KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel : Albert Camus: Solares Denken. Zum 100. Geburtstag des algerisch-französischen Schriftstellers AutorIn : Ruthard Stäblein Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 5.11.2013 Regie : Friederike Wigger Besetzung : Sprecherin, Zitator/Camus, Sprecher/Voice Over, Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Albert Camus: Solares Denken. Zum 100. Geburtstag des algerisch-französischen Schriftstellers Von Ruthard Stäblein Deutschlandradio Kultur: 5.11.2013 Red: Barbara Wahlster (1. O-ton Camus algerien Sprecher Camus/Synchro „Ich habe das große Glück, in Algerien geboren zu sein. Alles, was ich geschrieben habe, bezieht sich direkt oder indirekt auf dieses Land. Das habe ich seit langem ausgedrückt. Ich verdanke Algerien nicht nur meine Lektionen des Glücks, sondern ich danke ihm auch meine Lektionen des Leidens und des Unglücks. Diese Lektionen sind seit einiger Zeit ziemlich schwer ertragbar geworden. Abe r sie sind nun einmal da, man muss sie akzeptieren. Und ich bin nicht sicher, ob die schreckliche Tragödie, in der unser gemeinsames Land versunken ist, nicht nur Anlass zur Hoffnung sondern auch Anlass zu einem gemeinsamen Vorhaben gibt, dass wir alle, Araber und Franzosen, zur Wahrheit voranschreiten könnten.“ Sprecherin Als Albert Camus diese Rede im November 1958 hielt, gab es kaum noch eine Aussicht auf den sogenannten „Bürgerfrieden“, den er für sein französisches Algerien erträumte. Unaufhaltsam war die Spirale von Folter und Willkür des französischen Militärs auf der einen und Terroranschlägen der Befreiungsbewegung FLN auf der anderen Seite. Camus dachte an seine Mutter, die bei einem solchen Terroranschlag in Algier umkommen könnte. Verhandlungen scheiterten damals am Putsch der Militärs im Mai 1958. Und Camus sah sich zwischen allen Fronten, als er sagte: Sprecher Camus „Wenn ich zwischen meiner Mutter und der Gerechtigkeit zu entscheiden hätte, würde ich mich für meine Mutter entscheiden.“ Sprecherin Albert Camus ist am 7. November 1913 in Mondovi geboren. In der algerischen Provinz. Er ist noch kein Jahr alt, als sein Vater im 1. Weltkrieg nach einem Einsatz an der Front in Frankreich stirbt. Die vaterlose Familie zieht nach Algier. Die Mutter ist Analphabetin. Sie arbeitet als Putzfrau. Die verhärmte Großmutter bleibt zu Hause, tyrannisieret die beiden Waisenbrüder Lucien und Albert. Albert Camus hängt an seiner Mutter. Wie an der Sonne des Südens. Und an seinem Viertel Belcourt. Dort lebt der ärmere Teil der Algerienfranzosen, neben den „eingeborenen“ Arabern und Kabylen. ((Wegen der Mutter und dem Mittelmeer wird sich Camus, der spätere Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit, sogar gegen die Unabhängigkeit Algeriens wenden.)) Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal ist nur 100 Meter von Camus entfernt im Armenviertel Belcourt aufgewachsen. Sansals Mutter war sogar mit Camus´Mutter befreundet. Sansal teilt mit Camus die mediterrane Sensibilität: O-ton Länge 1´13 Camus sansal Mittelmeer Synchro-Sprecher Sansal „Der mediterrane Mensch ist leicht glücklich. Es reicht schon, ins Wasser einzutauchen, wie es Camus selbst sagt, um ins Nirwana, zur Extase zu gelangen. Wir sind ziemlich einfach gestrickt, wir mediterranen Menschen. Wir sind sehr sinnlich. Aber hinter dieser körperbetonten, sinnlichen Fassade verbergen sich heftige Qualen. Der mediterrane Mensch ist gepeinigt, weil er ein tragisches Lebensgefühl hat. Das Mittelmeer ist eine tragische Welt seit ewigen Zeiten. Die Götter haben sich in diesen Regionen bekämpft. Große Konfrontationen, große Kriege fanden in dieser Gegend statt. Die verschiedenen Zivilisationen, die phönizischen, römischen, vandalischen, arabischen, christlichen Zivilisationen sind hier aufeinander gestoßen. Der mediterrane Mensch jubelt fast unter seinen Qualen. Er liebt die Pein.“ Sprecherin Boualem Sansal findet die Bestätigung dafür bei seinem „älteren Bruder“, wie er Camus nennt, in einem seiner ersten Texte. Er wurde 1937 im Band „Licht und Schatten“ veröffentlicht, kreist um das Thema der Herkunft. Der Erzähler sitzt in einem maurischen Café, bei Tee mit Minze, und spürt seinen Erinnerungen nach. Sprecher Camus: „Ich denke an einen kleinen Jungen, der in einem Armenviertel lebte. Dieses Viertel, dieses Haus! Es besaß nur ein Stockwerk, und auf der Treppe gab es kein Licht. Sein ganzer Körper ist von diesem Haus durchtränkt. Seine Beine tragen noch die genaue Höhe der Stufen in sich und seine Hände das instinktive, nie überwundene Grauen vor dem Treppengeländer. Daran waren die Schaben schuld. Sie trugen die Stühle hinaus, um den Abend zu genießen. Da war die Straße mit den Eisverkäufern nebenan, den Cafés gegenüber, dem Lärmen der von Tür zu Tür rennenden Kinder. Aber da war vor allem zwischen den Ficusbäumen der Himmel. In der Armut liegt eine Einsamkeit, die jedem Ding seinen Wert verleiht. Von einem gewissen Grad des Reichtums an scheinen sogar der Himmel und die sternenübersäte Nacht selbstverständliche Güter. Auf der untersten Sprosse der Leiter jedoch gewinnt der Himmel wieder seinen ungeschmälerten Sinn: er ist eine köstliche Gnade. Sommernächte unerforschlicher Geheimnisse, in denen Sterne aufsprühten! Hinter dem Jungen lag ein stinkender Gang, und sein Stühlchen mit dem eingebrochenen Sitz sackte ein wenig unter ihm ab. Aber mit erhobenen Augen schlürfte er die reine Nacht.“ (Quelle: Zwischen Ja und Nein in: Licht und Schatten. Kleine Prosa. Übs. v. Guido Meister. Rowohlt 1961) Sprecherin Albert Camus wird diesen Urtext „Zwischen Ja und Nein“ sein Leben lang wiederholen, variieren, neu schreiben. Er bekennt sich zu seiner Herkunft, zur Mutter und zum Mittelmeer, zu Nordafrika, zum Erbe der Antike: Sein zweiter Erzählband erscheint 1938 und heißt „Hochzeit des Lichts“. O-ton camus lit le désert 0´23; Synchro-Sprecher Camus „Die Welt ist schön, und außer ihr gibt es keine Rettung. Die große Wahrheit, in der sie mich geduldig unterrichtete, lautet, dass der Geist und sogar das Herz nichts ist. Und das Gestein, das die Sonne erhitzt, oder die Zypresse, die der blaue Himmel vergrößert, die einzige Welt begrenzen, wo „Recht haben“ seinen Sinn hat: Als Natur ohne den Menschen. Und diese Welt löscht mich aus. Sie trägt mich bis ans Ende. Sie verneint mich ohne Zorn.“ (Quelle: A.C.: „Die Wüste“ in: Hochzeit des Lichts. Arche Verlag. Übs. Peter Gan und Monique Lang) Sprecherin Erzählungen wie „Die Wüste“ aus dem Band „Hochzeit des Lichts“ enthalten Impressionen und Reflexionen über den nordafrikanischen Maghreb, Liebeserklärungen an seine Heimat, an das französische Algerien, eine einzige Hymne auf die Landschaften am Mittelmeer. Camus kommentierte sie so: Sprecher Camus „Mein Herz und mein Gefühl haben diese Bücher geschrieben, nicht mein Verstand.“ Sprecherin Und seine Erzählung „Hochzeit in Tipasa“ über den Ruinenort in der Nähe von Algier beginnt so: Sprecher Camus „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne.“ (Quelle: A.C.: Hochzeit des Lichts. „Hochzeit in Tipasa“ Arche Verlag. Übs. Peter Gan und Monique Lang) Sprecherin Der 24-jährige Camus schwärmt für die Götter der Antike und das Licht des Südens. Und er tritt 1935 in die Kommunistische Partei ein, die ihn zwei Jahre später wieder ausschließt. Die Kader der Partei interessieren sich damals nur für die französischen Arbeiter in Algerien, für Paris und Stalins Moskau, während Camus Reportagen über das Elend der Berber schreibt. Camus glaubt nicht an den Fortschritt, an die Zukunft, für die man die Gegenwart opfert. Denn sein solares Denken ist nicht optimistisch gepolt. Sprecher Camus „Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben“. Sprecherin Das steht bereits in seinem ersten Buch mit dem bezeichnenden Titel „Licht und Schatten“. Dieses Widerspiel von Licht und Schatten illuminiert das tragische Denken, das der Philosophiestudent Ende der 1930er Jahre in Algier entwirft. Er findet dafür einen eigenen Begriff, der für immer mit Camus verbunden bleibt: „Der absurde Mensch“. Das ist der Mensch, der sich mitten im Trott des Alltags plötzlich fragt: Warum das Ganze? Der alle Welterklärungen und Religionen für schnöden Ersatz hält, sich gegen das Schicksal auflehnt, es aber letztendlich akzeptiert, den Augenblick genießt. Gleichzeitig mit den Reflexionen über das absurde Leben, zusammengefasst in „Der Mythos des Sisyphos“, arbeitet Albert Camus an seinem Roman, der ihn mit einem Schlag zuerst in Frankreich berühmt macht, und dann in der ganzen Welt. Und mit der Verwendung des Perfekts schafft er zugleich einen neuen Stil, den der Kritiker Roland Barthes den „Nullpunkt der Literatur“ nennt. „Der Fremde“ erscheint 1942 im von den Deutschen besetzten Paris: O-ton camus lit l´Etranger 1´00 Sprecher Camus “Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern. Ich weiß nicht. Aus dem Altersheim habe ich ein Telegramm erhalten: “Mutter verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.“ Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern. Das Altersheim liegt in Marengo, achtzig Kilometer von Algier entfernt. Ich nehme den Zwei-Uhr- Omnibus und komme am Nachmittag an. So kann ich alles erledigen, und morgen Abend bin ich wieder zurück. Ich habe meinen Chef um zwei Tage Urlaub gebeten; bei einem solchen Anlass konnte er ihn mir nicht abschlagen. Aber einverstanden war er nicht, das sah man. Ich habe ihm sogar gesagt: „Ich kann nichts dafür“. Er gab keine Antwort. Da fiel mir ein, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Ich brauchte mich ja nicht zu entschuldigen. Vielmehr hätte er mir kondolieren müssen. Aber das tut er sicher erst übermorgen, wenn er mich in Trauer sieht. Einstweilen ist es fast noch so, als wäre Mama nicht tot. Nach der Beerdigung aber wird alles seine Richtigkeit haben und einen offizielleren Anstrich bekommen.“ (dt. Text, Der Fremde. Übs. Georg Goyert und Hans-Georg Brenner. Karl Rauch-Verlag 1957 ) Sprecherin Meursault, der Fremde, zeigt sich vom Tod seiner Mutter unberührt. Später begeht er ohne ersichtlichen Grund einen Mord an einem Araber. Im Prozess bereut Meursault, der Fremde, nichts, sagt nur, dass es vielleicht die Sonne war, die ihn dazu verleitet habe, den Araber zu töten. Er wird zum Tode verurteilt. Er nimmt das Urteil gleichgültig entgegen. Vielleicht ist es weniger Gleichgültigkeit als jugendliche Unbekümmertheit, als Unschuld, mittelmeerische Unschuld, antike Naivität. Meursault fühlt sich jedenfalls schuldlos. Er hat kein Gewissen, schon gar kein schlechtes. Ja, gewissenlos, unbewusst begeht er den Mord. Ein acte gratuit. Ohne Motiv, wie bei Dostojevskijs Romanheld Raskolnikoff. Aber ohne Bekehrung und Reue. Meursault verweigert dem Priester die Beichte. Er kriecht nicht zu Kreuze. Mit diesem Tonfall löst Camus ein neues Empfindungsvermögen aus. Jean-Paul Sartre nennt es Existenzialismus, erklärt den „Fremden“ mit dem Philosophen Martin Heidegger zum Thesenroman. Camus ist von der Zuschreibung weniger begeistert. Sein Fixstern ist und bleibt Friedrich Nietzsche, der Philosoph des Mittags, der die Schattenlosigkeit erträgt aber auch die Leiden des Lebens. Diesen Bezugspunkt hat der französische Philosoph Michel Onfray in seiner Camus-Biographie besonders betont: O-ton 1´00 Camus Onfray Nietzsche „La penséé de midi Sprecher Michel Onfray „Das Denken des Mittags bezieht sich explizit auf Nietzsche. Eine Formel, die man in „Also sprach Zarathustra“ findet. Es ist das Denken in dem Augenblick, in dem es keinen Schatten gibt. Das Denken im Zenit. Es verweist auf Nietzsche, der vom „Willen zur Macht“ sprach und damit die „Wahrheit von allem was ist“ meint. Daraus folgt, dass es keine freie Entscheidung gibt, sondern dass man das will, was uns will. Man hat keine andere Wahl als dem Wirklichen zu zustimmen. Camus übernimmt diese Formel mit der Einschränkung, dass er die Wirklichkeit nur annehmen will, wenn sie ihm passt. Wenn die Wirklichkeit mittelmeerisch und sonnenhaft ist, wenn es darum geht, ja zum Leben, zur Liebe, zur Freundschaft, zu den Frauen zu sagen, zum Schwimmen, zum Aperitiv mit Anisschnaps, zum gegrillten Fisch, zum Theater, zum Lesen, dann ist er einverstanden. Camus sagt „Ja“ zu dieser Sonnenseite der Existenz.“ Sprecherin In „Der Mythos des Sisyphos“, publiziert 1943, verkleidet er seine philosophische Reflexion als Erzählung, Sprecher Camus „Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, einen Felsblock unablässig den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfeln der Stein kraft seines eigenen Gewichts wieder hinunterrollte. Sie meinten nicht ganz ohne Grund, es gäbe keine grausamere Strafe, als unnütze und aussichtslose Arbeit. Der Arbeiter von heute arbeitet sein Leben lang an den gleichen Aufgaben, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen er sich dessen bewusst wird. Sisyphos, der ohnmächtige und rebellische Proletarier der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner elenden conditio: über sie denkt er nach während des Abstiegs. Die Klarsichtigkeit, die Ursache seiner Qual sein sollte, vollendet zugleich seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Textauszug „Der Mythos des Sisyphos“ Rowohlt Übs. Vincent von Wroblewsky) Sprecherin Mit Erlaubnis der deutschen Besatzungsmacht publiziert der Verlag Gallimard 1942 „Der Mythos des Sisyphos“. 1943 wird Camus Lektor bei Gallimard, dem Verlag, der mit den Nazibehörden kollaboriert. Zugleich aber arbeitet Camus - nach der Befreiung von Stalingrad - für den Widerstand, die Résistance, gegen die deutsche Besatzung. Er publiziert in der verbotenen Zeitschrift „Combat“, während Jean-Paul Sartre sein Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ im Café schreibt. Camus dagegen verbreitet illegal „Briefe an einen deutschen Freund“, um die Moral der Kämpfer zu heben. Er attackiert nicht die Deutschen, sondern die Nazis. Er wendet sich nicht an die Franzosen, sondern an die freien Europäer. Aufgrund der Erfahrung des Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht ändert Camus seine philosophische Haltung - wie sein Biograph Michel Onfray betont: Albert Camus besteht nicht mehr auf der Verzweiflung und auf dem „Absurden“, sondern pocht nach seiner Erfahrung im Widerstand auf Gerechtigkeit, Zitat, „um gegen die ewige Ungerechtigkeit zu kämpfen, Glück zu schaffen, um sich gegen die Welt des Unglücks aufzulehnen.“ Und er fährt im dritten „Brief an einen deutschen Freund“ fort Sprecher Camus „Ich habe mich für die Gerechtigkeit entschieden, um der Erde treu zu bleiben.“ Sprecherin 1951 publiziert er seine Gedanken in dem Essayband: „Der Mensch in der Revolte“. O-ton camus lit l´homme revolte 3 Synchro-Sprecher Camus Was aber bei uns Widerhall findet, an den Grenzen des Abenteuers der Revolte, sind keine Formeln des Optimismus; - an den Extremen unseres Unglücks haben wir damit nichts zu schaffen – sondern Worte, die Mut machen, kluge Worte, die in der Nähe des Meers zu Tugenden werden. Keine Weisheit kann heute mehr vermitteln. Die Revolte stößt unablässig gegen das Böse, woraus sie nur neue Energie gewinnt. Der Mensch kann alles an sich meistern. Er kann alles an der Schöpfung reparieren, was repariert werden muss. Danach werden die Menschen immer noch ungerecht sterben, selbst in der vollkommenen Gesellschaft. Der Mensch kann selbst mit größter Anstrengung nur rechnerisch die Leiden der Welt reduzieren. Die Ungerechtigkeit und das Leiden werden bleiben. So klein beides sein mag, es wird der Skandal bleiben. Die Kunst und die Revolte werden erst mit dem letzten Menschen sterben.“ Sprecherin „Der Mensch muss sich entschließen zu handeln, um zu sein“, schreibt Albert Camus in „Der Mensch in der Revolte“. Er vollzieht dadurch seine eigene Wende, seine Abkehr von der Auffassung des Absurden in der Welt. Auf das „Nein“ folgt mit der Revolte ein neues „Ja“ zum Leben. Über den Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit findet der einsame, der absurde Mensch den Weg zum „Wir“. Aber Camus geht nie in der Gemeinschaft auf. Als Schriftsteller beharrt er auf seiner Einsamkeit als Voraussetzung von Kreativität. Er will „solitaire“ und „solidaire“ sein können; einsam schreiben und gemeinsam solidarisch handeln. Er weiß zudem um die Gefahren der Revolte. Sie kann auch ein „schreckliches Gesicht“ zeigen, kann umkippen in neue Gewalt, wie im Sowjetkommunismus oder im Faschismus und anderen Totalitarismen. So stellt Camus Vorsichtsregeln für die Revolte und die Anwendung von Gewalt auf. Das Schlusskapitel seines Buches „Der Mensch in der Revolte“ endet dann mit dem aktuellen Kampfruf: Sprecher Camus „Das mittelmeerische Denken- Dieser Geist, der dem Leben Maß gibt, ist derjenige, der die lange Überlieferung dessen erfüllt, was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem, seit den Griechen, die Natur stets mit dem Werden in Gleichgewicht stand. Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist. Gemeinde gegen Staat, konkrete Gesellschaft gegen absolutistische Gesellschaft, überlegte Freiheit gegen rationale Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen Kolonisierung der Massen “ ((Textauszug „Das mittelmeerische Denken“ in „Der Mensch in der Revolte“ Übs. Vincent von Wroblewsky, S.390)) Sprecherin Albert Camus wendet sich so gegen die totalisierende „deutsche Ideologie“ von Hegel, Marx und Sartre, die für das Endziel der Geschichte den jetzigen Augenblick opfern. Hegels Staat, Marxens Internationale, Lenins Partei, Sartres „Arbeiter von Boulogne“ haben immer Recht, denn sie besitzen und verkörpern die Idee, die Totalität, die Zukunft. Das Glück gibt es nur im Futur. Camus aber sucht es im Augenblick. Ohne so den aktuellen Zustand der Gesellschaft zu rechtfertigen. Im Gegenteil. Camus kritisiert 1951, dass Sprecher Camus „zweitausend Bankiers und Techniker über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohnern herrschen, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird.“ Sprecherin Das liest sich wie ein aktueller Kommentar zu den Verhältnissen in der „Europäischen Union“, wo der Maßstab für das politische und wirtschaftliche Handeln in Brüssel und Berlin aufgestellt wird, der sich an Effektivität, Rentabilität, Wirtschaftswachstum ausrichtet und an dem ganz Europa gemessen wird. Der Philosoph Michel Onfray erkennt in Camus´ mittelmeerischen Denken von 1951 den aktuellen Gegensatz zum nordischen Denken: O-ton 1´13 Onfray Synchro-Sprecher Onfray „In unserer aktuellen europäischen Konfiguration hätte Camus Lust, etwas mediterrane Sonne in unser Europa zu bringen. Schließlich ist das nicht geschehen. Es gab viel nächtliches Europa in seinem Mittelmeer. Z.B. mit dem Krieg in Algerien. Aber Camus´Projekt bleibt aktuell: Es geht darum mehr Sonnendenken in Europa einzuführen. Ja zum Leben zu sagen. Nein zu denen, die Ja zum Tod sagen. Dem Leben ohne Schuldgefühle zuzustimmen. Er wollte eine libertäre Linke, die Freiheit und Gerechtigkeit gleichermaßen durchsetzen will. Im Namen seines Ideals von Maß hätte er sich für das heutige Europa und für die Welt mehr Gerechtigkeit gewünscht.“ Sprecherin Camus Vorstellung von „Maß“ ist ein Gleichmaß. Er beurteilt die Linken wie die Rechten nach denselben Kriterien. Er engagiert sich konkret für die spanischen Exilanten und Gegner des Franco-Regimes aber auch gegen den Terror des Sowjetregimes, gegen dieses „KZ-Regime“ in Osteuropa. Während Jean-Paul Sartre damals die Gräueltaten des Ostblocks gegen diejenigen des Westens aufrechnet, sich von den Kommunisten Frankreichs einspannen lässt, weil die angeblich einen Draht zu den Arbeitern „von Boulogne“ haben, verurteilt Camus eindeutig den Sowjetkommunismus, insbesondere den sowjetischen Einmarsch in Ungarn von 1956 und die Liquidierung von Aufständischen als „Sozialismus der Galgen“. Camus entwickelt seine Ideen über den engagierten Schriftsteller bei Reden vor spanischen Republikanern und dann ausführlich 1957, als er den Nobelpreis für Literatur erhält. O-ton 22“ camus nobelpreis Sprecher Camus „Die wahren Künstler betrachten nichts mit Verachtung. Sie bemühen sich zu verstehen, nicht zu richten. Und wenn sie in der Welt Stellung zu beziehen haben, so können sie sich nur für eine Gesellschaft entscheiden, in der nach Nietzsches großem Wort nicht mehr der Richter herrschen wird sondern der Schaffende, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller.“ Sprecherin Darin besteht die eigentliche Stärke und Aktualität von Albert Camus. Seine Romane und Essays sprechen und handeln von einfachen Menschen und werden von ihnen verstanden. Er will nicht verurteilen, sondern verstehen und begreifen. Der Algerier Boualem Sansal verteidigt seinen „älteren, französischen Bruder“ O-ton Länge 45“ Camus sansal antitotalitär neu Synchro „Camus misstraute immer den ideologischen Konfrontationen, die zwangsläufig Verkrampfungen und am Ende Gewalt, einen Bruch und Abtrennung hervorrufen. Er war eher für die Ökumene, für die Gemeinde, was man ihm vorwirft. Das Einzige, was ihn abstieß, war der Extremismus in allen seinen Formen. Der ideologische, wirtschaftliche, politische Extremismus. Er akzeptierte bestimmte Seiten des Kolonialismus, die das Zusammenleben der Völker ermöglichen, aber er wies den Extremismus zurück.“ Sprecherin Camus will selbst 1958 die Anwesenheit der Franzosen in Algerien nicht mehr verurteilen. Er sorgt sich um seine Mutter, die in Algier geblieben ist. Er träumt von einem friedlichen Zusammenleben der Kolonisatoren mit den Algeriern, selbst als der Aufstand längst nicht mehr aufzuhalten ist, und sich die Pariser Intellektuellen mit der algerischen Revolution identifizieren. Und der Autor Frantz Fanon in seinem Pamphlet „Die Verdammten dieser Erde“ den Terror verteidigt, vorausgesetzt er richtet sich gegen die Weißen. Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal erkennt im damaligen Terror im Namen der Befreiung den heutigen Terror im Namen Allahs wieder: O-ton Länge 58“ Camus sansal gegen Terrorismus Sprecher Sansal „In den 90er Jahren wurde ich mit dem Krieg konfrontiert wie Camus mit dem Bürgerkrieg konfrontiert wurde. Denn der Befreiungskrieg in Algerien zwischen 1954 und 1962 wurde zwar als Befreiungskrieg deklariert, aber in Wirklichkeit war es ein Bürgerkrieg. Es ist auch dasselbe Volk, das gegen sich selbst kämpft. 30 Jahre später finde ich mich derselben Konfrontation und derselben Fragestellung gegenüber. Ein Bürgerkrieg, der Terrorismus, also das Absurde dieser Situation. Camus denunziert den Terrorismus und den Fanatismus, der dahinter steckt. Denn hinter dem Terrorismus steckt immer der Fanatismus. Bomben gegen Zivilisten in einem Café - so einfach aus politischen Gründen tötet man nicht Menschen. Man braucht wahrlich Fanatismus um so etwas zu tun.“ Sprecherin Camus wird wegen seiner defensiven Haltung im Algerienkrieg, seiner Absage an jede Form des Glaubens und sei es im Namen der Befreiung und trotz des Nobelpreises zum Fremdkörper in Paris. Seine Mittelmeer-Vitalität stört die strengen Existenzialisten und Parteigänger. Er liebt die Frauen, liebt die Musik von Charles Treinet und Edith Piaf. Und er ist ein ausgezeichneter Tänzer. Er will ein freier Mensch bleiben. Und erfährt dann doch das Absurde schlechthin. Der Zufall will es, dass er statt den Zug nach Paris zu nehmen, mit seinem Freund, dem Verleger Michel Gallimard, im Auto mitfährt. Aus dem Wrack des Facel Vega birgt man am 04. Januar 1960 die Leiche von Albert Camus und findet ein Manuskript mit dem Titel „Der erste Mensch“. Es wird erst 34 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Darin beschwört Camus noch einmal seine Kindheit und Jugend in Algier herauf. Wie eine Rückkehr ins Paradies. Er singt eine Hymne auf das Meer und die Kargheit von Algier. Er erinnert an die Freiheit eines Jungen, der in den Straßen streunt, seinen Onkel bei der Arbeit als Böttcher beobachtet, sich in den Windungen der abschüssigen Wege wie in den Wellen des Meeres treiben lässt. „Wenn es mir nicht eines Tages gelingt, „Licht und Schatten“ nochmals zu schreiben, werde ich mein Leben lang nichts erreicht haben“, teilt Camus mit, als man seine Erstlingswerke noch einmal auflegen will. Mit seinem letzten Werk „Der erste Mensch“ kehrt Albert Camus zu seiner Quelle zurück. Er umschreibt unter dem Pseudonym von Jacques Cormery noch einmal sein Leben. Er nimmt die Motive des Frühwerks auf, vollendet es als Testament. Auch wenn oder vielleicht weil das Manuskript nicht verbessert wurde, sondern die Spontaneität seines mediterranen Wesens offenbart. Wir müssen uns Albert Camus mit dieser Hinterlassenschaft als glücklichen Menschen vorstellen. CamusMs (3).docx0 Seite 2 von 15