COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Nachspiel - 2.9.2007 Nachspiel Klettern in der Stadt Von Christina Selzer Musik: 00?30 (Gema: Titel: Ballet Fusion/instr. Interpret: Sven Väth, Label: Club Culture, LC-Code: 03615) Die Alpen. Ein Ort der Sehnsucht für alle, die die Natur lieben. Das Bergsteigen war schon seit seinen Anfängen Inbegriff des Abenteuers. Einen Gipfel zu besteigen, galt als Heldentat. Ausgestattet mit Gottvertrauen und einer gehörigen Portion Mut zog der Held in die Berge und kämpfte an der Felswand. Die Todesgefahr immer im Blick. In seinem Roman ?In der Wand? beschreibt der amerikanische Schriftsteller James Salter eine Gipfelbesteigung in den Alpen: Zitat aus: James Salter: In der Wand, btb Verlag Berlin, 2001 Er machte sich früh auf den Weg. Die Wand war wie ein gewaltiger, abwärtsströmender Fluß, der mit zunehmender Höhe immer steiler wird. Seine Steigeisen knackten in der Stille. Er arbeitete sich methodisch voran, in jeder Hand einen Pickel. Der Gedanke, abzurutschen ? er wäre den Hang hinuntergeschossen, als wäre der aus Glas ? kam ihm erst, als er weit oben war, und auf merkwürdige Weise. Er hatte einen Moment innegehalten, um sich auszuruhen. Die Frontzacken seiner Steigeisen waren nur ein kurzes Stück ins Eis gerammt, kaum mehr als einen Zentimeter ? dieser Zentimeter würde nicht versagen. Eine Art Glückseligkeit 2 überkam ihn, als er dies begriff, ein Gefühl der Unverwundbarkeit, mit nichts zu vergleichen, was er je erlebt hatte. Es war, als hätte ihn der Berg geweiht. Als gutes Training für alpine Bergbesteigungen galt bereits im 19. Jahrhundert das Klettern an den Felsen der Mittelgebirge. Die Kletterer sicherten sich mit selbstgebastelten Bohrhaken und nur die Mutigsten und Besten wagten sich an die gefährlichen Routen heran. Vor etwa 20 Jahren kam eine neue Spielart auf: Die neuen Kletterer waren Sportler. Sie eroberten die Felswände auf ihre Art. Als Helden sahen sie sich überhaupt nicht, schreibt der Schweizer Sportkletterer Jürg von Känel: Zitat aus: Plaisirklettern, in: Bergundsteigen, Zeitschrift für Risikomanagement im Bergsport, Innsbruck, Ausgabe 3/04 Unverschämt traten sie auf, die jungen Freaks mit weißen Hosen, langen Haaren und Stirnband. Frech kletterten sie die klassischen Routen, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, ohne sich an den Haken hochzuziehen. Sie verstanden sich als Freikletterer. Versprach das in den Routen steckende, rostige Eisenzeug zu wenig Sicherheit, ersetzten sie es durch solide Bohrhaken. Nicht der Berggipfel - und schon gar nicht das Risiko - lockten sie in die Felsen, nein, die Schwierigkeit einer Kletterstelle bedeutete ihnen das Ein und Alles. In den letzten Jahren hat die Faszination dieses Sports immer mehr zugenommen. Galt er lange Zeit als Aktivität für Freaks, für ein paar Individualisten, die das Extreme suchen, so ist er mittlerweile auf dem Weg, ein Breitensport zu werden. Da es den meisten aber nicht vergönnt ist, in der Nähe der Alpen oder in der Nähe eines Mittelgebirges zu wohnen, hat sich bundesweit in den Städten - fernab der Berge - eine ganz eigene Kultur entwickelt. Ob in Köln, Hamburg oder Berlin: Die urbanen Kletterer trainieren an künstlichen Anlagen ? die über die ganze Stadt und das Umland verteilt sind. Allein der Deutsche Alpenverein betreibt bundesweit fast 300 Anlagen. Hinzu kommen unzählige Kletterwände, die die Sportvereine für ihre Mitglieder gebaut haben. Für eingefleischte Naturfreunde sind sie oft nur Übungsfelder, um sich für die Klettersaison in den Bergen fit zu machen. Andere dagegen sehen die Kletterei als Sport, für den man nun mal keine Berge braucht. Thorsten Behr vom Deutschen Alpenverein, Sektion Berlin: 3 O-Ton Thorsten Behr: Seit 10 Jahren sprießen Anlagen aus dem Boden wie die Pilze. Und seitdem entdecken viele Sportler die Kletterei, weil es in der Stadt viele Kletteranlagen gibt, indoor und outdoor und die sind schnell zu erreichen. Und da bietet es sich an, in der Freizeit eine neue Sportart zu beginnen. Gab es in Berlin und Brandenburg zum Beispiel vor rund zehn Jahren nur fünf Klettermöglichkeiten, stehen hier jetzt über 50 künstliche Wände zur Verfügung. Atmo Eine der vielen privat betriebenen Kletteranlagen ist der sogenannte Kegel in Berliner Bezirk Friedrichshain. Kegel wird er wegen seiner runden Form genannt. Der alte Bunker aus dem zweiten Weltkrieg steht mitten auf einem ehemaligen Industriegelände mit mehreren Lagerhallen. Alexander von Döpp trainiert hier heute mit seiner Jugendgruppe. Die Sportkletterer gehören zu den besten in der Stadt. Bei der letzten Berliner Meisterschaft im Frühjahr kamen sie auf den ersten Patz. Vor dem Training müssen sich die Jugendlichen warm machen. bevor es hinauf geht auf den 18 m hohen Kletterturm. Atmo O-Ton Micha Jetzt ziehe ich mir mal den Gurt an, denn jetzt wollen wir auch mal auf den Turm hochklettern. Noch schnell schnürt sich der 18-jährige Micha seine Kletterschuhe zu, dann steigt er in den Sicherungs-Gurt. Der besteht aus zwei Beinschlaufen und einem Riemen, der um die Hüfte gelegt wird. Am Gurt klimpern einige Karabinerhaken. In der Fachsprache Express-Schlingen. Jetzt noch das Seil. Und fertig ist die Grundausrüstung fürs Klettern. Atmo Von unten sieht der Kletterturm respekteinflößend hoch aus. In der groben Betonwand sind Haken eingearbeitet, dort werden die Seile mit den Karabinerhaken 4 festgemacht. Micha hält sich an den Griffen fest. An ihnen hangelt er sich immer so weit entlang, bis er wieder einen Haken erreichen kann, in den er das Seil einklinkt. So geht es Stück für Stück nach oben. Atmo Unten, am Fuß der Wand, steht der Sicherungspartner, denn zum Klettern gehören immer zwei. Der 13ährige Rico hat in seinen Brustgurt das untere Ende des Seils eingehakt, das über eine Spule läuft. Er stemmt sich mit seinem gesamten Körpergewicht nach hinten. Damit sorgt er dafür, dass Micha gehalten wird, falls er mal danebengreift oder abrutscht. Beim Abseilen muss er sich voll seinen Kletterpartner verlassen. Micha setzt sich in den Gurt, lässt die Griffe an der Wand los. Und dann lässt er sich langsam von Rico abseilen. Atmo O-Ton Micha Ich hab keine Angst mehr vor der Höhe, weil ich dem Material vertraue und dem, was ich kann. Man sieht ja, ob ein Griff locker ist oder rausbrechen könnte. O-Ton Gerhardt Bayer Ich klettere äußerst ungern mit Leuten, die keine Angst haben. Sagt der Sportwissenschaftler Gerhardt Bayer von der Humboldt-Universität. Er bringt Sportstudenten das Klettern bei. O-Ton Gerhardt Bayer Es ist wichtig, dass die Leute Angst haben, zu Anfang und damit die Gefahr erkennen und mit der Gefahr umgehen, und dann geht es einfach darum, Anforderungen so zu erhöhen, dass jeder die Chance hat, mit der Angst umzugehen, Und je mehr Systematik drin ist, je mehr er selbst versteht, und die Anforderungen selbst bestimmen kann, desto einfacher ist es für ihn. Atmo O-Ton Kati Ich klettere gerne, weil ich die Berge gerne habe, weil ich die Höhe mag und weil ich ziemlich stolz bin, weil ich das geschafft hab. Teilweise kann man das Sportliche mit der Natur verbinden und irgendwie ist es ein kleiner Kick immer, weil man nicht weiß, ob man es schafft, und die Strecken werden ja immer schwieriger. 5 Sagt Kati, die zum ersten Mal am Kegel klettert. Normalerweise geht sie eigentlich lieber in die Natur. Das Klettern in der Stadt dient ihr nur als Training. Atmo Die Idee, den alten Bunker zu einer Kletteranlage umzubauen, hatte Christian Wahle. Eigentlich ist er Grafitti-Künstler. Vor zwei Jahren erhielt er den Auftrag, die Industriegebäude auf dem gesamten Gelände zu bemalen. O-Ton Christian Wahle Das war in einem ganz anderen Zustand, nicht als Kletterturm erkennbar, aber ich habe erkannt, dass das Potential da ist und hab dann mit Freunden angefangen, aus ner fixen Idee Realität werden zu lassen. Der kegelförmige Bunker hat zwei Meter dicke Wände. Grobe Strukturen konnten dort hineingemeißelt werden, so dass er an manchen Stellen fast wie ein richtiger Naturfelsen wirkt. Mit seinen 18 Metern ist er der höchste Turm in Berlin. Viel Geld hat Christian hier reingesteckt. Wieviel, das möchte er aber nicht sagen. Er sieht seine private Initiative als Angebot für Kletterer, die sich den Eintritt in die teuren Halle nicht leisten können oder keine Lust haben, Mitglied in einem Verein zu werden, nur um dessen Kletteranlagen zu nutzen. Die Nachfrage ist jedenfalls groß. Denn die Kletterfans, sie werden bundesweit immer mehr. O-Ton Christian Als ich angefangen habe, war die Szene sehr klein, quasi überschaubar. Das war Mitte der 90er. Und heute gibt es so viele. Es ist auch interessant, dass es fast ausgeglichen ist, 50 Prozent Frauen und 50 Männer. Zu meiner Zeit waren es vielleicht 10 Prozent Frauen. Es war ein Sport für Freaks, heute haben viele keine Berührungsängste mehr. Auch der Deutsche Alpenverein hat sich der neuen Entwicklung gestellt. Das war aber nicht immer so. Denn anfangs tat sich der traditionsreiche Verein mit der 150jährigen Geschichte doch etwas schwer mit der neuen Gruppe der Kunstwandkletterer. Hatte doch deren Aktivität wenig zu tun mit der Erhabenheit einer echten Gipfelbesteigung. Der Alpinclub Berlin gehört zum Alpenverein, und 6 dessen Vorsitzender, Arno Behr findet, dass sich Bergsteiger und Alpenfans nicht den neuen Trendsportarten verschließen sollten. O-Ton Arno Behr Trendsportart ist immer, wenn man auf der Welle mitschwimmen kann, interessant, weil es neue Leute mitreinspült. Trendsport berührt uns insofern, als wir das Sportklettern als weitere Disziplin im Bergsport aufgenommen haben, also ein Klientel ansprechen, die es nicht mehr auf den Gipfel des Berges zieht, wo es schneit und regnet, wo es Gletscherspalten gibt und wo alle möglichen Gefahren auf einen lauern, sondern wo es einfach künstlich hergestellte Schwierigkeiten gibt. Wo ein Dach ist und eine Heizung drunter ist und wo man immer wieder zu jeder Jahres- und Tageszeit bestimmte Züge und bestimmte Grifffolgen trainieren kann um sich damit zu perfektionieren und das als Wettkampfsport zu trainieren. Das ist trendy, das ist im Moment sehr gefragt, das bedienen wir auch gerne, wir haben Meisterschaften und auch Kader für den Leistungssport. Um weiterhin die Fachkompetenz zu behalten und nicht aus der Hand zu geben, wurde der Deutsche Alpenverein im Jahr 1993 sogar Mitglied im Deutschen Sportbund. Doch auch wenn sich der Verein noch immer gerne als die Institution in Sachen Kletterei sieht, so ist er doch längst auf dem Weg, die alleinige Autorität zu verlieren. In den letzten 10 Jahren haben auch andere Institutionen die Kletterei entdeckt. In Berlin unterhält zum Beispiel der Landessportbund als freier Träger seine eigenen Anlagen ? unter anderem in sozial schwachen Stadtteilen. Außerdem gibt es dann noch die privaten Initiativen wie den Kegel und die rein kommerziellen Hallen. Arno Behr kam vor vielen Jahren über das Bergwandern zum Klettern. Für ihn selbst ist es daher undenkbar, nur an künstlichen Anlagen zu trainieren und auf das Naturerlebnis zu verzichten. Wenn er von den schönen Momenten erzählt, davon, wie es ist, den Gipfel unter größten Strapazen endlich erklommen zu haben, dann bekommt er einen schwärmerischen Blick ? in die Ferne. Musik 00:14 sec (Gema: Titel: Ballet Fusion/instr. Interpret: Sven Väth, Label: Club Culture, LC-Code: 03615) O-Ton Axel Die einzige Möglichkeit, zum Klettern zu gehen, wenn mal mal nen Nachmittag frei hat, sind diese Kunstwände. Hier gibt es nun mal keine Berge. Man sagt immer, hier 7 sind alles Flachlandtiroler. In München hast du einen ganz anderen Bezug zu den Bergen. Axel kommt aus München. Die Alpen hatte er dort praktisch vor seiner Haustür. Während seiner Schulzeit ging er manchmal mit seinen Freunden sogar für einen Nachmittag in den Berg. Die Angebote in Berlin sind für ihn die reine Notlösung. Seit zehn Jahren lebt er jetzt in der Stadt. Und klettert immer seltener. Denn wenn der Felsen fehlt, sagt Axel, dann fehlt ihm eigentlich das Ziel. Atmo Und zugegeben: Ein Naturerlebnis ist sie nicht gerade: Die Kletteranlage im Mauerpark im Norden Berlins. Aber die 15 Meter hohe Wand, die dem Deutschen Alpenverein gehört, ist nun mal in der Nähe von Axels Wohnung. Urbane Kletterromantik in Reinform: Kein Baum weit und breit. Stattdessen geht der Blick auf ein dichtes Gewirr von Bahngleisen. Ein Knotenpunkt der S-Bahn: Alle paar Minuten kommt eine Bahn vorbei. Atmo O-Ton Axel Das schöne ist das Naturerleben. Das kriegen Leute, die nur in der Stadt leben, gar nicht mit. Außerdem ist das wieder ne andere Liga. Da sind die Sicherungstechniken viel differenzierter. Du hast Steinschlag und musst schon irgendwo dich mit der ganzen Sache beschäftigen. Hier ist alles, künstliche Wände, die sind gesichert, Betonwände, die griffiges Material übergespritzt bekommen haben und künstliche Griffe dran. Und dann: Der Gegenentwurf. Der Berg. Die Natur. Der Mensch ? zurückgeworfen auf sich selbst. O-Ton Axel Du stehst vor der großen Wand und denkst, eigentlich ein unüberwindbares Hindernis für nen Menschen. Und dann realisierst du, wenn du die richtigen Routen kletterst, kannst du da hoch kommen. Es ist was Faszinierendes, es ist eine unheimliche Stille da, manchmal klimpern die Express-Schlingen, du hast den ganzen Tag die Natur um dich herum: Bäume, Felsen, die aus dem Wald hochgehen, dann kommst du über die Wipfel drüber, kannst ins Tal runtergucken. Es hat auf jeden Fall auch etwas Meditatives. Musik 00:14 sec. (Gema: Titel: Ballet Fusion/instr. Interpret: Sven Väth, Label: Club Culture, LC-Code: 03615) 8 Auszug aus James Salter, In der Wand. btb Verlag Berlin, 2001 ?Der Fels ist wie die Oberfläche des Meeres, ebenmäßig aber nie gleich. Schreibt der amerikanische Autor James Salter: Zwei Bergsteiger, die genau dieselbe Route klettern, werden sie auf verschiedene Weise bewältigen. Ihre Reichweite ist nicht dieselbe, ihr Selbstvertrauen, ihre Sehnsucht. Manchmal wird der Weg eingeengt, es gibt nur wenig Griffe, keine Alternativen - dann ist der Berg eindeutig in seinen Forderungen -, aber gewöhnlich kann man selbst entscheiden, wie man klettern will. Für Axel, den Münchener besteht der grundsätzliche Unterschied zwischen Natur und Stadtkletterern in der Philosophie, die dahinter steckt: O-Ton Axel Leute, die nur in der Stadt sind, da ist manchmal so eine gewisse Distanz da. Auch dieses Ansprechen, angesprochen werden, das ist immer so ein bisschen: Du störst meine Individualdistanz. (...) Wie in der U-Bahn. Es muss immer ne Lücke dazwischen bleiben. Das ist auch die Grundhaltung in Hallen oder Klettertürmen, es gibt so ne gewisse Grüppchenbildung, wer kennt wen und jemand anderen ansprechen, ist nicht normal, nicht das natürlichste von der Welt sondern ein Eindringen in Individualdistanz. Diese Anonymität wahren in der Stadt. Und das hast du in der Natur nicht. Da sind ja alle ein Teil der Natur und genießen zusammen die Natur, das macht dann schon einen Unterschied. Dem Stadtkletterer entgeht nicht nur das schöne Erlebnis. Auch die Anforderungen, die die Natur an Geist und Körper stellt, sind andere als an der Kunstwand. So gibt ein Grundkurs am Felsen-Ersatz noch lange keine Garantie dafür, dass es dann später am echten Berg problemlos funktioniert. Schon so mancher Kletterer muss plötzlich feststellen, dass es ohne die Metallringe in der Wand wesentlich schwieriger, wenn nicht gar aussichtslos ist, nach oben zu kommen. Atmo Auch die bunten Griffe, wie sie an der Kletterwand angeschraubt sind, gibt es natürlich nicht am Berg. Und wo die Hände weniger Gelegenheiten zum Festhalten 9 haben, da sind die Füße gefragt. Jeder Tritt muss stimmen. Kaum vorstellbar für den Laien, dass selbst winzigste Mauervorsprünge den Fußspitzen Halt geben. Der Trainer Alexander von Döpp: O-Ton von Döpp Wenn ich z.B. hier klettere, dann stell ich die Füße auf so große Tritte. In Natur gibt es die großen Tritte und Griffe nicht. Da muss ich mir für meinen Fuß schon genauer aussuchen, was ich brauche zum Treten. Man lernt dann auf solchen Tritten stehen zu können. Die Belastung des ganzen Körpergewicht, dass ich sehr wenig Kraft auf den Händen habe. Die Hände sollen prinzipiell nur das Runterfallen verhindern. Sonst sollen die Hände wenig Kraft haben. Die Kraft soll aus den Füßen kommen. Es sind viele Faktoren, die zusammenspielen müssen, damit die Kraft aus der fließenden Bewegung kommt. Vor allem die Kombination aus Maximal- und Ausdauerkraft ist gefragt, wenn man eine 15 Meter hohe Wand hoch kommen möchte. Während ein geübter Kletterer dafür drei Minuten braucht, benötigt ein Anfänger etwa doppelt so lange. Die meisten Untrainierten haben nicht die Ausdauerkraft, um ihr eigenes Körpergewicht sechs Minuten lang zu halten. Daher müssen sie sich die Ausdauer erst einmal antrainieren. Und dann gehört natürlich auch noch die Willenskraft dazu. O-Ton Axel Du hast viel mit Gleichgewicht zu tun, viel mit innerer Einstellung. Wenn ich bei einem Griff sage, der ist sehr klein, halte ich den oder halte den nicht, wenn ich dann ganz bewusst sage, ich halte ihn, dann kann ich den noch die paar Sekunden halten, bis ich zum nächsten Griff komme. Wenn ich schlecht drauf bin, wenn ich keine Lust habe, mich da reinzuhängen, wenn ich mich ärgere, dann falle ich runter (...) Klettern also auch als Mentales Training? Als Arbeit an sich selbst und Geduldsprobe? Vielleicht. Zum Seele baumeln lassen ist jedenfalls keine Zeit. Konzentration ist angesagt. Und Vertrauen, in die eigenen Fähigkeiten. Aber auch in den Kletterpartner. O-Ton Behr Sie müssen sich vorstellen, dass Sie immer auf eine Person angewiesen sind, der Sie Ihr Leben in die Hand legen. Sagt Arno Behr vom Alpin Club. O-Ton Behr Sie klettern irgendwo, in welcher Höhe auch immer und wissen: Wenn Sie runterfallen, schlagen Sie tödlich auf. Sie haben am anderen Ende des Seils eine 10 Person, die dazu beiträgt, dass Sie fixiert, dass durch eine Zwischensicherung läuft, dass diese andere Person Sie auffängt. Sie müssen 100%iges Vertrauen in Ihre Seilpartnerin haben. Deshalb ist auch Zuverlässigkeit und Vertrauen eine Tugend, wenn man davon heute noch sprechen darf, die heute noch sehr gefragt, ja lebensnotwendig ist. Atmo Halle Magic Mountain Gerade Anfänger, die Grundkurse belegen möchten, nutzen dafür ganz gerne die Kletterhallen. Für Naturkletterer ist die Halle zwar ungefähr das, was ein Fitness- Studio für den Waldläufer ist. Wenn es aber nun mal keine Berge gibt, dann werden sie eben nachgebaut. Atmo Halle Magic Mountain Die Kletterhalle Magic Mountain ist die größte der beiden Berliner Hallen. Die Dimensionen sind gigantisch. Über 2000 Quadratmeter Kletterfläche. Vorne am Tresen zahlt man seinen Beitrag von 14 Euro und kann sich außerdem die Ausrüstung leihen: Schuhe, drei Euro, Sicherheitsgurt 3 Euro, Seil drei Euro. Kein besonders preiswertes Freizeitvergnügen. Aber die Halle ist trotzdem gut besucht an diesem Herbstabend, obwohl es gerade noch warm genug wäre, um draußen zu klettern. Jeden Dienstag Abend gibt es ein sogenanntes Schnupperklettern: Dabei können Anfänger für 30 Euro unter Betreuung ausprobieren, wie das so ist, eine 15 Meter hohe Wand zu erklimmen. Eine kleine Gruppe von sechs Leuten steht um Trainer Martin Wenzel herum, der kurz ein paar Grundregeln erklärt: Atmo mit Trainer Eineinhalb Stunden dauert der Kurs, und in der Zeit sollen die Schnupperer so oft nach oben, wie es geht. Zwei Männer, drei Frauen und ein neunjähriges Mädchen. Katja, 30 Jahre alt, macht den Anfang. Vorsichtig zieht sie sich von Griff zu Griff, schaut ab und zu nach unten. O-Ton Martin Wenzel Es ist null gefährlich, man muss nur voll konzentriert sein, aber es kann nichts passieren. Wenn sie jetzt fällt, dann rutscht sie vielleicht 50 cm, fällt dann ganz entspannt in den Gurt, dann lass ich sie kontrolliert ab. Das ist so was, wie kontrolliertes Fallen. Das einzige, wenn man Unsinn macht, wenn man die Regeln nicht beachtet. (Ruft nach oben) :Okay, einfach reinhängen. 11 Katja wird von ihrem Trainer abgeseilt. Sie ist zufrieden fürs erste Mal. Zwar war sie nicht ganz oben, aber das stört sie nicht. O-Ton Katja: Mir reicht es. Anstrengend und man kriegt ein bisschen Schiss. Man muss sich konzentrieren, man darf nicht runtergucken, ich jedenfalls nicht. Atmo O-Ton Oliver, Wenn man von 10 Metern runterguckt, dann ist da Angst mit bei. Dass man sich dran gewöhnt. Wenn man es 3,4 Mal gemacht hat, ist es nicht mehr so mulmig, aber erst mal ist es Überwindung der Höhenangst. Höhe ist eigentlich nicht so mein Ding! Aber es kann ja nichts passieren. Oliver betrachtet das Klettern als reines Freizeitvergnügen. Nur einmal im Jahr kommt er mit seiner Freundin Iris nach Berlin ins Magic Mounain. Draußen, in der Natur klettern sie beide nicht, denn dafür fehlt ihnen die Übung. Und öfter als einmal im Jahr muss es gar nicht sein, finden sie. Ein Tag genügt ihnen, um die Regeln aufzufrischen. O-Ton Iris, Es gibt Regeln, die sollte man beherzigen: Den Körper an die Wand ran, die Kraft aus den Beinen und nicht aus den Armen, und das mache ich manchmal nicht und das fällt mir oft schwer. Das Kraftverhältnis ist was anderes, weil man alle Muskeln einsetzen muss. Detlef ist mit seiner neunjährigen Tochter hier. Er schaut ganz stolz nach oben: Geschmeidig wie eine Katze arbeitet sich Nadine an der Wand gerade Stück für Stück bis ganz nach oben. Innerhalb kurzer Zeit schafft seine Tochter die Route. Das sei ganz typisch für Kinder, sagt Yvonne, eine der Betreuerinnen, die sich die Szene von unten anschaut. O-Ton Yvonne Kinder sind immer gut, die schaffen es eigentlich immer. Die haben nicht so viel Angst, sie vertrauen den Erwachsenen, die unten stehen. Und das Kräfte-Gewicht- Verhältnis stimmt besser, besser als bei den meisten Erwachsenen. Atmo O-Ton Nadine Ich klettere schon länger. Es ist anstrengend aber es macht Spaß. Man darf nicht nach unten gucken, immer nach oben. 12 Bei Schnupperkursen ist es erlaubt, nach jedem Griff zu greifen, den man erreichen kann. Egal, ob blau, rot oder gelb. Jede Farbe steht für eine Route mit bestimmtem Schwierigkeitsgrad. Wer den Kletterschein machen möchte, der muss sich an die Routen halten, die er sich ausgesucht hat und darf dann zum Beispiel nur rote, gelbe oder blaue Griffe nehmen. O-Ton Detlef Und letztendlich ist es das, was einen in der Kletterhalle immer wieder begeistert. Die Möglichkeit, sich den Schwierigkeitsgrad raus zu suchen und zu sagen, jetzt will ich das aber mal schaffen. Zu sehen, was ist möglich, ist ja ein endloser Reiz. Musik 00:15 sec. (Gema: Titel: Bang lassi/ instr. Interpret: The Walz Exp., Label: Columbia, LC-Code 00162) Kletterer versichern, ihr Sport sei überhaupt nicht gefährlich. Zwar trifft es zu, dass zum Beispiel beim Fußballspielen öfter Unfälle passieren. Doch wenn beim Klettern ein Unfall geschieht, dann geht es nicht mehr nur um gebrochene Finger, gedehnte Bänder oder verstauchte Gelenke. Es drohen Querschnittslähmung und Tod. Vor allem Nachlässigkeit, die manchmal aus Routine entsteht, kann schlimme Folgen haben. O-Ton Axel Bei mir war es einmal so, ich bin geklettert, in 20 Metern Höhe, und sag meinem Partner: ich setz mich mal in den Gurt, und hab dann gemerkt, dass ich den Gurt nicht gefädelt hatte. Ich hatte nur den Klettverschluss zugemacht und dann nicht die Sicherung zugemacht, der Gurt ging dann auf, ich saß nur in den Beinschlaufen, wenn ich reingestürzt wär, ich weiß nicht wie es ausgegangen wäre, ich hatte in dem Moment Glück. Und seitdem ist es wirklich so, dass ich jedesmal alles kontrolliere. Mit dieser Routine habe ich mit jemandem gequatscht, und hab dabei das wichtigste vergessen. Eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten ist gefragt. Pädagogen und Therapeuten haben das Potential, das daraus entsteht, längst entdeckt. Klettern als Möglichkeit, die eigenen Grenzen auszuloten und sich persönlich zu entwickeln, findet der Berliner Sportpädagoge Gerhard Bayer: O-Ton Gerhardt Bayer Ich brauche eine gesunde Selbsteinschätzung. Werde sehr schnell wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt. Die Schwerkraft wirkt überall, das ist ein Problem, 13 wo man sich sehr gut kennen muss und sich gut einschätzen muss. Wer das nicht kann, wird Schwierigkeiten haben, das ist ne Sache, die wir immer wieder haben. Jemand, der auf Krawall klettert, um sich darzustellen, wird das nicht lange tun. Stattdessen sei eher Understatement angesagt, meint Bayer. Die typischen Kletterer, das seien eher stille, introvertierte Menschen. O-Ton Gerhardt Bayer Sie werden extrovertierte oder cholerische Typen beim Klettern nicht finden, Die Selbstkontrolle muss sehr hoch sein, sonst kommen sie nicht weit. Sie müssen mit ihren Kräften haushalten, sonst kommen Sie nicht weit. Wenn sie das nicht können, nutzen Ihnen die besten Kräfte nichts. Setzen an der falschen Stelle an. Gerhard Bayer weiß genau, wovon er spricht. Als Dozent der Berliner Humboldt- Universität hat er es bei seinen Sportstudenten auch immer wieder mit Kletterneulingen zu tun. Und konnte in den vielen Kursen die unterschiedlichsten Verhaltensweisen beobachten. O-Ton Gerhardt Bayer Wenn Sie ein geringes Selbstwertgefühl haben, ist es eine Chance, sich zu entwickeln. Und für Leute, die sich überschätzen, ist es schnell die Rückkopplung: das geht ja gar nicht, wie ich es mir vorstelle, und ich kann zehnmal drüber reden, dann blamiere ich mich, außerdem muss es nicht über den vermittelt werden, der das leitet, sondern der Fels selbst, eine neutrale Position. Das ist ne gute Sache: Ich versuche dich nicht in einer Ecke zu drücken, sondern du setzt dich mit etwas neutralem auseinander und das ist eine Sache, mit der jeder umgehen können muss. Wenn es nicht geht, dann geht es mit keinem anderen Sport. Musik: 2:00 (Gema: Titel: Bang lassi/ instr. Interpret: The Walz Exp., Label: Columbia, LC-Code 00162)