COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel 17.05.2009 Kompass, Karte, Laufschuhe Abenteuer Orientierungslauf Von Fritz Schütte Take 1 Bernd Walter Man muss schon sehr viel investieren, um diesen Sport zu betreiben. Man muss früh raus, muss lange Strecken fahren, kommt spät nach Hause, und dann muss man in unserem Alter noch im Gelände herum rennen. Das macht nicht jeder gerne. Atmo 1 Gespräche vor der Turnhalle Bernd Walter ist Anfang siebzig. Er kennt fast alle, die sich heute zum Potsdamer Frühlings-Lauf angemeldet haben. Orientierungsläufer sind ein überschaubarer Kreis in Berlin und Brandenburg. Take 2 Bernd Walter Ab und zu kommen Interessierte, die sich das angucken. Dann bleibt ab und zu mal einer hängen, - dann freuen wir uns -, der das dann weiter macht. Viele der jüngeren Teilnehmer sind Kinder und Enkel von Orientierungsläufern. Es ist nicht damit zu rechnen, dass eine Zeitung die Ergebnisse meldet. Orientierungslauf fristet ein Schattendasein in Deutschland. Atmo 2 Die Noppen der Sportschuhe klickern auf dem Zementfußboden. Gamaschen schützen Waden und Schienbeine. Orientierungsläufer sehen wie Trapper aus. Wichtigstes Sportgerät ist die Streckenkarte. Sie hängt in einem Schaukasten vor der Turnhalle. Aber, damit niemand sich schon vorher ein Bild machen kann, ist ein Raster darüber gelegt. Erst am Start bekommt jeder Läufer eine Kopie. Eine solche Karte gibt es nirgendwo zu kaufen. Take 3 Bernd Walter Sie haben zwar eine Grundkarte, die können Sie sich beim jeweiligen Landesvermessungsamt besorgen, aber um eine derartige Spezialkarte zu zeichnen, brauchen Sie wirklich Hunderte von Stunden. Tagelang durchstreifen Bahnleger den Wald und verzeichnen jeden Orientierungspunkt. Ein Laie muss sich zunächst mit den Symbolen vertraut machen. Take 4 Bernd Walter Wenn Sie sich das hier mal angucken: Hier dieser grüne Kreis bedeutet zum Beispiel "einzeln stehender Baum". Dieses kleine v ist ein Loch . Bernd Walter schnallt sich einen Kompass, den er im Gelände auf die Karte halten wird, an den Daumen. Laufen ... Kompass einrichten ... Karte und Gelände vergleichen ... und den Kontrollpunkt suchen. Take 5 Jürgen Helbich Die richtig Guten müssen da gar nicht anhalten. Die gucken während des Laufens die Karte an. Orientierungslaufen ist wie Crosslaufen und Schachspielen zugleich, sagt Jürgen Helbich. Take 6 Jürgen Helbich Ich sage mal, so zwanzig Mal im Jahr laufe ich. An jedem Wochenende findet irgendwo ein Orientierungslauf statt, in Sachsen, in Thüringen oder im Harz. Jürgen Helbich gewinnt nicht so oft. Selbst wenn er schneller laufen könnte als die Konkurrenten, wird er sie an Erfahrung nicht einholen. Take 7 Jürgen Helbich Ich laufe erst seit sechs Jahre. Aber wir haben hier Leute dabei, die vor zwanzig, dreißig Jahren DDR-Spitzenläufer waren Atmo 3 Aus dem Kofferraum seines Wagens kramt Karsten Lehmann etwas hervor, das aussieht wie ein viereckiger Lampenschirm, dessen Quadrate in weiße und rote Dreiecke geteilt sind. Take 8 Karsten Das ist ein Posten oder ein Postenschirm. Dazu kommt noch so eine Stange. Die wird in den Boden gesteckt. Das Teil kommt oben drauf. Dann ist hier noch so ein Aufbau und auf dem Aufbau eine elektronische Station, die den Chip, den du am Finger hast, erfasst und ihm die Information mitgibt, dass du da warst. Ein Chip kostet dreißig Euro, eine Kontrollstation 200 Euro. Achtzig Kontrollstationen sind im Wald versteckt. Für die Anschaffung dieses Sportident - Systems haben mehrere Vereine zusammengelegt. Take 9 Karsten Da ist ein ganz schöner Wert draußen, ganz ehrlich. Karsten kennt das Waldstück wie seine Westentasche, denn er hat die Karte gezeichnet. Weiß, ein paar grüne Tupfer, darüber ein braunes Spinnwebennetz. Take 10 Karsten Das Weiße ist alles Wald, das Grüne ist dichterer Wald, das Schwarze sind die Zäune, alles, was der Mensch erschaffen hat, und braun ist das Höhenbild. Ein Orientierungsläufer liest so eine Karte wie ein Musiker die Partitur. Take 11 Karsten Wenn ich hier hinter der Lichtung los laufe, muss ich halt mit dem Kompass , wenn ich es richtig mache, auf das Grabenende hier oben treffen. Das muss einfach stimmen. Atmo 4 Straße Zum Startplatz im Wald geht es einige hundert Meter an einer Ausfallstraße entlang. Bernd Walter ist gut in Form, aber selbst, wenn es nicht so wäre, ist das beim Orientierungslauf kein Problem. Take 12 Bernd Walter Es sieht keiner, wenn Sie sich dahin schleichen. Es sieht keiner, wenn Sie Konditionsprobleme haben. Wenn Sie am Berlin- Marathon teilnehmen, dann wird im Idiotentakt mitgezählt, "eins, zwei, drei ...", oder irgendwelche dummen Sprüche. Freizeitsportler nehmen Urlaub, um an Marathonläufen in New York oder Sao Paulo teilzunehmen. Bernd Walter und seine Frau sind Weltenbummler in Sachen Orientierungslauf. Take 13 Bernd Walter Wir haben an den Seniorenweltmeisterschaften in Kanada teilgenommen im Inneren des Landes, also wirklich in einer Gegend, in die normalerweise der Europäer gar nicht hinkommt. Wir haben an den pazifischen Meisterschaften im Hinterland von Hongkong teilgenommen. Das ist Urwald, wie man ihn sich hier bei uns überhaupt nicht vorstellen kann. Atmo 5 "Ich habe noch nichts. - Ihr könnt die Karten schon nehmen. - Ich habe aber keine Ahnung, welche. - H 19. - Was für eine Karte? - D 14." Die Strecken sind je nach Altersklasse unterschiedlich lang und anspruchsvoll. Gestartet wird in kleinen Gruppen im Dreiminutentakt. Der Kompass liegt auf der Karte, und schon tauchen erste Probleme auf. Atmo 6 "Wir stehen genau unterm Dreieck. - Dann muss ich so rum. Zurück. - Da ist Norden. Und das ist der Weg. - Okay, danke." Piepsen am Start Der Zeigefinger mit dem Chip verschwindet im Schlitz der Kontrollstation. Es piepst. Jetzt läuft die Zeit. Atmo 7 knisterndes Laub Take 14 Karsten Da passiert ganz schnell mal so ein 180-Grad-Fehler, dass die Karte falsch herum gedreht wird, und man komplett in die falsche Richtung läuft. Atmo 8 "Los, komm Schnecke!" Gefolgt von seinem Hund durchstreift Karsten Lehmann den Wald, neugierig darauf, ob er die Kontrollposten gut genug versteckt hat. Die Läufer sollten es eilig haben, aber der eine oder andere beugt sich auch schon mal länger über die Karte. Take 15 Karsten Ja, hier das war echt schwierig. - (Karsten) Wenn du dir das so vorstellst: hier ist so ein kleines Tal, das hier in ein großes mündet. Hier ist oben, hier ist oben, hier ist oben. Und das ist eine der Rinnen, und hier ist so ein Hügel. Das Waldstück, - tief zerfurcht, durchzogen von Mauern und Resten alter Bunker -, war früher Trainingsgelände der paramilitärischen Jugendorganisation GST, der Gesellschaft für Sport und Technik. Karsten hat die DDR noch als Schulkind erlebt, und als er in der zweiten Klasse an einem Orientierungslauf teilnahm, stand für ihn fest, dass das sein Sport wird. Take 16 Karsten Wir kommen wirklich durch Gebiete, die sonst keiner sieht. Wir waren vor zwei Jahren in der Schweiz und sind rund ums Matterhorn gelaufen auf dreitausend Metern. Da gab es keinen Baum und keinen Strauch, sondern nur Steine. Die Posten haben sich dann an Steinen und Höhen positioniert. Das war beeindruckend. Atmo 9 "Komm Schnecke!" Wir klettern auf einen Damm und schauen in ein langes Tal, das früher mal eine Schießbahn war. Take 17 Karsten Wir stehen jetzt praktisch an dieser Gabel. Dort, wo die Birken sind, gibt es den ersten Knick, und in dem Knick steht auch noch ein Posten. Atmo 10 Knistern Hier stehen drei Kontrollposten dicht beieinander. Jetzt heißt es, schnell zu entscheiden, welcher der richtige ist, oder den Chip im nächst besten abzustempeln und eine Strafzeit zu riskieren. (Läuferin) "Ach du Scheiße. Das ist hier nicht mein Ding heute" Weiter geht's. Oben auf dem Damm bleiben, oder abkürzen und auf der anderen Seite wieder hochklettern? Mit hochrotem Kopf stürzt sich ein Läufer ins Tal. Atmo 11 Knistern und Piepsen Take 18 Karsten Er wäre schneller gewesen, wäre er so wie wir die Ecke ausgelaufen. Siehst du, wie er sich da hochschiebt. Kannst du ja mal machen, wenn du hier über acht solche Dämme gelaufen bist. "Zehn Meter hoch ist ungefähr so anstrengend wie hundert Meter geradeaus", sagt Karsten. Atmo 12 Ziel Vor dem letzten Posten legen zwei Läufer einen Endspurt hin. Max und Oliver studieren an der Uni Potsdam und betreiben Orientierungslauf im Hochschulsport. Take 19 Max und Oliver Wir fahren ja auch demnächst nach Leipzig und dann nach Tschechien ins Trainingslager. Es ist schon ein Sport, bei dem man ein bisschen rumkommt. Max ist Mitglied im Orientierungslauf-Verein. Aber sein Freund Oliver kommt aus Mecklenburg Vorpommern und hatte vorher noch nie von Orientierungslauf gehört. Take 20 Es gibt ja sogar Weltmeisterschaften angeblich. Atmo 13 Kampfrichterbüro Im Wettkampfbüro in der Turnhalle geben Max und Oliver ihre Chips zum Auslesen ab. Max hat sich einmal für den falschen Posten entschieden. "Und deswegen kriegt er dafür jetzt eine Strafzeit von dreißig Sekunden" Kurz darauf hängen die Zettel mit den Ergebnissen wie kleine Wäschestücke am Zaun. Take 21 Bis zum ersten Posten acht Minuten, vom ersten bis zum zweiten zwei, vom zweiten bis zum dritten zwei Minuten vierzehn. Ich bin ganz zufrieden. Das ist doch okay. Atmo 14 Bus und Aussteigen Die Heimat des Orientierungslaufs ist Skandinavien. 1887 wurde in Norwegen der erste Wettbewerb ausgetragen. Seitdem hat sich die Begeisterung bis nach Finnland ausgebreitet. Ende April findet in Schweden der traditionelle Staffellauf Tio Mila statt, jedes Jahr an einem anderen Ort. Tio Mila, zehn schwedische Meilen, sind hundert Kilometer. Shuttlebusse holen die Sportler an einem Provinzbahnhof ab. Die Fahrt geht durch die sanft gewellte Landschaft Südschwedens. Hinter einem einsamen roten Holzhaus wird die Straße zur Sandpiste. Der Bus hält tief im Wald. Auf einer Lichtung ist eine Zeltstadt aufgebaut, so groß, dass man einen Plan braucht. Vierhundert Zelte sind nummeriert. Es gibt Restaurants, Duschen, Shops und sogar eine Pressestelle. Atmo 15 Im aus Schulter hohen Brettern gezimmerten Stadion herrscht Betrieb wie in einem Bienenstock. Auf einer Kommandobrücke sitzen hinter Glasscheiben die Kommentatoren. Und das alles überragt ein riesiger Fernsehmonitor. Ständig kommen Läuferinnen aus einem Waldstück den Hang herab gerannt. In der Hand die Landkarte, hasten sie zur Bretterwand, hinter der bereits die nächste Läuferin wartet. Take 22 Christian Siehst du die weißen Blätter da drüben? Die reißt der Läufer, der gerade rein kommt, ab und übergibt sie dir. Das ist sozusagen der Staffelstab. Christian Teich studiert Sportwissenschaft in Leipzig. Er ist einer der besten deutschen Orientierungsläufer und startet beim Tio Mila für den schwedischen Verein OK Hälen-Stigtomta. Take 23 Christian Den Verein habe ich kennen gelernt, weil ich eine Rundmail geschrieben an verschiedene skandinavische Vereine habe, die ich interessant fand. Und der war mir gleich sympathisch, weil es ein familiärer Verein ist. Sie waren freundlich, ganz normal und nicht irgendwie auf Kommerz oder so ausgerichtet. Take 24 Christian Unser Verein hat vierhundert Mitglieder bei einem Dorf, das ungefähr zweitausend Einwohner hat. Atmo 16 Frauenstaffel Finale, Beifall, Kommentator Fernsehrechte, Preisgelder, Sponsoring. In Norwegen, Schweden und Finnland bewegt Orientierungslauf eine ganze Menge Geld, vergleichbar mit Handball in Deutschland, meint Christian. Take 25 Christian Bei mir ist es so, dass sie mir die Flüge bezahlen. Aber, wenn man nicht so erfolgreich ist, dann bezahlen die skandinavischen Vereine auch nicht alles. Im Ziel fallen sich die Läuferinnen der siegreichen Staffel des Skiklubb Halden aus Norwegen um den Hals. Ein Fernsehteam steht bereit, um erste Statements einzufangen. Vormittags laufen Jugendliche, nachmittags die Frauen. Höhepunkt des Tio Mila ist der Nachtstaffellauf. Er startet um 21 Uhr 30. Die zehn Läufer oder Läuferinnen müssen einhundert Kilometer zurücklegen. Die kürzeste Etappe misst sechs, die längste achtzehn Kilometer. Als Schlussläufer seiner Staffel ist Christian erst morgen früh an der Reihe. Take 26 Christian Ich denke, wir werden erst 6 Uhr 30 wechseln. Schon seit einigen Tagen hat er seinen Rhythmus umgestellt. Er wird sich den Start ansehen... Take 27 Christian ... und danach ins Bett gehen, schlafen bis drei Uhr, aufstehen, frühstücken. An den Masten wehen die Fahnen der Länder, die Mannschaften entsandt haben. Das einzige deutsche Team heißt LOWL. Zeltnummer 297. Die zehn Orientierungsläufer kommen aus Bottrop, Bochum, Bad Harzburg und Paderborn. Take 28 Björn Wir haben einen sehr guten Startläufer, den Alexander Lubina, der auch läuferisch extrem gut ist. Das heißt, da haben wir die Hoffnung, dass der mit den Guten mitlaufen kann. Und dann haben wir auf der zweiten Strecke Patrick Hofmeister. Das ist im Moment einer der besten in Deutschland. Und dann geht es auf diese legendäre lange Nacht. Das ist die vierte Strecke. Da laufen sie fast zwei Stunde. Da haben wir jemanden, der gut kämpfen kann. Atmo 17-18 zwischen den Zelten Mannschaftskapitän Björn Risch ist Chemiker an der Uni Bielefeld. LOWL, sagt er, steht für Leistungszentrum Ostwestfalen Lippe und ist kein Verein, sondern eher eine Interessen- und gelegentliche Trainingsgemeinschaft. Die Aufstellung ist offensiv, sagt Björn, nachts die guten Läufer und im Morgengrauen die etwas schwächeren. Der Senior im Team ist Ende fünfzig. Take 29 Nikolaus Ich heiße Nikolaus, Nikolaus Risch. Und - er deutet auf Björn, das ist mein Sohn. Ihm hat er die Begeisterung für den Orientierungslauf sozusagen mit in die Wiege gelegt. Take 30 Nikolaus Ich hatte einfach Freunde bei uns in der Gegend. Die haben mich mal mitgenommen und gesagt: "Wir machen Orientierungslauf. Magst du nicht mal mitkommen?" Und da habe ich gesagt: "Okay, ich komme mal vorbei." Das kam mir einfach entgegen. Take 31Nikolaus Sportlich betreue ich seit knapp zwanzig Jahren die Studentennationalmannschaft bei inzwischen zehn Weltmeisterschaften. Und beruflich bin ich auch Chemiker, Hochschullehrer, Professor für Chemie und seit fünf Jahren Rektor und Präsident der Universität Paderborn. Etwa siebentausend Läufer starten beim Tio Mila. Manche haben die ganze Nacht im Bus oder im Zug gesessen oder sind mit Charterflügen aus Finnland eingetroffen. Frühlingslauf hat in Skandinavien eine andere Bedeutung als in Deutschland. Den ganzen Winter über, in dem es hoch im Norden gar nicht richtig hell wird, haben die Sportler auf dieses Ereignis hin trainiert. Take 32 Bjorn Und das ist für viele skandinavische Vereine ganz wichtig, weil es auch die Gemeinschaft dann über diese schwere Zeit zusammenhält. Und deswegen ist es für viele Verein der bedeutendste und wichtigste Wettkampf. Atmo 19 im Zelt Ein paar Gassen weiter ein großes Zelt mit spitzen Türmchen, ein fensterloses weißes Schloss. Die Residenz des Skiklubb Halden aus Norwegen, dessen Läuferinnen gerade die Frauenstaffel gewonnen haben. An Tischen sitzen Sportler und Betreuer. Auf dem Holzfußboden spielen Kinder. Take 33 Björn Axel Halden ist eine Stadt mit zwanzigtausend Einwohner. Aber in Halden steht Orientierungslauf an Nummer eins wie Eishockey in einigen schwedischen und finnischen Dörfern. Björn Axel Gran ist Trainer in Halden. Sein Etat ist vier Mal so hoch wie der der deutschen Nationalmannschaft. Er weiß es genau, denn bis vor kurzem er war deutscher Bundestrainer. Take 34 Björn Axel Das große Problem ist, dass der Sport nicht olympisch ist. Das heißt, man kriegt auch keine Unterstützung. In Deutschland sind die Orientierungsläufer im Turnerbund organisiert und auf dessen Internetseite neben Völkerball und Wandern unter der Rubrik Sonstiges zu finden. Der Skiklub Halden schickt heute Nacht vier Staffeln ins Rennen, damit neben den Profis auch Amateure teilnehmen können. Take 35Björn Axel Einige trainieren zweimal pro Tag, andere ein- bis zweimal pro Woche. Take 36Björn Axel Wir haben Läufer aus zehn Nationen. Fünf Deutsche laufen für unseren Verein. - (Axel Fischer) Der FC Bayern des OLs. Hinter der Trennwand zieht sich der Startläufer der vierten Staffel um. Axel Fischer war vor einigen Jahren sogar mal deutscher Meister. Aber zur Zeit kann er nicht so viel trainieren. Er schneidet einen Streifen weißes Klebeband ab und stellt den Fuß auf einen Schemel. (Axel Fischer) Ich stabilisiere meine Sprunggelenke mit ein bisschen Tape um zu verhindern, dass ich umknicke, und damit ich mich beim Laufen nicht auf meine Füße konzentrieren muss. Vor dem bescheidenen Zweikammerzelt des deutschen Teams hat Nikolaus Risch zwei Kopflampen und die dazugehörigen Akkus auf einer Isomatte ausgebreitet. Take 37 Nikolaus Also, Alex läuft mit seinem, und nimmt dann seinen eigenen Akku an die Seite. Patti startet dann mit der zweiten Lampe von Karin und hat auch seinen eigenen Akku, den er nach dem Lauf vorsichtshalber Karin übergeben kann. Und Eike bekommt jetzt einen etwas kleineren Akku von mir. Halt! Eike bekommt auch einen großen Akku und teilt sich den mit Lars. So weit alles klar. Jetzt wüsste man gerne noch, was einen so erwartet da draußen im Wald. Karin Schmalfeld, die am Nachmittag für eine schwedische Frauenstaffel am Start war, ist die einzige, die das Gelände bereits kennt. Take 38 Karin An diesen Hügelketten waren teilweise von den Läufern herrlich getretene Pfade, weil die das alle benutzt haben. Und da konnte man schon super laufen. Und dann gibt es Sümpfe mit quer gefallen Birken, die sie abgeschnitten und liegen lassen haben, und da kommt man sehr schwer drüber. Karin Schmalfeld war mehrfach deutsche Meistern und kann auch international mithalten. Angefangen hat sie als Leichtathletin. Take 39 Karin Und dann habe ich es mal ausprobiert, und bin seitdem nicht mehr los gekommen. Es hat Spaß gemacht, weil man immer wieder neue Aufgaben gestellt bekommt. Man kennt die Strecke vorher noch nicht. Also, es hat sehr viel mit Wahrnehmen und Denken zu tun. Und das ist sehr spannend. Björn verabschiedet sich. Er schläft außerhalb in einem Wohnmobil. Das hat er auch letztes Jahr, als er für ein schwedisches Team gestartet ist so gemacht. Diesmal hat er alle verfügbaren Wecker mitgenommen. Take 40 Björn Es gibt nichts Peinlicheres, als wenn dein Vorgängerläufer da steht und auf dich wartet, und alle lachen sich kaputt. Es kann sein, dass die noch auf der Toilette sitzen. Das dauert dann drei Minuten. Aber wenn die noch schlafen, so wie ich im letzten Jahr, dann dauert es manchmal dreißig bis vierzig Minuten. Es ist dunkel geworden. Eike Bruns und Patrick Hofmeister richten ihre Fotoapparate auf den Tross der vierhundert Läufer, der sich pünktlich um 21 Uhr 30 wie ein riesiger Glühwürmchenschwarm in Bewegung setzt. Atmo 20-21 Start Läufer Anfeuerungsrufe "Auf Alex! Da ist er doch ...." Auf dem Hügel zwischen den Bäumen verlieren sich die Lichter. Es hat für die Läufer wenig Zweck, sich am Vordermann zu orientieren, denn nicht jeder wird den gleichen Kontrollposten ansteuern. Sören Riechers ist zum ersten Mal beim Tio Mila dabei und froh, dass er die einzigartige Atmosphäre in Ruhe genießen kann. Take 41 Patrick Für uns ist es Spaß. Ob wir jetzt 130ster, 150ster oder 180ster werden, hat für uns nicht so den Stellenwert, gerade weil wir im Vergleich zu den Skandinaviern nicht so die Nachtläufer sind. Patrick nickt. Sich nachts zu orientieren, sagt er, ist etwas völlig anderes als tagsüber. Take 42 Patrick Man guckt nach rechts und sieht zweihundert Meter weiter eine Ecke von einem Kahlschlag und weiß: "Ah, da muss ich genau hin laufen." In der Nacht sieht man das einfach nicht, weil man so weit ja nicht gucken kann, muss man die ganze Zeit auf dem Kompass bleiben. Läuft man dann in einem 5-Grad-falschen Winkel ab, kommt man eventuell nicht mehr an dieser Ecke heraus und hat schon einen sicheren Orientierungspunkt dann verloren. Atmo 22 Kommentator Fans und Sportler versammeln sich unter dem riesigen Fernsehmonitor. Noch ist das Bild, das die Kameras vom zweiten Kontrollposten zeigen, dunkel. Dann tauchen im Hintergrund ganz schwach die ersten Glühwürmchen auf. Sie werden immer größer, bis man Trikots und Startnummern unterscheiden kann. Atmo 23 Anfeuerungsrufe "Alex .... Alter Schwede, nur anderthalb Minuten Rückstand." Erstaunlich, wie weit sich das Feld nach wenigen Minuten schon auseinander gezogen hat. Eike spricht schwedisch. Er hatte sich an der Uni für ein Auslandssemester beworben... Take 43 Eike ...und bin dann hier hoch gegangen, habe ein halbes Jahr hier studiert und war dann auch in einem Verein. Und als ich nach Deutschland zurückkam, hatte ich, glaube ich, meine beste Zeit in Deutschland. Man ist halt im Mutterland der Orientierungslaufs. Das ist so, wie man England als Mutterland des Fußballs bezeichnet. Atmo 24 "Bengt? - Das gibt es nicht. - Ist das nicht Bengt?" Ein schlaksig wirkender Mann mit einem Bartflaum dreht sich überrascht um. (Eike) "Der ist richtig nach Schweden ausgewandert. Er ist Mediziner und da ist Schweden ein Land, wo noch Milch und Honig fließen." Bengt Hansske war Skilangläufer, fand dann zum Orientierungslauf und gehörte sogar mal zum Nationalkader. Take 44 Bengt Jetzt wohnen wir in einem kleinen Ort in Torsby in Nordvärmland. Ich habe mich einem Verein angeschlossen, der von uns aus achtzig Kilometer entfernt ist. Im Winter finden manchmal nachts Trainingswettkämpfe statt. Aber da wir jetzt von diesen Trainings ziemlich entfernt wohnen, müssen wir immer eine Dreiviertelstunde bis anderthalb Stunden fahren. Und das macht man dann auch nicht jede Woche. Kurz nach Mitternacht wechselt Patrick, der zweite Läufer des Leistungszentrums Ostwestfalen-Lippe. Take 45 Patrick Ich bin überhaupt nicht zufrieden. Aber, schauen wir mal, was die anderen jetzt so machen. Partrick sieht fertig aus, schmutzig und nass, so als wäre er durch einen Sumpf gewatet. Ja, bis zum Bauchnabel. Und dann waren die Beine auch zu. Hinten der Oberschenkel, weil es so kalt war, und das Wasser hat da richtig rein gezogen. Atmo Eingemummelt in Schlafsäcke liegen die mitgereisten Fans auf Liegestühlen vor dem Monitor und schauen auf Bilder, die abwechselnd Glühwürmchen und Trupps von Läufern mit Grubenlampen zeigen. Die Läufer, die jetzt unterwegs sind, haben mit achtzehn Kilometern die längste Etappe vor sich. Bis zum Staffelwechsel um drei Uhr morgens werden rund zwei Stunden vergehen. Aber der nächste Läufer sollte jetzt schon aufstehen. Take 46 Patrick weckt Lars Ich habe dich schon ein bisschen länger schlafen lassen. Chrissie ist gerade raus. - Und ich bin schon da. - Eike ist schon da. Wir sind so ziemlich Hundertzehnter oder so. - Hundertdreizehnter. Atmo 25 Fernsehkommentar im Presseraum Im Pressezentrum beugen sich Journalisten über Laptops, notieren Zwischenzeiten, setzen sich Mützen auf und gehen zum Zielbereich, um einen hereinkommenden Läufer zu interviewen. Das Fernsehen zeigt eine Grafik, auf der sich mit Buchstaben gekennzeichnete bunte Schlangen auf ein Dreieck zu bewegen. Take 47 Christian Zum Beispiel VV ist Vehkaladhen Veikot, KR ist Kalevan Rasti. Und da kann man das dann beobachten, wo die lang laufen. Also, die haben alle so einen GPS-Track auf dem Rücken, und dann sieht man halt, wo die lang laufen. GPS steht für Satelliten gestütztes globales Positionierungssystem. Die Läufer der führenden Staffeln bekommen einen Peilsender mit, sagt Christian. Eigentlich könnte, wer Biathlon, Tour de France und Formel eins im Fernsehen guckt, auch Orientierungslauf spannend finden. Take 48 Christian Es schalten dann wirklich Leute früh ein und gucken diese letzte Strecke von Tio Mila an. Auch über die Nacht hinweg wird ja alles im Internet live übertragen. Vor dem LKW des schwedischen Fernsehens brummen die Aggregate. Es wird langsam hell. Atmo 26 mit dem Pressesprecher unterwegs "Maybe, we need to go around, because television is sending ..." "Um in den Wald zu kommen, müssen wir außen herumgehen," meint Mats von der Pressestelle. "Sonst laufen wir voll durchs Bild." Die Laubdecke ist trügerisch. Kurz darauf steckt Mats bis zum Knie im Sumpf. Er wäre besser über die herab gefallenen morschen Äste jongliert. Atmo 27 Läufer im Wald Mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen warten Fotografen am Wegesrand. Wie Rehe auf der Flucht brechen hin und wieder Läufer durchs Unterholz. Erstaunlich, wie schnell sie sind. Viele von ihnen könnten es mit jedem Leichtathleten aufnehmen. Alexander Lubina, Startläufer von LOWL war sogar 10 000-Meter-Läufer. Take 49 Alexander Deutscher Meister war ich ein paar Mal, EM-Teilnehmer. Also schon so deutsche Spitze. Take 50 Alexander Ich hatte ja hundertsechzig, hundertachtzig Kilometer die Woche. Und durch dieses Monotone, durch diese Laufbewegung sind die Knochen im Fuß zu sehr belastet worden. Und jetzt durch den weicheren Boden ist die Belastung nicht so groß. Neben der Leichtathletik hat Alexander hat immer Orientierungslauf betrieben. Er kann, was andere ihm an Erfahrung voraus haben, durch Schnelligkeit wettmachen. Take 51 Alexander Ich meine, klar trainiere ich jetzt nur noch fünf, sechs Mal die Woche, wie eben die Zeit da ist. Aber ich denke, gerade in dieser Sprintdisziplin national auf jeden Fall und auch international sind Top-20-Platzierungen bei einer WM noch machbar. In vielen Leichtathletik-Disziplinen kennt kaum jemand den Namen der deutschen Meister, aber immerhin geht jeder davon aus, dass sie fleißig trainiert haben. Take 52 Alexander In Deutschland ist der Stellenwert vom OL ja wirklich ganz, ganz gering. Irgendwie wissen schon viele, was gemacht wird, aber ganz genau können die das alle nicht einschätzen. Und dass es Leistungssport ist, das sehen dann die wenigsten. Atmo 28 Nikolaus am Start (Nikolaus) "Ciao, ciao ...." Es ist viertel nach sieben. Björn Risch gibt seinem Vater letzte Tipps mit auf den Weg. (Björn) Ich glaube, die Karte hängt unten, das kannst du ihr noch mal sagen. Da kommt sie. Gut, Karin! ... Wenige Sekunden nach dem Wechsel von Karin zu Nikolaus kommt bereits der Schlussläufer der Siegerstaffel ins Ziel. Take 53 Björn Es gewinnen wieder die vom letzten Jahr, ein norwegischer Verein, Kristiansand. Die haben einen Schweizer auf der Schlussstrecke, der Weltmeister geworden ist letztes Jahr. Die deutsche Staffel hat noch knapp drei Stunden vor sich. Karin Schmalfeld ist stolz, dass sie mit den Männern so gut mithalten kann. Take 54 Karin Das hat super Spaß gemacht. - (Björn) Und was war mit deinem Knie? - Es ging. Was ist denn Sören gelaufen. - Sechzig. Der Lauf seines Lebens. Ich glaube, er wird die ganze Rückfahrt im Auto singen. Auf dem Weg zum Frühstück begegnet uns Christian Teich. Seine Wade ist bandagiert. Verdacht auf Muskelfaserriss. Take 55 Christian Ungefähr bei einem Drittel der Strecke. Ganz normal gelaufen. Und dann .. Christian ist enttäuscht. Er hat Tränen in den Augen. Ohne fremde Hilfe wäre er gar nicht aus dem Wald herausgekommen. Mit dem Auto haben sie mich geholt. Da gibt es solche medical points. Um viertel nach zehn, nach 12 Stunden 43 Minuten und 59 Sekunden ist die Staffel des Leistungszentrums Ostwestfalen-Lippe am Ziel. Die letzten Läufer dürfen die Karte als Souvenir behalten. Atmo 29 Unterhaltung nach dem Lauf "Da bin ich so gelaufen ..." Wenn sich Orientierungsläufer gemeinsam über eine Karte beugen, läuft das Rennen noch einmal ab wie in einem Film. Atmo 30 Unterhaltung nach dem Lauf "Höckelpöckel mit umgefallenen Bäumen ..." Es ist Mittag. Die Koffer sind gepackt, die Zelte werden abgebaut. Unter dem Jubel hartnäckiger Fans erreichen die letzten Staffeln das Ziel. 1