KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 00.05 Ich wollte nie das Komma sein in einem Satz Thomas Brasch, Einar Schleef, W.G. Sebald, Klaus Schlesinger Autor : Carola Wiemers Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 08.05.2011 Besetzung : Autorin (bitte besetzen) Zitator 1 (Brasch&Schleef) Zitator 2 (Sebald) Zitator 3 (Nietzsche, Weiss etc.) Regie : 0-Ton Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Ich wollte nie das Komma sein in einem Satz" Die Autoren Thomas Brasch, Einar Schleef, Klaus Schlesinger und W. G. Sebald. Sendedatum: 8. Mai 2011 Autorin: Carola Wiemers Redaktion: Sigried Wesener Zitator 1 (Brasch & Schleef): Zitator 2 (Sebald): Zitator 3 (Nietzsche, Jelinek, Weiss, Adorno, Barthes, Rühle): Take 1: Geräusch: Messer ritzen etwas scharf in einen Stein Take 2: Zitator 3 (Peter Weiss "Die Ästhetik des Widerstands") (flüsternd) "Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein." (normale Lautstärke) "Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, (flüsternd) immer in den Gebärden des Kampfs" Autorin Im Jahr 1887 schreibt der Philosoph Friedrich Nietzsche in seiner Streitschrift "Zur Genealogie der Moral" Take 3: Zitator 3 (Nietzsche) "Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder, die widerlichsten Verstümmelungen, die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte - alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel der Mnemonik erriet." Take 4: starkes Kratzen von Messern auf Stein (alles Takes ) Take 5: Thomas Brasch "Schreiben hat mit noch einmal leben zu tun. Gegenwehr oder Verteidigung des eigenen Bewusstseins gegen Vergessen." Take 6: W.G. Sebald "Das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Die Fotografie ist das wahre Dokument par excellence, von dem die Leute sich überzeugen lassen." Take 7: Klaus Schlesinger "Worauf es mir ankommt ist einfach, dass die deutsche Geschichte der letzten vierzig, fünfzig Jahre, als die Geschichte zweier Staaten erzählt wird." Take 8: Einar Schleef "Ich werde mahnen mahnen! Jeden! Egal wers versteht." Autorin Mnemosyne, die Mutter der Künste, soll mit Zeus neun Musen gezeugt haben. Ihr Name steht für Gedächtniskunst und für die Techniken, die das Erinnern trainieren. Bereits bei Simonides von Keos, dem Begründer der Gedächtniskunst, der sog. Mnemotechnik, sind die Fähigkeit des Erinnerns und der literarische Text miteinander verbunden. Bei einem Festmahl zu Ehren des Gastgebers Skopas habe Simonides ihm zu Ehren ein Gedicht vorgetragen, in dem er aber auch die Dioskuren Kastor und Pollux besang. Verärgert wollte ihm Skopas deshalb nur die Hälfte des vereinbarten Lohnes zahlen. Während Simonides aus dem Festsaal gerufen wird, stürzt hinter ihm das Haus ein. Alles wird bis zur Unkenntlichkeit vernichtet. Nur Simonides erinnert sich nachträglich genau an die Sitzordnung beim Festmahl. Er allein vermag die Gäste mit seiner Gedächtniskunst zu identifizieren. Der Schmerz zentriert diesen Gründungsmythos und mit ihm verbunden ist die Fähigkeit des Erinnerns. Take 9: Zitator 3 (Nietzsche) "Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis." Autorin In Friedrich Nietzsches Gedanken wird das Gedächtnis zum Ursprung einer Vernunft, die unter Schmerzen und Gewalt entsteht. Nietzsche erinnert damit an die Subjektwerdung als Unterwerfung. Denn der Schmerz ist keine rein physiologische, sondern auch eine kulturelle Größe. Im Vorgang des Erinnerns zeigt sich eine Differenz zwischen dem Moment des Erinnerns und der Erinnerung selbst. In dieser nistet sich der Schmerz ein. Das Erinnerte ist dann ein Nicht-Vorhandenes: eine Lücke, die es auszufüllen gilt. Die Literatur nimmt sich dieser Lücke in der Gedächtniskette an. Sie arbeitet mit an einem kulturellen Gedächtnis, das sich aus einer Vielzahl von Stimmen zusammensetzt und ist zugleich Teil eines umfassenden kommunikativen Gedenkens. Take 10: starkes Kratzen von Messern auf Stein Autorin Die Autoren Thomas Brasch, W. G. Sebald, Einar Schleef und Klaus Schlesinger haben mit ihrem schonungslosen Blick auf die deutsche und europäische Geschichte entscheidend an dieser Mnemotechnik mitgewirkt. Mit ihren Poetologien schufen sie ein Archiv in Sprache, Bildern, Klängen. Zwischen 1937 und 1945 geboren, ragt der "Geschichtsfelsen" des Holocaust mit seiner Schmerzenskraft tief in ihr Werk und ihre Biografie hinein. Ihr Tod zur Jahrtausendwende - alle Autoren starben im Jahr 2001 - hat in der deutschsprachigen Literatur eine Lücke hinterlassen. Fremdheit und Ausgeliefertsein im eigenen Land sowie territoriale und seelische Ausgrenzung haben diese Autoren am eigenen Leib erfahren. Doch misstrauen sie auch immer wieder dem eigenen Erinnern und beziehen sich konsequent in die literarische Analyse mit ein. Anhand ihrer Texte wird klar, dass sich der Schnittpunkt von Erinnerung und Schmerz, an dem sich das Subjekt der Moderne einst konstituierte, durch den faschistischen Terror grundlegend verändert hat. Die Scham, als Überlebender und auch Nachgeborener Teil dieser finsteren Zeiten zu sein, durchzieht ihr Werk. In Romanen und Erzählungen, Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten und Stücken werden sie zu Chronisten der Zeit. Take 11: Musik: Wenzel/Hein "Denn es sind zwei sich ausschließende Dinge: Gut zu schlafen und sich gut zu erinnern." Leiser werden und langsam ausblenden Take 12: Thomas Brasch "Schreiben hat mit noch einmal leben zu tun. Gegenwehr oder Verteidigung des eigenen Bewusstseins gegen Vergessen. Das heißt, man macht ganz bestimmte Erfahrungen, diese Erfahrungen versinken irgendwo. Sie sind nicht ausgelebt, sie sind nicht zu ende gebracht diese Erfahrungen. Man kann über sie nachdenken, man kann davon träumen, man kann sie noch einmal aufarbeiten, wenn man Träumen als einen Arbeitsprozess verstehen will. Und man kann dieses noch einmal Aufarbeiten noch in einer anderen Weise betreiben, nämlich indem man es beschreibt. Indem man durch die Beschreibung dem eigentlichen Vorgang näher kommt als durch die etwas blasse Erinnerung." Autorin Für den Lyriker, Dramatiker, Filmemacher und Übersetzer Thomas Brasch ist seit seiner Geburt 1945 im englischen Westow der Vorgang des Erinnerns an seelische und körperliche Schmerzen geknüpft: vom strengen Elternhaus, über die Tortur der Kadettenschule in der DDR von 1956 bis 1960, sein Studium der Journalistik in Leipzig, wo er 1965 wegen existentialistischer Anschauungen exmatrikuliert wird, die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe wegen "staatsfeindlicher Hetze" nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR 1968, bis zu seiner Ausreise im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung und dem Leben in Westberlin. Take 13: Thomas Brasch "Ich werde überhaupt nicht gebraucht. Weil es eine Gesellschaft gar nicht gibt, die Dichtung braucht. Sondern sie verbraucht sie." Autorin Braschs künstlerisches Programm ist radikal. Er selbst bezeichnet sich als einen Verwahrlosten, der sich nur im Chaos spürt. 1976 verlässt Brasch die DDR, da seine künstlerische Arbeit massiv behindert wird und eine Publikation des Prosabandes "Vor den Vätern sterben die Söhne" aussichtslos ist. Aufgenommen ist in diesen Band, der 1977 erstmals im Westberliner Rotbuch Verlag erscheint, die Parabel "Der Zweikampf". Am Beispiel des musikalischen Wettstreits zwischen dem Satyr Marsyas und dem Gott Apoll zeigt sich Braschs Arbeit am Mythos als eine spezifische Form des Erinnerns. Im Mythos - der als eine Allegorie der Hybris des Marsyas gelesen werden kann - fordert der Flötenspieler Marsyas den Gott der schönen Künste zum Wettstreit heraus. Da Apoll die Lyra von beiden Seiten zu spielen versteht und sein Gesang den Vortrag aufwertet, obwohl das untersagt ist, muss Marsyas unterliegen. Er wird von den Musen an einen Baum gebunden und gehäutet. In Braschs Version erscheint Marsyas zwar zum Kampf, weigert sich aber zu spielen. Take 14: Thomas Brasch "Spiel, sagte er und schob ihm die Flöte zwischen die Finger. Marsyas steckte das Holz in den Mund und biss mit aller Kraft hinein, bis seine Zähne zerbrachen. Laß mich, sagte Marsyas. Sag mir den Grund, bat Apoll. Welchen Grund, sagte Marsyas. Wenn du nicht spielst, werden wir dich töten. Ich weiß, sagte Marsyas." Autorin Brasch zeigt einen aufgeklärt-desillusionierten und gerade darin widerständigen Marsyas. Er weiß, wie er seine Kunst auch ausübt, er muss verlieren und sterben. Damit rückt Brasch in seiner Mythos-Version die Handlungen des Herrschers Apoll in den Mittelpunkt. Take 15: Thomas Brasch "Er zog seine Flöte aus dem Gürtel, warf sie Apoll vor die Füße, drehte sich um und ging über die Wiese zum Abhang. Erst jetzt sahen sie die Tränen in den Augen Apolls. Er stützte den Kopf in die Hände und rieb sich die Augen. Sein Körper zitterte. Holt ihn zurück, stöhnte er. Holt ihn zurück, schrie er. Marsyas wollte eben den Abstieg beginnen, als sie ihn einholten. Komm zurück. Er weint, sagten sie." Autorin Der Text ist ein subtiles Psychogramm. Im Kampf zwischen Staatskunst und freiem Künstlertum wird die Machtfrage gestellt. Der Gott Apoll verkörpert den Logos in der Ordnung. Wer sich ihm entzieht oder sich ihm widersetzt, muss mit Bestrafung rechnen. Durch die Verweigerung des Marsyas erfährt diese Machtstruktur eine Provokation und wird zugleich diskreditiert. Apolls Zusammenbruch markiert diese unerhörte Kränkung. Obwohl es keinen Wettstreit gibt, richtet er. Das mythische Ritual der Machtausübung schlägt in Barbarei um. Take 16: Thomas Brasch "Sie setzten die Messer an, schnitten ihm die Kerben in Handgelenke und Hals und zogen ihm die Haut vom Körper. Marsyas starrte sie an. Nur sein Gesicht und die Hände waren noch von seiner Haut bedeckt. Er sah aus, als hätte er eine Maske aufgesetzt und Handschuhe angezogen. Jetzt erst begann er zu schreien." Autorin In der Stunde des Todes markiert der Schrei des Marsyas den Schmerzpunkt, an dem - jenseits der logischen Ordnung - die menschliche Stimme allein zum Platzhalter wird. Take 17:Thomas Brasch "Einmal schien ihnen, als hätte er aufgehört, obwohl sein Mund offenstand, ein anderes Mal dachten sie, der Ton wäre in eine für sie nicht mehr hörbare Höhe gestiegen. So gut wie jetzt kann er auf der Flöte nicht gewesen sein, sagte Apoll." Autorin: Apolls zynischer Kommentar, dass der Schmerzensschrei des Gefolterten besser sei als jede Kunst, gleicht einem barbarischen Sprechen, mit dem die Ordnung wieder hergestellt sein soll und gerade darin den Bruch markiert. Für Brasch sind in der Marsyas-Geschichte bereits alle Formen angelegt, auf welcher die Literatur Europas bis heute basiert. Im Wettstreit zwischen dem Satyr Marsyas, der in der Hierarchie der Macht ganz unten steht und mit der Flöte ein minderwertiges Instrument spielt, und dem Gott Apoll, sieht er die Kampfformen in der Leistungsgesellschaft vorgeprägt. Ebenso die Ausweglosigkeit, der Macht der Verhältnisse - auch in der Kunst - entrinnen zu können. Obwohl kein Wettstreit stattgefunden hat, lässt Apoll den Gegner häuten und verkündet das übliche Urteil. Wie eine letzte Trophäe der Macht wird Marsyas Haut für alle sichtbar aufgespannt. Die Haut ist ein zentrales Motiv in Braschs Texten. Mit ihr wird ein Schmerzgedächtnis als Körpergedächtnis konstituiert. Oft erscheint sie als Gefängnis des Körpers. Im Penetrieren der Haut mit Nadeln und Messern werden aber auch Entgrenzungsversuche und existentielle Notzustände angezeigt. Das Sprachbild des Nicht-aus-der-Haut-fahren-könnens wird zu Braschs künstlerischem Credo. Take 18: Musik: Wenzel/Hein "Der Mensch schuf sich die Götter,/ um mit der Unerträglichkeit des Todes leben zu können." Leiser werden und langsam ausblenden Take 19: W.G. Sebald "Das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Die Fotografie ist das wahre Dokument par excellence, von dem die Leute sich überzeugen lassen." Autorin Im Herbst 1997 löste der Schriftsteller und Literaturhistoriker W.G. Sebald im Zusammenhang mit seinen Poetik -Vorlesungen an der Universität Zürich eine Debatte über das Bombeninferno im Zweiten Weltkrieg aus. Unter dem Titel "Luftkrieg und Literatur" 1999 in erweiterter Form auch als Buch erschienen, beklagt der 1944 im Allgäu geborene Autor eine Lücke in der deutschen Nachkriegsliteratur. Take 20: Zitator 2 (Sebald) "Die Fähigkeit der Menschen, zu vergessen, was sie nicht wissen wollen, hinwegzusehen über das, was vor ihren Augen liegt, wurde selten auf eine bessere Probe gestellt als damals in Deutschland." Autorin Sebald entfachte damit auch einen Diskurs über die Formen des Erinnerns, indem er die schwierige Frage berührt, wodurch sich das kollektive Gedächtnis konstituiert. Den Begriff "Trümmerliteratur" stellt er dabei gänzlich in Frage. Das Programmatische an dieser Literatur, nach der Heimkehr lediglich das zu fokussieren, was noch vorhanden war, sei ein von "Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument", um den tatsächlichen Zustand einer Welt zu verschleiern, die längst jeder Begrifflichkeit entbehrt. Den nach 1945 heimgekehrten Autoren wirft Sebald vor, sie hätten lediglich sentimentale und larmoyante Erlebnisberichte verfasst und die sichtbaren Schrecken der Zeit nicht registriert. Take 21: Zitator 2 (Sebald) "Die Hervorbringungen der deutschen Autoren nach dem Krieg sind vielfach bestimmt von einem halben oder falschen Bewusstsein, das ausgebildet wurde zur Festigung der äußerst prekären Position der Schreibenden in einer moralisch so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft." Autorin Lediglich in Alexander Kluges Schilderung des "Luftangriffs auf Halberstadt am 8. April 1945" von 1970 und vor allem im Werk von Peter Weiss sieht Sebald den ewigen Kampf gegen die "Verlockungen des Gedächtnisschwunds" verwirklicht. Ihre Texte verweigern sich konsequent, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise der individuellen und kollektiven Amnesie. Am 5. September 1970 hatte Peter Weiss notiert Take 22: Zitator 3 (Weiss) "Von denen, die die Kunst des Vergessens so viel besser beherrschen, lassen sich die Wissenden allzu leicht beiseite drängen, bestehen bleibt das Selbstsichere, Freche, Unverschämte, Zynische, in gigantischer Verschwendung dagegen sterben die Keime von Hoffnung, Liebe, Wärme und Zuversicht ab." Autorin Laut Sebald gelingt es Peter Weiss, von der Verfassung einer Gesellschaft zu sprechen, in der die "aberwitzigsten Vernichtungsträume" von der Wirklichkeit längst eingeholt und überboten worden sind. Konsequent unternimmt er seine Pilgerfahrten durch die "Geröllhalden" der Kultur- und Zeitgeschichte, an deren Ende er selbst als Opfer erscheint. Schließlich gelingt es ihm in der "Ästhetik des Widerstands" die Zeitalter aus den Ruinen heraus zu beschreiben. Take 23: Zitator 2 (Sebald) "Darum, weil etwas erinnert sein muss begibt Weiss sich an die literarische Arbeit und in ein Purgatorium, an dessen Schwelle jener Engel steht, der auch Dante mit der Spitze des Schwerts den Buchstaben P für peccatum als Zeichen des Bewusstseins der Sündhaftigkeit in die Stirn ritzt." Autorin Sebalds Prosawerk, das 1990 mit "Schwindel. Gefühle" einsetzt, über "Die Ausgewanderten" von 1992 und "Die Ringe des Saturn" von 1995 hin zu "Austerlitz" im Jahr 2000 reicht -, wird von radikalen Modellen des Erinnerns zentriert. Sie verweigern sich jeder Kategorie und scheinen von Th. W. Adornos Satz aus den "Noten zur Literatur" begleitet. Take 24: Zitator 3 (Adorno) "Nur durchs Vergessen hindurch, nicht unverwandelt überlebt irgend etwas." Autorin Mit dem Blick des Melancholikers sucht Sebald unentwegt nach Vergessenem: nach Menschen, Ereignissen, Gegenständen, denen der Schatten des Schweigens innewohnt. Seine Texte werden durchgängig von einem Ich-Erzähler präsentiert. Das stets namenlose Ich bietet zwar Möglichkeiten der Identifikation mit der Person des Autors an, zeigt sich aber als eigenständiges literarisches Ich. Wie in "Die Ringe des Saturn" von 1995 ist es seine Haltlosigkeit und Flüchtigkeit, die überzeugt. Take 25: Zitator 2 (Sebald) "Blicke ich heute in jene Zeit zurück... so sehe ich alles wie hinter wehenden weißen Schleiern." Autorin Es gehört zu Sebalds künstlerischem Prinzip, in den jeweiligen Textkörper Fotografien einzustreuen, die nur scheinbar zu einer Verschattung der Wortwelt führen. Durch die verfremdende Faszination des Visuellen ergibt sich ein völlig neues Moment der Darstellung. Take 26: W.G. Sebald "Immer ist mir dabei dasselbe aufgefallen, dass nämlich von diesen Bildern ein ungeheurer Appell ausgeht. Eine Forderung an den Beschauer zu erzählen oder sich vorzustellen, was man von diesen Bildern erzählen könnte. Sie haben also einen sehr realen Nukleus und um diesen Nukleus herum einen riesigen Hof von Nichts. Sie wissen nicht, in welchem Kontext diese Person stand und um welche Landschaft es sich handelt. Ist es Südfrankreich, ist es Italien, sie wissen es nicht? Und sie müssen anfangen, hypothetisch zu denken. Und auf dieser Schiene kommt man dann unweigerlich in die Fiktion und ins Geschichtenerzählen." Autorin Das Suchen Sebalds nach den verborgenen Geschichten mit Hilfe von Fotografien ist zu einer grundlegenden Form seines literarischen Sprechens geworden. Es geht auf ein Ereignis zurück, das sein Spiel mit den Schattierungen, die von dem authentischen Material ausgehen, erklärt. Anfang der 1980er-Jahre entdeckte Sebald im Haus der Eltern in Sonthofen ein Fotoalbum. Da solche Erinnerungsstücke zum Grundbestand genealogischer Strukturen gehören, bestand für ihn per se ein Interesse daran. Vom Vater im Kriegsjahr 1939 angelegt, stellte sich beim Betrachten jedoch heraus, dass sich zwischen den fotografierten familiären Posen wie selbstverständlich die Schreckensbilder der Zeit befanden. Zwischen Ruinen und Stacheldraht, Verwüstung und Tod klafften die Fotografien als Wunden hervor. Die familiäre Situation verwandelte sich augenblicklich in eine geschichtliche. Für Sebald Grund genug, von nun an danach zu forschen, was als das nicht Sichtbare aus diesen Bildern heraus spricht. Take 27: W.G. Sebald "Ich sehe nur das Bild und ich sehe das, was in diesem Bild als Erzählung steckt sozusagen oder als Fragment einer Erzählung. Und das ist genau das - es kann sich um eine Landschaft handeln, eine Person, um ein Interieur. Das ist genau das, was mich antreibt, in diese Dinge genauer hineinzusehen." Autorin Vermeintlich sichere Fakten verändern dadurch ihren Standort und es ergeben sich neue Konstellationen. Beim Leser lösen sie Irritationen aus, führen zu Abschweifungen bei der Lektüre - bis er schließlich selbst Teil des Geschehens wird. In seinem Roman "Die Ausgewanderten" von 1992 geht Sebald dem Leben von vier jüdischen Exilanten nach. Unter den Porträtierten befindet sich auch sein einstiger Volksschullehrer Paul Bereyter. Er hatte am 30. Dezember 1983 im Alter von 74 Jahren Selbstmord begangen. Der Ich-Erzähler erfährt durch die im Nachruf enthaltene Mitteilung, Bereyter sei im Dritten Reich an der Ausübung seines Lehrerberufs gehindert worden. Take 28: Zitator 2 (Sebald) "Diese gänzlich unverbundene und unverbindliche Feststellung sowohl als die drastische Todesart waren die Ursache, weshalb ich mich während der nachfolgenden Jahre in Gedanken immer häufiger mit Paul Bereyter beschäftigte und schließlich versuchte, über die Versammlung meiner eigenen, mir sehr lieben Erinnerungen an ihn hinaus, hinter seine mir unbekannte Geschichte zu kommen." Autorin Im Verhältnis 1:100 ist der Grundriss des ehemaligen Schulzimmers ein Bestandteil des Textes. Die zaghaften, maßstabgetreuen Bleistiftstriche, mit denen das Kind einst gewissenhaft zeichnete, suggerieren eine Gegenwärtigkeit des vergangenen Augenblicks jenseits der Sprache und lassen Erinnerungen hervortreten. Take 29: Zitator 2 (Sebald) "Von dem erhöhten Lehrerpult, hinter dem das Kruzifix mit dem Palmwedel an der Wand hing, konnte man auf die Köpfe der Schüler hinabsehen, aber der Paul hat, wenn mich nicht alles täuscht, diesen erhöhten Platz nie eingenommen." Autorin Doch Sebald arbeitet nicht nur mit Fotos, die aus Familienalben stammen oder die er selbst aufgenommen hat, obwohl er sich angewöhnt hat, ständig eine Kamera bei sich zu tragen. Take 30: W.G. Sebald "Es sind eigentlich sehr, sehr diffuse Arbeitsprozesse, die ich nicht durchschaut habe. Ich lass mich da immer vom Instinkt leiten. Autorin In Antiquitätengeschäften, auf Märkten, unterwegs auf Reisen wird er zum Sammler fremder Geschichten. Von dieser Suche nach dem Unsichtbaren werden auch die Ich-Erzähler in Sebalds Texten erfasst. Wie in "Schwindel. Gefühle" von 1990 und in "Die Ausgewanderten" so sind auch in Sebalds letztem Buch "Austerlitz" Fotografien in den Textverlauf eingebaut. Erneut wird verständlich, dass Sebald nicht nach Möglichkeiten der Illustration sucht. Der Begriff scheint ihm - anders als bei Rolf Dieter Brinkmann, der vom "illustrierten Tagebucheintrag" spricht - unbrauchbar. "Austerlitz" handelt von einem Mann namens Jacques Austerlitz, dem sich erst im reifen Alter die wahre Geschichte seines Lebens enthüllt. Take 31: W.G. Sebald "Es gibt in Städten wie Leads, Manchester, London noch sehr viele Leute, die diese Geschichte hinter sich gebracht haben und zu diesen Personen gehört dieser Jacques Austerlitz, der Zeit seines Lebens als Bauhistoriker an einem Londoner Kunsthistorischen Institut in Bloomsbury gearbeitet hatte. Und der dann beim Eintritt in den Ruhestand, wie das nicht selten geschieht, plötzlich von einer Lebenskrise erfasst wird, die ihn schließlich dazu zwingt, sich mit dem Geheimnis seiner Herkunft, das er selbst immer, man kann fast sagen, vorsätzlich gehütet hat, auseinandersetzen muss." Autorin In Gesprächen zwischen dem Ich-Erzähler und Austerlitz kristallisiert sich allmählich die Geschichte einer Lebensrettung heraus. Austerlitz wurde 1939 als Kind an der Londoner Liverpool Street Station Pflegeeltern überantwortet, während seine Mutter nach Theresienstadt deportiert und der Vater in den Pyrenäen interniert wurde. Nun durchstreift der Bauhistoriker die Städte und vor allem die Bahnhöfe, um dem längst Verschwundenen und damit sich selbst auf die Spur zu kommen. Aus der Architektur heraus, dem noch vorhandenen "Baustil der kapitalistischen Ära", hofft er die eigene Herkunft sowie seinen richtigen Namen ablesen zu können. Indem Sebald sowohl mit Aufnahmen von der Kuppel des Luzerner Bahnhofs als auch dem Belgischen Konzentrationslager Breendonk arbeitet, wird zwischen Text und Bild eine Geschichte beredt, die weder zu lesen noch zu sehen ist. Take 32: Zitator 2 (Sebald) "Die Erinnerung an die vierzehn Stationen, die der Besucher in Breendonk zwischen Portal und Ausgang passiert, hat sich in mir verdunkelt im Laufe der Zeit, oder vielmehr verdunkelte sie sich, wenn man so sagen kann, schon an dem Tag, an welchem ich in der Festung war." Autorin Allmählich öffnen sich die Grabkammern des Vergangenen und der Blick des Ich- Erzählers geht in eine Tiefe, aus der heraus sich das Erinnern konstituiert. Die Fotografie - genau übersetzt als "Lichtschreibkunst" - fesselt den Betrachter, indem sie ihren eigenen Text spricht. Das in einem anderen zeitlichen und räumlichen Kontext Dargestellte erhält so eine autonome Präsenz und Aussage. In diesem Vorgehen beweist sich Sebalds besondere Mnemotechnik. Take 33: W.G. Sebald "Es hat für mich genau diesen Effekt wie, das gab's noch in meiner Kindheit, da gab's diese Dioramaartigen Geschichten und diese Viewmaster, in die man hineinschauen konnte und wo man also das Gefühl hatte, dass man tatsächlich mit dem Körper, mit dem Körper ist man noch in seiner normalen bürgerlich-kleinbürgerlichen Wirklichkeit als Kind. Mit den Augen ist man aber schon ganz wo anders in Rio de Janeiro oder im Oberammergauer Passionsspiel, was immer gerade in diesem Viewmaster zu sehen war. Und dieses Gefühl habe ich immer sehr deutlich bei Fotografien, dass sie einen Sog auf den Beschauer ausüben und ihn sozusagen auf diese ganz ungeheure Art herauslocken aus der realen Welt in eine irreale Welt, also in eine Welt, von der man nicht genau weiß, wie sie konstituiert ist, von der man aber ahnt, dass sie da ist." Autorin Vor allem wenn Sebald über die Bedeutung von Familienbildern spricht, knüpft er an Vorgänge an, die Roland Barthes 1980 in seinem Text "Die helle Kammer" beschreibt. Take 34: Zitator 3 (Barthes) "Die Fotografie ist wörtlich verstanden eine Immanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin. Die Dauer der Übertragung zählt wenig. Die Fotografie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des fotografierten Gegenstands mit meinem Blick. Das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal fotografiert worden sind." Take 35: W.G. Sebald "Das Beunruhigende und Schockierende beim Betrachten von Familienbildern hat natürlich auch etwas mit dem Prozess des Älterwerdens insgesamt zu tun und ich glaube, Barthes handelt auch davon. Man sieht selbst, wenn man Mitte 50 ist und auf die 60 geht, den Alterungsprozess am eigenen Körper schon sehr deutlich. Man sieht ihn mit erschreckender Deutlichkeit an den Leibern der eigenen Eltern, die in den Achtzigern stehen ... und kann sich das nicht vorstellen, was das ist, dieses langsame sich Auflösen des Lebens über viele Jahrzehnte hinweg... Für mich als denkenden und schreibenden, berufsmäßig schreibenden Menschen ist das eine Deklaration der Tatsache, dass wir uns ständig auf einem ungeheuer dünnen Eis bewegen. Dass wir jeden Augenblick ein- wegbrechen können, dass das Ganze von einer Fragilität ist, die es einen fast nicht erlaubt, von Tag zu Tag zu kommen. Und dass man im Angesicht dieser Evidenz eigentlich das Gefühl hat, man dürfte im Grunde immer nur still sitzen und sich nicht bewegen, damit das alles möglichst langsam vergeht." Take 36: Musik: Wenzel/Hein "Hinter uns die Geschichte, und vor uns Gott./ Das ist das Korsett,/ das uns den aufrechten Gang erlaubt." Leiser werden und erst wenn Musik verklungen ist, sanft Einar Schleefs Lesung einblenden Take 37: Einar Schleef "Hinter den ergrauten Schleusen, nur vom Sprung der Fische laut, schwimmen Sterne in die Reusen, lebt der Algen Dämmerkraut Lebt das sanfte Sein im Wasser, grün im Monde, unvergilbt, wispern nachts die Büsche blasser, rauscht das Rohr, ein Vogel schilpt. Nah dem Geist, der nachtanbrausend noch in seinem Flusse taucht, in dem Schilf der Schleusen hausend, wo der Fischer Feuer raucht: Duft aus wieviel alten Jahren neigt sich hier ins Wasser sacht. Wenn wir still hinunter fahren, weht durch uns der Trunk der Nacht. Die vergrünten Sterne schweben triefend unterm Ruder vor. Und der Wind wiegt unser Leben, wie er Weide wiegt und Rohr." Autorin Einar Schleef bettet Peter Huchels Gedicht "Havelnacht" von 1933 rezitativ in seine Lesung des Stückes "Lange Nacht" ein. Es ist das letzte Stück, das er vor seinem Tod schrieb. Indem Schleef jedes Wort behutsam abtastet, wird eine tiefe Melancholie hörbar. Dem Klang der Worte entsteigt noch einmal der "Duft" des Vertrauten, der das Leben "wiegt" und Heimat bedeutet. In Schleefs "Langer Nacht" werden die Ereignisse zwischen 1979 und 1995 heraufbeschworen. Das Gedicht - eingesprochen in einen mahnenden Monolog der Mutter über die Qualen des Erinnerns - verleiht dem geschichtlichen Raum, in dem das Stück angesiedelt ist, zusätzlich Tiefe. Mit der Zäsur 1933, die das Gedicht in sich trägt, wird jene Blutspur markiert, auf der sich auch Schleefs Schaffen bewegt. 1944 im Kupferbergbauort Sangerhausen geboren, schleppt er die riesigen Abraumhalden, lebenslang mit sich herum. Sie sind ihm Heimat und Kunst-Purgatorium zugleich. In "Lange Nacht" inszeniert Schleef die tragische Lebensgeschichte einer Mutter und ihrer zwei Söhne. Die biographischen Parallelen zum Autor sind unübersehbar: während Schleefs sieben Jahre älterer Bruder Hans-Reiner bereits 1957 die DDR verließ, kehrte Schleef 1976 von einer Gastinszenierung am Burgtheater Wien nicht zurück. Die Mutter Gertrud Schleef blieb in Sangerhausen zurück. Sie ist es, die mahnt, sich zu erinnern. Take 38: Einar Schleef "Erinnere du dich. Ich sehe die Bagage vor mir, wie sie deine Sachen rausschleppt, ganz unterm Deckmantel des DDR-Gesetzes, der Bruder, die eigene Schwester mit ins Kittchen gebracht, dann frei rumlaufen und die Sachen von ihrem vorher abgehauenen Freund einsacken, alles stramm abliefern dem Vater Staat und was kleben bleibt, in die eigene Tasche." Autorin In einem hochtourig verfassten, stark emotional aufgeladenen Streitgespräch fallen die drei Stimmen - alle gesprochen von Schleef - übereinander her und fangen sich dabei auch immer wieder auf. Die seelische Versehrtheit der Personen bricht aus jeder Äußerung hervor, die unentwegt um das Schmerzzentrum von Verrat, Schuld und Scham kreisen. Das erfahrene Martyrium wird wieder und wieder herausbeschworen. Take 39: Einar Schleef "Erinnern! Mir jeden Vortrag Erinnern! Vergessen will ich, ich muss, will ich noch ein Bein vorwärts setzen, guck mich an, du bist gut beieinander, spielst verrückt, muss ich herhalten heute, unterbrich mich nicht, stottern von kleinauf, jaja der Unfall Mutter! Dies und das, such ich einen Schuldigen heute, Schluss, halt endlich die Klappe." "Vergessen, das willst du, ich will erinnert werden, jede Stunde jede Nacht, mein Kopp läßt's los, greife zum letzten Bisschen. Festhalten, nichts darf aus der Hand, aber du, du musst vergessen. Vergiß, wirfs weg, trampel drauf, räum auf deine ganze Bude. Bis zum letzten Fetzen klebts, lauf noch mals weg, noch eine Republikflucht begehen, noch mal Mutter, kleinlaut, niemals, niemals. " Autorin In Schleefs Stücken und Prosatexten wird der menschliche Körper als eine geschundene Kreatur dargestellt. Auch dann noch, wenn er smart und drahtig durchtrainiert auftritt. Am radikalsten ist ihm das 1998 in seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Sportstück" gelungen. Der menschliche Leib - zum Leistungssport und Krieg gleichermaßen abgerichtet - wird als ein sehr verletzbares Material, aber auch als Hort der Gewalt und des Wahnsinns vergegenwärtigt. Er wird zum Geschichtskörper. Bis an den Rand totaler Erschöpfung bringt Schleef Massen von Menschenfleisch auf die Bühne. In der Inszenierung dieser Masse wird der einzelne Körper zum Verschwinden gebracht und mit ihm ein wichtiger Teil des Erinnerns. Aus dieser Verlust - Erfahrung, dieser Lücke heraus formiert sich im Gegenzug eine einzigartige Mnemotechnik. Jelineks "Sportstück" wird in der Inszenierung von Schleef zur Metapher einer martialischen Tortur am menschlichen Körper. Der Körperkult im Dritten Reich wird mit dem sportiven Massentourismus der Gegenwart gleichgesetzt. Schleef - der Meister hämmernder Chöre - hat, so der Intendant Volker Rühle, den "antiken Blick". Take 40: Zitator 3 (Rühle) "Er ist infiziert und instrumentiert von den großen Formen der Alten. Er fordert ein Sprechen der Körper und ist besessen von Sprache. Er trennt Literatur nicht vom lebendigen Fleisch." Autorin Von der Mahnung des Erinnerns und dem Verrat des Vergessens handelt auch Schleefs zweiteiliger, tausend Seiten umfassender Monumentalroman "Gertrud". Ingeborg Drewitz sah in Gertruds gewaltigem Monolog die "hilflose Tragik eines gewöhnlichen Frauenlebens", das sich nach sieben Jahrzehnten für andere gänzlich aufgebraucht hat. Im Stil des unsortiert Gedachten brechen unentwegt Erinnerungen hervor, in denen existentielle Ängste, seelische Kälte und Diskriminierung beredt werden. In einer chaotisch wirkenden Montagetechnik fügt Schleef verschiedene Textsorten mosaikartig aneinander: Briefe, Gesprächsmitschriften, Tagebuchaufzeichnungen, Gedichte und eigene Kommentare. Es ist der Versuch, sich schreibend der Innenwelt einer Person zu nähern. Das Ich soll unter dem Erinnerungsschutt freigelegt werden. Zwischen Todes- und Lebenssehnsucht wird jeder Satz zur schmerzhaften Konvulsion. Take 41: Zitator 1 (Schleef) "Zunge trocken, Hals verkrampft, brennender Strang übern Kopf. Steh auf, liegt vor dir die Wahrheit. Kennst alles, verrätst dich, nimm Hände zusammen, bleib, Augen runter, die beobachten dich. Schlaf. Der weckt dich. Schmerz heiß bis zum Ohr." Autorin Im Sog des Sprechens erlangt jedes Detail - eine Strickjacke, die knarrenden Treppenstufen, die kalten Füße - Bedeutung. Alle Sinnesorgane sind zum Zerreißen angespannt. In der zerklüfteten Satzstruktur zeigt sich die Nervosität und Brüchigkeit der Sprechenden. Seite für Seite werden Unmengen von Sprachschotter aufgeschüttet, in dem wie in einem Palimpsest die Ereignisse des Jahrhunderts ineinanderverschoben lagern. Take 42: Zitator 1 (Schleef) "Ich habe meiner Mutter eine Pyramide gebaut. Einfach Schotter übereinander für eine deutsche Familientragödie." Autorin Elfriede Jelinek ist der Überzeugung, dass Schleef zwar einst aus der DDR weggegangen, niemals aber aus ihr herausgekommen ist. Take 43: Zitator 3 (Jelinek) "Da hat ihm schon das Herz brechen müssen, damit er aus sich herauskommen konnte." Autorin Der Nobelpreisträgerin ist das unheilvolle Verhältnis von Erinnern und Vergessen selbst ein Marterpfahl beim Schreiben. Doch während sie um einen leeren Kern, der "Ich ist", wie rasend herum schreibt, vergleicht sie Schleefs künstlerische Arbeit mit einem "lebenden Drillbohrer", mit dem er im eigenen Fleisch wütet. Vielleicht ist deshalb jeder sprachliche Ausdruck bei Schleef ein zutiefst körperlicher Vorgang, oft auch ein Akt der Gewalt. Stakkatohaft zerhackt er Sätze, Worte, Silben. Wem eine Welt restlos aus den Fugen geraten ist, dem ist auch die Sprache ein widerständiges Material, das es zu bearbeiten gilt. In Schleefs Texten zur Ausstellung "Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr", die 1992 am Pariser Platz zu sehen war, bewahrheitet sich Jelineks Blick Take 44: Zitator 1 (Schleef) "Vergessen. Wenn ich schreibe, gelingt es mir dann, Kopfschmerzen vom Hämmern, da muss ich nicht denken, da hämmern die Schläfen. Ich renne zur U-Bahn, fahre Kottbussertor und laufe zur Mauer. Gegenüber Licht und Wasser. Da werde ich ruhig, sehe den Grenzposten, er mich, ich kehre um nach Hause. Oft stelle ich mir vor, dass er schießt, ich fühle den Schuß in mir, die Schläfe öffnet sich, mein Blut läuft über die Brust, ich kippe mir selbst entgegen. Sand im Mund falle ich zur Seite." Autorin Günther Rühle, Intendant und enger Vertrauter Schleefs hat seine Bühne einmal mit einem Kampffeld verglichen. Schließlich komme er aus einer deutschen Landschaft, wo die Mythen ewiglich "wabern". Take 45: Zitator 3 (Rühle) "Von Sangerhausen in Thüringen ist der Kyffhäuser nicht weit, der Harz nah. Die Ortschaften Armut und Elend gehören zur Umgebung. Eine enge Welt, die Ausbruchsverlangen weckt und doch eine feste Bindung an die Herkunft, ein Nicht-Loskommen, ein Nicht-vergessen-Können bewahrt." Autorin "Ich bin ein anderer in mir, den muss ich fragen", oder in Anlehnung an Friedrich Nietzsche, ich bin ein ewiges Missverständnis, - so erklärt Schleef das Nicht- Loskommen aus dem Schlamm deutscher Geschichte. Sich selbst ein unbestechlicher Zuchtmeister schreibt er in "Republikflucht" über sich: Take 46: Zitator 1 (Schleef) "Er war ein DDR-Kind aus der 1. Generation. Wie das vergessen, abstreifen. Er war viel zu lange hier, um sich noch verändern zu können, er hätte gleich weggehen müssen, eine andere Sprache, ganz von vorn, aber hier, keinen Schritt mehr schaffte er aus Berlin." Autorin Ob als Theatermann, Schriftsteller, Schauspieler, wohnhaft in Ost- oder Westberlin, Wien oder Frankfurt am Main - Schleef kämpft, wenn er schreibt, konzipiert und spricht, um ein kommunikatives Gedächtnis. Er ringt um künstlerische Formen, in denen das Vergangene noch einmal gegenwärtig werden kann. Schleef ist nicht dünnhäutig, er ist hautlos - sein Erinnern ist harte Arbeit, die verschleißt und verschlingt, und ihn gerade deshalb am Leben erhält. Für Elfriede Jelinek steht fest Take 47: Zitator 3 (Jelinek) "Es hat nur zwei Genies in Deutschland nach dem Krieg gegeben, im Westen Faßbinder, im Osten Schleef. Sie waren beide unersättlich, aber nur, um umso mehr geben zu können. Am Schluss haben sie sich selbst gegeben. Sie sind über sich gestolpert und haben ihr Herz ausgespuckt." Take 48: Musik: Wenzel/Hein "Denn es sind zwei sich ausschließende Dinge: Gut zu schlafen und sich gut zu erinnern." Leiser werden und langsam ausblenden Take 49: Klaus Schlesinger "Worauf es mir ankommt ist einfach, dass die deutsche Geschichte der letzten vierzig, fünfzig Jahre, als die Geschichte zweier Staaten erzählt wird. Inzwischen ist es so, dass die deutsche Geschichte die Geschichte der BRD ist und die DDR kommt als Randbemerkung vor. Und das akzeptiere ich nicht, weil dabei die Biografien von 17 Mill. Menschen untergebuttert werden. Autorin Der Bau der Berliner Mauer war für den Schriftsteller Klaus Schlesinger das Ereignis in seinem Leben, das die meisten Spuren hinterlassen hat. 1937 im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg geboren, bedeutete die Teilung der Stadt im August 1961 für den 24 Jährigen eine Amputation mit komplexen Konsequenzen. Über Nacht fehlten wichtige Lebens- und Bewegungsräume. In einer Vielzahl surrealistisch anmutender Traumsequenzen ist diese historische Zäsur in Schlesingers Texten präsent. Take 50: Klaus Schlesinger "Wann ich mich an die Mauer gewöhnt hatte, weiß ich nicht mehr. Es müssen Jahre vergangen sein, bis ich sie wahrnahm wie die Transparente mit den Parolen vom Sieg des Sozialismus oder heute die Reklame. Bis sie nicht mein Bewusstsein beherrschte... Nur die Träume, periodisch wiederkehrend. Ich fahre mit der U-Bahn Richtung Ruhleben, ein Gefühl äußerster Spannung, wenn die Kontrolleure am Grenzbahnhof Potsdamer Platz in den Zug treten. Glücklicherweise werde ich nicht erkannt und stehe irgendwann erleichtert auf dem Wittenbergplatz, gleich neben dem KaDeWe. Jetzt will ich zurück, unbedingt, aber wie -? Ich habe kein Westgeld! - Oder: Ich gehe durch die Hoftür eines Eckhauses, trete unbehelligt durch die Tür des anderen Hauses hinaus und weiß, ich bin im Westen. Wieder das Problem der Rückkehr. Die Posten in Höhe des ersten Stockwerks sehe ich genau. Noch haben sie mich, der ich mich unter ein Fenster ducke, nicht entdeckt. Eng an die Wand gedrückt und mit rasendem Herzschlag schleiche ich zurück. Aufwachen, schweißnass." Autorin Adolf Endler nannte Schlesinger einen Schriftsteller mit einer "spezifisch berlinischen Art". In Anlehnung an seinen literarischen Vorgänger Alfred Döblin, der in seinem Großstadtroman "Berlin - Alexanderplatz" mit Franz Biberkopf die Berliner Schnauze laut ertönen lässt, hat mit Schlesinger ein sanfter Sound die Berlinliteratur erobert. Der Grenzübertritt und die traumatischen Folgen für den Grenzgänger bilden vielfach den Kern des Erzählens. Als Schlesinger 1980 nach Westberlin ging, geschah das mit der inneren Verteidigungs- aber auch Beruhigungsstrategie, dass der Weggang nur gestundet sei. Schlesinger hatte von den Behörden der DDR ein "Ein- und Ausreisevisum für Westberlin" erhalten. Take 51: Klaus Schlesinger "Ich habe ja Wert darauf gelegt, einen DDR-Pass zu haben. Das war der sog. Jurek Becker-Pass, so haben wir ihn genannt, weil Jurek der erste war aus unserer Generation, der ihn bekommen hat. Also woanders zu leben mit einer DDR-Identität und mit einem DDR-Pass. Das habe ich angestrebt und es gab sehr große Schwierigkeiten, wie ich aus den Akten erfahren habe, wollte man eigentlich, dass wir einen richtigen Ausreiseantrag stellen, also aus der Staatsbürgerschaft entlassen werden wegen feindlich negativer Einstellungen." "Ich wollte diesen DDR-Pass haben und ich hab ihn bis zum Ende der DDR gehabt. Es war eine komische Situation. Es war auch ziemlich surreal, weil die Mauer für mich, von einem bestimmten Zeitpunkt an, nicht mehr existierte. Auch als die Repressalien an der Grenze nachließen, Ende der 80er-Jahre, existierte die Grenze für mich nicht mehr." Autorin Während für Schlesinger vor dem 13. August 1961 die Wahl zwischen Ost und West als ein Wechsel von einer Straßenseite auf die andere erfahren wurde, kommt es ihm nach dem Mauerbau wie die Wahl zwischen Pest und Cholera vor. Um Objektivität bemüht und doch resigniert, stellt er in dem Text "Sehnsucht nach der DDR?", der 1998 in dem Band "Von der Schwierigkeit, Westler zu werden" erschien, fest Take 52: Klaus Schlesinger "Was soll ich für einen Grund haben, der einen nachzuweinen oder die andere zu feiern? In beiden Ländern ist es mir bekleckert genug gegangen, und ich sehe nicht ein, warum ich die paar Freuden, die ich natürlich auch hatte, den Systemen zuschlagen soll. Am besten ging es mir, wenn ich den beiden deutschen Staaten den Rücken kehrte, ob nun Richtung Krakau, Budapest oder Paris." Autorin Für den suchenden Pendler zwischen zwei deutschen Realitäten und Mentalitäten und beiden nicht wirklich zugehörig, besteht kein Zweifel daran, dass vor allem ökonomische Interessen und das Kapital die Wiedervereinigung befördert und auch vollzogen haben. Sie war eine Geldheirat, bei der die Liebe und die Geduld zuzuhören, allzu schnell auf der Strecke geblieben sind. Take 53: Klaus Schlesinger "In der Hochzeitsnacht mag es ja einige Orgasmen gegeben haben. Heute, zweieinhalb Jahre danach, scheint mir der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe weitgehend erfüllt." Autorin Bereits in Schlesingers 1977 erschienener Erzählung "Die Spaltung des Erwin Racholl" wird die Schizophrenie der geteilten Stadt thematisiert. An seinem 35. Geburtstag wird Racholl durch die Nachricht seiner überraschenden Beförderung aus dem bürokratischen Gleichgewicht gebracht. Take 54: Klaus Schlesinger "Er musste die Augen schließen, sich an die Wand lehnen und hatte Mühe, seinen Körper in Gewalt zu bringen, als er hinter sich das Klappen einer Tür und gleich darauf Frauenschritte auf dem Bodenbelag des Ganges hörte...Ein eigenartiges Gefühl der Erregung beherrschte ihn, sein Herz klopfte hörbar, und seine Hände zitterten leicht." Autorin Doch als Racholl am nächsten Tag zum Dienst fährt und somit seiner Beförderung entgegen, verpasst er den Ausstieg an der letzten U-Bahnstation Ostberlins und landet im Westteil der Stadt. Ein kafkaesker Marathon durch das Labyrinth der Straßen und Häuser beginnt, bei dem sich die Schizophrenie der Teilung als krankhafte Spaltung Racholls zeigt, die seinen Körper und Geist gleichermaßen erfasst. In einer surrealen Traumszenerie, die stark an Franz Kafkas Roman "Der Prozess" erinnert, wird Racholl vom Wissen um die real zwar vorhandene, doch nun irreal empfundene Präsenz der Mauer zerrissen. Take 55: Klaus Schlesinger "Raus hier, raus hier, rief er sich zu, oder dich einfach nach vorn fallen lassen, da bist du eben gestürzt! Ja, dachte er, das könnte die Lösung sein: Kreislaufschwäche als Folge überhöhter Arbeitsbeanspruchung." Autorin Schlesinger gelingt eine eindringliche Fallstudie, die als literarisches Dokument der geteilten Metropole Berlin noch heute Bestand hat. Indem Racholls Organismus mit Schwindel und Übelkeit auf die ausweglos scheinende Situation reagiert, durchlebt der Leser - als wäre kein Tag vergangen - dessen Ohnmacht. Take 56:Klaus Schlesinger "Das kann doch nicht sein, dachte Racholl und schüttelte ungläubig und verwirrt seinen Kopf, doch im gleichen Maße, wie er sich zuredete, dass der Bahnhof seit mehr als dreizehn Jahren gesperrt war, wuchs in ihm die Befürchtung, ihm könne eine Änderung in der Praxis des städtischen Verkehrs entgangen sein und er fahre jetzt ungewollt und gegen seinen Willen in den verbotenen Teil der Stadt." Autorin Vielleicht spielt deshalb die Figur des Entwurzelten und den Ereignissen Ausgelieferten wie auch die des Doppelgängers in Schlesingers Texten immer wieder eine zentrale Rolle. Ob der Roman "Fliegender Wechsel" von 1990, "Die Sache mit Randow" von 1996 oder der 2000 erschienene Roman "Trug"- sie sind Versuche des Autors, eine deutsch-deutsche Gesprächskultur in Gang zu bringen, an der es ihm zu mangeln schien. Take 57: Klaus Schlesinger "Wenn das, was also die Leute hier beschäftigt, nicht thematisiert wird und nicht diskutiert wird und wenn man sich nicht damit auseinandersetzt, dann ist es so wie in der DDR, da wurden alle Konflikte, die man hatte, unter den Teppich gekehrt und so wie eine Person neurotisch werden kann, kann auch ein Gesellschaftskörper, oder ein Gesellschaftsleib neurotisch werden." Take 58: starkes Kratzen von Messern auf Stein (wie am Anfang) Autorin Die Erinnerung sei das einzige Paradies, so der Dichter Jean Paul 1793, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Oder, um noch einmal einen Gedanken Thomas Braschs zu zitieren, die Ästhetik ist nicht austauschbar, indem man den Wohnsitz ändert. Take 59: Thomas Brasch "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin." Take 60: Musik: Wenzel/Hein "Hinter uns die Geschichte/und vor uns Gott./ Das ist das Korsett,/ das uns den aufrechten Gang erlaubt. Denn es sind zwei sich ausschließende Dinge: Gut zu schlafen und sich gut zu erinnern." 1