KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : 5526 Titel der Sendung : Krach! Bumm! Alltag! Deutschsprachige Comics und die Kunst der Reportage Autorin : Anette Selg Redaktion : Kolja Mensing Sendetermin : Dienstag, 5. März 2013 / 19.30 Uhr Besetzung : Ilka Teichmüller Regie : Beate Ziegs Ton : Andreas Narr Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 ANSAGE: Nächste Woche beginnt die Leipziger Buchmesse. Comics sind einer der Schwerpunkte in Leipzig - und einer der Trends in diesem Jahr sind dokumentarische Formate: Die harte Realität ist im Comic angekommen! Der amerikanische Zeichner Joe Sacco zum Beispiel hat für graphic novels wie "Bosnien" oder "Gaza" internationale Krisenherde bereist, der Franzose Emmanuel Guibert dokumentiert mit scharfem Strich die unerträglichen Lebensbedingungen der Roma in Europa. Seit kurzem finden solche Doku-Comics auch in Deutschland immer mehr Leser. Der Bochumer Journalist David Schraven macht den Krieg in Afghanistan zum Thema und erzählt in "Kriegszeiten" vom alltäglichen Wahnsinn am Hindukusch, Paula Bulling hat viel Zeit in deutschen Flüchtlingsheimen verbracht und ihre Eindrücke in der gezeichneten Reportage "Im Land der Frühaufsteher" verarbeitet. Ein Genre befindet sich im Aufbruch. Hören Sie eine Sendung von Anette Selg: "Krach! Bumm! Alltag! Deutschsprachige Comics und die Kunst der Reportage." SENDUNG 1 O-Ton Schraven Also dat is dat irre bei dem Kriegszeitending. Du hast im Afghanistankrieg wahrscheinlich den meist fotografierten Krieg aller Zeiten. Ich wette, da gibt es die meisten Fotos von überhaupt. Aber gleichzeitig is es einer der am schlechtesten dokumentierten Kriege. Weil die Szenen, wo et blutig wird, die Opfer daliegen, die Toten zu beklagen sind, die Szenen gibt et nicht. Die wurden nicht gefilmt. Die wurden nich aufgenommen. Oder wenn sie aufgenommen wurden, wurden die Fotos vernichtet. Und diese Lücke, also diese Bildernot, die Bilderlücke, die kann man halt füllen mit Zeichnungen, und das, finde ich, is det Faszinierendste an dem ganzen Comicding. 1 Autorin David Schraven arbeitet im 2. Stock eines schlichten Bürogebäudes in Essen. Der 43- Jährige leitet das Ressort Recherche der WAZ-Mediengruppe - ist also verantwortlich für die großen Reportagen aus Politik und Wirtschaft, die in der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" oder der "Westfälischen Rundschau" erscheinen. Schraven sitzt neben dem Newsroom in seinem eigenen Büro, dem einzigen mit abschließbaren Schränken. Atmo Zeitungs-Redaktion 2 Autorin Im Nebenberuf ist Schraven Comic-Autor. Zuletzt erschien "Kriegszeiten - Eine grafische Reportage über Soldaten, Politiker und Opfer in Afghanistan". Text: David Schraven. Zeichnungen: Vincent Burmeister. 130-Seiten, die im September 2001 in Manhattan beginnen - mit einer Zeichnung über zwei ganze Seiten von den brennenden Türmen des World Trade Centers. 2 O-Ton Schraven Ich hab da grade beim "Time Magazine" gearbeitet. Da war ich Gastjournalist für ein paar Monate. Ich stand da, ich war da mit'm Fahrrad hingefahren und hab da gekuckt. Und hab dann gesehen:"Oh, kuck mal, die brennen." Mit einem Mal stürzt das ein, und dann zog halt die ganze Rauchfahne übern Atlantik. Eigentlich is das Format scheiße. Das müsste soo lang sein. Weil, die zog übern Atlantik weiter und verlor sich nich. Die blieb zusammen wie ein Strahl nach Westen. Dat war Wahnsinn. 3 Autorin In seinem Büro ist es deutlich ruhiger als im Newsroom. Schraven erzählt, wie es angefangen hat. Comics hat er schon immer gemocht - und schließlich selbst gemacht Sein Debüt: "Die wahre Geschichte vom Untergang der Alexander Kielland", eine erfundene Geschichte über eine tatsächliche Katastrophe: den Untergang einer norwegischen Bohrinsel in der Nordsee. Auch damals hat Schraven mit dem Hamburger Zeichner Vincent Burmeister gearbeitet. Der hatte bereits mit 16 eigene Comics auf dem Schulhof verkauft, und Schraven kennt und schätzt ihn seit langem. 3 O-Ton Schraven Kuck mal, dat is so'n Ding. Wenn du dir überlegst, dass so Dinger da echt rumballern. Irre. Also deutsche, nich irgendwelche andere. (Blättern) 4 Autorin Zu Beginn des Afghanistan-Kriegs arbeitet Schraven noch in New York. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland erlebt er, wie der "Auslandseinsatz" der Bundeswehr als "Entwicklungsarbeit", als "Aufbauarbeit" deklariert wird. Über Kampfeinsätze der Deutschen wird kaum berichtet, auch nicht über die erste Offensive der Bundeswehr in ihrer Geschichte - die Operation "Halmazag" im Oktober 2010. 4 O-Ton Schraven Da sind die Deutschen, die machen wieder Krieg. Und zwar nicht 'n bisschen peng peng in die Luft, sondern Angriffskrieg. Krieg mit Helikoptern, Panzerfahrzeugen, mit allem was dazugehört. Natürlich wieder mit'm Kessel (lacht leicht). Das ham Soldaten beschrieben, sehr plastisch beschrieben. 5 Autorin Schraven beginnt, Material für eine Comic-Reportage zu sammeln - über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. 5 O-Ton Schraven Weil ich mich gefragt hab, wie man ne Geschichte über Afghanistan erzählen kann, ohne ne Räuberpistole zu erzählen. Also dat Wahre zu erzählen. Und gleichzeitig ne Möglichkeit zu schaffen, ne neue Erzählebene reinzubringen, ne emotionale. Und das geht am besten mit gezeichneten Bildern. Weil echte Bilder gibt's da nicht. 6 Autorin Er spricht mit deutschen Soldaten und Veteranen über ihre Zeit am Hindukusch, wertet Unterlagen über den Kriegsverlauf aus, arbeitet sich durch Akten und Protokolle. Doch das weiß der erfahrene Redakteur: Eine Reportage lässt sich nicht am Schreibtisch schreiben. Sie lebt von den Eindrücken des Autors vor Ort. Im November 2011 reist David Schraven nach Afghanistan. 6 O-ton Schraven Also ich hab mich hier in Deutschland vorbereitet, also bestimmt ein Jahr Vorarbeiten, dann war ich in Afghanistan als embeddeder Journalist, der dann halt rumgeführt wird. Und das in meinen Augen Spannende an dieser Sache war, dass man nachvollziehen konnte, um wat geht et. Wat is denn jetzt eigentlich Krieg. Krieg is 99 Prozent Langeweile und ein Prozent Schießerei, mehr is dat nich. Wobei das eine Prozent dann immer tödlich sein kann. Das is der Nachteil dabei. 7 Autorin Schraven besorgt Abbildungen von Uniformen, Fahrzeugen, Waffen und Landschaften - Bildrecherchen, die Burmeister bei der grafischen Umsetzung des Afghanistan-Comics helfen. 7 O-Ton Schraven Also, wir haben richtig als gutes Team gearbeitet, so kam et mir vor, und ich glaub, so kam et dem Vincent auch vor. Ich hab die Geschichte geschrieben und hab dann angefangen zuerst mal Strichmännekes zu machen, so grob, wie ich mir das vorstelle. Auf Basis dieser halbskizzierten Geschichte, Entwurf, hat Vincent ne Geschichte gemacht. 8 Autorin Vincent Burmeister hat für "Kriegszeiten" realistisch anmutende, oft drastische Schwarz- Weiß-Zeichnungen entworfen. Die Bilder von Camps, Panzern, die Schlachtszenen erinnern an grob gerasterte, stark vergrößerte Zeitungsfotos. Unterlegt sind die Bildflächen - je nachdem, ob gekämpft oder abgewartet wird - mit Rot- oder Ockertönen. David Schraven ist immer wieder auf den Bildern zu erkennen. Ein unauffälliger Mann mit kurzen Haaren und Brille, der Akten studiert, mit Soldaten spricht - und sich manchmal auch aus einer Zeichnungen heraus direkt an seine Lesern wendet: "Irgendwen macht der Krieg sehr reich", sagt diese Comic-Figur Schraven auf den vorderen Seiten. "Aber macht das Afghanistan sicherer?" 8 O-Ton Schraven Meinetwegen, einer, ich, bin gut im Recherchieren. Dat kann ich, da weiß ich wie das geht. Ein anderer is gut im Zeichnen, im dokumentarischen Zeichnen. Dann is das doch das Beste, ein guter Rechercheur tut sich mit nem guten Zeichner zusammen, um n gutes journalistisches Produkt abzuliefern, wat gleichzeitig ne Zeichnung is - ne grafische Reportage. Man hat im deutschsprachigen Sprachraum keine echten Reportagen in Comic-Form, nur autobiografische Sachen, wo Leute von sich erzählen. Aber dass so was gemacht wird mit echtem Thema is verdammt selten. Aber ich glaube, das kann man aufbrechen, das wird auch aufgebrochen. 9 Autorin Politische Comic-Reportagen sind in Deutschland noch selten. Als vor rund zehn Jahren in Zeitungen die ersten gezeichneten Reportagen auftauchten, ging es meist um den Alltag. Atmo Zeichengeräusche Ulli Lust 9 O-Ton Ulli Lust Eigentlich treibt mich Neugier auf Menschen. Alltag wird ja nur aufgewertet durch diese permanente Beobachtungshaltung. Wenn man ihn als Stoff für Erzählungen verwendet, wird er doch ziemlich reicher. Menschen interessieren mich, faszinieren mich immer. Sind schon was sehr Obskures. Kann mir auch Gesichter ewig anschauen. Ich kann in der U-Bahn sitzen und bin ganz begeistert über diese unterschiedlichen Formen, die es da gibt (lacht). 10 Autorin Berlin, Prenzlauer Berg: Ulli Lust sitzt in ihrem Arbeitszimmer. Am Fenster steht ein großer Tisch. In der Raummitte - ein Bett. Auch das: ein guter Ort zum Arbeiten, findet die 45- Jährige, die seit vielen Jahren in Berlin lebt. International bekannt geworden ist die Zeichnerin 2009 mit ihrer autobiografischen Graphic Novel "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens". Doch seit bald 15 Jahren ist die geborene Österreicherin eben auch als Comic-Reporterin unterwegs. 10 O-Ton Ulli Lust Ich glaub, die meisten Leute sind überrascht darüber, dass Comic und dokumentarisches Zeichnen zusammen geht. Weil die meisten Comic mit fantastischen Welten verbinden. Zeichnung ist ja etwas, da kann man ausbrechen aus dem Korsett des Realismus. Aber Zeichnung kann ja auch die Realität prägnant darstellen, zusammenziehen. Also es gibt noch andere Potenzen im Medium Zeichnung, die man mit dem dokumentarischen Zeichnen sehr gut nutzen kann. 11 Autorin In der legendären Stadtzeitung "Scheinschlag", die sich nach dem Mauerfall kritisch mit der Stadtentwicklung in Berlin auseinandersetzt, fängt es an: Ulli Lust zeichnet kurze und oft skurrile Szenen, die ganz nah am wirklichen Leben sind - mit Punkern, Müttern, Rentnern oder singenden U-Bahn-Fahrern. 11 O-Ton Ulli Lust Und ich interessiere mich für die richtige Welt. Ich möchte nicht eskapistisch in irgendwelchen Fantasiewelten verschwinden. 12 Autorin An der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, an der Ulli Lust studiert, findet damals ein erstes Seminar zum Thema "Comic-Reportage" statt. Die gezeichneten Geschichten aus Ost- und West-Berlin werden 2001 unter dem Titel "Alltagsspionage" veröffentlicht. Heinrich Zille gehört zu den Vorbildern der Berliner Comic-Reporter. Aber auch der amerikanische Zeichner Art Spiegelman, dessen Holocaust-Comic "Maus" Ende der 80er Jahre für Furore sorgte. Atmo Zeichengeräusche 12 O-Ton Ulli Lust Als wir angefangen haben mit den Comic-Reportagen, das war im Jahr 2000, und da is Joe Sacco noch nicht so aktuell gewesen. Aber wir wussten schon von der Arbeit von Joe. Es war ne gute Anregung zu sehen, dass auch andere in dem Medium arbeiten. Und er tut es natürlich besonders seriös und auch intensiv. Weil, er hat ja auch ne Journalistenausbildung, und gleichzeitig hat er immer Comics gezeichnet. Und er hat die beiden Qualifikationen dann verbunden. Und er geht ja auch an politische Brennpunkte, Krisenherde. 13 Autorin Joe Sacco: Von 1993 bis 1995 veröffentlicht der Amerikaner mehrere Comic-Reportagen über seinen Aufenthalt in den palästinensischen Autonomiegebieten und erhält dafür 1996 den renommierten "American Book Award". Auf "Palästina" folgt einige Jahre später die Comic-Reportage "Bosnien", danach "Gaza". Joe Sacco schildert in detailreichen, sehr aufwändigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen seine Erlebnisse in Krisenregionen und Kriegsgebieten. Er porträtiert Menschen, die ihm begegnen - und erzählt von der mühsamen Suche nach Zeitzeugen. 13 O-Ton Ulli Lust Zum Palästina-Israel-Konflikt, da wurden ja schon Kilometer an Papier gefüllt. Und ein Buch, das mir ein echtes Verständnis beschert hat, das war das Buch "Gaza" von Joe Sacco. Wo er über ein Massaker erzählt, das - glaub ich - irgendwann in den 60er Jahren stattgefunden hat an Palästinensern. Aber er erzählt nicht nur von diesem Massaker, sondern eigentlich von dem Gründungsmythos Israels, aber aus der Sicht der Palästinenser. Und ich hab nie wirklich begriffen, dass man den Leuten einfach wirklich überhaupt keine Chance gelassen hat. Natürlich hat man es oft gelesen, aber in der Comic-Erzählung das dann zu sehen, also auch in Bildern und den Erzählungen der Leute, das hat erst ein echtes Begreifen provoziert, das vorhin nicht der Fall war. Also ich hab es eigentlich noch nirgendwo so deutlich erzählt bekommen wie bei Joe Sacco. 14 Autorin Joe Sacco: Das ist die Vaterfigur des dokumentarischen Comics. Auch die deutschen Autoren und Autorinnen arbeiten sich an ihm ab, Einflüsse sind überall zu erkennen. Wie bei David Schraven zum Beispiel werden Joe Saccos Reportagen durch eine Erzählerfigur zusammengehalten, das Alter Ego des Zeichners. Der kleiner Mann mit Brille zweifelt, hadert, versucht zu verstehen oder ist einfach erschöpft - und ermöglicht dadurch einen menschlichen, emotionalen Zugang zu dem bedrückenden, in sich oft widersprüchlichen Material. Atmo Grober Unfug 14 O-Ton Torsten Alisch Das is ja das Tolle an Comics, dass es nich nur ne einfache Geschichte ist. Es gibt nicht nur n Text, der erzählt wird, sondern es gibt so ein Zusammenspiel von Bildern, Texten, Lautschrift, selbst Töne spielen da ne Rolle. Und ich glaube, jeder Leser muss das in seinem Kopf zusammensetzen und bei jedem Leser entsteht irgendwas anderes. 15 Autorin Torsten Alisch ist ein Urgestein der deutschen Szene. Seit 1987 gehört er zu den Inhabern des Berliner Comic-Ladens "Grober Unfug". Atmo Alisch im Laden 16 Autorin Im "Groben Unfug" in Berlin-Mitte strahlt helles Neonlicht von der Decke. Die Wände sind weiß gestrichen. Überall im Raum stehen Holzregale, auf denen sich Comics aus aller Welt finden. Torsten Alisch blättert und liest sich jedes Jahr durch einige hundert Neuerscheinungen, viele davon noch immer aus den USA. 15 O-Ton Torsten Alisch Also für mich war bei dieser ganzen dokumentarischen Sache Joe Sacco, gerade in Deutschland, ziemlich wichtig. Wurde damals nicht gleich n Megahit, aber er hat so'n paar Leute inspiriert, jetzt mal mit Comics anders umzugehen. 17 Autorin Auch hier ist Joe Sacco wieder Gesprächsthema. Den amerikanischen Zeichner kennt Torsten Alisch seit über 20 Jahren. 16 O-Ton Alisch Der hat so Ende der 80er Jahre in Berlin gelebt. Wir haben ne Ausstellung mit ihm gemacht. Eigentlich (hat) er danach erst angefangen mit diesen dokumentarischen Sachen. Er war halt wirklich so'n 18-Jähriger, hat hier studiert, weiß ich gar nicht mehr. Aber er hatte auch keinen Namen. War halt so'n obskurer Ami, der bei Fantagrafics fünf, sechs Hefte veröffentlicht hatte. Und es war toll, n Amerikaner hier in Berlin zu haben und wir stellen ihn aus. Sind ein paar mal mit ihm trinken gegangen, das war einfach nett. 18 Autorin Torsten Alisch kann den kleinen Boom der dokumentarischen Comics und gezeichneten Reportagen bestätigen. Doch als Händler sieht er die Entwicklung in größeren Zyklen. 17 O-Ton Torsten Alisch Hier im Laden verändert es sich andauernd. In 90er Jahren gab es plötzlich so eine Welle von Superhelden. Batman, Superman, gab es lange nicht. Unser Publikum wurde im Durchschnitt von 40 auf 20 verjüngt. Fünf Jahre später begann die Manga- Welle. Dass Jugendliche auf japanische Pop-Kultur abgefahren sind. Plötzlich hat sich unser Durchschnitt von 20 auf 15 Jahre verjüngt. Irgendwann kam dann jetzt vor 5, 6, 7 Jahren, begann diese Graphic-Novel-Welle, also wirklich anspruchsvolle, schön aufgemachte, handwerklich gut hergestellte Titel. Und man merkt, es kommen wieder ganz andere Leute. Mittlerweile is unser Durchschnittsalter vielleicht auf 30 wieder gestiegen. 19 Autorin Alisch freut sich über die neuen Kunden: jüngere Bildungsbürger, die im Feuilleton der großen Tageszeitungen von aktuellen Comic-Erscheinungen erfahren haben. Auf den Umsatz wirkt sich das bisher allerdings kaum aus. 18 O-Ton Torsten Alisch Ich mein, ich bin n Laden. Ich weiß nur, was wir hier verkaufen. Es erscheinen halt ganz viele und wir verkaufen ganz viele, aber davon nur ganz wenig. Also von ganz vielen verkaufen wir nur 1 2 3 4 fünf Stück, aber eben von 50 verschiedenen. Früher war das halt anders, da ham wir eben von fünf Comics 50 Stück verkauft. Das heißt, wir haben den gleichen Umsatz oder verkaufen genauso viel wie früher. Nur eben ganz anders gestaffelt. 20 Autorin Eine Comic-Reportage, die nach ihrem Erscheinen im Sommer 2012 in den deutschen Medien rauf und runter besprochen wurde, ist Paula Bullings Arbeit "Im Land der Frühaufsteher". In ihrem ersten Comic dokumentiert die 25-Jährige die Zustände in deutschen Flüchtlingsheimen, erzählt von der Isolation der Asylsuchenden, vom jahrelangen Warten auf eine Entscheidung, vom alltäglichen Rassismus. Atmo Küche Bulling 21 Autorin Paula Bulling steht in ihrer Küche in Berlin-Neukölln und kocht Kaffee. Bis vor einem Jahr studierte die Zeichnerin freie Kunst - auf Burg Giebichenstein bei Halle. Dort trifft sie sich für ihre Comic-Reportage mit Flüchtlingen, die in Heimen in Halberstadt, Möhlau oder Bernburg leben, macht Fotos, zeichnet Porträts und kleine Szenen. Engagiert, politisch - parteiisch. 19 O-Ton Bulling Die Rolle von diesem suchenden Journalisten find ich selber auch schon wieder fast so n bisschen abgegessen, weil das so auf der Hand liegt, das zu machen. Ich hab das selber ja auch gemacht. Aber wenn ich zum Beispiel die Bücher von Joe Sacco lese, dann is mir einfach auch Joe Sacco so derartig unsympathisch. Und ich denke, ich will das einfach nicht mehr wissen, wie ein weißer mittelalter Mann irgendwie sich selber beweihräuchert durch seine Selbstanalyse (lacht) - is jetzt vielleicht n bisschen hart gesagt. 22 Autorin Auch in Bullings Comic gibt es eine Figur namens Paula, mit kurzen dunklen Haaren und dem offenen, runden Gesicht der Zeichnerin. Sie hält die Beobachtungen und Einzelszenen zusammen. Trotzdem stammt ein Teil der Texte im "Frühaufsteher"-Buch von Noel Kaboré, einem afrikanischen Filmemacher und Flüchtling, den Bulling während ihrer Recherchen kennen gelernt hat. Atmo Küche Bulling 23 Autorin Zurzeit arbeitet Paula Bulling an einem weiteren dokumentarischen Comic - über die amerikanische Protestbewegung "Occupy Wall Street". Über die vielen hundert Demonstranten, die im Spätsommer 2011 den New Yorker Zuccotti Park in der Nähe der Wall Street besetzt haben - als Zeichen gegen die Macht der Finanzwelt, gegen soziale Ungleichheit, gegen den immer größeren Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. Das Szenario erarbeitet Bulling gemeinsam mit einer Freundin. 21 O-Ton Paula Bulling Tashy Endres und sie ist Architektin und Politologin, und wollte nach ihrem Studium eigentlich nach Brasilien und hatte nen kurzen Stop-over in New York und ist dann ein halbes Jahr geblieben. 24 Autorin Tashy Endres war während der Hochzeit von "Occupy Wall Street" in New York. Sie hat im Zeltdorf im Zuccotti Park gelebt und dort als Moderatorin und Mediatorin gearbeitet. 22 O-Ton Paula Bulling In dem Fall is sie einfach die inhaltliche Expertin, geht ja um ihre Erlebnisse dort. Nicht nur um ihre, aber auch. Ich war ja nicht dabei. Deswegen ist das auf jeden Fall, wird das spannend für uns wie wir damit umgehen, dass sie natürlich viel intensiver mit den Leuten zu tun hatte und auch viel intensiver in der Materie drin is. Und meine Rolle ist vielleicht so'n bisschen als Außenstehende, die hilft ne Struktur zu bauen und die Erfahrung im Geschichtenerzählen mitbringt und dann natürlich Zeichnerin. 25 Autorin Im Januar 2013 waren Endress und Bulling für ihre Comic-Reportage noch in New York und haben sich mit Menschen getroffen, mit denen Endres damals gelebt und gearbeitet hat. Ihr Comic über "Occupy Wall Street" soll die Ereignisse aus Sicht unterschiedlicher Akteure darstellen - in mehreren, miteinander verwobenen Erzählsträngen. 23 O-Ton Paula Bulling Ja, ich glaub, das is schon ne Form, die auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig funktioniert und womit man schon ziemlich komplexe Zusammenhänge zeigen kann und das aber doch in ner leicht zugänglichen Form. Und ich glaub, die Hemmschwelle, so'n Comic zu lesen, is auf jeden Fall schon geringer als jetzt ein Sachbuch zu "Occupy Wall Street" zu lesen. 26 Autorin Dokumentarische Comics zu zeichnen ist eine langwierige Arbeit. Sie spielen an realen Orten und diese sollten beim Lesen auch zu erkennen sein. Auch aus diesem Grund werden Comic-Reportagen oft erst Jahre nach den eigentlichen Recherchen veröffentlicht. Bullings und Endres' "Geschichtsschreibung von unten" soll dennoch möglichst bald in den Handel gehen. Für die beiden steht die Comic-Arbeit auch im Zusammenhang mit ihrem Engagement im wahren Leben - zum Beispiel im Protestcamp "Kotti & Co." rund ums Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Dort demonstrieren Anwohner und Unterstützer seit Monaten gegen hohe Mieten und die Verdrängung von langjährigen Kiezbewohnern. 24 O-Ton Paula Bulling Und grade so ephemere Geschichten wie, ok, wie haben sich die Leute eigentlich im Alltäglichen organisiert? Wie haben sie es geschafft, mit 500 Leuten zusammen zu sprechen? Was gab es für alltägliche Probleme mit Repressionen? Da gibt es ja total viele Erfahrungen, die gemacht werden und die grad in solchen intensiven Momenten von sozialen Bewegungen gemacht werden und die oft einfach danach nicht weitergegeben werden. Weil Generationen von AktivistInnen vom Fenster verschwinden. Weil die einfach nicht mehr können, traumatisiert sind oder einfach keine Zeit mehr haben, müde sind, Geld verdienen müssen, wie auch immer. Das war eigentlich der Anlass dafür, zu sagen wir machen dieses Comic. Um zu versuchen, dieses Wissen einzusammeln und irgendwohin rüber zu retten. 27 Autorin Noch vor zehn Jahren wären Comics über Asylsuchende in Deutschland oder amerikanische Jugendproteste vermutlich nicht geschrieben worden. Ganz sicher aber wären sie nicht verlegt worden. Dass in der deutschsprachigen Comic-Szene zurzeit so viel Neues passiert, hat auch mit dem Wagemut und Engagement einer Handvoll kleiner und unabhängiger Comic-Verlage zu tun. Die Zürcher Edition Moderne gehört dazu, bei der Joe Sacco erscheint oder Magdy El- Shafee mit "Metro", einer Comic-Erzählung aus dem Kairo kurz vor den Aufständen im Frühjahr 2011. Oder auch der Reprodukt-Verlag, der Igorts bewegende "Berichte aus der Ukraine" und "Berichte aus Russland" verlegt und seit einigen Jahren auch die Comic- Reportagen "Pjöngjang" oder "Shenzhen" des Franko-Kanadiers Guy Delisle: lakonische, oft ziemlich komische Szenen aus dem Alltag an entlegenen Orten. Atmo avant-Verleger führt durch die Etage 28 Autorin Auch Paula Bullings Verlag avant zählt zur Riege dieser zukunftsweisenden und engagierten Comic-Verlage. 25 O-Ton Johann Ulrich Der ausschlaggebende Punkt für die Verlagsgründung: wie so oft einem Zufall zu verdanken. Ich war 2001 auf der Frankfurter Buchmesse als Besucher. Dort gab es einen Vortrag von Thierry Groensteen, n französischer Publizist, über neuere Tendenzen im französischen Autorencomic berichtet hat. Er stellte da 20 vielleicht sogar 30 Künstler und deren Bücher vor - nicht eins davon war auf Deutsch erhältlich. Das hat mich so entsetzt, dass die damaligen Großverlage, Carlsen, Ehapa, wie sie heißen, diese frischen interessanten Comics, gar nicht ins Deutsche übertragen wurden. 29 Autorin Johann Ulrich, der avant-Verleger, hat seinen Arbeitsplatz gerade erst in eine Ateliergemeinschaft am Weichselplatz verlegt, im Berliner Bezirk Neukölln. In eine Fabriketage, die noch immer wie ein rauer Ort zum Arbeiten aussieht und nicht wie ein Schöner-Wohnen-Loft. Im vorderen Teil stehen Tische, Computer und Staffeleien. Hier arbeiten mehrere Zeichnerinnen und Zeichner, darunter auch Paula Bulling. Atmo Verleger führt durch Etage 30 Autorin Im hinteren Teil der Etage befindet sich - hinter einer Glastür - Johann Ulrichs Reich. 31 Autorin In der Raummitte steht der Schreibtisch des Verlegers, an der Wand ein deckenhohes Bücherregal, vollgestopft mit Verlagsexemplaren, Manuskripten und ausländischen Prüfexemplaren. Dokumentarische Formen und politische Themen nehmen im avant- Programm einen wichtigen Platz ein. 26 O-Ton Johann Ulrich Ja, ich wohn jetzt 22 Jahre in Berlin. Das schadet nicht, wenn man sich für Politik interessiert. Und davor komm ich aus der Region von Wackersdorf. Damit sind wir groß geworden mit dem Widerstand gegen die WAA, damals, Anfang Mitte der 80er Jahre. Insofern ist es ne logische Erweiterung meines politischen Engagements, eben auch in der Auswahl der Titel, die im avant-Verlag erscheinen. 32 Autorin Neben Paula Bulling verlegt Ulrich auch den in der DDR geborenen Simon Schwarz, der in seinem Comic "Drüben" vom Alltag seiner Familie bis zur Ausreise in den Westen erzählt. Und gerade erscheint bei avant die erste Comic-Erzähung der libanesischen Zeichnerin Zeina Abirached, die in "Spiel der Schwalben" das Leben einer Familie im Bürgerkrieg schildert. 27 O-Ton Johann Ulrich Bei Comics muss man immer 100 Jahre zurückdenken, und auch damals war es oft schon reportagehafter Charakter, der den Geschichten innewohnte, bei den ersten Zeitungsstrips. Weil sie ja eben für Zeitungsleser gedacht waren. 33 Autorin Die Startauflage liegt bei avant bei 1.500 Exemplaren. "Drüben" von Simon Schwarz wurde seit seinem Erschienen vor drei Jahren an die achttausendmal verkauft und gehört damit zu den absoluten Erfolgstiteln des Verlags. Zum Vergleich: Von den Mickey-Maus-Heften des Egmont Ehapa Verlags werden in Deutschland Woche für Woche über 100.000 Exemplare verkauft. Doch immerhin werden auch auf dem anspruchvollen Comic-Markt seit mehreren Jahren kontinuierlich Zuwächse verzeichnet. Dazu tragen die meist hochpreisigen Graphic Novels bei - die literarische und eben zunehmend auch dokumentarische Stoffe verarbeiten. 28 O-Ton Johann Ulrich Wir kucken einfach ganz genau, wo ist ein Buch, das für unseren Verlag gut passen würde. Das ist das eine. Zum anderen ist es so, dass wir unsere Autoren, unsere deutschen Autoren zunehmend auch ins Ausland verkaufen können. Das macht mir eigentlich große Freude. Weil die Zeiten, als deutsche Verlage ausschließlich franko- belgische Comics importiert haben, sich doch dem Ende neigen. 34 Autorin Bisher schickten Verlage aus Frankreich ausschließlich Vertriebsmenschen auf deutsche Comic-Messen, die sich um den Absatz der eigenen Produktionen kümmern sollten. Doch im vergangenen Jahr wurden auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlangen zum ersten Mal auch französische Scouts gesichtet, die nach deutschsprachigen Neuerscheinungen Ausschau hielten. 29 O-Ton Johann Ulrich Das is auch ne Entwicklung, die mit den Hochschulen zusammenhängt und mit der Zeichnergeneration, die vor 20 Jahren angefangen hat, die jetzt an den Hochschulen und Universitäten unterrichtet. Insofern ist es in der Tat so, dass da jedes Jahr etliche gute Zeichner aus den aktuellen Klassen hervorgehen jetzt gute Zeichner herausgehen. Und dass dadurch eigentlich die Zukunft für Comics "made in Germany", find ich, sehr rosig aussieht. Es gab noch nie so ne Fülle an guten Autoren und Zeichnern, die sich international messen können, als jetzt in den letzten drei vier Jahren. 35 Autorin Es herrscht Aufbruchstimmung. Als wäre der deutschsprachige Comic endlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, scheint plötzlich alles möglich. Alltag und Weltpolitik, Asylbewerberheime, Protestcamps und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Und dass dokumentarische Formate durchaus auch komisch sein können, das zeigt zum Beispiel Ulli Lusts Reportage über Berliner Swinger- und Fetisch-Klubs, die im Schweizer Comic-Magazin STRAPAZIN erschienen ist. 30 O-Ton Ulli Lust Bin in den Klub gegangen und hab so einen Skizzenblock gehabt, den hatte ich in so ner kleinen Umhängetasche. Zwischendurch hab ich den so rausgezogen, und dann hab ich so halt vor mich hingekritzelt. Das Tolle is ja, als Zeichner kann man so herrlich Voyeur spielen, und im Fetisch-Klub sind alle anderen Exhibitionisten, das heißt, wir waren ein perfektes Arrangement. 36 Autorin "Naturstudien" nennt die Zeichnerin ihre nächtlichen Exkursionen oder auch "teilnehmende Feldforschung". 31 O-Ton Ulli Lust Und dann war ich ganz begeistert und dachte: Wahnsinn, das is ja so ein groteskes Szenario - das is ja wie ein Fellini-Film. 37 Autorin Und David Schraven, der Zeitungsredakteur, der im Nebenberuf Comics schreibt, recherchiert bereits für seine nächste grafische Reportage - über Neonazis in Deutschland. 32 O-Ton Schraven Ich hab so'n paar Terroristen, rechtsradikale Terroristen gefunden, und hab mit denen sehr sehr viele Gespräche bis jetzt geführt. Ich konnte ein paar Sachen nachvollziehen. Wo die in Waffenschmuggel involviert waren. Das ist alles sehr plastisch, wichtige Voraussetzung für'n Comic-Thema und, ich glaub, brisant. ENDE 1