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Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Jenseits der Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreckten Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen. SPRECHER 1: Uwe Johnsons "Jahrestage" beginnen im Wasser. Die Szene ereignet sich im August 1967, in einem Dorf an der Küste New Jerseys, zwei Eisenbahnstunden südlich von New York. Da treiben die Wellen an den Strand wie überall und wie seit Jahrmillionen, und mit ihnen brandet die Erinnerung an. Wasser ist nicht gleich Wasser und Welle nicht gleich Welle. Wer am Meer steht, gerät leicht in den Sog der Gezeiten: Es war einmal. Der Atlantik fließt über in die Ostsee, die amerikanische Gegenwart kippt weg und wird überschwemmt von Bildern der mecklenburgischen Kindheit. SPRECHER 2: (Uwe Johnson, Jahrestage, S. 8): Abends ist der Strand hart von der Nässe, mit Poren gelöchert, und drückt den Muschelsplitt schärfer gegen die Sohlen. Die auslaufenden Wellen schlagen ihr so hart gegen die Knöchel, dass sie sich oft vertritt. Im Stillstehen holt das Wasser ihr in zwei Anläufen den Grund unter den Füßen hervor, spült sie zu. Nach solchem Regen hat die Ostsee einen gelinden, fast gleichmäßigen Saum ans Land gewischt. Beim Strandlaufen an der Ostsee gab es ein Spiel, bei dem die Kinder dem Vordermann jenen Fuß, der eben nach vorn anheben wollte, mit einem raschen Kantenschlag hinter die Ferse des stehenden Beins hakten, dem Kind das sie war, und der erste Fall war unbegreiflich. Sie geht auf den Leuchtturm zu, dessen wiederkehrender Blitz zunehmende Schnitze aus dem blauen Schatten hackt. Alle paar Schritte versucht sie, sich von den Wellen aus dem Stand schubsen zu lassen, aber sie kann das Gefühl zwischen Stolpern und Aufprall nicht wieder finden. SPRECHER 1: Am Meer schwärmen die Gedanken aus. Vielleicht liegt das daran, dass der Blick hier in die Ferne schweift und keinen festen Halt mehr findet bis zum Horizont. Oder daran, dass die Zeit stillzustehen scheint im unendlichen Lauf der Wellen. SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Herz der Finsternis, S.7 Aus dem Englischen von Elli Berger): Unsere Augen sahen den merkwürdigen Strom nicht in der lebendigen Kraft eines kurzen Tages, der kommt und für immer entschwindet, sondern im verklärenden Licht bleibender Erinnerungen. SPRECHER 1: .... heißt es bei Joseph Conrad, diesem Kenner der Meere und der Seefahrt. Auch bei ihm überlagern sich am Wasser die Zeiten und die Orte. Flussmündungen reizen die abenteuerliche Phantasie. SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Spiegel der See, S.132 Aus dem Englischen von Görge Spervogel) Aber die Mündungen aller großen Ströme haben ihren Zauber: die Anziehungskraft eines offenen Tores. SPRECHER 1: Während Kapitän Marlow den Sonnenuntergang über der Mündung der Themse bewundert, beginnt er schon zu erzählen von seiner Reise über den fernen Kongo-Fluss. Damit vertreibt er der Mannschaft die Zeit des Wartens auf die nächste Ebbe, mit der das Schiff auslaufen kann. Am Meer diktiert die Natur die Abfahrtszeiten. SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Herz der Finsternis, S.7 Aus dem Englischen von Elli Berger): Und wirklich fällt einem Manne, der mit Hochachtung und Liebe dem "Ruf der See" gefolgt ist, nichts leichter, als den großen Geist der Vergangenheit an den Niederungen der Themse heraufzubeschwören. Der Gezeitenstrom kommt und geht in unaufhörlichem Wechsel, beladen mit Erinnerungen an Männer und Schiffe, die er zu heimatlicher Ruhe oder zur Seeschlacht trug. (...) Welche Kraft war nicht von der Ebbe dieses Stromes in das Geheimnis fremder Erde getragen worden! MUSIK: The Doors, The river knows Please believe me The river told me Very softly Want you to hold me, ooo Free fall flow, river flow On and on it goes Breath under water 'till the end Free fall flow, river flow On and on it goes Breath under water 'till the end Yes, the river knows (nach 0:45 langsam ausblenden) SPRECHER 1: Am Wasser setzt das Erzählen ein. Das ist seit allem biblischen Ur-Anfang so, als Gott den Himmel schuf, um Wasser und Wasser voneinander zu scheiden und das Wasser an einem Ort sammelte, "damit das Trockene sichtbar werde". So entstanden Land und Meer, und die Geschichte konnte beginnen. Bald krochen die ersten Lebewesen ans Trockene. Von da an war es nicht mehr weit bis zur großen Sintflut, in der sie wieder zu Grunde gingen. SPRECHER 2: (Siegfried Lenz, Deutschstunde. in: Wasserwelten, S.23) Also hier, wo Hilke und ich unseren Butt peddeten, soll es entstanden sein: Leben und all das; haben Sie so was schon mal gehört? Hier aus dem Watt, aus der schlammgrauen oder tonfarbenen Einöde, die von Prielen durchschnitten, von flachen Tümpeln durchsetzt war, soll sich nach Per Arne Scheßel, dem Schriftsteller und Heimatforscher, der Aufbruch vollzogen haben: wer atmen konnte und all das, erhob sich eines Tages vom Meeresboden, wanderte über den amphibischen Gürtel an den Strand, wusch sich den Schlamm ab, entfachte ein Feuer und kochte Kaffee. Mein Großvater schrieb das, dieser Einsiedlerkrebs. SPRECHER 1: Alles Leben stammt aus dem Wasser. Vielleicht zieht es uns deshalb so hartnäckig dorthin zurück, weil wir selbst Abkömmlinge der Meere sind. Unsere Urahnen sind noch Krebse gewesen. Nicht nur der Küstenbewohner Siegfried Lenz weiß das. SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Spiegel der See, S.133 Aus dem Englischen von Görge Spervogel): Das Wasser ist den Menschen freundlich, SPRECHER 1: sagt Joseph Conrad, der es wissen muss. Denn er war mehr als zehn Jahre auf den Weltmeeren unterwegs. SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Spiegel der See, S.133 Aus dem Englischen von Görge Spervogel): Das Meer, ein Teil der Natur, der in der Unveränderlichkeit und Majestät seiner Macht der Menschheit am fremdesten ist, war den wagemutigen Völkern der Erde immer ein guter Freund. Dem Meer haben sich die Menschen von je her gern anvertraut, als erwarteten sie von ihm einen Lohn, der seiner Unendlichkeit entspricht. SPRECHER 1: Die Dichter wurden schon immer magisch angezogen vom flüssigen Element, und es ist keineswegs nur die Seefahrerliteratur, die vom Untergehen und Auftauchen träumt, von Abschied und Wiederkehr, von Wracks und anderen Geheimnissen der Tiefe. Erzähler überlassen sich gerne dem Rhythmus von Ebbe und Flut. Im Erzählen ist es möglich, den Lauf der Zeit umzudrehen und flussaufwärts zu ziehen wie die Lachse. Auch Durs Grünbein ist so fasziniert von den Möglichkeiten des Wasser, dass er am liebsten eine poetische Expedition zu den "Bars von Atlantis" starten würde. SPRECHER 2: (Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis, 52f) Unter den Zwangsvorstellungen, denen die Dichter aller Zeiten ausgeliefert waren, zählen Meeresphantasien und Tiefseealpträume sicher zu den merkwürdigsten. Man kann nur vermuten, was es ist, das den Dichtergeist hinzieht zu den unbekannten, submarinen Räumen und jenen Lebewesen, die dort unten ihr Schattendasein fristen. Bei vielen waren solche konkreten Halluzinationen diktiert von der eigenen unbestimmten Furcht vorm Ertrinken. Sie gehörten demnach zum großen Komplex der Angstlust, der den Schreibprozess in so vieler Hinsicht beflügelt. SPRECHER 1: Schreiben aus Angst, schreiben aus Lust. Ist das Wasser vielleicht deshalb das Element der Dichter, weil man dort so seltsam körper- und schwerelos agiert? Weil man sich dem Schreiben wie dem Wasser anvertrauen und dabei hoffen muss, dass es einen tragen wird? Ein Schwimmer genießt diese elementare Kraft und weiß, es ist nicht die eigene. So schildert es John von Düffel in seinem Roman "Vom Wasser". Schwimmen lernen bedeutet, die Ambivalenz des Wassers zu begreifen: SPRECHER 2: (John von Düffel, Vom Wasser, S. 15) Es brauchte nur eine Armbewegung, um eine spiegelglatte Oberfläche zu kräuseln und mit auseinanderdriftenden Wasserringen zu überziehen, es brauchte nur ein paar kräftige Züge, und wir schoben kleine Bugwellen vor uns her, die sich hinter uns schlossen wie Umhänge aus Wasser, wie ein unsere kleinen Körper einhüllender Stoff. Es war eine übermütige Ahnung unserer Macht über die Macht des Wassers, doch es war eine Ahnung, die das Wasser selbst uns gewährte, es war eine Gunst des Wassers, seine Großzügigkeit, dass es unsern kleinen Körpern gestattete, Könige zu sein, die spritzend, platschend und prustend über das Wasser herrschten, während unter unsern strampelnden und paddelnden kleinen Füßen der sanfte Strom des Wassers gleichmütig und unaufhaltsam seiner eigenen Richtung folgte. SPRECHER 1: Doch diese gleichmütige Freundlichkeit der Natur kann jederzeit umschlagen in Gefahr. Das Wasser ist nicht zuverlässig. Und vielleicht sind die Bewegungen des Schwimmers nur ein aufgeschobener Untergang. SPRECHER 2: (John von Düffel, Vom Wasser, S. 15) Manchmal verschluckten wir uns und spürten für einen Augenblick die Möglichkeit des Ertrinkens in der Lunge, die Härte und Erbarmungslosigkeit des Wassers, wenn es sich auf den Atem legt und auf einmal nach Blut schmeckt (...). Manchmal trat der Beinschlag eines anderen Schwimmers, der uns zu nahe gekommen war, einen Wirbel los, der wie ein ungesehenes und unfassbares Lebewesen über unsere Haut glitt, uns anstieß wie ein Fisch und sich wedelnd wieder ins Nichts auflöste. Dann packte uns ein kurzer Schrecken über das Unsichtbare selbst in dem klarsten Wasser, über die wimmelnden, schattenhaften Geheimnisse, die jedes Wasser unter seiner Oberfläche verbarg. Ein Begriff von Tiefe tat sich auf, bodenlos wie ein Fjord, der ganze Erdspalten füllt. SPRECHER 1: Ist es vielleicht diese Ahnung der Tiefe unter der Oberfläche, die das Wasser so unwiderstehlich macht? Kann es sein, dass das Schreiben dem Vorgang des Tauchens entspricht? Weil man dabei in unbekanntes Terrain vordringt, wo man eigentlich nicht hingehört, wie Durs Grünbein vermutet? SPRECHER 2: (Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis, 52f) Es brauchte eine Mixtur aus Traumdeutung und Hermeneutik, um herauszufinden, warum gerade Autoren ein so zwiespältiges Verlangen zum Wasser tragen. Unterzugehen in den lichtschwachen Tiefen, bis zum Ersticken Wasser zu schlucken ist schon manchem zur fixen Idee geworden, so dass sich zuletzt erfüllte, was er am meisten gefürchtet hatte. SPRECHER 1: Sich Auflösen und Aufgehen in der Gestaltlosigkeit und alles historische Gepäck ablegen, das so sehr belastet: Regression. So klingt es aus Gottfried Benns betörenden "Gesängen": SPRECHER 2: (Gottfried Benn, Gesänge) O dass wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor. SPRECHER 1: Der Konjunktiv, den Benn benutzt, ist überflüssig. Der Mensch ist ja ein Wasserwesen, das aus "stummen Säften" hervorgleitet. Im Bauch der Mutter, im Furchtwasser, wächst er schwimmend heran, gekrümmt wie ein Seepferdchen, geschützt wie die Muschel in ihrem Gehäuse. Ohne Wasser als Lösungsmittel flösse kein Blut durch die Adern. Selbst die härtesten Knochen enthalten einen Wasseranteil von 22 Prozent. Das Gehirn besteht zu 90 Prozent aus Wasser: Es ist ein vollgesogener Schwamm, der Ansichten und Empfindungen produziert. Gedanken entstehen in einem Feuchtgebiet. Über den Flüssigkeitsgehalt der Seele ist dagegen nur wenig bekannt. In den meisten Vorstellungen, die der Mensch von ihr entwickelte, ist sie jedoch eine fließende, bewegliche, ungreifbare Substanz. Wären unsere Tränen sonst aus Wasser gemacht? SPRECHER 2: (Nietzsche, Das Nachtlied, aus dem "Zarathustra") Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. SPRECHER 1: So spricht Nietzsches Zarathustra, der weniger für Sentimentalitäten bekannt ist, als für Härte und den Willen zur Macht. Doch die Seele ist für ihn "ein springender Brunnen". Goethe verglich sie mit dem Wasser, das vom Himmel fällt und wieder aufsteigt, im ewigen Kreislauf der Natur. In den Vorstellungen der Antike war die Seele flüssig, als bewegtes und bewegendes Element. Nur Heraklit, für den doch "alles fließt" und niemand zweimal in den selben Fluss steigen kann, hielt eine trockene Seele für die beste - vielleicht im Kontrast zur Wässrigkeit der Welt: Panta rhei. MUSIK: Eric Burdon and the Animals: Poem by the sea I took a walk down by the sea And I listened to her strength And I saw how tall I was Realized how small I was And I wonder... Why the world should care for me? (nach 0:40 langsam ausblenden) SPRECHER 1: Durs Grünbein trifft in seiner literarischen Reise in die Tiefen der Meeresgeschichte auch auf Odysseus, der als Gefangener der Nymphe Kalypso auf einer Insel festsitzt und weint. So überliefert es Homer: SPRECHER 2: (Homer, Odyssee, Übersetzung von Johann Heinrich Voß) Weinend saß er am Ufer des Meers. Dort saß er gewöhnlich, Und zerquälte sein Herz mit Weinen und Seufzen und Jammern, Und durchschaute mit Tränen die große Wüste des Meeres. SPRECHER 1: Für Grünbein sind die Tränen des Odysseus ein Urbild der menschlichen Einsamkeit, seiner Geworfenheit ans Land, dem er nicht mehr entkommen kann und seiner Sehnsucht nach Rückkehr. Am Meer erkennt er, wie klein und hilflos er ist. SPRECHER 2: (Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 50) Worauf Homer da hinaus will, ist eine Subtraktion der Flüssigkeiten. Die kleine Feuchtigkeit, der Tränenschleier, wird von der größeren, der Salzflut, umschlossen und interesselos resorbiert, sprich: zurückgeschlürft. Das Meer äußert sich nicht, aber man ahnt, was es sagen würde, könnte es sprechen: Weine nur, Menschlein, es wird dir nichts nützen. Das bisschen Feuchtigkeit, aus dem du bestehst, sauge ich auch noch auf. SPRECHER 1: Der Mensch ist ein Naturwesen, das aus der Natur herausgefallen ist. Deshalb sitzt er an am Ufer und weint. Odysseus, der Abenteurer und Techniker, ist der Prototyp des prometheischen Machers, der versucht, selbstbestimmt über die Meere zu segeln und sein Geschick in der eigenen Hand zu behalten. In ihm, dem Urahn aller Seefahrer und Entdecker, verkörpert sich aber auch die unheilbare Melancholie, die aus der Erkenntnis resultiert, den Elementen ausgeliefert zu sein. SPRECHER 2: (Durs Grünbein, Die Bars von Atlantis, S. 51) Keine List hilft Odysseus gegen die Tatsache, dass der Mensch selber zu einem gewissen Teil aus Wasser besteht, aus einer Ansammlung von Flüssigkeiten, die seinen Leib dem Naturkreislauf ausliefern. Es sind die Körpersäfte, die seine Psyche destabilisieren, den Gefühlshaushalt durcheinanderbringen - Blut, Schweiß und Tränen, wie es in biblischer Bündigkeit heißt. (...) Entscheidend daran ist das Missverhältnis: der Ozean dort, das gesamte Natriumchlorid- Reservoir der Erde, und hier die paar Spritzer Salz in den Augenwinkeln eines einzelnen trauernden Menschen. SPRECHER 1: Aber das ist nur ein Grund für die Trauer des Odysseus. Melancholie gehört zur Standardausrüstung aller Seefahrer. Wer aufbricht in die Ferne, wird zuverlässig begleitet vom Heimweh, vom Trennungsschmerz und vom unvermeidlichen Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Für den Seefahrer Joseph Conrad wurde das Meer selbst zur "großen Leidenschaft", zur "wankelmütigen Geliebten". SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Spiegel der See, S. 200 (Aus dem Englischen von Görge Spervogel) Meine Liebe war blind, wie junge Liebe es oft ist, aber verzehrend und selbstlos, wie alle wahre Liebe sein muss. Ich verlangte nichts von ihr, nicht einmal Abenteuer. SPRECHER 1: Und dann ist da ja immer noch die Liebste, die zu Hause wartet - oder auch nicht. Das Meer ist die Weite schlechthin, die Entfernung, der Abstand, die Fremdheit. Es trennt die Liebenden, deren Blick vergeblich das Wasser bis zum Horizont absucht. Es ist wie im Märchen von den Königskindern, die nicht zueinander kommen können. Denn "das Wasser ist viel zu tief." MUSIK: Element of Crime: The Storms are on the ocean I'm going away to leave you love I'm going away for a while But I'll return to you sometime If I go ten thousand miles The storms are on the ocean The heavens may cease to be This world may lose it's motion love If I prove false to thee (nach 0:55 ausblenden) SPRECHER 1: Es gibt kein eindrücklicheres Bild der Verlorenheit als das des Schwimmers, von dem James Hamilton-Paterson erzählt. Dieser Mann treibt verloren im Ozean. Das Boot, mit dem er hinausfuhr, hat er aus den Augen verloren. Das Seil, mit dem er sich während seines Tauchganges daran sicherte, hat sich gelöst und hängt nun wie eine lockere Nabelschnur unter ihm in die Tiefe hinab. Orientierungslos schwimmt er im Kreis, und wenn kein Wunder geschieht, oder sein Boot plötzlich wieder vor ihm auftaucht, ist sein Untergang gewiss. MUSIK: Element of Crime: The Storms are on the ocean The storms are on the ocean The heavens may cease to be This world may lose it's motion love If I prove false to thee SPRECHER 1: Das Wasser bezeichnet die Grenze, die wir nicht überschreiten können. Es zieht uns dorthin, aber wir trauen uns nicht hinein. Tauchern, ausgerüstet mit modernster Technik, mag es gelingen, sich für kurze Zeitintervalle unter der Wasseroberfläche aufzuhalten. Doch sie sind dort nur zu Gast, Fremdlinge mit künstlichen Flossen. Der Hobbytaucher Durs Grünbein hat auch diese Erfahrung formuliert: O-TON Durs Grünbein: Vom Tauchen (in: Die Bars von Atlantis, 27f) [29:45 - 30:03]: Jeder, der einmal länger die Verbindung zur vertrauten Sauerstoffsphäre abreißen ließ, weiß, wie ausgeliefert man sich bald fühlt. Bei allem technischen Komfort, es bleibt doch der Übergang in ein anderes Element, ein Sprung zurück auf eine frühere Evolutionsstufe, der etwas Beängstigendes hat. (...) [30:18 - 30:45]: Der Mensch gehört dort nicht hin, und das spürt er mit jeder Muskelfaser. Ich werde nie erfahren, wie es ist, die Schwerkraft zu überwinden, indem man sich weit genug von der Erde entfernt. Aber ich weiß jetzt, was es heißt, ohne Kiemen und Schwimmblase eine Zeitlang in zwanzig Meter Meerestiefe auszuharren, an Orten, die so illustre Namen tragen wir Shark Bank, Piratenbucht, Gorgonen-Riff oder Thousand Steps. SPRECHER 1: Wer sich ohne Kiemen oder technisches Equipment in das fremde Element vorwagt, sollte wissen, wie er dort überleben kann. So wie der Unterwasserkünstler, von dem Alexander Kluge berichtet. Er macht sich die Grenzregion zunutze, wo Flüssiges und Festes aufeinandertreffen und überlebt an diesem kaum erkennbaren Rand: O-TON Alexander Kluge: Der Unterwasserkünstler (in: Die Kunst, Unterschiede zu machen, S. 105) (Hörbuch: Chronik der Gefühle) [52:54] An Händen und Füßen gefesselt, ist er von der Belle- Island-Brücke in den vereisten Detroit River gesprungen. Das für ihn in das Eis gehackte Loch traf er. Die Strömung aber trieb ihn vom Loch weg unter die Eisdecke. Dank eines minimalen Raums zwischen Eisdecke und Wasseroberfläche hat er Atem geschöpft. Die Grenze zwischen den Aggregatzuständen Wasser und Eis ist nie genau. So waren die Flusswächter überrascht, als er Kilometer flussabwärts von unten an die dort dünne Eisoberfläche klopfte. Wie ein Geist war er unter der blanken Eisplatte zu sehen, die Nase eng an die Unterfläche der Eisdecke gepresst, um sich die wenigen Deziliter Sauerstoff zu sichern, die es an der Nahtstelle gibt. Man kann jeden beliebigen Punkt der Erde, auch die lebensunfreundlichen, ansteuern, sagte der Künstler nach seiner Rettung, indem man von seiner eigenen Mitte aus eine Spirale zieht.[54:04] MUSIK: The Doors, The river knows Please believe me The river told me Very softly Want you to hold me, ooo (langsam ausblenden) SPRECHER 1: Am Wasser zu leben ist niemals ganz ungefährlich. Küsten und Ufer sind Grenzgebiete in jeder Hinsicht. Die Flüsse Styx, Acheron und Lethe führen in die Unterwelt der Toten hinab, beschreiben also die äußerste, letzte Grenze. Der Fährmann Charon setzt die Seelen der Toten dort ans andere Ufer über. Wer vom Wasser des Flusses Lethe trinkt, hat alles vergessen, was er bis dahin erlebte. Erinnerungslos tritt er in ein neues Dasein ein. MUSIK: The Doors, The river knows Please believe me The river told me Very softly Want you to hold me, ooo Free fall flow, river flow On and on it goes Breath under water 'till the end Free fall flow, river flow On and on it goes Breath under water 'till the end Yes, the river knows (nach 0:45 ausblenden) SPRECHER 1: In der Welt der Lebenden markieren Flüsse und Seen allenfalls Staatsgrenzen. Doch auch die können unüberwindlich sein. Dahinter wird eine andere Sprache gesprochen. Dahinter leben die Anderen, die Barbaren, der Feind. Die Spree in Berlin zur Zeit der Mauer war ein schier unüberwindlicher Fluss, in dem einige, die auf die andere Seite fliehen wollten, umgekommen sind - erschossen oder ertrunken. Gewässer bilden häufig die Ränder der Gesellschaft. Die Erzählung "Der See" von Terézia Mora spielt in so einer Region, in der unschwer die befestigte Grenze zwischen Ungarn und Österreich zur Zeit des Kalten Krieges erkennbar ist. Flüchtlinge tauchen da auf, die alles dafür geben würden, um hinüber zu gelangen. Aber die literarische Landschaft ist vom konkreten historischen Untergrund unabhängig. Sie wirkt wie eine archaische Urlandschaft am Rand der Zeiten und am Ende der Welt. Eine Familie, die vom Fischfang lebt, wohnt dort in einer Hütte im Schilfgürtel, direkt am Ufer des Sees. SPRECHERIN: (Terézia Mora, Der See. in: Seltsame Materie, S. 60f) Auf den Wind folgt der Regen. Das schwere Wasser unter den Latten schwillt innerhalb von Minuten bis zum Hüttenboden herauf, reißt die Boote mit den Garben und den Schnittern los. Wir sitzen zitternd in der Hütte und lauschen. Das ungeduldige Klopfen hochgeschleuderter Schildkrötenpanzer an der Unterseite des Stegs. Dann ist alles ebenso schnell vorbei. Die Windwelle zieht ab und mit ihr das Wasser. Der Schlamm kommt wieder hoch, eine löchrige, sonnentrockene Kruste, warm, scharf, lebendig. Man könnte hinüberwaten. Das ist hier so, so ist die Gegend, sagt Vater, auf nichts kann man sich verlassen: Jahrelang nur Regen und dann ewig die Sonne, bis alles verdampft. Die Bauern ziehen auf den bloßen Seegrund und fangen an, Parzellen in den Schlamm zu ziehen. Sie pflügen die Skelette der Fische unter, gut gedüngt, die Ochsen bis zum Knie im Morast, bauen Feldbegrenzungen aus den Panzern toter Schildkröten und Muscheln. Und dann warten sie auf den Regen, der nicht kommt. Und als er schließlich kommt, kommt er nicht von oben, worauf man sich verlässt. Er kommt von unten wieder. Das Wasser kommt wieder und saugt alles zurück: die Schlammparzellen, die unaufgegangenen Samen, die Panzer und die Skelette. Der Sumpf nimmt das Dorf wieder ein, sein Schlammgeruch, seine Aale kriechen bis in die Gärten, und neben den feuchten Schlafzimmern treibt Schilf aus der Wand. SPRECHER 1: Fruchtbarkeit und Vergänglichkeit kreuzen sich hier bei Terézia Mora in einem einzigen Bild. Das Tote ist der Dünger für neues Leben, das aber auch bald wieder im Schlamm versinkt. Ein Fachmann für die Betrachtung dieses Kreislaufs ist Ernst Jünger, der mit dem Tod zeitlebens ein durchaus freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Als Student der Zoologie hospitierte er 1925 im Aquarium in Neapel und hatte dort auch Zeit für ausgedehnte Strandspaziergänge. Davon berichtete er in der ersten Fassung von "Das abenteuerliche Herz" - einer Sammlung von Prosatexten, die als "Aufzeichnungen bei Tag und bei Nacht" an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, Reflexion und Innenschau angesiedelt sind. Jüngers Begegnung mit dem Meer ist geradezu eine Orgie des Sterbens. SPRECHER 2: (Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz, 1. Fassung, in: Werke IX, 108f) Zeiten des Überganges erfüllen den Lebensraum mit einem starken und anregenden Parfüm, das Fäulnis und Fruchtbarkeit zu einer seltsamen Einheit mischt. Dieser Geruch ist dem des Seetangs verwandt, den das Meer in lichtgrünen Gespinsten, in schwarzen Büscheln und glasbraunen Trauben über die Strandlinie wirft als Bett, auf das es die bunten Opfer seines Überflusses streut. Vieles geht dort dahin, und der Wanderer sieht seinen Weg von Verwesung gesäumt. Er sieht die weißen, zarten Leiber der Fische von der Zersetzung gebläht, den Seestern von den Spitzen seiner leuchtenden Zacken her zu missfarbigem Leder verdorren, den geschwungenen Rand der Muschel klaffend aufspringen, um den Tod zu empfangen, und die Quallen, diese treibenden Prunkaugen des Ozeans mit ihrer goldflimmernden Iris, so gänzlich dahinschwinden, dass kaum ein trockenes Schaumhäutchen von ihnen bleibt. Dennoch wird all dieses ständig von den spitzen, salzigen Raubtierzungen des Meeres beleckt, die nach dem Blutstoff zu spüren scheinen, um ihn wieder einzuschlürfen. Dieses Tote ist den Quellen des Lebens verbunden, und daher ist sein Geruch dem männlichen Geschmack vertraut. Es ist nicht der Aashauch der reinen Verwesung, der schwül und drohend über den Schlachtfeldern lagert, die der Krieger verlassen hat. ..... Dies ist die krause Witterung des Fleisches, mit den beiden großen Symbolen des Todes und der Zeugung belehnt und daher wohl würdig, den Grenzgang zu würzen zwischen Festland und Meer. SPRECHER 1: Nicht jedem, der am Golf von Neapel das Meer besucht, würden dort wie Ernst Jünger die Schlachtfelder des letzten Krieges einfallen. Goethe fand die Gegend 140 Jahre vor Jünger so schön, dass für ihn "Neapel sehen und sterben" eins gewesen ist. Jünger aber schleppte das Trauma der Schützengräben mit sich herum, und versuchte, dem Krieg wenigstens im Nachhinein noch einen Sinn zu verleihen. Das Meer diente ihm als Metapher. So wie hier das Leben entsteht und vergeht und die Wellen teilnahmslos darüber hinwegrollen, so soll es auch in den Angriffswellen der Völkerschlachten gewesen sein. MUSIK: Neil Young: I'm The Ocean (Intro, dann die dritte Strophe ab 1:45 anfügen) I can't hear you, but I feel the things you say I can't see you, but I see what's in my way Now I'm floatin', 'cause I'm not tied to the ground Words I've spoken, seem to leave a hollow sound On the long plain, see the rider in the night See the chieftain, see the braves in cool moonlight Who will love them, when they take another life Who will hold them, When they tremble for the knife SPRECHER 1: Wasser ist im kriegerischen Blick Ernst Jüngers gleichbedeutend mit Leben und also manifeste Gewalt - ganz anders als 50 Jahre später in der Friedensbewegung, in der die Parole galt: "Das weiche Wasser bricht den Stein". "Zersetzung" und "Vernichtung" sind Begriffe, die für Jünger nichts Negatives haben, weil aus ihnen etwas Neues entsteht. Deshalb begrüßt er auch den Krieg. Das ist ein Denken in Wellen, das ein wenig dem des Till Eulenspiegel gleicht, der immer weinte, wenn es bergab ging, weil er da schon daran dachte, dass es demnächst wieder bergauf gehen müsste. Dann aber, wenn seine Begleiter an der Steigung ächzten, lachte er in Vorfreude. SPRECHER 2: (Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz, 1. Fassung. in: Werke IX, 109) So ist, was durch die Kraft einer Zeit über die Strandlinie der Erscheinung gehoben wird, dem Untergange geweiht. Der Punkt, an dem die Welle zurückströmt, offenbart die stärkste Prägung der lebendigen Form. Schon sind die feinsten Züge der Bildung sichtbar und so in sich geschlossen, dass jeder weitere Strich zuviel sein würde, und doch ist das Ganze noch eingehüllt in den flüssigen Schimmer des lebendigen Elements. Doch die Anziehung der Tiefe saugt das Leben von seinen Ausschweifungen zurück; und hier, nicht anschließend an ein Ende, sondern unmittelbar an einen Höhepunkt, beginnt das Künftige. SPRECHER 1: Jünger liefert eine Metaphysik des Meeres, wie er auch für die Metaphysik des Krieges zuständig war. Das Individuelle, der Tod des Einzelnen, spielt dabei keine Rolle. Wenn das Meer zur Metapher für Geschichte wird, gibt es kein Erbarmen. Natur ereignet sich, sie hat kein anderes Ziel, als da zu sein, neues Leben hervorzubringen und das Tote wieder in sich aufzunehmen. MUSIK: Neil Young: I'm The Ocean (Intro, dann die letzte Strophe ab 5:20 anfügen) I'm not present, I'm a drug that makes you dream I'm an aerostar, I'm a cutlass supreme In the wrong lane, trying to turn against the flow I'm the ocean, I'm the giant undertow I'm the ocean, I'm the ocean I'm the giant undertow I'm the ocean, I'm the giant undertow I'm the ocean, I'm the ocean I'm the ocean, I'm the ocean I'm the ocean, I'm the ocean SPRECHER 2: (Martin Walser, Jagd, S.7) Gottlieb Zürn träumte, er liege in einer Wiege und diese Wiege stehe mitten im Rheinfall und über die Wiege beuge sich eine Frau und die Frau singe, aber man hörte sie nicht, das Getöse des herabstürzenden Wassers war zu laut. Gottlieb Zürn erwachte. Er hörte immer noch Wasser; nicht mehr als Getöse, aber als Platschen und Klatschen, als machten Elefanten drunten am Ufer eine Wasserschlacht. Es war kurz nach vier, am dritten Juni. Ein solches Wasserschlachtgeräusch hatte er noch nie gehört. Er kam leichter aus dem Bett als sonst. Anna war noch ganz ins Bettzeug verschlungen. Also leise hinaus und hinunter. Der Garten feierte den Junimorgen. SPRECHER 1: Wasser ist immer beides: Leben und Tod, Erinnern und Vergessen, Oberfläche und Tiefe, Klarheit und Undurchsichtigkeit, Verlockung und Gefahr, Liebe und Kampf, und es ist mal weiblich, mal männlich. Der furchteinflößende Poseidon, der griechische Gott der Meere, stand als Gebieter der Stürme für die Urgewalten der Elemente Wind und Wasser, und für den Schutz der Seefahrer. Doch auch Aphrodite, die Schaumgeborene, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Schönheit und Urbild des Weiblichen, entstammt dem Schaum des Meeres und wurde der Legende nach in einer Muschel geboren. Der Anfang des Romans "Jagd" von Martin Walser führt all diese Elemente zusammen. Seine Romanfigur Gottlieb Zürn, wie er selbst ein Bewohner des Bodenseeufers, folgt der lockenden Traumstimme einer singenden Frau hinunter zum Wasser, um den seltsamen Geräuschen nachzugehen, die ihn geweckt haben. SPRECHER 2: (Martin Walser, Jagd, S.7f) Der im Juni fast bis zum Wegrand volle See wimmelte von durcheinanderschwimmenden, immer wieder jäh die Wasseroberfläche durchbrechenden und auf das Wasser mit Schwanzflossen einschlagenden Fischen. Und zwar nur hier, nur vor Gottliebs Haus und Grund. Brachsen waren das. Allmählich begriff er, dass hier Fortpflanzung betrieben wurde. SPRECHER 1: Es ist eine Wasserschlacht, eine Ekstase der Natur. Der Verschmelzungsrausch, den Gottlieb Zürn beobachtet, erregt auch ihn selbst als den zufälligen Zeugen am Ufer. Er will Teil dieses Spektakels sein und das, was er sieht, ganz in sich aufnehmen. SPRECHER 2: (Martin Walser, Jagd, S.8) Gottlieb schlüpfte, fast ohne es zu wollen, aus seinem Schlafanzug. Kleider waren doch nichts als eine Beeinträchtigung. Sobald er nackt war, bildete er sich ein, jetzt sehe er besser. Er verstand besser, was er sah und hörte. Die Fische predigten ihm. Er konnte nicht genug kriegen von dieser schäumenden, rauschenden, klatschenden und dann gleich wieder vollkommen lautlos dahinfließenden, sich in nichts als Glanz und Gleiten auflösenden Bewegungspredigt. Gottlieb empfand seine eigene Nacktheit großartig. Ein Wohlsein, das er noch nie empfunden hatte. SPRECHER 1: Die erotische Kraft des Wasser ist hier ganz unmittelbar zu spüren. Wasser ist pure Erotik, und deshalb ist es in der Mythologie zumeist eben doch weiblich besetzt. Es ist aber eine erotische Kraft, die zugleich Angst macht. Denn jedes Sich-treiben-lassen ist vom Untergang bedroht. Aphrodite ist ohne den sturmgewaltigen Poseidon nicht zu haben. In der Geschichte von Terézia Mora erzählt die Tochter der Familie aus der Hütte am See. Sie ist eine aschenputtelhafte Gestalt und hat, fast wie im Märchen, acht Brüder, von denen sie als "Idiotin" behandelt wird. Der älteste Bruder ist der schönste. Mit ihm verbindet sie ein Verhältnis, das zwischen Abhängigkeit, Zuneigung, Zudringlichkeit und Gewalt changiert. All das wird nur angedeutet und kommt allenfalls in einer Szene zum Ausdruck, in der Traum und äußeres Erleben ineinander verschwimmen. SPRECHERIN: (Terézia Mora, Der See. in: Seltsame Materie, S. 64f) Stumm liege ich in den Armen meines schönen Bruders. (...) Höre, wie Wasser von mir herab auf die Dielen tropft. Höre den Seemann, der meinem schönen Bruder zuflüstert: Das war schon ganz nah. Junges, dünnes Schilf. Legt sich unters Boot, als wäre es nichts. Ich öffne die Augen nicht. Ich öffne sie nicht. Ich gleite durch junges Schilf. Ich bin leicht wie ein Kind, mein Körper ist ein Boot. Die schwachen Halme legen sich unter mich, schneiden mich, streicheln mich. Langsam, scharf sickert das Wasser von unten durch. Bald ist es geschafft. Ich lasse mich ins Untrinkbare gleiten. Es soll mich hinübertragen bis morgen früh. Als ich die Augen öffne, ist es schon Morgen, aber da ist immer noch kein Land. Ich treibe im offenen Wasser. Es ist kalt. Die Sonne, hellweiß, dampft um mich herum. Und auf einmal weiß ich, mein Schlaf hat mich getäuscht: dieses Dahintreiben unter dieser hellen Sonne ist der Tod. Ich liege auf dem Rücken, bewege meine eiskalten Finger, das Wasser des Sees, das glatt unter mir liegt, ein graues Laken, und ich flüstere: Ich bin tot. Über mir die Dachbalken, ich sehe, ich liege auf unserem Dachboden, auf den Brettern, quer über die buckeligen Rücken der Bögen gelegt, Schulter an Schulter mit meinen Brüdern. Ich sehe es, aber ich weiß es nicht. Ich weiß um die anderen nicht. Ich bin tot, flüstere ich. SPRECHER 1: Der Fraukörper, der im Wasser treibt, das ist Ophelia, die in so vielen Szenen der Weltliteratur auftritt oder vielmehr den Bach hinuntertreibt, von Shakespeare bis Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Ophelia beweist die Nachbarschaft von Eros und Tod und ist zugleich der Beweis für die Angst des Mannes vor der Frau, die eben nur als Tote gefahrlos begehrt werden kann. Und wenn sie nicht selbst als Leiche im Wasser treibt, dann ist sie die große Verführerin, die keine Skrupel hat, den Mann ertrinken zu lassen. So geschieht es in Karen Duves "Regenroman", einem Buch, das in einer bedrohlichen Atmosphäre von Dauerregen, Feuchtigkeit und Schimmel angesiedelt ist. SPRECHERIN: (Karen Duve, Regenroman, S. 296f) Er stolperte weiter, bis es zu dämmern begann und er in die Nähe eines Teiches gelangte, über dessen verkrautetes, schwarzes Altwasser sich kahle Bäume und Büsche neigten. Der Teich war ein Moorsee, eines jener Gewässer, die ihr Sterben bereits in sich tragen. SPRECHER 1: Was sich am Rand des Moores ereignet, ist ein Vernichtungsfeldzug der Natur gegen den Schriftsteller Leon, der in der abgelegenen Landschaft doch eigentlich nur schreiben wollte. SPRECHERIN: (Karen Duve, Regenroman, S. 296f) Ein einzelner Regentropfen aus dem ewigen Kreislauf des Wassers fiel auf Leons Kopf und war genauso kalt und nass wie vor hundert Millionen Jahren, als er auf den Kopf eines Iguanodons gefallen war. Der Uferstreifen gab bei jedem Schritt nach. Schlamm quoll zwischen Leons Zehen hindurch, und seine Fußabdrücke füllten sich mit Wasser. Er ließ sich auf alle viere nieder, tauchte seine Hände in ein Morastloch und beschmierte sein Gesicht. Er grunzte glücklich. SPRECHER 1: Das Schlussbild von Duves "Regenroman" ist ein grandioser Untergang. Als eine Vision im Regen erscheint Leon das Bild der Frau, die auf der anderen Seite des Moores wohnt und die ihn mit ihrem schneckenhaften, feuchten und weichen Körper im Lauf des Romans zwei Mal mehr oder weniger vergewaltigt hat. Begierde und Entsetzen sind eins. SPRECHERIN: (Karen Duve, Regenroman, S. 296f) Sie lächelte und spielte mit einer Hand an ihrem Busen. Ihre langen, schwarzen Haare waren aufs innigste mit den Zweigen der Bäume verflochten. Voller Sehnsucht streckte Leon seine Arme nach ihr aus. Noch einen Schritt tat er und noch einen. Er verlor den Grund unter den Füßen. Seine Hände griffen in feuchtwarmen Morast, glucksend schloss sich das Moor über seinem Schädel. Leon versank in eine Welt voller Dunkelheit und schwellender Weichheit. Er schmiegte sein Gesicht in die verrottenden Pflanzenfasern. Sie kamen ihm warm vor. Er wühlte sich mit Kopf und Händen hinein. Schlamm drang in seinen Mund und seine Nase, Schlamm füllte seine Gehörgänge und jede Falte seines Körpers. Leon schmatzte und schluckte, füllte seinen Magen mit Schlamm und Dunkelheit. Wie gut es war, Moder unter Moder zu sein. Leon sank zurück in den Schoß seiner wahren Mutter. Irgendwann war er geboren worden, und jetzt starb er, und was sich dazwischen ereignet hatte, machte, wenn man es streng betrachtete, nicht viel Sinn. Seufzend ergab er sich in die feuchte Umarmung. Sofort brach der Morast mit grellem Schmerz in seine Lungen ein. Leon rang nach Luft und fraß bloß Sumpf. Nun war das Moor nicht mehr warm und sanft; es eroberte brutal seinen Brustraum, durchsickerte seine Bronchien, vermischte sich mit dem Wasser, aus dem er selbst bestand, und füllte ihn wie ein verschlickendes Schiffswrack. MUSIK: Bob Dylan / Ralph Stanley: The lonesome river I sit here alone, oh the banks of the river The lonesome wind blows, the water rolls high I can hear a voice call out there in the darkness And I sit here alone too lonesome to cry Oh the water rolls high on the river at midnight I sit on the shore to weep and to cry The woman I love she left me this morning With no one to love or kiss me good night (nach 1:15 ausblenden) SPRECHER 1: Jeder Untergang gleicht einer Reisen ins eigene Unbewusste, in Tiefenregionen denen wir letzten Endes sowieso nicht entkommen können - mit all ihren verborgenen Schätzen und Wracks und überraschenden Lebensformen. Die großen Mythen der Menschheit sind - von der Sintflut über Atlantis bis zur Titanic - Untergangs- und Vernichtungsphantasien. Auch Odysseus wird in der Version Dantes zu einem Untergeher, wenn er - ein früher Vorgänger des Columbus - über den Rand der Erdscheibe segelt und hinunterfällt. Und über ihm schließt sich das Wasser, so dass keine Spur von ihm bleibt. Dagegen aber steht eine andere Bewegung, die der Poesie. Dichten heißt Auftauchen, Vorstoßen zu neuen Ufern, Bekanntschaft machen mit dem Unbekannten, sagt der Taucher und Atlantis-Barbesucher Durs Grünbein. Sprache ist so etwas wie die Verflüssigung des trockenen Stoffes. Damit wir den überhaupt konsumieren können, muss er gelöst sein im künstlerischen Stil. Sprache löst das Instant-Material der Mittelung auf und macht den Stoff durchsichtig. So ist Wasser nicht zuletzt das Element der Dichtung selbst. Grünbein zitiert Gaston Bachelard, der das so formuliert: O-Ton Durs Grünbein, (aus: Die Bars von Atlantis, S. 61) [53:00] Das dichterische Bild ist ein Emportauchen aus der Sprache, es ist immer ein wenig über der bedeutungsgebundenen Sprache. Wer Gedichte erlebt, macht also die heilsame Erfahrung des Emportauchens. Gewiss ist es ein Emportauchen von geringer Tragweite. Aber diese Momente wiederholen sich; die Dichtung versetzt die Sprache in den Zustand des Emportauchens. SPRECHER 1: Wasser war immer schon da. Obwohl H²O eine relativ simple chemische Zusammensetzung ist, verhält es sich beim Wasser so wie beim Wein: Je älter es ist, umso kostbarer wird es und weckt dadurch die seltsamsten Begehrlichkeiten. Alexander Kluge berichtet von einem merkwürdigen Erlebnis Heiner Müllers, kurz vor dessen Tod. Müller, der kaum noch sprechen konnte, befand sich zur Kur in Baden-Baden, wo er im Hotelfoyer einen arbeitslosen Akademiker traf. SPRECHER 2: (Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. in: Alexander Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S.109) In Baden-Baden halte er sich auf, berichtete der Mann, weil hier in unterirdischen Zisternen noch Wasser aus dem vorigen Jahrhundert aufbewahrt werde; Wasser, wie es Dostojewski bei seinen Besuchen noch benutzt habe. Die Qualität sei jedoch enttäuschend, kaum anders als heute. Ganz andere Geheimnisse enthielten die verschütteten Kanalsysteme des Irak, die ein Dr. Ing. H. Grapp erforscht und katalogisiert hätte. Zu erwähnen seien auch die Tiefwasserschläuche zwischen Spitzbergen und Grönland, unsichtbar im Meer verborgen, aber versehen mit Wasserqualitäten von großer Dichte. SPRECHER 1: Von besonderem Interesse aber, so der Fremde weiter, sind die Altseen unter der Wüste Sahara. Zwölf dieser Seen soll es dort geben, mit einem Alter von 66 Millionen Jahren. Der einzige Zugang an der Oase Bisra wurde 1943 auf Veranlassung des deutschen Afrikakorps versiegelt, ehe die Briten Libyen einnahmen. SPRECHER 2: (Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. in: Alexander Kluge, Die Kunst, Unterschiede zu machen, S.109) Die Wasserproben enthielten Getier, das auf dem Planeten unbekannt ist. Das Wasser hatte einen "blutähnlichen Geschmack" und stillte den Durst eines durchschnittlichen Trinkers um 23 % schneller und vollständiger als das Einheitsdestillat nach DIN Reichsnorm, das wir als Trink-Wasser bezeichnen. SPRECHER 1: Der Fremde wollte Müller überreden, das Unternehmen, dieses Wasser zu fördern und zu verkaufen, durch die Herstellung poetischer Texte zu unterstützen. Müller war fasziniert: In dem Fremden, der etwas so Elementares wie Wasser auf seine Seltenheit untersucht, sah er einen poetischen Kollegen. Doch es geht dabei nicht nur um den Vorgang des Sammelns - das allgegenwärtige und doch so kostbare Wasser besitzt selbst eine poetische Qualität. Das Alter unterirdischer Speicher von 66 Millionen Jahren mag beeindrucken - aber was ist das schon. Wasser ist älter, viel älter, wie Joseph Conrad weiß: SPRECHER 2: (Joseph Conrad, Spiegel der See, S. 95 Aus dem Englischen von Görge Spervogel) Wer das Alter der Erde erfahren will, der schaue bei Sturm auf die See. SPRECHER 1: Wasser war immer schon da. Am Wasser beginnen und enden die Geschichten. Und keine der Geschichten, die wir erzählen, kann daran etwas ändern. Die Wellen kommen und gehen und ziehen über den Strand und kümmern sich um nichts. Erfahrene Erzähler wissen das. Ganz egal, wie dramatisch die Ereignisse sind, von denen sie berichtet haben, am Ende ist es so, als wäre nichts geschehen. So beendet John Banville seinen Roman "Die See". So endet jede Geschichte. SPRECHER 2: (John Banville, Die See, S. 218 Aus dem Englischen von Christa Schuenke) Ich stand bis zur Taille im Wasser, das vollkommen durchsichtig war, sodass ich unter mir ganz deutlich den gewellten Sand des Meeresbodens sehen konnte und kleine Muscheln und zerbrochene Krabbenscheren und meine Füße, fahl und fremd, wie Präparate unter Glas. Und während ich dort stand, ging plötzlich, nein, nicht plötzlich, eher wie ein allmähliches Heranwallen, ging da ein Wogen durch die ganze See, und das war keine Welle, sondern ein sanft rollendes Ansteigen, das aus den Tiefen heraufzukommen schien, als hätte sich dort unten ein gewaltiges Etwas geregt, und ich wurde kurz hochgehoben und ein Stückchen näher zum Ufer hin getragen und abgesetzt und stand wieder auf meinen Füßen, als wäre nichts geschehen. Und es war wirklich nichts geschehen, ein bedeutungsschweres Nichts, nichts als einfach nur wieder einmal ein gleichgültiges Achselzucken der großen Welt. MUSIK: Johnny Cash: Cool Water ... The nights are cool and I'm a fool each star 's a pool of water, cool water. But with the dawn I'll wake and yawn and carry on to water, cool clear water. Keep a movin' Dan, don't you listen to him Dan, he's a devil not a man and he spreads the burnin' sand with water. Dan can't you see that big green tree where the waters runnin' free and it's waiting there for me and you, it's water, cool clear water, cool clear water, cool clear water. 3