er bekräftigen, daß die eigene hier vor Ort gelebte Zeit und die ebenfalls hier vor Ort von anderen probierte politische Utopie nicht einfach nicht gewesen sein können. Sie sind gewesen, zweifellos, und solange man es den Orten in Spuren noch ansehen kann, oder ihnen zumindest mit der Erinnerung abzuverlangen weiß, ist der Reisende unterwegs, in einem Raum, der post- – das heißt: postsowjetisch, posttotalitär – und neo- zugleich ist. Sprecher: Und so erweist sich auch Serhij Zhadan, der Autor, der die anarchische Geste und den Sound des Rock’n’Roll wie des Punk kultiviert, als ein Reisender im Grenzland zwischen Empathie und Nostalgie, wie Andrzej Stasiuk oder Lutz Seiler. Sein Sinn für Ironie und Groteske verhindert, daß er die Grenze zur Nostalgie überschreitet, und doch ist der Empathie dank manch sinnlich strahlender, schräg-poetischer Metapher ein Hauch Elegie beigemischt – was an Katharina Raabes Bemerkung erinnert: Sprecherin: Man will mit dem Kaputten sozusagen mitgehen, wie man jemanden begleitet, dessen Leben endet. Sprecher: Die Frage, die gestellt werden darf: Wo kommt derjenige an, der das Sterbende begleitet, der mit dem Kaputten mitgeht? In der Gegenwart, oder in Zeitfalten komplizierter Art? (Pause) Ein Zurücktreten von der Gegenwart, eine Anwesenheit in ihr mit größerem Vorbehalt, kann für Zhadan gewiß konstatiert werden. Doch ist er nicht, im Sinne von Lutz Seiler, ein Mensch der Abwesenheit. Zitator (Lutz Seiler): Abwesenheit als ein erstrebenswerter Zustand und die Chance, als Schauender scheinbar zurückzutreten, die Dinge wahrzunehmen ohne Absicht, statt ihnen mit unseren Bestimmungen zuvorzukommen. Eine Vorstellung von Gelassenheit im wahrsten Sinne des Wortes [...]. Sprecher: Abwesenheit ist eine der Existentialien, der grundlegenden Wahrnehmungszustände, von denen Lutz Seiler spricht. Er nennt die Abwesenheit eine Wahrnehmungs-Utopie. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Anfang von Kyrie: kurz zäsurierend Sprecherin: Die Utopie klingt an, es könne der Blick seiner eigenen Konditioniertheit entrinnen, seine Klassifikationssysteme, Bewertungsschemata vergessen und – als Blick eines Autors – nicht gleich alles, was sich formen will, schon im Kopf und von Anfang an klar formatieren: denn ein Gedicht soll es schließlich werden, ein Spielfilm, eine Erzählung, ein Hörspiel! Texte, die Orte und Räume zu autonomen Betrachtungsgegenständen werden lassen, sind oft in ihrem Genre nicht eindeutig festgelegt. Wie der narrative Essay Alain de Bottons, der aus konzentrisch sich fortschreibenden Miniaturen angeordnete Roman Stasiuks, das Geflecht aus Erinnerungsprosa, Reflexion, Gedicht im Bändchen „Essays“ von Lutz Seiler, oder die anarchisch schlingernde Ich-Prosa bei Serhij Zhadan. O-Ton Katharina Raabe: Das ist ja im Grunde auch der Nukleus der ästhetischen Erfahrung, also wie sie zum Beispiel bei Proust die tragende Rolle spielt und von Beckett in dem Proust-Essay ganz toll beschrieben wird, nämlich als Herausgerissenwerden aus der Gewohnheit. Also, man sieht plötzlich, als ob man meditierte, diese vertrauten Dinge außerhalb ihrer gewohnten Zusammenhänge und damit eigentlich außerhalb bestimmter Formate. Also sie werden nicht Erzählung und sie werden nicht Drama und sie werden nicht Zeitungsartikel, sondern sie werden erst mal irgendwas. Woraus vielleicht etwas entsteht, wenn man lange genug hinschaut. Und das ist, glaube ich, der Kern einer ästhetischen Erfahrung, aus der dann was produktives Neues wird, von dem man aber nicht wissen kann, was es wird. Und insofern heißt dieses Weg-von-den-Formaten im Grunde auch was ganz Anarchistisches, nämlich: man weiß nicht, was woraus wird. Und ich könnte mir vorstellen, daß davor viele Autoren Angst haben bzw. daß auch dieser Literaturbetrieb, der ihnen immer wieder Neues abfordert, oftmals verhindert, jenseits der Formate zu denken und etwas so wirken und so arbeiten zu lassen, daß daraus ein Text ganz eigener Würde wird. Musik: Paquito d’Rivera, The Jazz Chamber Trio: Preludio y Merengue, O:25-0:35: zäsurierend Sprecher: Es geht darum, Orte, zumal Orte von anonymer Konfektion, nicht mit konfektioniertem Auge zu sehen und programmierten Raum – zugerichtet nur für das eine, zielgruppen- und bedürfnisgenau – nicht mit einer eigenen Quasi-Programmiertheit zu nutzen und zu durchqueren. Es geht, wie die Schriftstellerin Dagmar Leupold in ihrem „Last & Lost“-Beitrag festhält – Sprecherin: – um die Emanzipaton des Blicks, um die Erlösung aus der Konfektion. Oder die Unmöglichkeit derselben. Sprecher: Zwischen Tangente Süd und Schuhparadies Nord – oder auf der Tangente Süd und mitten im Paradies – muß es ein Geheimnis geben. Wie Katharina Raabe sagt – Sprecherin: – woraus vielleicht etwas entsteht, wenn man lange genug hinschaut. Sprecher: Sei es, weil sedimentierte Geschichte sichtbar und fühlbar wird. Oder sedimentierte Gegenwart: Symptome dessen, was gesellschaftlich geschieht, und zwar unbemerkt, mental, ästhetisch, ohne Zeitungsschlagzeile. Sei es aber auch, daß Orte und Räume die persönliche Geschichte aufrufen, wie bei Seiler, Stasiuk, Zhadan. Oder sei es, daß Schönheit – dort, wo man sie erwartet, und dort, wo sie ganz und gar nicht vorgesehen ist – ins Spiel kommt und sich nicht abwehren läßt. Wie in den Texten von „Last & Lost“, jenem von Katharina Raabe mitherausgegebenen „Atlas des verschwindenden Europas“, der von unrentablen Fischerdörfern handelt, von Hotelkomplexen, denen die Obstgärten der Jugend zum Opfer gefallen sind, von den Hinterlassenschaften totalitärer Regimes in verschiedenen Ecken des Kontinents, Räume allesamt, die, um noch einmal Mosebach zu zitieren, „von der Geschichte geschlagene [...] Räume“ sind. O-Ton Katharina Raabe: Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Denn ein wesentlicher Impuls dieser Orte, die in „Last & Lost“ beschrieben werden, sind solche, die von den Autoren irgendwie als schön empfunden werden. Also, da auch diese Abendstimmung, die Stasiuk beschreibt, und in „Dukla“ 40 Seiten darüber, wie ein Morgen beginnt, wie unterschiedlich sich das Farbenspiel ausnimmt usw. Das hat doch sehr viel mit dem bei uns auch fast schon tabuisierten Gedanken zu tun, daß die Literatur vielleicht auch einfach das Schöne uns erzählen will, das wir eben mit unseren sehr eingewöhnten oder an die Welt gewöhnten Augen nicht mehr sehen. Also, daß man etwas sichtbar macht für andere, was diese nicht mehr sehen, weil die zu gut angepaßt sind, das ist auch ein wichtiges Motiv dieses Schreibens. Das gilt aber, glaube ich, für alle Autoren. Musik: Paquito d’Rivera, The Jazz Chamber Trio: Preludio y Merengue, O:44-0:54): zäsurierend Sprecher: Das Schöne. Schon der Begriff wirkt schwer in Zeiten der rasenden Innovation, der Daten- und Warenströme, der Virtualisierung von Räumen, der Delokalisierung von Tätigkeiten. „Geschwindigkeit, Flimmern und Fliegen“, wie Lutz Seiler es nennt, scheinen der Praxis des allmählichen Umkreisens, des gedanklichen und ästhetischen Bleibens-am-Ort zu widersprechen. Aber es ist stets ein Ort – die schlichte Materialität einer Wand, eines Geländers als Teil eines Ortes –, wonach der vom Schwindel Befallene greift. Es ist stets ein Ort, von dem aus – bei aller Virtualisierung – ein biologisches Wesen der Welt gegenübersteht, von dem aus es die Welt betrachtet, ermißt, bewertet. Es mögen rasch wechselnde Orte sein, doch es ist stets ein Ort. Und der Griff des vom Schwindel Befallenen nach einem Fixpunkt mag ins Leere und Nichtige gehen. Sprecherin: Oder er findet eine ruhende Realgegenwart. Ein Wirkliches, Bleibendes, Schönes. Oder die Illusion davon. Unübersichtlich, alles – aber von größtem Interesse in dieser Zeit des „Flimmerns und Fliegens“. Sprecher: Umso erstaunlicher, daß die Hinwendung zu Orten und Räumen als autonomen Betrachtungsgegenständen in der deutschen Gegenwartsliteratur keine große Rolle zu spielen scheint. Als hielten nicht wenige Autoren die Zeit bereits für gekommen, die Martin Mosebach annonciert: die Zeit, da die Beschreibung der Räume nicht mehr lohnt. O-Ton Katharina Raabe: Es ist, glaube ich, nicht das allererste Interesse, sondern es gibt ein wiedererwachtes Interesse an Geschichten, an Familiengeschichten, auch an historischen Romanen. Das ist ja geradezu epidemisch im Moment, was da alles entsteht und auch mit großem Rechercheaufwand wieder konstruiert wird. Da ist dieser spatial turn noch nicht angekommen, sondern eher etwas, was vielleicht mit dieser viel und auch auf sehr mißverständliche Weise polemisch abgetanen Sprach- und Selbstbezogenheit der deutschen jungen Literatur zu tun hat, daß man sich jetzt halt angeblich wieder traut, Geschichten zu erzählen. Ich halte das alles für sehr, sehr problematisch, aber dennoch glaube ich, daß wir immer noch – was die Autoren angeht – beim Geschichtenerzählen, beim Konfliktedarstellen, bei Liebe, Tod, Vater, Mutter, usw., sind. Musik: Paul Giger u.a., Vindonissa: Fractal Joy, ab ca. 0:40: steht eine Weile frei, unterlegt dann sehr leise das Schlußzitat Zitator (Andrzej Stasiuk): Ich aber dachte mir, es gibt solche Orte, an denen alles, was wir bisher waren, auf sanfte und radikale Weise in Frage gestellt wird und an denen wir uns ein bißchen, sagen wir, wie ein Vogel fühlen, der keine Luft mehr unter den Flügeln hat, doch statt der Katastrophe erwartet uns eine unendlich lange Ruhepause, ein endloser, weicher Fall. 1