COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Sprecherin: Auf Punkt und Komma. Schnittmengen von Literatur und Mathematik. Eine Sendung von Marcus Gammel, Charlotte Misselwitz und Viktoria Tkaczyk Musik Sprecher1: Da endlich sah ich das Pendel. Die Kugel, frei schwebend am Ende eines langen metallischen Fadens, der hoch in der Wölbung des Chores befestigt war, beschrieb ihre weiten konstanten Schwingungen mit majestätischer Isochronie. Ich wußte - doch jeder hätte es spüren müssen im Zauber dieses ruhigen Atems -, dass die Periode geregelt wurde durch das Verhältnis der Quadratwurzel aus der Länge des Fadens zu jener Zahl ?, die, irrational für die irdischen Geister, in göttlicher Ratio unweigerlich den Umfang mit dem Durchmesser eines jeden möglichen Kreises verbindet, dergestalt, dass die Zeit dieses Schweifens einer Kugel von einem Pol zum anderen das Ergebnis einer geheimen Verschwörung der zeitlosesten aller Maße war - der Einheit des Aufhängepunktes, der Zweiheit einer abstrakten Dimension, der Dreizahl von ?, des geheimen Vierecks der Wurzel und der Perfektion des Kreises. (Umberto Eco: Das Foucault'sche Pendel. Carl Hanser Verlag. 1989. Übersetzung: Burkhart Kroeber) Sprecher2: Der Beginn von Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel" vermittelt eine der vielleicht elementarsten Schwingungen des menschlichen Geistes: Eine Denkbewegung, die vom Wort zur Zahl führt, von der Logik zur Phantasie, von höchster Abstraktion zu größtmöglicher Konkretion. Das Kreispendel, das diese verschiedenen Pole nach und nach streift, ist nicht von ungefähr an einem einzigen Punkt aufgehängt. Mathematik und Literatur, so scheint es sagen zu wollen, gehen auf ein und denselben Ursprung zurück. Tatsächlich liegen die Anfänge der griechischen Tragödie in erstaunlicher Zeitnähe zu den Anfängen der Geometrie. Beide Disziplinen bedienen sich desselben Zeichensatzes, und selbst die Zahlen wurden bei den Griechen wie später bei den Römern noch mit Buchstaben festgehalten. Weit unmissverständlicher als die Geschichte jedoch offenbart die Sprache selbst, was Literatur und Mathematik von jeher verbindet: Das Zählen und das Erzählen teilen sich nicht nur im Deutschen dieselbe Wortwurzel. To count, conter, contare, das hebräische lispor und lesaper, das russische "tchitat''" und "stchitat" ... Der gemeinsame Nenner von Schreiben und Rechnen hat viele Zungen. Zitat-Collage O-Ton Esterhazy: 1. Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt. 2. Einen Text mit einem martialischen barocken Magnaten zu beginnen: Das ist gut: Da flattern und schmettern einem nur so die Schmetterlinge im Bauch, die Personalcomputer grüßen einen im voraus, und der Koch, denn warum sollte man (aber wer?) keinen Koch haben, kredenzt als Überraschung panierten Lämmerschwanz, was dem Kalbsfuß ähnlich ist, nur noch wohlschmeckender, weil zitternder, fragiler: 3. Mein Vater, ich glaube, mein Vater war es, der mit der Palette unterm Mantel ins Museum ging, sich zurückschlich, um die eigenen Bilder, die schon dort hingen, zu korrigieren, oder zumindest Verbesserungen an ihnen vorzunehmen. 5. Mein Vater war eine der vielseitigsten Persönlichkeiten der ungarischen Geschichte und Kultur des 17. Jahrhunderts. (Esterhazy, Peter: Harmonia Caelestis. Berlin Verlag. 2001. Übersetzung: Tereza Mora) O-Ton Ziegler: This is supposed to have not three but five parts where the first part will be: A path. [schreibt an Tafel] The second part will be: A polytope. The third part, and that's where I started abbreviating, will be: Another polytope. The fourth part is to be: A conjecture it kills. Sprecher2: 1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat, 2. Eine Linie breitenlose Länge. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte. 4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig liegt. 5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat. 6. Die Enden einer Fläche sind Linien. (Euklid: Geometrie. Akademische Verlagsgesellschaft. 1933 Übersetzung: Clemens Thaer) Sprecherin: 1. Die Welt ist alles, was der Fall ist. 2. Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 3. Das logische Bild der Tatsache ist der Gedanke. 4. Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 5. Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. (Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.) 6. Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [ , , N( )]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. 7. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. (Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico- philosophicus. Suhrkamp. 1998) Sprecher1: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. / Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. / Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. / Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis / und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. (Die Bibel. Übersetzung: Martin Luther) Ende der Collage O-Ton Esterhazy1: Ich habe 30 oder 40 Jahre Tee getrunken. Und dann hab ich festgestellt, dass ich Tee nicht besonders mag. Und seit dem trinke ich dann Milchkaffee. Sprecherin: Peter Esterhazy trägt frisch gebrühten Kaffee in das Arbeitszimmer einer Wohnung im Herzen Charlottenburgs. Für zwei Monate ist er Gast des Berliner Literaturfestivals. Bau- und Einrichtungsstil der Wohnung sind dem 58jährigen Ungarn vertraut. Auch in seiner Heimatstadt Budapest bergen Jugendstilgebäude oft praktisch-nüchterne Interieurs. Solche Gegenpole liebt der Schriftsteller. Er selbst stammt aus einer hochadligen Magnatenfamilie, seinen Alltag aber strukturiert er kleinbürgerlich, preußisch ... O-Ton Esterhazy2: Ich arbeite wie ein Bürokrat. Fange, wenn alles gut geht, um neun an. Jetzt in Berlin schlaf ich ein bisschen länger, beginne also um halb zehn. Und dann sitze ich so bis zwei drei. Zu Hause ist es ein bisschen rigider. Hier sind die Tage ein bisschen leichter und lustiger. Sprecherin: Esterhazy steht auf, holt eine dunkle Flasche aus der Ecke und zeigt das Etikett: O-Ton Esterhazy3: Zufälligerweise habe ich gestern einen spanischen Wein gekauft und nicht gesehen, dass da ein Dreieck mit omega-quadrat gleich beta-quadrat plus a-quadrat steht. Sprecherin: Zufällig oder nicht, immer wieder mischt sich die Mathematik ins Leben und Arbeiten des Schriftstellers. Die Absätze von Esterhazys Hauptwerk "Harmonia Caelestis" sind minutiös durchnumeriert, sein jüngstes Theaterstück heißt "Rubens und die nichteuklidischen Weiber". Auch dies ist kein Zufall, denn Peter Esterhazys Weg zum Schriftsteller und Freigeist begann mit einem Mathematikstudium. O-Ton Ziegler1: Kaffeemaschine Sprecherin: Günter Ziegler sitzt im Aufenthaltsraum des Mathematischen Instituts an der Technischen Universität Berlin. In schlichtes Schwarz gekleidet und mit dem kurzen, modischen Haarschnitt wirkt er weit jünger, als sein Amt es vermuten lässt. Eben hat er mit einem Professorenkollegen das neue Logo der Deutschen Mathematikervereinigung besprochen. Als nächstes steht sein Doktorandenkolloquium an. Zwischendurch ist Zeit für einen Kaffee und ein paar Gedanken über Mathematik. O-Ton Ziegler2: Mich reizen Probleme, die andere schon gefragt haben und nicht gekonnt haben. Eine interessante frage ist eine, die auch jemand anderes interessant findet und nicht nur ich. [ ... ] Das hat dann viele spielerische Komponenten, zum Beispiel, dass ich sehr viel an Beispielen lerne. [ ... ] Einige meiner schönsten Arbeiten sind Gegenbeispiele zu Fragen, die andere Leute gestellt haben. Sprecherin: Als Koordinator des Mathematikjahrs 2008 zählt Günter Ziegler nicht zu den Mathematikern, die sich gern im Elfenbeinturm ihrer Theoreme verschanzen. Das Kommunizieren und Interagieren über die Fachgrenzen hinaus ist für ihn täglich Brot - ebenso wie eine möglichst klare, leicht nachvollziehbare Sprache innerhalb der Mathematik selbst. O-Ton Ziegler2: Wobei das auch ein bisschen Stilfrage ist. Ich hab mal ein Interview mit einem Kollegen aus Bonn gelesen, der sagt: Jedes Mal, wenn er ein Beispiel ausgearbeitet hat, hat ihn das in die Irre geführt. Am Dienstag hab ich ein Gespräch mit ihm gehört, wo er sagt, er sei froh, wenn seine Mathematik kompliziert ist, weil die komplizierten Sachen kann er besser als die anderen. Mein Stil ist eigentlich, die Sachen so einfach wie möglich zu machen und in den Griff zu kriegen, so dass am Ende die anderen sagen: Ja klar, das hätte ich auch gekonnt. Da muss man eben als erster das richtige Spiel gespielt haben. Das ist, was mir Spaß macht. Musik Sprecher1: Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der Wahrheit sind; o wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden Fantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens! [ ... ]Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden, uns zum Scherze bald glücklich, bald unglücklich zu machen? [ ... ] Warum sind wir keinen Augenblick unsers Zustandes Meister? Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall die weisesten Entwürfe? (Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Werke in zwölf Bänden. Deutscher Klassiker Verlag. 1986) Sprecher2: Zufall, Ordnung und Spiel - Christoph Martin Wieland hat das Ringen mit diesen drei Grundkonstanten der Literatur in seiner "Geschichte des Agathon" eindrücklich thematisiert. Wenige Jahrzehnte zuvor hatten Mathematiker wie Jakob Bernoulli und Gottfried Wilhelm Leibniz begonnen, die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu entwickeln. Damit sollten diverse Glücksspiele und schließlich sogar die Ökonomie, Politik und Rechtssprechung eine berechenbare Grundlage erhalten. Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl sieht darin eine wesentliche Parallele zu den Poetologien des Spätbarock und der Aufklärung. O-Ton Vogl1: Es gibt im 17. und 18. Jahrhundert in der Romantheorie eine allgemeine Hyperbolik des Zufälligen: Schiffsbrüche, Unfälle, plötzliche Vermögensverluste, Bankrotte, alle diese Dinge. Und der Roman stellte sich die Frage, wie lassen sich Ereignisse, die in ihrer Zufälligkeit sozusagen insulär sind, wie lassen sich die aus der Perspektive des Romans so koordinieren, dass am Schluss eine kohärante, in letzter Konsequenz aus der Sicht der Erzählung vorhersehbare Ordnung entsteht. Sprecher2: Ganz konkret lassen sich solche Fragen laut Joseph Vogl an den zahlreichen Spielerfiguren ablesen, die die Literatur von Lessing bis Dostojweski bevölkern. Sprecher1: Was ein Honnête-homme von mein Extraction kann anders haben für Ressource als das Spiel? Nun hab ik immer gespielen mit Glück, so lang ik hatte nit von nöten der Glück. Nun ik ihr hätte von nöten, Mademoiselle, je joue avec un guignon, qui surpasse toute croyance. Seit funfsehn Tag iß vergangen keine, wo sie mik nit hab gesprenkt. Nok gestern hab sie mik gesprenkt dreimal. [ ... ] Sie haben auk mik heut invitir, mir su geben revanche; mais - Vous m'entendez, Mademoiselle - Man muss erst wiß, wovon leben, ehe man haben kann, wovon su spielen. (Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm) Sprecher2: Der Spieler Riccaut de la Marlinière in Lessings Minna von Barnhelm ist ein parodistisch überzeichneter Draufgänger zwischen Don Juan, Casanova und französischem Akademiemitglied. O-Ton Vogl2: Diese Figur taucht auf und gibt eigentümlicherweise der Minna von Barnhelm, einer Komödienfigur, deutliche Hinweise für mögliches Handeln, für das Bewältigen von Zufällen. Schaut man genau nach, sieht man, dass die Figur ein Vorbild hat, ein Franzose, der in Berlin gelebt hat, verschiedene Traktate über Glücksspiele, über Wahrscheinlichkeit und so fort geschrieben hat. Das heißt, dieser Import oder Export zwischen beiden Gebieten wird tatsächlich ganz konsequent unternommen. Und man darf nicht vergessen, dass die entsprechenden Autoren selbst meist äußerst leidenschaftliche Glücksspieler waren. Lessing war ein Glücksspieler, Leibniz war Glücksspieler, Dostojewski war ein Glücksspieler und so fort - das heißt, die Frage des Spiels, der Chance, des Zufalls, ist ein ganz zentrales Verbindungsglied zwischen elementar mathematischen Versuchen und literarischen Ausgestaltungen. Sprecher2: Grade bei dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz ist das Nebeneinander von logischer Stringenz und spielerischer Offenheit besonders bemerkenswert. In seiner Monadologie und in seinem Gottesbeweis erklärt Leibniz die Kontingenz - die Möglichkeit des Andersseins - zu einer Grundeigenschaft der Welt überhaupt. In seiner Infinitesimalrechnung, der Grundlage von Integral und Ableitung, unterläuft Leibniz die Identität einzelner Kurvenpunkte und verwischt damit die Eindeutigkeit von Wahrheitsaussagen. Erst das 20. Jahrhundert wird eine solche Kontingenz logischer Systeme unumwunden zugeben können. O-Ton Vogl3: Ich glaube, es gibt in der Literatur eine Radikalisierung der Frage der Kontingenz und damit der Frage der vielfältigen Möglichkeiten des erzählbaren Ereignisses. Auf der anderen Seite gibt es in der Fortführung der Wahrscheinlichkeitsrechnung und in der Fortführung der Wahrscheinlichkeitsprobleme eine weitere Korrespondenz die im 19. Jahrhundert zwischen Literatur und Mathematik auftaucht und diese Korrespondenz wird durch das Gesetz der Großen Zahlen und der Statistik gewährleistet. Wenn man einen berühmten Erzähleinstieg nimmt, etwa wie den des Mann ohne Eigenschaften ... Sprecher1: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Es war ein schöner Augusttag des Jahre 1913. (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt. 1997) O-Ton Vogl4: (überlappend) Ein Einstieg der mit dem Satz endet: es war ein wunderbarer Augusttag des Jahres 1913. Dann ist damit ein Programm vorgeführt, in dem die statistische Form von Ereignissen zur Vorraussetzung dafür wird, überhaupt zu erzählen. Sprecher2: Die Hauptfigur in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften ist nichts weniger als ein Produkt der Sozialstatistiken des 19. Jahrhunderts. Ein Durchschnittstyp, dessen minutiös konstruierte Normalität keine Entsprechung in der Wirklichkeit mehr findet. Wie durch Zufall ist dieser Mann Mathematiker. Musik O-Ton Esterhazy1: Ich war nie ein richtiger Mathematiker, hatte nie eine schöpferische Beziehung zur Mathematik. Es war eine praktische Entscheidung, und es zeigte sich, dass es eine gute Entscheidung war. Sprecherin: Obwohl er heute zu den erfolgreichsten Schriftstellern seines Landes zählt, hat Peter Esterhazy alles andere als eine geradlinige Literaturkarriere hinter sich. Durch seine adlige Herkunft stand ihm im sozialistischen Ungarn seinerzeit die Studienwahl nicht offen. O-Ton Esterhazy3: ... und dann hab ich das genossen, dieses Mathematikstudium. Ich war immer ein Kuckucksvogel. Ich gehörte nicht dazu. Hat auch kein Problem gemacht für mich, das zu absolvieren. Es war keine so richtige Entscheidung ob das oder das. Sprecherin/Sprecher2: Das "vielleicht, vielleicht nicht, vielleicht zur hälfte", das zahlreiche Romanfiguren des 20. Jahrhunderts umtreibt, erlebte Peter Esterhazy am eigenen Leib. Während seines Studiums und auch in den darauf folgenden Jahren arbeitete er tags als Mathematiker, nachts als Schriftsteller. In der Logik des herrschenden Systems bildeten diese Denkwelten diametrale Gegensätze, die keinen Zwischenraum zu dulden schienen. In der Realität seines Doppellebens verschwammen jedoch die Eindeutigkeiten und Widersprüche. Dieses Aufweichen von Denksystemen bezeichnet Joseph Vogl als lebenspraktische Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts. Eine Erfahrung, die sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in den sogenannten exakten Wissenschaften niedergeschlagen hat. O-Ton Vogl6: Man könnte sehr viele der Welten Kafkas als Konstruktion von Systemen begreifen, die sich nicht über die Beweisbarkeit oder Widerlegbarkeit genau dieser Welten auszeichnen. Wenn Joseph K beispielsweise bis zum Ende des Romans unfähig ist, ein Urteil über sich entweder zu beweisen oder zu widerlegen, dann formuliert der Roman mit literarischen Mitteln einen Satz wie das Gödel'sche Unvollständigkeitstheorem, das darin besteht, dass es in besonders mächtigen Systemen Sätze gibt, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Sprecher2: Ein halbes Jahrhundert später geht ein "mathematischer" Schriftsteller wie Peter Esterhazy leichtfüßiger mit solchen Widersprüchen um. In seinem Theaterstück "Rubens und die nichteuklidischen Weiber" lässt er kurzerhand Kurt Gödel selbst auftreten. Der erklärt dem flämischen Maler lapidar, dass es ohnehin müßig sei, den Unentscheidbarkeiten des Lebens und Denkens entkommen zu wollen. Sprecher1: Sie meinen/ das Paradoxon sei die Würze des Denkens / eine Merkwürdigkeit/ eine Verlegenheit schaffende Pointe/ Nein/ die Paradoxien gehören tiefer zu uns wenn also die Schöpfung in Ordnung ist/ und der Schöpfer gutwillig/ dann können wir nicht alles wissen/ folglich/ wenn wir alles wissen/dann is nix in Ordnung, nix mit Gutwilligkeit/ dann liegen die Fundamente im Argen/ dann hat die Schöpfung einen Wurm/ (Esterhazy, Peter: Rubens und die nichteuklidischen Weiber. Berliner Taschenbuch Verlag. 2006. Übersetzung: György Buda u. Zsuzsanna Gahse) Sprecher 2: Indem Peter Esterhazy das Gödel'sche Unvollständigkeitstheorem zur Weltanschauung erhebt, macht er die Widersprüche des modernen Lebens zum Programm. In seiner Welt gilt es nicht mehr, einen Satz oder sein Gegenteil letztgültig zu beweisen. Stattdessen avanciert das Paradoxon zum schöpferischen Prinzip. Musik Sprecher1: Und genau bei diesen Worten fingen sie irgendwie zu laufen an. Das seltsamste dabei war, dass sich die Bäume und alles andere um sie her überhaupt nicht vom Fleck rührten: wie schnell sie auch rannten, liefen sie doch anscheinend nie an etwas vorbei. "Ob vielleicht alles mit uns mitläuft?" dachte die arme verwirrte Alice im stillen. Und die Königin erriet anscheinend ihre Gedanken, denn sie rief: "Schneller! Jetzt ist keine Zeit zum Reden!" Sprecher2: Der britische Mathematikprofessor Charles Lutwidge Dodgson, alias Lewis Carroll, zählt zu den unangefochtenen Großmeistern im Wechselspiel von Logik und Absurdität. Seine beiden Romane "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" bestehen aus einer lückenlosen Folge von systematisch konstruierten logischen Widersprüchen. Sprecher1: "Sind wir bald da?" keuchte Alice endlich mit letzter Kraft. "Bald da!" gab die Königin zurück. "Seit zehn Minuten sind wir daran vorbei! Schneller!" Und schweigend rannten sie eine Weile fort, während der Wind Alice in den Ohren pfiff und ihr fast, so meinte sie, das Haar vom Kopfe blies. Sprecher1: "Jetzt! Jetzt!" rief die Königin. "Schneller! Schneller!" und nun sausten sie so schnell dahin, dass sie beinahe nur noch durch die Luft segelten und den Boden kaum mehr berührten, bis sie plötzlich, als Alice schon der Erschöpfung nahe war, innehielten, und im nächsten Moment saß Alice schwindlig und atemlos am Boden. Sprecher1: Die Königin lehnte sie mit dem Rücken gegen einen Baum und sagte gütig: "Jetzt darfst du ein wenig rasten." Voller Überraschung sah sich Alice um. "Aber ich glaube fast, wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben! Es ist ja alles wie vorher!" "Selbstverständlich", sagte die Königin; "was dachtest du denn?" (Carroll, Lewis: Alice im Wunderland. Insel Verlag. 1973. Übersetzung: Christian Enzensberger) Musik läuft aus O-Ton Ziegler3: Komm rein. ... Ich hab angefangen, in den "few interior vertices"-Aufsatz reinzusehen. I would suggest to turn this around a bit ... Sprecherin: Günter Ziegler spricht mit einem seiner Doktoranden über dessen aktuelle Forschungsprobleme. Auf seinem Schreibtisch in der TU Berlin stapeln sich Papiere und Fachzeitschriften. In der Mitte eine Plastikschale mit Stiften und Radiergummis. Aufmerksam folgt Günter Ziegler den Beispielen seines Doktoranden, dann greift er selbst zum Bleistift und schlägt eine neue Struktur für die Studie vor. Das Schreiben - so erklärt er später - ist für ihn ein wesentlicher Teil des mathematischen Denkprozesses. O-Ton Ziegler4: Weil man beim Schreiben und Strukturieren auch merkt, wo die Lücken sind. Der erste Schritt beim Schreiben ist ja das Runterkochen der Fragestellung. Dabei findet man heraus, ob die Antwort, die man geben wollte, die Frage auch richtig beantwortet. [ ... ] Sprecherin: Solche Sätze über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben könnten durchaus auch von einem Literaten stammen. Günter Ziegler allerdings warnt davor, die mathematische Schreibarbeit mit der poetischen zu verwechseln. O-Ton Ziegler5: Eine Sache, die ich versuche, den Doktoranden auszutreiben, ist ein zu literarischer Stil. Die Regel in der Mathematik ist, es wird so einfach wie möglich geschrieben und es wird auf Englisch geschrieben. Die Vorgabe ist eben Hemingway und nicht Faulkner. It's good to be prepared so when the luck comes you're ready. Das ist der Schreibstil der Mathematik. Sprecher2: Wie die Problemstellungen und Ausdrucksmittel der Literatur, so hat sich auch das mathematische Schreiben im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich verändert. 1588 notierte Galileo Galilei seine "Erste Lektion vor der Florentinischen Akademie über die Gestalt, Lage und Größe von Dantes 'Hölle'", eine einzigartige Engführung von Literatur, Mathematik und Vermessungswesen. Sprecher1: Es ist offenbar, dass den 17 1/2 Meilen, die den Halbmesser der Schreckensgräben in ihrer größten Breite bilden, auf der Erdoberfläche 700 Meilen entsprechen; daraus folgt auf Grund des vorangeschickten Lehrsatzes notwendigerweise, dass der Abstand der Erdoberfläche vom Mittelpunkt im Verhältnis zum Abstand der Schreckensgräben von ebendiesem Mittelpunkt, um ebensoviel größer ist wie die Breite der 700 Meilen im Verhältnis zu den 17 1/2 Meilen: die 700 Meilen sind in der Tat vierzigmal so groß wie die 17 1/2 Meilen: der Abstand von der Erdoberfläche zum Mittelpunkt wird also vierzigmal größer sein als der Abstand der Schreckensgräben von ebendiesem Mittelpunkt. Außerdem beträgt der Abstand der Erdoberfläche vom Mittelpunkt, also der Halbmesser der Erde, 3245 5/11 Meilen, deren vierzigster Teil 81 3/22 beträgt: der Abstand der Schreckensgräben vom Mittelpunkt ist also notwendigerweise 81 3/22 Meilen. Was zu beweisen war. (Galileo Galilei: Erste Lektion vor der Florentinischen Akademie über die Gestalt, Lage und Größe von Dantes 'Hölle', Übersetzung: Monika Köster und Christian Wagner) Musik Sprecher2: In diesem Text versucht Galileo Galilei nicht nur mit Zahlen zu bändigen, was bisher allein den Worten der Kirchenväter und Dichter vorbehalten war. Er kleidet seine Berechnungen der Hölle auch gleich wieder in eine wohlgesetzte Sprache. Der Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch sieht darin ein schlagendes Beispiel für die historische Nähe von Mathematik und Literatur. O-Ton Knobloch1: Galileo Galilei hat seine Werke so verfasst, dass sie gleichzeitig als Literatur aufgefasst werden können. Und sein Zeitgenosse Johannes Kepler hat es ähnlich gemacht. Man hat nicht möglichst unverständlich geschrieben, sondern so, dass der andere das gerne las. Also mit anderen Worten: Der Mathematiker ist zugleich Schriftsteller. Was er verfasst, ist zugleich Literatur. Sprecher2: Trotz aller Affinitäten warnt jedoch auch Eberhard Knobloch davor, mathematische und poetische Texte leichtfertig in eins zu setzen. O-Ton Knobloch2: Mathematik ist keine Sprache. Dieses Missverständnis müssen wir gleich ausräumen. Die Mathematik bedient sich einer Sprache, das muss sie auch, um auf kleinem Raum ihre Gedanken einwandfrei unmissverständlich darzulegen. Diese Sprache führt ein Eigenleben. Das ist übrigens auch ein Indikator für eine gut gewählte Symbolik. Musterbeispiele sind die Differenzialsymbole von Herrn Leibniz, die überaus glücklich gewählt waren, so dass sich heute alle Welt dieser Symbolik bedient. Sprecher2: Bei aller Bemühung um Klarheit und Transparenz - mathematische Symbole und Begriffe leisten weit mehr als das bloße Bezeichnen von geometrischen oder algebraischen Phänomenen. Zumindest in den Augen eines Dichters wie Hans Magnus Enzensberger haben mathematische Metaphern ein beneidenswert hohes poetisches Potential: Musik Sprecher1: Die Mathematik kennt Wurzeln, Fasern, Keime, Büschel, Garben, Hüllen, Knoten, Schlingen, Schleifen, Strahlen, Fahnen, Flaggen, Spuren, Kreuzhauben, Ober- und Unterkörper, Nabelpunkte, Böschungslinien, Brückenkanten, Schwalbenschwänze, Filter, wilde Knoten, Zopfgruppen, Tunnelzahlen, Cantor-Staub, Hodge-Diamanten, Stukas, Schmetterlinge und Enten ... [ ... ] Wie Karl Weierstraß, der die Theorie der elliptischen Funktionen neu begründet hat, schon vor mehr als hundert Jahren wußte, 'wird ein Mathematiker, der nicht zugleich ein Stück von einem Poeten ist, niemals ein vollkommener Mathematiker sein. (Enzensberger, Hans Magnus: Die Poesie der Wissenschaft. Ein Postskriptum. In: Die Elixiere der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag. 2004) O-Ton Esterhazy4: Man muss den ganzen Text sozusagen besitzen, und das ist nicht ganz einfach. Aber wenn man schreibt, dann hat man dieses Inbesitznehmen. Nicht etwas Herrschaftliches, oder von oben herab. Auch nicht ich bin der Herr und der Text ist der Untertan. Sondern zu sehen, womit ich zu tun habe. Was ist die Änderung, wenn der erste zum letzten Satz wird. Da kann man mit dem Computer sehr schnell in Versuchung kommen Sprecherin: Esterhazy lehnt das Schreiben am Computer ab. Das verderbe die Struktur in seinem kreativen Prozess. O-Ton Esterhazy5: In einem Heft sehe ich alles in einem, ich sehe ein Wort, das ich rausgestrichen habe, und das Wort, das ich darübergeschrieben habe und so weiter. Und wenn man zum Beispiel mit dem Computer eine Textteil von vorne nach hinten setzt, dann ist es nicht einfach, richtig zu verstehen, was diese Änderung bedeutet. Sprecherin: Auch in einer mathematischen Beweisfolge können die einzelnen Schritte einer Gleichung nicht vertauscht werden. Bei einem Theorem so wie bei einem literarischen Gedanken scheinen die Verbindungselemente nach strengen Regeln geordnet zu sein. Was zählt, ist die Lösung der Aufgabe, die Idee, der gut gezielte Wurf: O-Ton Esterhazy6: Einen Text schreibe ich mindestens zwei Mal. Das heißt, ich hoffe, ich schaffe es beim zweiten Mal, aber das schaffe ich nie. Immer erst beim dritten. Das ist dann schon so viel ... 100 Seiten sind dann 300 Seiten. Jede Zeile denkt man nach. Da will man sich schon nicht mehr Arbeit machen. O-Ton Ziegler6: Let me number the vertices. This is 1, this is 2, 3 and 4, this is five and this is six. Sprecherin: Während Peter Esterhazy seinen Kugelschreiber durch die Finger gleiten lässt, arbeitet Günter Ziegler mit seinem Doktoranden eine neue Skizze aus. O-Ton Ziegler7: Wobei man sagen muss, da ist jeder Mathematiker anders. Es gibt Leute, die machen alles im Kopf. Berühmte Dinge in der Mathematik sind im Gefängnis gemacht worden, ganz ohne zu schreiben. Es gibt Leute, die sehr visuell sind und die das gar nicht brauchen. Ich bin einer, der beim Nachdenken schreibt. Das heißt, bei mir geht das Nachdenken selber mit Bleistift auf Karopapier. Andere Leute sind da anders. O-Ton Ziegler6: So in the beginning, my example consists of 1, 2, 3, 4, 2, 3, 5, 6, 3, 4, 5, 6, 2, 4, 5, 6, and 2, 3, 4, 6. (Doktorand: Yes) Sprecherin: Wo Günter Ziegler im Schreibprozess den Dialog mit Studenten und Kollegen sucht, setzt sich Peter Esterhazy mit Büchern auseinander. Auf seinem Schreibtisch liegt neben dem aufgeschlagenen Heft auch immer einige Werke anderer Autoren. O-Ton Esterhazy8: Ich lese ein Stück von Milan Füst, den Sie nicht kennen. Aber der hat einen sehr guten Roman geschrieben, der auch auf deutsch übersetzt wurde. SCHREIBGERÄUSCHE O-Ton Esterhazy9: Ich brauche diese Papiernähe, alles sehen, diese sinnliche Beziehung ... Feder, Papier und so. O-Ton Ziegler8 Ich habe angefangen mit den Vorarbeiten für den Vortrag übernächste Woche. Da kommt man aus der Vortragsvorbereitung wieder ins Mathemachen rein. Musik Sprecher1: Hans Magnus Enzensberger: (aus) Die Mathematiker Wurzeln, die nirgends wurzeln, Abbildungen für geschlossene Augen, Keime, Büschel, Faltungen, Fasern: Diese weißeste aller Welten Mit ihren Garben, Schnitten und Hüllen Ist euer gelobtes Land. Wortarm stolpert ihr, selbstvergessen, getrieben vom Engel der Abstraktion, über Galois-Felder und Riemann-Flächen, knietief im Cantor-Staub, durch Hausdorffsche Räume. Dann, mit vierzig, sitzt ihr, o Theologen ohne Jehova, haarlos und höhenkrank in verwitterten Anzügen vor dem leeren Schreibtisch, ausgebrannt, o Fibonacci, o Kummer, o Gödel, o Mandelbrot, im Fegefeuer der Rekursion. (Enzensberger, Hans Magnus: Die Mathematiker. In: Die Elixiere der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag. 2004) Sprecher2: Wahrscheinlichkeiten und Mittelwerte, logische Zusammenhänge und Widersprüche, abstrakte Gedanken und konkrete Bezeichnungen - das Pendel zwischen Mathematik und Literatur zieht immer wieder neue Verbindungslinien. Wie das Foucault'sche Pendel in Umberto Ecos Roman durchmisst es dabei den Raum, in dem sich beide Denksysteme abspielen und auf den sie gerichtet sind: die Welt. Sie wird zum Ort ihrer mathematischen und literarischen Problemstellungen. Sie gilt es abzubilden, einzuordnen, festzuschreiben. O-Ton Vogl7: Man könnte am Beispiel verschiedener Figuren feststellen, dass das Problem der Geometrie, das Vermessen des Raumes, ein eminent literarisches Problem ist, das mathematische Anleihen nimmt. Mason and Dickson etwa von Pynchon wäre ein Beispiel dafür, also Hauptfiguren, die Landvermesser sind, und damit natürlich mit elementaren mathematischen Kenntnissen ausgestattet sind. Ein anderes Beispiel ist jener schon genannte K. im Schlossroman, von dem es einmal beiläufig heißt, er sei ein Landvermesser, ein anderes Mal er sei ein Landstreicher. Und man weiß nicht genau, was er eigentlich tut: vermisst er sich, ver-misst er sich, oder ist das ganze eine bloße Vermessenheit? Sprecher1: "Ich habe es ja gesagt", schrie er, "keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner lügnerischer Landstreicher, wahrscheinlich aber ärgeres." Einen Augenblick dachte K., alles [ ... ] würde sich auf ihn stürzen, um wenigstens dem ersten Ansturm auszuweichen verkroch er sich ganz unter die Decke, da - er streckte langsam den Kopf wieder hervor - läutete das Telefon nochmals und wie es K. schien, besonders stark. [ ... ] "Ein Irrtum also? Das ist mir recht unangenehm. Der Bureauchef selbst hat telefoniert? Sonderbar, sonderbar. Wie soll ich es aber jetzt dem Herrn Landvermesser erklären?" (Kafka, Franz: Das Schloß. Anaconda. 2007) Sprecher2: Die literarische Figur, die dem weltlichen Raum mathematische Maße verleiht, ist bei Kafka Beamter und Lügner zugleich. Der Landvermesser ist hier bloßer Titel ohne Inhalt. Dabei birgt der Beruf offizielle Ehren, mathematische Qualifikationen sowie juristische, politische und historische Dimensionen. Professor Knobloch vom Institut für Wissenschaftsgeschichte der Technischen Universität Berlin: O-Ton Knobloch4: Im übrigen hat die Geodäsie eine zutiefst rechtliche Komponente, denn wenn Sie jetzt daran denken, dass der Nachbar a neben dem Nachbarn b ein Grundstück kauft, dann will der sicher sein, dass er nicht zu viel zahlt. Insofern haben Geodäten eine ähnliche Ausbildung wie die Juristen oder Lehrer im höheren Schuldienst. Sie müssen zwei sogenannte große Staatsexamina ablegen und können mit solchen hoheitlichen Aufgaben betraut werden. [ ... ] Ich darf erwähnen, ein Geodät hat bei mir über Geodäsie im dritten Reich promoviert. Das hat eine hochpolitische Komponente. Das zunächst erfolgreich eroberte andere Land galt gegebenenfalls als herrenlos, das heißt in der Nachhut der zunächst siegreichen Wehrmacht waren die Geodäten tätig und vermaßen das Land neu. Sprecher2: Ob im Hitlerdeutschland oder in der langen Geschichte des Kolonialismus - die fatale Verbindung von mathematischen, politischen und juristischen Einflüssen auf das Leben und Sterben realer Menschen scheint der Figur des Landvermessers eingeschrieben. Die Fiktion verleiht dem Geodäten dabei oft noch eine mythologische Komponente: Er geistert durch die Märchen der Brüder Grimm ebenso wie durch Niedersächsische Fabeln aus dem 18. Jahrhundert. Hier treiben falsch verlegte Grenzsteine die Seele eines verstorbenen Landmessers um. Sprecher1: Zwei Bauern aus Kohnsen kamen Nachts zwischen 11 und 12 Uhr vom Bartshäuser Thurme. Als sie am Berge waren, sahen sie oberhalb der Höfe im Felde den Landmesser, wie er mit einer glühenden Meßstange quer über maß; nachdem er da angekommen war, wo die Grenze (wanne) ist, blieb er stehen. Die beiden waren beherzt und gingen gerade auf ihn zu. Als sie bei ihm waren, fragten sie ihn, was er da zu thun habe und was er messe. Der Landmesser antwortete: es stände da ein Grenzstein unrichtig, den er bei seinen Lebzeiten dahin gesetzt habe; nun müsse er dafür in alle Ewigkeit messen, so lange der Stein noch an der unrechten Stelle stände. (Schambach, Georg: Niedersächsische Sagen und Märchen, 1855. Digitale Bibliothek, Band 80: Deutsche Nationalbibliothek) Sprecher2 Wie schon in Galileo Galileis Vermessung der Hölle, geht die literarische Vermessung der Welt meist mit einer Profanisierung des Sakralen einher - und diese wird dem Vermesser nicht selten zum Verhängnis. Auch Mitte des 20. Jahrhunderts finden sich noch Spuren dieser Dialektik: Ironisch gebrochen zwar, aber dennoch ehrfürchtig lehnt Arno Schmidt seinen Vermessungsrat a.D. Stürenburg an die Geistererzählungen des 19. Jahrhunderts an. Sprecher1: "Ergo erschienen aus der alrunischen Dämmerung vier schweigsame Niedersachsen mit Spaten; gruben den TP Nr. 1577 aus, und versetzten ihn drei Meter nach rechts, an den Wegrand: noch heute wird termingemäß das Vorhandensein des Steines gemeldet. - Ich hob versonnen das Samosglas: Öl und Feuer; wo ist die Zeit hin, da wir noch Kontinente verschoben?! Sprecher2: Ganz anders dagegen konstruiert Daniel Kehlmann den Geodäten in seinem Erfolgsroman: "Die Vermessung der Welt". Hier steht die Landvermessung als ungeliebter Broterwerb für den Mathematiker Karl Friedrich Gauß gegen die Vermessungsleidenschaft des Naturforschers Alexander von Humboldt: Musik Sprecher1: Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand. Sprecher2: Gauß hält dieser Humboldt'schen Vermessungslust in Kehlmanns Roman immer wieder die schöpferische Kraft seiner mathematischen Abstraktion entgegen. Sprecher1: Inzwischen verirrte er sich nicht mehr, er kannte diese Gegend besser als irgend jemand sonst, schließlich hatte er all dies auf der Karte fixiert. Manchmal war ihm, als hätte er den Landstrich nicht nur vermessen, sondern erfunden, als wäre er erst durch ihn Wirklichkeit geworden. Wo nur Bäume, Moos, Steine und Graskuppen gewesen waren, spannte sich jetzt ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen. Nichts, was einmal jemand vermessen hatte, war noch oder konnte je sein wie zuvor. (Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Rowohlt 2006) O-Ton Vogl8 Man könnte sagen, das Problem besteht in der Analogie der Welterfassung einerseits und der Frage, wie komme ich in der Welt von einem Ort zum anderen, und auf der anderen Seite in der Literatur: Wie komme ich von einem Satz zum anderen? Und in dieser Konstellation, dass die Fortbewegung innerhalb von Zeichenordnungen und innerhalb der Welt ein zentrales Problem der Welthaltigkeit von Literatur darstellt, in diesem Problem korrespondieren mathematische Probleme und literarische Probleme in einer entscheidenden Weise, und damit auch logische Probleme. [ ... ] Und an dieser Stelle ist der Landvermesser eine Figur, die diese beiden Welten miteinander verknüpft. Ein Landvermesser ist einer, der mit Zeichen auf der einen Seite Welt auf der anderen Seite in Fassung zu bringen versucht. Atmo Motorengeräusch im Auto Sprecherin: Peter Esterhazy im Taxi auf dem Weg nach Berlin Dahlem. Der Fahrer kennt nicht nur die Straßen des Berliner Vororts wie seine Westentasche. Auch die Zieladresse an der Freien Universität weiß er zuzuordnen: "bei den Mathematikern". Peter Esterhazy lacht. Der Taxifahrer, so stellt sich heraus, hat ebenfalls Mathematik studiert. O-Ton Taxifahrer ... war mehr anjewandte Mathematik ... Ich bin während des Studiums Taxi gefahren. Dann 25 Jahre nicht. Und dann hab ich gedacht, jetzt will ich auch noch mal ein bisschen Taxi fahren. So ein zwei Jahre. Das mach ich jetzt gerade. Sprecherin: Während das Taxi seinen Weg durch die langgestreckten Alleen des Berliner Villenviertels sucht, beendet Günter Ziegler im Konrad-Zuse-Institut einen Festvortrag zum 60. Geburtstag seines Lehrers Martin Grötschel. O-Ton Ziegler9: There's a wonderful little book that Wladimir Velminski has edited with these early combinatorial papers by Euler, and so I just wanted to present that to Martin on occasion of his 60th birthday. Atmo Weg von Straße ins Gebäude Sprecherin: Nachdem er Martin Grötschel das Buch zur Geburt der Graphentheorie überreicht hat, eilt Günter Ziegler ein paar Häuser weiter in das Arbeitszimmer seines Kollegen Martin Aigner. Wenige Minuten später verlässt Peter Esterhazy sein Taxi und betritt ebenfalls die Professorenvilla des mathematischen Instituts. O-Ton Gespräch1 Ziegler: Hallo, herzlich willkommen. Günter Ziegler. Esterhazy: Peter Esterhazy. Freut mich. Ziegler: Hallo. Ich spiel einfach mal Hausherr, ohne es zu sein. [ ... ] Bitte sehr. Esterhazy: Ist das nicht der Erdös? Ziegler: Das ist Erdös, ja. Esterhazy. Haben Sie ihn gekannt? Ziegler: Ja. Das ist die Reklame für ein Buch, das Martin Aigner und ich unter anderem hier gemacht haben. Am Anfang mit Erdös und dann eben auch über Erdös. "Das Buch der Beweise" ist dieses Buch, von dem er immer erzählt hat, das der liebe Gott hat, wo die perfekten Beweise in der Mathematik drin sind. Esterhazy: Ah ja. Sprecherin: Ein wenig fremd und gleichzeitig sehr vertraut sitzen sie sich gegenüber, der literaturinteressierte Mathematiker und der mathematisch ausgebildete Schriftsteller. Bald schon stellen sie gemeinsame Bekannte, Interessen, Verbindungslinien, aber auch entscheidende Unterschiede fest. O-Ton Gespräch2: Esterhazy: Viele meiner Mitstudenten waren quasi gut in Literatur. Auch sehr gut in diesen Sprachspielen. Also ich war nie der beste. Also mit diesem Wortpoker, Scrabble, die haben mich immer geschlagen. Ziegler: Ja, das ist der mathematische teil dann, die Kombinatorik von Wörtern und Buchstaben und Lexikon, dass das nicht dasselbe ist wie ein schriftstellerisches Talent, ist mir schon klar Esterhazy: Wie Fußball und Jonglieren, [ ... ] das hat mit Fussball nichts zu tun. So wie gut schreiben, eine gute Feder haben, das hat mit Literatur nichts zu tun. Ziegler: Rechnen können, ist ein Stück weit so was. Esterhazy: Ja? Ziegler: Rechnen, nicht nur das Rechnen mit Zahlen oder Formeln usw. Das muss man können, aber was noch keine Kreativität enthält. [ ... ] Esterhazy: Also dass man eine Vision hat. Und das Mathematik eine Ästhetik hat. Es wird oft gesagt es ist schön oder es ist elegant. Ziegler: Eleganz ist ein Qualitätskriterium für mathematische Beweise und Dinge die man aufschreibt, ohne dass man genau wüsste was das ist. Esterhazy: Aber das ist bei jeder Angelegenheit so. Bleiben wir beim Fußball. Beckenbauer ist elegant, Müller ist nicht elegant, aber gegen Müller etwas zu sagen wäre töricht. Aber was macht diese Eleganz aus? In der Literatur, was heißt das? Ein nicht eleganter Stil kann phantastisch sein oder kräftig, und viel toller als eine leere Eleganz. Da sind wir wieder bei der guten Feder. Sprecherin: Angeregt vom Gespräch beugt sich Günter Ziegler über den kleinen Kaffeetisch des Arbeitszimmers zu Peter Esterhazy hinüber. Der sitzt zurückgelehnt, Arme verschränkt und blickt zur Decke. Esterhazy verbindet die Regeln des Schreibens mit den Gesetzen der Geometrie und noch einmal mit der Gedankenwelt des Fußballs. O-Ton: Esterhazy: Fußball ist ein Feld, und das ist eine Welt für sich. Da gibt es Regeln und Relationen und das, was man damit machen kann. Und auch in der Literatur gibt es nur dieses Viereck, das Viereck des Buchs und außerhalb des Buches gibt es nichts. Es gibt Regeln, aus denen man nicht heraustreten kann. Man kann nicht fragen, was hat der Held am Vormittag gemacht, wenn im Roman nur ein Nachmittag vorkommt. Ziegler: Das ist das Problem einer Versuchsanordnung. Eine Versuchsanordnung kann das Zimmer sein, in dem die drei Personen sitzen oder ein Fußballfeld. Und man kann nicht mehr beliebig eingreifen, wenn die Regeln stehen. Esterhazy: Es ist auch interessant wie die Regeln konstruiert sind. Bei manchen Romanen ist es ein Fehler wenn zum Beispiel die Ernte im Januar ist. Aber man kann einen Roman schreiben, in dem es keine Bedeutung hat, dass diese realen Dinge stimmen. Ziegler: Oder auch um den Landvermesser nochmal aufzunehmen: In dem Kehlmann-Roman über Gauß und Humboldt sind natürlich etliche Fehler drin, die aus dem Missverständnis kommen, dass man das Buch für eine Doppelbiographie hält und nicht merkt, dass es eben doch ein Roman ist. Es gibt dann auch Flüsse in Sibirien, die in dem Kehlmann-Roman anstatt von Norden nach Süden von Süden nach Norden fließen. Da ist dann die Frage: ist das wirklich wichtig? Esterhazy: Angeblich haben das auch die Sowjets erreicht, dass Flüsse in die Gegenrichtung fließen. Ziegler: Wenn man hinreichend machtvoll eingreift in die Wirklichkeit, kann man natürlich auch die Fakten verbiegen. Sprecher1: Eine schlimme Sache. Humboldt seufzte. Eine sehr traurige Geschichte. Aber hier sei nun endlich der Tee - ein Geschenk des Zaren, dessen Finanzminister ihn wiederholt nach Rußland eingeladen habe. Natürlich habe er abgesagt, aus politischen Gründen wie auch, es verstehe sich von selbst, seines Alters wegen. Sprecher2: Im Zentrum von Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" steht eine persönliche Begegnung zwischen Alexander von Humboldt und Karl Friedrich Gauß. Sprecher1: Apropos, er habe gehört, der Herr Professor beschäftige sich jetzt mit Wahrscheinlichkeitsrechnung? Sterbestatistik, sagte Gauß. Er nahm einen Schluck Tee, verzog angewidert das Gesicht und stellte die Tasse so weit von sich, wie er konnte. Man denke, man bestimme das Dasein selbst. [ ... ] Man meine, man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, dass man immer die breiten Pfade genommen habe. Despotie, wenn er das schon höre! Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze. Aber der Verstand, sagte Humboldt, forme die Gesetze! Der alte kantische Unsinn. Gauß schüttelte den Kopf. Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig. Der Raum biege und die Zeit dehne sich. Wer eine Gerade zeichne, immer weiter und weiter, erreiche irgendwann wieder ihren Ausgangspunkt. Er zeigte auf die niedrig im Fenster stehende Sonne. Nicht einmal die Strahlen dieses ausbrennenden Sterns kömen auf geraden Linien herab. Die Welt könne notdürftig berechnet werden, aber das heiße noch lange nicht, dass man irgend etwas verstehe. (Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Rowohlt. 2006) Sprecher2: Die fiktive Diskussion zwischen den beiden großen Vermessungskünstlern des 19. Jahrhunderts berührt eine Kernfrage, die Mathematiker und Literaten gemeinsam oder getrennt immer wieder beschäftigt hat: Wo liegt der Ursprung der Regelwerke, die die Wirklichkeit wie das menschliche Denken zu bestimmen scheinen? Wo ist das Pendel aufgehängt, das auch über der Dahlemer Diskussion zwischen Peter Esterhazy und Günter Ziegler schwingt? Heißt sein Ausgangspunkt Weltbeschreibung, Welterschaffung oder Weltbesitz? Wessen Gesetze vermisst der Landvermesser: Die eines Gottes, der Natur, des Menschen oder die seines vorläufigen Wissens? O-Ton Knobloch: Da sollte man nicht klar ja oder nein sagen. Die Wissenschaftstheoretiker und die Naturwissenschaftler selbst sind vorsichtiger geworden. Sie kennen das Bild von dem Fischernetz, das ausgeworfen wird. Sie fangen ja nur Fische, die größer sind als die Netzbreite, und stellen fest, das Meer hat hier gar keine kleinen Fische. Die haben Sie nicht gefangen, weil die durchs Netz gefallen sind. Durch die Fragestellung finden Sie Gesetze, die zwar nicht von den Menschen gemacht werden, aber so, wie man sie findet und formuliert, steckt ein menschlicher Zusatz mit drin. Sprecher2: Wie weit reicht nun aber der "Zusatz", von dem Eberhard Knobloch spricht? Können mathematische Fragestellungen die Welt verändern? Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl berichtet von historischen Versuchen, selbst die Politik mit mathematischen Mitteln zu kontrollieren. O-Ton Vogl: Tatsächlich haben Größen, Monumente, Stichwortgeber der neuzeitlichen Mathematik wie Leibniz gehofft, die Welt sei mathematisierbar und damit sei die Politik mathematisierbar. Die Hoffnung dieser Mathematik besteht darin, dass es eine Politik geben könnte, die die Welt in Regelmäßigkeiten übersetzt. Deswegen war beispielsweise Leibnitz ein großer Anhänger der Versicherungstechnologie. Deswegen hat Leibnitz gehofft, mit mathematischem Kalkül die Welt regieren zu können. Im Sinne der Einrichtung einer glückseligen Gesellschaft, in der alles nach guten Regeln abläuft. Die beste aller Welten, gewissermaßen. Sprecher2: Dann wäre die beste aller Welten also eine, in der die Mathematik nicht nur beschreibt, berechnet und erfasst, sondern selbst schaffend, also im ursprünglichen Sinne poetisch wird? Das Pendel wäre genau in der Mitte zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zum Stillstand gekommen, Peter Esterhazy und Günter Ziegler sprächen dieselbe Sprache, Wort und Zahl würden zu ihrem gemeinsamen Ursprung zurückkehren. Dieser ohnehin fiktive Stillstand wäre wohl zugleich das Ende der Welt, und es gälte wiederum, aus dieser Apokalypse heraus die Keime des Widerspruchs zu retten. So zumindest beschreibt William Wordsworth die letzte Stunde vor der Sintflut in seinem monumentalen Epos "The Prelude". Kein Geringerer als Arno Schmidt hat die Verse seines britischen Kollegen augenzwinkernd paraphrasiert. Musik Sprecher1: Ganz weiß war die Wüste, und er stapfte hindurch, die Hände düster in die Taschen gestoßen; wußte er doch, dass in Viertelstundenfrist die Großen Wasser am Horizont aufsteigen, und alle Erde samt ihren Völkern vernichten würden - da zuckt man als Mann am besten die Achseln und geht noch ein paar Schritte entgegen. Plötzlich erschien in weitester Ferne ein Punkt; wurde rasch größer - : ein Araber auf einem der windschnellen Reitkamele, der, nicht minder zusammengebissenen Gesichts, dicht neben dem Wanderer und eine Minute hielt. Ja, bestätigte er einsilbig: das sei wahr und unvermeidlich, dass Niemand mehr das Ende der nächsten Stunde erleben werde; nur er reite noch 'im Auftrage', um die beiden kostbarsten Besitztümer der Menschheit an einem sicheren Ort zu vergraben. Befragt, was denn das noch sei, diese beiden kostbarsten Güter, zieht der Araber einen Gegenstand aus den Falten seines Burnus, halb Buch, halb Muschel, und wieder keins von Beiden, und nun wieder Beides-in-Einem; und heißt den verständnislosen Beschauenden, sie ans Ohr zu heben. Da vernimmt Jener Geflüster und Gebrause, süß und eintönig, leichtfertig und erhaben, wie viele Stimmen durcheinander: Windesstimmen, Dichterstimmen, Götterstimmen, Zorn und Gelächter: es ist die Dichtung selbst! Und das zweite? Stumm hält ihm die andere Hand des Reiters ein neues Buch hin; er schlägt es auf, und liest betroffen den Titel "Euklid: Grundlagen der Geometrie"! Das nämlich ist die Mission des geheimnisvollen Reiters, dies als das Wichtigste in Sicherheit zu bringen: Dichtung & Mathematik! Aber schon ziehen sich beider Stirnen nervös und hart zusammen; denn am Horizont hebt sich ein glitzerndes Licht, geschliffen, wie die grausamste Sense. Und steigt höher. Schon drischt der Reiter über sein zitterndes Tier; rast davon - und der Wanderer wendet sich wieder, stößt die Hände in die Taschen, senkt die Stirn tiefer, und stapft weiter, der gleißenden Wasserhölle entgegen. (Schmidt, Arno: Der Dichter und die Mathematik. In: Zettelkasten 10. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts. Jahrbuch der Gesellschaft der Arno- Schmidt-Leser. Bangert und Metzler. 1991)