COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft vom 17.11.2011 Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen Wie Zeichnungen Wissen organisieren Von Frank Kaspar Auftakt MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" und M. Andrews: "Donnie Darko" MPS O-Ton 1 - Martin Haußmann, "Kommunikationslotsen" - DR 373 / 0:35 Zeichnen ist für mich: mit dem Stift Denken ... O-Ton 2 - Prof. Barbara Wittmann, Hg.: "Wissen im Entwurf" - DR 401 / (ca. 8:20) Zeichnen hat ja (...) im wesentlichen diese beiden Funktionen: für sich selbst Wissen zu gewinnen, zu speichern und durchzuarbeiten, aber natürlich auch (...) jemand anderem etwas deutlich zu machen. O-Ton 3 - Prof. Gerhard Roth, Hirnforscher - DR (26:12) Das ist völlig richtig, also, jeder, der was Kompliziertes gut überbringen will, der sagt, gib mir mal ein Stück Papier, ich zeichne das jetzt auf ... O-Ton 4 - Dr. Käthe Wenzel, Künstlerin, Kunsthistorikerin - DR 375 / 46:46 Für mich ist es einfach so, dass (...) man mit dem Bleistift die Form langsam einkreisen kann // (ca. 47:05) Die Form taucht so ein bisschen aus dem Nebel auf O-Ton 5 - Martin Haußmann - DR 373 / 0:48 Es geht ja um die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen ... SPRECHER - Titel-Ansage: Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen. Wie Zeichnungen Wissen organisieren. Von Frank Kaspar. MUSIK-AKZENT - J. A. Riedl "Paper Music" O-Ton 6 - Konferenz-Atmo / DR 358 O-Ton 7 - Java-Script-Conference / DR 354 ( ... ca. 1:30ff.: "Code-Golf" - less keystrokes win ... // 20:10 The smoothest of the operators ... // 21:35 Check this out, this is crazy / 21:45 And this is the crazy part) SPRECHER Dreihundert Software-Entwickler aus aller Welt, fünfunddreißig Referenten, allesamt passionierte Programmierer, für die das Ausknobeln komplexer Codes mehr als ein Job ist: die meisten von ihnen kommen in ihrer Freizeit zur europäischen Javascript- Konferenz nach Berlin, um von neuen Animationsverfahren und Musikformaten zu erfahren, von Verschlüsselungs-Tricks und virtueller Müllabfuhr oder von "Code- Golf": einem Wettbewerb für Ultrakurz-Programme, die mit so wenig Befehlen wie möglich auskommen. Auf der Leinwand über der Bühne flackern die Powerpoint-Projektionen. Die meisten bestehen aus Diagrammen, Formeln und trockenen Befehlsketten. Hin und wieder blitzt für wenige Sekunden ein Bild auf: von einem Känguru, das aus dem Beutel der Mutter guckt, als der Redner über "eingebaute Funktionen" spricht; von einer Packung Fugenmasse, als es um "Lücken" in der Software geht. Es gibt einen Hunger nach Anschaulichkeit angesichts der abstrakten Materie, AUTOR An der Seite der Bühne steht eine junge Frau, die gekommen ist, um den Hunger zu stillen. SPRECHER Sie schreibt und zeichnet mit Filzstiften auf einen großen Papierbogen. Während jedes Talks notiert sie Schlüsselbegriffe, skizziert Symbole und Cartoon-Elemente. An ihrer Staffelei führt sie das Protokoll der Präsentation. AUTOR Einer der Redner dreht den Spieß um: Er fängt sie mit der Kamera seines Laptops ein, wirft das Bild live auf die Leinwand und rückt sie so für einen Augenblick ins Zentrum der Aufmerksamkeit. O-Ton 8 - Java-Script-Conference / DR 354 ca. 14:00 (Ladies and gentlemen: recursive writing ... awesome work ... etc.) AUTOR Er sagt: Sie ist die Frau mit dem härtesten Job auf der Konferenz. O-Ton 9 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 48:44) Das ist eine sehr anstrengende Sache, weil alles sehr, sehr schnell gehen muss, (48:52) im eigenen Kopf rauschen die Bilder durch, (...) man hört dem Sprecher zu, versucht seine Struktur zu analysieren, die Inhalte raus zu filtern und verbindet das dann alles miteinander, (...) das passiert im Loop ... SPRECHER Anna Lena Schiller übersetzt jeden Vortrag in einen Bilderbogen. Sie zeichnet Golfbälle und Gedankenblasen, Laptops und Logos, Zahnräder, Zauberer und Zyklopen. Sie nennt ihre Methode: "Graphic Recording" und sich selbst, auf ihrer Website: "Fräulein Schiller". AUTOR Ist die Konferenzzeichnerin also eine Art künstlerisch angehauchte Sekretärin? Eine moderne Miss Moneypenny, die der Medienwelt den Spiegel vorhält? O-Ton 10 -Anna Lena Schiller (DR 380 / 14:14) Ich höre, und ich lege meine Filter darüber und ziehe das raus, (...) was Resonanz erzeugt. // (19:33) Es ist ein bisschen so wie Jazz: Man weiß einerseits, (...) was man für Tonvorräte hat, oder was man für Zeichen- und Mal-Vorräte hat, und die muss man dann entsprechend so einsetzen, dass es passt, und so auf den Vortrag reagieren, dass es ihn auch wiedergibt. O-Ton 11 -Holger Blank / DR 362 (ca. 7:25) Wie sie "Garbage Collection" übersetzt hat, da waren plötzlich Mülltonnen einfach gemalt; wie sie das "Document Object Model", also den DOM-Tree, wie sie den als Baum gemalt hat, (...) fand ich auch sehr spannend. Wie das jemand wahrnimmt, der wirklich in diesen Bildern dann denkt, die durch die Fachbegriffe aufgemacht werden. SPRECHER Holger Blank, Geschäftsführer einer Hamburger Agentur für Digitales und einer der Organisatoren der Java-Script-Konferenz, war zuerst skeptisch, als ein Kollege vorschlug, eine Zeichnerin zu engagieren. Im nachhinein sagt er: Es hat sich zweifach ausgezahlt. O-Ton 12 - Holger Blank - DR 362 / 2:11ff. Das eine ist, dass sie wirklich brillant auf einen Blick die Talks zusammenfasst, und man kann sehr schnell erfassen: worum ging es eigentlich? Was sind (...) die Wendungen, die so ein Talk genommen hat? (...) Was ist die Conclusio? Und auf der andern Seite hat (...) einer unserer Teilnehmer das auf Twitter sehr schön subsumiert, der sagte: Ich habe noch nie auf einer Konferenz so gut den Fortschritt der Konferenz betrachten können. Dadurch, dass alle diese Info-Grafiken jetzt in einer Reihe in dem ganzen Raum aufgehängt sind, und wir vorne links in der Ecke über die Rückwand bis in die rechte Ecke vorne uns jetzt vorgearbeitet haben, sieht man die ganze Zeit auch, wie die Konferenz sich entwickelt. AUTOR Aber wie kann es eigentlich sein, dass im Herzen unseres "Universums der technischen Bilder", wie der Medienphilosoph Vilém Flusser das einmal genannt hat, eine Frau mit Stiften und Papier auftaucht und einem Treffen von "High-Tech"- Tüftlern mit diesem archaischen Handwerkszeug ein Glanzlicht aufsetzt? SPRECHER Zugegeben, sagt Anna Lena Schiller, die Sache habe auch ihren Show-Effekt. Aber wenn es darauf ankommt, haben "Graphic Recording" und "Visual Sensemaking" noch mehr zu bieten als einen besonders schönen Knoten im Taschentuch. O-Ton 13 -Anna Lena Schiller (DR 380 / 12:32) Die besten Erfolge sehe ich wirklich bei eher partizipativen Modulen, also wenn es zum Beispiel in Workshops ist, (...) wenn ich (...) zeichne, und die Leute sollen am Ende des Tages sagen: Was waren für Sie die wichtigsten Punkte? Packen Sie doch mal zwei Post-its drauf, auf diese Zeichnung. Und dann fängt man auf einmal an, Muster zu sehen: Das waren die wichtigen Erkenntnisse für zehn Leute, oder das war nur ein wichtiger Punkt für eine Person, oder da unten haben wir gar nichts, warum ist der Teil so leer? (...) Da wird es sehr, sehr spannend. SPRECHER Gelernt hat Anna Lena Schiller ihr Handwerk bei den "Kaospiloten", einer Kreativhochschule für Nachwuchsunternehmer im dänischen Arhus. "Die Welt erklärt in drei Strichen" heißt ein aktuelles Buch von drei anderen "Kaos"-Absolventen. Ein geistiger Vater der Idee, komplexe Zusammenhänge im Bild auf einen Blick fassbar zu machen, ist der amerikanische Unternehmensberater David Sibbet. Sibbet hat schon Ende der siebziger Jahre damit angefangen, Managern und Mitarbeitern auf großen Papierbahnen in einer eigenen Bildsprache neue Wege aufzuzeigen. AUTOR Hierzulande ist das noch eine Sache weniger Pioniere wie Anna Lena Schiller oder der Organisations- und Unternehmensberatung "Kommunikationslotsen". MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" O-Ton 14 - M. Haußmann DR 374 / ca. 51:00 Atmosphärisches Rascheln: ein großer Papierbogen wird an die Pinnwand geklemmt O-Ton 15 - Martin Haußmann (DR 374 / ca. 2:30ff.) Ich höre etwas, und ich setze es visuell um, also - ich schaffe für den Dialog eine visuelle Struktur. SPRECHER Martin Haußmann von den "Kommunikationslotsen" hat das firmeneigene Konzept des Dialogs mit dem Stift in der Hand maßgeblich mitentwickelt. Die Lotsen nennen sich "Visual Facilitator". "Je komplexer und virtueller unsere Welt wird", sagen sie, "desto schwieriger ist es, sich allein in Worten zu verständigen." O-Ton 16 - Martin Haußmann - DR 372 (35:20) Das Zeichnen ist für uns keine Kunst, also wir machen das nicht zum Selbstausdruck, wir als Visualisierer, für uns ist das Zeichnen keine künstlerische Tätigkeit, sondern eine Kommunikations-Dienstleistung. Es ist eine Art von Prozessbegleitung, also von Dialogbegleitung. AUTOR Bilder sollen helfen, wo es mit der Verständigung hakt, weil Kollegen nicht dieselbe Sprache sprechen. Zum Beispiel, wenn die IT-Abteilung einer großen Firma sich selbst darstellen und sich mit anderen Abteilungen des Unternehmens besser abstimmen möchte. O-Ton 17 - Martin Haußmann - DR 372 (ca. 1:30) Der eine spricht Software-Deutsch, der andere spricht Prozess-Management- Deutsch, der dritte spricht Personal-Management-Deutsch, der vierte spricht Kunden- Deutsch. (...) // (ca. 2:05) Was machen wir? Wir versuchen, (...) aus diesem babylonischen Sprachgewirr (...) ein Bild zu machen. In diesem konkreten Fall sind wir auf folgendes Bild gekommen: Wir haben (zeichnet) einen Fluss - das ist jetzt zum Beispiel die Stadt Basel am Rhein (zeichnet, schreibt), irgendwo im Süden, in der Schweiz - einen Fluss, den zeichne ich hier mal auf, von oben nach unten (Zeichen-Geräusche, weit ausholend), bis Rotterdam. - Rotterdam, da ist das Meer ... // (3:00) Von Basel nach Rotterdam sind Fährschiffe unterwegs. // (3:35) Dieser Fluss steht nicht für den Transport, sondern der Fluss steht für den Entwicklungsprozess der Software. SPRECHER Die Bildmetapher bietet ein einfaches Modell, das es allen Beteiligten leichter macht, Fragen ans Projekt und nach den Aufgaben seiner Mitarbeiter zu stellen: Wo muss zusätzliche Ladung aufgenommen werden? Wo ist mit Untiefen und Verzögerungen zu rechnen? Wer ist Matrose? Wer ist der Reeder? Wer ist Kapitän? AUTOR Aber wie kann es eigentlich sein, dass überhaupt jemand mit Stift und Papier an Bord kommen muss, um zu klären, wer wer ist, und was er zu tun hat? O-Ton 18 - Martin Haußmann - DR 372 (12:40) Unternehmen, und das ist auch ein Trend, den wir begleiten, versuchen (...) sich so aufzustellen , dass schnell Rollen wechseln, und dass Teams sich selber organisieren: (...) Ich bin Kapitän, du bist Reeder, das ist der erste Bootsmann, das ist der Maschinist (...), und im nächsten Projekt kann das völlig anders aussehen. Weil da vielleicht ganz andere Kompetenzen gefragt sind. SPRECHER Der "Visual Facilitator" spielt die Rolle eines zeichnenden Moderators. Er greift Ideen und Kommentare auf, baut sie ins Bild ein und gibt sie so an die Gruppe zurück. AUTOR Im Idealfall sollten die Leute aber selbst den Stift in die Hand nehmen, sagt Martin Haußmann. Deshalb vermitteln die Kommunikationslotsen in Zeichenkursen eine besondere Bilderschrift, die aus Buchstaben und einfachen geometrischen Formen zusammengesetzt ist, sodass sie sich jeder, der Schreiben gelernt hat, leicht aneignen kann. MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" und M. Andrews: "Donnie Darko" MPS O-Ton 19 - Martin Haußmann - DR 373 / 0:35 Zeichnen ist für mich: mit dem Stift Denken ... O-Ton 20 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 14:53) Das heißt, die Bilder und die Worte, die ich schreibe, sind ein Anker, und wenn man da drauf drückt, lösen die den Rest aus, und das Gehirn ist in der Lage, sich zu erinnern. O-Ton 21 - Prof. Niko Busch, "Berlin School of Mind and Brain" - DR 379 / 1:52 "Visuelle Kognition" ist eine Disziplin, die untersucht, wie wir Informationen aus (...) Bildern (...) extrahieren können // (2:42) Wenn ich jetzt also zum Beispiel die Augen aufmache ... O-Ton 22 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 58:05) Überhaupt keine Angst! O-Ton 23 - Käthe Wenzel - DR 375 / 46:26 Also, klar: Man hat erst ein weißes Blatt, und dann da die erste Linie drauf zu machen, das ist ja sozusagen viel beschworen, wie schwierig das ist ... O-Ton 24 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 58:07) Überhaupt nicht, weil ich weiß: Egal, was drauf kommen wird, das wird schon irgendwie gut sein, und Sinn ergeben ... O-Ton 25 - Martin Haußmann - DR 373 / 0:48 Es geht ja um die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen ... MUSIK: Ende O-Ton 26 - Prof. Barbara Wittmann, Hg. "Wissen im Entwurf" - DR 401 / 9:04 Das Zeichnen steht schon sehr lange im Verdacht, eine intensive oder innige Beziehung zum Denken aufzuweisen. Schon in der Kunsttheorie (...) der italienischen Renaissance spielt das Zeichnen eine große Rolle. Es wird dort disegnio genannt, und es ist eine Spezifität der italienischen Sprache (...), dass mit diesem disegnio nicht nur die materielle Zeichnung benannt werden kann, sondern eben auch der Plan, die Idee, die diesem disegnio vorausgeht. SPRECHER Die Kunsthistorikerin Barbara Wittmann untersucht die Geschichte der Zeichnung als Erkenntnisinstrument in Kunst und Wissenschaften. AUTOR Schon Leonardo Da Vinci hat in der Zeichnung eine "göttliche Wissenschaft" gesehen, ein geistiges Werkzeug, um die Welt zu erkennen und zu erklären. Es schien ihm bemerkenswert, dass der Strich, mit dem der Künstler einen Gegenstand erfasst, selbst in der Welt nicht vorkommt. Die Kontur ist Teil der Naturstudie, nicht der Natur: eine Hilfslinie unserer Wahrnehmung. Ein Kunstprodukt. SPRECHER Die Idee, dass man kein begnadeter Künstler sein muss, um Zeichnen zu können, und dass mit dem Stift in der Hand jeder zum Forscher werden kann, ist dagegen relativ jung. Sie wurde geboren aus dem Geist des Bildungsbürgertums: In den Salons der Goethezeit kamen Literatur- und Kunstliebhaber nicht nur zusammen, um sich gegenseitig Texte vorzulesen oder zu musizieren, sondern auch um gemeinsam zu zeichnen. O-Ton 27 - Barbara Wittmann - DR 401 / (1:12) Mit (...) dieser Etablierung des Zeichnens als einer Laientechnik entsteht eben auch die Vorstellung davon, dass das Zeichnen so etwas wie eine anthropologische Konstante, eine anthropologische Grundfunktion ist. // (ca. 1:45) Das äußert sich dann so, dass es im 19. Jahrhundert Expeditionen gibt, wo man den Kontakt mit den Einheimischen aufnimmt, indem man ihnen buchstäblich den Notizblock und den Bleistift in die Hand drückt und sie das, was sie erzählen aus der eigenen Kultur oder wie sie bestimmte Ornamente zum Beispiel interpretieren, aufzeichnen lässt. AUTOR Der Zeichenblock wird zum Recorder. O-Ton 28 - Barbara Wittmann - DR 401 / (6:01) Genau, er ist ein Recorder, aber er ist eben auch ein Recorder besonderer Art (...). Wenn wir mit einem elektronischen oder einem mechanischen, einem digitalen Gerät etwas aufzeichnen, (...) (6:25) das ist im Prinzip ein passiver Vorgang: (...) Ein Gerät tut etwas für uns. // (ca. 7:00) Das Zeichnen zwingt einen dazu, (...) sich zu involvieren in den Akt des Aufzeichnens. // (ca. 3:45) also aus einem amorphen Phänomen, das ja erst mal noch kein Objekt und kein Gegenstand und keine These ist, dieses Phänomen zu konturieren, zu artikulieren, und dann eben auch zu sichern und (...) verfügbar zu machen, publizierbar, speicherbar, weiterverarbeitbar. SPRECHER Wie haben Künstler und Wissenschaftler in Notizheften und Skizzenbüchern ihre Gedanken geordnet? Was können Psychologen in Kinderzeichnungen und Handschriften lesen? Wie wurden Sternennebel zeichnerisch dokumentiert? Diesen Fragen widmete sich das Forschungsprojekt "Wissen im Entwurf", das Barbara Wittmann mit Kollegen vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und dem Kunsthistorischen Institut in Florenz initiiert hat. AUTOR Die Forscher haben festgestellt, dass es auch im digitalen Zeitalter noch gute Gründe gibt, mit der Hand zu zeichnen: zum Beispiel für Biologen oder Archäologen, die mit Hilfe einer Zeichnung erst heraus präparieren oder rekonstruieren, was sie überhaupt vor sich haben. Der Stift denkt mit, wenn sie durchs Mikroskop oder auf eine Fundstelle schauen. O-Ton 29 - Barbara Wittmann - DR 401 / (7:35) Die Praxis, und das kann zum Beispiel die Beobachtung sein, die wissenschaftliche Beobachtung, (...) diese Praxis wird sich verändern durch das Zeichnen, weil das Zeichnen // (ca. 10:25) eben nicht nur passiv etwas aufzeichnet, etwas vorführt, was immer schon da war, sondern tatsächlich an der Hervorbringung und Durcharbeitung von neuem Wissen (...) teil hat. SPRECHER Das Zeichnen ist nicht zu trennen von seinen Utensilien: Stifte und Papier setzen dem Zeichner einen Widerstand entgegen, der den Charakter des Bildes mitbestimmt. Die Zeichnung ist ein Artefakt, ein Ding, ein handfestes Objekt. Wie alle Medien besitzt sie eine materielle Seite, die den Darstellungsmöglichkeiten einen Rahmen setzt. AUTOR Der Philosoph Vilém Flusser war an solchen Grundbedingungen von Medien besonders interessiert. Er war davon überzeugt, dass Schrift- und Bildmedien Wissen auf unterschiedliche Weise organisieren und dass das Leitmedium einer Kultur ganz wesentlich ihr Weltbild prägt. In seinem Vortrag "Krise der Linearität" schrieb Flusser 1988: SPRECHER Man ging vom Bild zur Schrift, diese wurde vorherrschend, kam in eine Krise, wurde durchbrochen, und nun steht man jenseits der Schrift, in einer neuen Einbildung, in der wir uns erst zu üben haben. AUTOR Vilém Flusser betrachtete Bilder als Ausdruck eines magischen Weltbilds, angefangen bei den Höhlenzeichnungen der ersten Menschen, die das Leben als Kreislauf, als Wiederkehr von Grundsituationen darstellten. Die Schrift verstand er dagegen als Instrument eines linearen Denkens, das Entwicklungen erkennt und Schlussfolgerungen anstellt, als Werkzeug der Wissenschaft. In Fotografie und Film, Video, Fernsehen und Computer sah Flusser einen wesentlich neuen Bildtyp und ein neues Leitmedium: Mit diesen "technischen Bildern", die aus einzelnen Punkten in immer neuen Formationen zusammengesetzt sind, verband er ein Denken in Welt- und Selbstentwürfen, einen quasi unbegrenzten Spielraum für neue visuelle Codes. O-Ton 30 - Martin Haußmann DR 374 (ca. 1h 20:20) Was aber letztendlich dazu geführt hat, und das ist das Phänomen "Powerpoint" ... (Zeichen-Geräusche), dass plötzlich so viele Bilder und so viel Information da war, dass die Menschen davon überfordert waren. Das ist der Punkt, wo wir im Augenblick sind. Jeder, mit dem wir sprechen, und der uns als Visual Facilitator / Graphic Recorder bucht, sagt: Ich hab keinen Bock mehr auf Beamer- Präsentationen. SPRECHER Die Zeichnung, sagt der "Kommunikationslotse" Martin Haußmann, ist ein Werkzeug der Entschleunigung, mit dem sich der Ansturm der technischen Bilder bändigen lässt. O-Ton 31 - Martin Haußmann DR 374 (26:44) Das Ziel wäre, so zu sprechen, dass man es immer zeichnen kann. AUTOR Das Denken mit dem Stift in der Hand wäre also eine Art "gestützte Kommunikation": ein Verfahren des Entwurfs nach menschlichem Maß. O-Ton 32 - Martin Haußmann DR 374 (ca. 1h 22:05) Man kann nur so schnell denken, wie man auch zeichnen kann. (Zeichen-Geräusche) Wenn Menschen sich treffen und versuchen, einen Gedanken zu formulieren, können sie das - wäre jetzt meine Arbeits-Hypothese mal oder ein Manifest dafür - nur so schnell, wie sie in der Lage sind, das auch zu zeichnen. Und "Zeichnen" heißt nicht nur Bilder, sondern Bild plus Text ... (Zeichen-Geräusche), Bild plus Text plus Dialog. MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" AUTOR Was wissen wir heute über die unterschiedliche Verarbeitung von Sprache und Bildern? Gibt es überhaupt so etwas wie ein visuelles Denken? Und was wäre daraus abzuleiten für einen Umgang mit Wissen, bei dem Bilder eine größere Rolle spielen? O-Ton 33 - Gerhard Roth (4:45) Ein Bild als nicht-verbale Kommunikation hat den ungeheuren Vorteil, dass es sehr viele Daten auf einmal präsentiert. SPRECHER Gerhard Roth ist Philosoph und Neurobiologe. Er hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Grenzen das Gehirn einem freien Willen setzt und wie es unsere Umwelt wahrnimmt. O-Ton 34 - Gerhard Roth (ca. 5:00) Das ist der Vorteil des Bildes: Es wird parallel verarbeitet in unserem Gehirn und nicht eins nach dem anderen, konsekutiv oder sequenziell wie die Sprache, und kann dadurch in sehr kurzer Zeit sehr viele Informationen in unser Gehirn bringen. Der Nachteil ist, dass diese Informationen erst einmal ganz grob verarbeitet werden und nicht so detailliert wie die sprachlichen Informationen. // (6:00) Bilder sind also immer sehr interpretationsbedürftig. AUTOR Einerseits, sagt der Hirnforscher Gerhard Roth, verschaffen Bilder uns gegenüber der Linearität der Sprache einen enormen Vorsprung. Sie müssen nur nachträglich gedeutet werden. O-Ton 35 - Niko Busch - DR 379 / 17:02 Also, eine Besonderheit von visueller Information ist, dass man (...) gerade so Eindrücke, vage Informationen, sehr schnell extrahieren kann. (17:15) Sagen wir, ich präsentiere ein Bild, eine Fotografie, dann sind Menschen (...) sehr effizient darin, (...) zu extrahieren: Worum geht es denn hier eigentlich? (...) Wenn man quasi mit einem Wort beschreiben sollte, was ist auf dieser Szene dargestellt? Das können wir in wenigen Dutzend Millisekunden hinkriegen. SPRECHER Niko Busch forscht an der "Berlin School of Mind and Brain" über visuelle Kognition. O-Ton 36 - Niko Busch - DR 379 / 4:26 Und eine erstaunliche Sache, die wir finden, ist, dass in diesen ersten dutzend oder paar hundert Millisekunden schon eine erstaunliche Verarbeitung und Interpretation sich abspielt, mehr und auch anders, als man es vielleicht intuitiv denken würde. AUTOR Andererseits, sagt der medizinische Psychologe Niko Busch, ist schon unser allererster Seh-Eindruck von Voraus-Deutungen geprägt. SPRECHER Vom ersten Augenblick an, wenn uns ein Objekt zunächst noch in seinen gröbsten Umrissen erscheint, als wäre es von einem Weichzeichner verwischt, beginnt das Gehirn zu spekulieren. O-Ton 37 - Niko Busch - DR 379 / (9:50) Also, dieses Objekt hier, das könnte zum Beispiel eine Pistole sein, oder es könnte auch ein Fön sein oder ein Akkuschrauber. Je nachdem, in welcher Umgebung wir uns jetzt gerade befinden, erlaubt es das, dem visuellen System, eine sehr schnelle Hypothese zu erstellen, die dann dazu dienen kann, (...) unsere Aufmerksamkeit auszulenken und die Details (...) effizienter wahrnehmen zu können. AUTOR Je nachdem, ob ich mich gerade im Bad, in der Werkstatt oder im Kino befinde, werde ich etwas anderes zu sehen glauben. Aus der Sicht der Hirnforschung ist Sehen selbst ein "Verfahren des Entwurfs". O-Ton 38 - Gerhard Roth (29:50) Ja, natürlich. (...) Obwohl das Sehen, das primäre Sehen, sehr komplex ist, ist das wichtigste Sinnesorgan (...) nicht das Auge beim Sehen, sondern unser Gedächtnis. // (31:07) Sehen ist überhaupt keine Widerspiegelung, obwohl wir das so meinen wie eine Fotografie, sondern es ist ein Produkt aus bestimmten Sinnesdaten, die vom Gedächtnis in unserem Gehirn in der Weise zusammengesetzt werden, wie es für das Gehirn aufgrund der Erfahrung am wahrscheinlichsten ist. SPRECHER Bilder können das Gehirn unterstützen. Als ausgelagertes Gedächtnis oder Probebühne für neue Gedanken. AUTOR Vielleicht ist es deshalb so spannend, jemandem beim Zeichnen zuzusehen. O-Ton 39 - Gerhard Roth (ca. 19:15) Es ist natürlich faszinierend, diese berühmten Aufnahmen von Picasso, während er zeichnete, sogar im Dunkeln, mit so einem leuchtenden Gegenstand, das rührt uns unmittelbar an, und wir versetzen uns offenbar in diese Person, während er oder sie zeichnet. //(19:00) Es ist eben etwas, was wir intuitiv, sogar empathisch, nachvollziehen können, während wir ja jemandem beim Denken nicht zugucken können. SPRECHER Das Zeichnen, sagt die Zeichnerin Anna Lena Schiller, ist eine Form, sich selbst beim Denken zuzugucken - und die Gedanken in Form zu bringen. O-Ton 40 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 24:27) Man macht den Kopf auf, guckt da rein, was ist da oben eigentlich? Ah ja, es ist alles irgendwie wirr, und ich muss das in eine Ordnung bringen, und dann nehme ich den Stift in die Hand, und es fließt aus dem Kopf, durch den Arm, durch den Stift aufs Papier, und mit Zeichnen und Formen und Denken in Bildern kann man dann seine eigene Realität erschaffen. MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" O-Ton 41 - Käthe Wenzel - DR 375 / ca. 36:05 Die Zeichnung ist ein Prozess, man fängt ja meistens eher vage an und sucht den Weg zu der Form, die dann am Ende steht. // (36:13) Mir passiert auch oft, dass ich eine Zeichnung anfange, und dass die sich verselbständigt. Also, ich mache // (36:25) eine Zeichnung von irgend jemandem, der meditiert, mit einem Dollar- Zeichen über dem Kopf, (...) und auf einmal ergibt sich, was die Frau anhat, und hinterher ist es irgendwie ein Marien-Zitat oder so. SPRECHER Wenn du etwas finden willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. (...) Der Franzose sagt, l'appétit vient en mangeant, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l'idée vient en parlant. (H. von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, S. 340) AUTOR Die Gedanken formen sich in der freien Rede, wie der Appetit mit dem Essen kommt. Von dieser Erfahrung handelt Heinrich von Kleists Essay "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Wenn Kleist allein über den Akten sitzt, kommt er nicht weiter. SPRECHER Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. (...) Weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, (...) jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus. (H. von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, S. 340f.) AUTOR Dafür sei es nicht einmal nötig, dass seine Zuhörerin versteht, wovon er redet, schreibt Kleist. - Ein zweifelhaftes Kompliment. O-Ton 42 - Käthe Wenzel - DR 375 (1h 11:20) Wer weiß, was der Herr Kleist noch zustande gebracht hätte, wenn er mehr mit seiner Schwester Teamwork gemacht hätte. // (1h 10:20) Der hatte eine sehr, sehr schlaue Schwester, (...) auch wenn er es nicht zugeben wollte! AUTOR Für Käthe Wenzel hätte das Zeichnen ohne Teamgeist überhaupt keinen Reiz. SPRECHER "Cartoonorama" heißt das deutsch-niederländische Kartierungsprojekt, für das die Künstlerin und Kunsthistorikerin Marktleute und Touristen, Schulklassen, Zollbeamte und Soldaten aus beiden Ländern nach ihren Erfahrungen mit der Landesgrenze befragt hat. Die Ergebnisse dokumentierte sie in Form von Cartoons. O-Ton 43 - Käthe Wenzel - DR 375 (ca. 53:10) Bei dem "Cartoonorama"-Projekt ... geht es nicht darum, meine Sicht auf die Dinge darzustellen, // (ca. 3:00) was ich möchte, ist ein vielstimmiges Porträt, eine vielstimmige Aussage über eine bestimmte Landschaft, Stadt oder Institution. // (24:55) Es geht darum, ein treffendes Bild zu finden für das, was (...) die Gruppe, mit der ich in dem Moment rede, mir erzählt. // (ca. 27:55) Das heißt, ich mache eine Zeichnung, und die Gruppe ruft mir zu, wie sie es haben will, also Zeichnung auf Zuruf. SPRECHER Die Künstlerin spielt die Rolle einer zeichnenden Moderatorin. Sie entwirft ein Bild, über das so lange verhandelt wird, bis sich alle darin wieder finden: Zeichnen als Verfahren kollektiver Autorschaft. AUTOR "Soziale Grafik". O-Ton 44 - Martin Haußmann (DR 373 / 0:48) Es geht ja um die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen, und wir versuchen tatsächlich, das Denken aus den einzelnen Gehirnen in ein gemeinsames Gehirn, in eine sogenannte Group Mind (...) zu transportieren ... O-Ton 45 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 1:04:12) Generell ist es aber auch so wie beim Gesprochenen: Wer den Stift hat, hat die Macht. - Das klingt jetzt radikal, und ich glaube, es ist auch so: Man muss, vor allen Dingen als Facilitator den Stift auch abgeben können. Man generiert ja eine Realität für alle Beteiligten (...) und für mich habe ich die größten Erfolge immer gehabt, wenn die Leute mit beitragen zu diesem Bild. SPRECHER An dieser Stelle trifft sich Käthe Wenzels "Cartoonorama" mit dem Konzept der "Graphic Recorder" und "Visual Facilitator". AUTOR Die gemeinsame Verfertigung von Ideen mit dem Stift ist eine neue Qualität in der Kulturgeschichte des Denkens auf Papier. Vielleicht auch Ausdruck einer neuen Zeit. O-Ton 46 - Anna Lena Schiller (DR 380 / 1:08:45) Ich glaube, dass unsere gesamtgesellschaftliche Entwicklung darauf hin zielt, dass alles etwas partizipativer gestaltet wird, (...) man sieht in der Politik, wie "Liquid Democracy" zum Beispiel bei den "Piraten" funktioniert, dass da Transparenz und Beteiligung wichtiger werden. Man sieht es auch in den Unternehmen: Wo früher nur (...) das Management miteinander geredet hat, werden inzwischen partizipative Prozesse gestaltet, (...) und diese Prozesse kommen unserer Arbeit entgegen. // (1:05:28) Meine ideale Vorstellung des "Graphic Facilitating" ist tatsächlich, dass jeder in der Gruppe die Fähigkeit hat, sich visuell auszudrücken, genauso wie jeder auch reden kann. MUSIK - J. A. Riedl "Paper Music" und M. Andrews: "Donnie Darko" MPS Absage: SPRECHER Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Zeichnen. Wie Zeichnungen Wissen organisieren. Von Frank Kaspar Mit: Niko Busch, Martin Haußmann, Gerhard Roth, Anna Lena Schiller, Käthe Wenzel, Barbara Wittmann und anderen Es sprachen: N.N. und der Autor Ton und Technik: N.N. Redaktion: Jana Wuttke