DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 18.11.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Werkbank Dongguan Lebenswege Made in China Von Mathias Bölinger URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Als ich das erste Mal herkam, sah es ganz anders aus als ich es mir vorgestellt hatte. Moment mal ? dachte ich ? ich habe eine Stadt erwartet. Ich hatte viel von Dongguan gehört und mir eine Großstadt vorgestellt wie Peking ? mit Hochhäusern. Und dann sah es aus wie ein gewöhnliches Dorf. Ein Dorf mit unzähligen Fabriken. Und überall sah man nur Arbeiter.? Musik Autor Noch vor dreißig Jahren war Dongguan ein Landstrich mit Reisfeldern und Fischteichen. Dann beschloss Deng Xiaoping, die chinesische Wirtschaft zu reformieren. Ausländische Unternehmen wurden eingeladen zu investieren. China stellte billige Arbeitskraft zur Verfügung. Das Modell "Made in China" wurde geboren. Wanderarbeiter aus dem ganzen Land fertigten die Konsumgüter für den Westen ? und Dongguan wurde zu einem der Zentren dieser neuen Industrie. Mitte der Achtziger Jahre ließen sich die ersten Fabriken hier nieder, heute gibt es in Dongguan 50.000 Industriebetriebe. Auf zwei Millionen Stadtbürger kommen hier fünf Millionen Wanderarbeiter. Sie setzen Handys und Computertastaturen zusammen, bauen Möbel und füllen Instant-Kaffee in Dosen. 600 Millionen Paar Schuhe und 250 Millionen Kleidungstücke verlassen jedes Jahr die Stadt. Gong Ansage Werkbank Dongguan Lebenswege made in China Ein Feature von Mathias Bölinger Klangholz O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Ich war ich auf Arbeitssuche, als ich 2002 das erste Mal in die Stadt gekommen bin. Ich hatte keinen Platz zum Übernachten, also bin ich erstmal in ein Kino gegangen. Dort hat mich die Polizei aufgegriffen. Sie haben mich einen Vormittag auf der Wache behalten. Ich musste 50 Yuan zahlen, die musste ich mir von einem Kollegen leihen. Dann konnte ich gehen. Ich habe gedacht: Das hier ist kein guter Ort und bin weitergereist. Ich bin für viele Jahre nicht mehr wiedergekommen." Autor Song Ganghu ist dreißig. Er hat ein rundes Gesicht, verschmitzte Augen und die direkte Art der Nordchinesen. Song stammt aus der Provinz Henan, knapp tausend Kilometer westlich von Peking. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Unser Landkreis bringt unter allen Gebieten in der Provinz die meisten Wanderarbeiter hervor. Bei uns gibt es nur Ackerland. Meine Familie hat 1500 oder 2000 Quadratmeter Land. Dort bauen wir Weizen an und Gemüse. Das Gemüse kann man verkaufen. Das ist das einzige Einkommen." Autor Gerade 15 war Song Ganghu, als er sein Dorf das erste Mal verließ. Bei einem Automechaniker in Peking ging er in die Lehre. Nach zwei Jahren kehrte er zurück zu seiner Familie, blieb aber nicht lange. O-Ton Song Ganghu Übersetzer Damals sind alle jungen Leute aus meinem Dorf hierher nach Südchina in die Provinz Guangdong gegangen. Das war der Trend damals. Und dann waren wir alle hier und haben hier rumgehangen (lacht). Autor Die Provinz Guangdong ? besonders der südliche Teil an der Mündung des Perlflusses ? ist ein großer Flickenteppich von Fabriken und Wohnheimen, ein Gürtel aus Beton und Staub, der sich sichelförmig um Hong Kong gelegt hat ? Chinas Werkbank für die Welt. Mehrere Jahre zog Song durch diese Industrielandschaften. Foshan, Huizhou, Zhuhai....Orte, die in Europa kaum jemand kennt. Die Produkte aber, die hier hergestellt werden, begleiten das Leben der Europäer von morgens bis abends. Sie liegen in den Küchenschränken, hängen im Kleiderschrank, stehen auf dem Schreibtisch, klingeln in der Hosentasche. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Ich habe in sehr vielen verschiedenen Fabriken gearbeitet. Ich bin ständig von einer Firma in die andere gewechselt, drei vier Monate, dann habe ich mir einen anderen Job gesucht. Ich habe es nie lange ausgehalten ? die Eingeschränktheit. Dieses Gefühl, kaum Geld zu verdienen. Arbeit ? Feierabend ? Schlafen. Das war nicht das Leben, das ich mir vorgestellt hatte. Also bin ich immer wieder weggegangen, habe etwas Besseres gesucht.? Autor Wenn man aus dem vergitterten Fenster von Songs Wohnung schaut, blickt man direkt in ein anderes vergittertes Fenster. Eng an eng stehen hier die Häuser. Ein ehemaliges Dorf, das von der Stadt umschlossen wurde. Etage um Etage haben die Bewohner auf ihre Häuser gesetzt, um Zimmer zu schaffen, die sie billig an Wanderarbeiter vermieten. Zwölf Jahre ist es her, dass Song sich vorgenommen hatte, nie wieder in diese Stadt zu kommen. Und sieben Jahre ist es her, dass er dennoch zurückgekommen ist. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Ich hatte damals keine Wahl. Man kam nur an Arbeit, wenn einen jemand vermittelte. Man musste einen Arbeitsvermittler aus seiner Heimatprovinz beauftragen. Den musste man bezahlen. Ich hatte ihm 300 Yuan bezahlt - 30 Euro - und er hat mich an eine Schuhfabrik hier in Dongguan vermittelt. So bin ich wieder hergekommen." Atmo Druckerei Autor Dongcheng ? die Oststadt. Eine Fabrikhalle, darin sechs Türme, zwei - drei Meter hoch. In jedem der Türme dreht sich eine Walze, die jeweils eine andere Farbe aufträgt. Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz. Plus zwei Mischfarben. Fünf, sechs Meter lang ist eine moderne Druckmaschine. Atmo Autor Vierfarbmaschinen, Fünffarbmaschinen, Sechsfarbmaschinen ? James Fu zeigt auf die verschiedenen Anlagen in der Halle. Die weißen Kartonbögen, die vorne in die Druckstraße eingezogen werden, kommen hinten mit Bildern eines Internetrouters und Aufschriften in verschiedenen Sprachen wieder raus ? Verpackung für Elektronik made in Dongguan. O-Ton James Fu Übersetzer "Wir sind hier hergekommen, weil viele unserer Kunden nach Dongguan gezogen sind. Wir haben in Taiwan zusammengearbeitet. Und als sie ihre Produktion nach Dongguan verlagert haben, sind wir mitgekommen." Autor James Fu ist ein runder Mann mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und mit tiefen Tränensäcken unter den Augen. Fu stammt aus Taiwan. Mit seiner Druckerei ist er seit 1996 in der Stadt. Damals hatte gerade die große Globalisierungswelle begonnen. Textilfabriken wanderten aus Italien nach China ab, aus Japan kamen die Elektronikkonzerne, aus Deutschland der Maschinenbau. Aus Taiwan kam alles: Textilien, Schuhe, Billigelektronik, High-Tech. O-Ton James Fu Übersetzer "Die Arbeitskraft war billig. Die Kosten niedrig. Die Bedingungen waren ideal. Wir haben hier kaum Steuern gezahlt. Die Arbeit wurde hier erledigt, aber das Geld haben wir im Ausland eingenommen. Unsere gesamte Produktion ging ins Ausland. Die einzigen Kosten hier waren die Arbeitskosten." Atmo O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Fabriken, Arbeiter, Wohnheime, ein paar Werkstätten und Imbissbuden, das war alles, was ich hier gesehen habe. Am deutlichsten erinnere ich mich an das Gefühl, nach einem kurzen Nickerchen in der Mittagspause wieder an die Arbeit zu müssen, das Gefühl, wenn dich jemand weckt, weil die Schicht beginnt." Autor Song Ganghu war 23, als er nach Dongguan zurückkam. Er landete in einem jener Sweatshops, in denen Arbeiter in langen Reihen hintereinander Handgriff um Handgriff Sohlen ausstanzen, Gumminähte schweißen, Polster einnähen ? bis am Ende ein Turnschuh entstanden ist. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Ich habe dort an einer Maschine gearbeitet, die die Löcher für die Schnürsenkel in das Leder stanzt. Das ist eine Arbeit für zwei Personen. Der eine steht an der Maschine, die Löcher stanzt. Der andere an einer Maschine, die Ösen aus Metall in die Löcher einsetzt. Ich habe die Löcher gestanzt." Klanghölzer O-Ton Song Ganghu Übersetzer An der anderen Maschine stand die Vorarbeiterin, etwas älter als vierzig. Sie hat mich ständig angetrieben ? ich solle schneller machen. Sie hat mit mir geschimpft, weil ich zu langsam war. Und dann habe ich mir plötzlich ein Loch in den Finger gestanzt. Gong Autor Song Ganghu zeigt auf seine Schuhe. Die Schnürsenkel verlaufen durch kleine Schlaufen, die am Leder festgenäht sind ? nicht durch Löcher. Bis heute trägt er keine Schuhe, in die Löcher für die Schnürsenkel gestanzt sind. Atmo Taiwan Business Tower Autor Im Zentrum von Dongguan steht ziemlich einsam ein Turm aus Stahl und Glas. Im sechsten Stock führt Zhao Weinan auf eine Terrasse. Ein rechteckiger Teich schimmert im Licht, ein paar Lotosblätter schwimmen darauf. Bambus umfasst das Wasser. O-Ton Zhao Weinan Übersetzer "Dieses Gebäude hat 68 Stockwerke und mehr als 280.000 Quadratmeter Fläche. Das alles haben wir taiwanischen Geschäftsleute gebaut. Eigentlich wollten wir nur ein Konferenzzentrum für unsere Vereinigung bauen. Aber dann sind wir drauf gekommen, dass wir auch ein Hochhaus bauen können ? unsere eigene Immobilie. " Autor Zhao Weinan ist der Generalsekretär der Vereinigung der taiwanischen Geschäftsleute in Dongguan. Dass das höchste Gebäude der Stadt ihnen gehört, ist kein Zufall. Bis heute stellen die Taiwaner die größte ausländische Gemeinschaft von Geschäftsleuten in Dongguan. 5000 Unternehmen stammen von der Insel, darunter einige der größten Arbeitgeber der Stadt. O-Ton Zhao Weinan 3. Übersetzer ?Dongguan war ja ursprünglich ein Dorf. Hier gab es nichts. Erst als Investoren aus Taiwan und Hong Kong kamen und hier Fabriken gebaut haben, ist hier eine Stadt entstanden. Es kamen Arbeiter, die wollten konsumieren, deshalb sind hier Geschäfte. So ist hier eine ganze Wirtschaftsstruktur entstanden.? Autor Als Deng Xiaoping vor 30 Jahren beschloss, die chinesische Wirtschaft zu reformieren, erklärte er Shenzhen, den Nachbarkreis von Dongguan, zum Versuchslabor. In der Sonderwirtschaftszone wurde der Sozialismus suspendiert und das internationale Kapital hofiert. Shenzhen wurde zu Deng Xiaopings Musterstadt. Und in ihrem Schatten wuchs Dongguan. O-Ton Zhao Weinan Übersetzer "In der Sonderwirtschaftzone Shenzhen war vieles klar geregelt. Hier in Dongguan war das anders. Hier gab es kaum Regeln. Die Lokalregierung wusste das zu nutzen. Wenn die Kader gesagt haben, so wird es gemacht, dann wurde es so gemacht. Es gab hier keine Gesetze, es galt das Wort der Kader. Und weil Taiwan und China ja einmal zusammengehörten, wussten wir Taiwaner am besten, wie wir mit den lokalen Kadern handelseinig wurden. Alles war hier möglich. Deshalb ist ein taiwanisches Unternehmen nach dem anderen hierhergekommen und hier ist eine ganze Produktionskette entstanden." Atmo Druckerei O-Ton James Fu Übersetzer "Was hier anders ist als in Taiwan? Das ist jetzt nicht so günstig, darüber zu sprechen. Nicht vor dem Mikrofon. Es gibt große Unterschiede. Aber ich möchte hier ja weiter arbeiten. Da kann ich nicht alles sagen." Autor Im Verwaltungsgebäude von James Fus Druckerei sitzen mehrere Dutzend Mitarbeiter an kleinen Schreibtischen. Die Arbeitsplätze in dem großen fensterlosen Raum reihen sich eng an eng ? abgetrennt durch schmale Sichtschutzwände. Kleine Arbeitsboxen, in denen man neben dem Computer gerade noch ein Klemmbrett mit Papier ablegen kann. Alle Plätze sind besetzt, ständig bewegen sich die großen Farbdrucker, die im Hintergrund des Raums Musterseiten ausdrucken. Fus Büro ist mit einer Glaswand abgetrennt. Die Tür steht offen. Vor fast 20 Jahren kam er in die Stadt. Seine Frau und seine Tochter blieben zu Hause in Taiwan. O-Ton James Fu Übersetzer "Tatsächlich spielt sich mein Leben hauptsächlich in der Fabrik ab. Ich wohne hier drüben im Fabrikwohnheim.? Atmo Park Autor Nancheng ? die Südstadt. Ein Arbeiter fegt vereinzelte Blätter auf dem Rasen zusammen. Im Hintergrund glitzert die gläserne Fassade eines Palastes in der Sonne ? die Bibliothek von Dongguan. Gegenüber eine Ausstellungshalle, ebenfalls gläsern und ein riesiges - gläsernes - Theater mit Dutzenden Eingängen wie bei einem Stadion. Keines der Gebäude ist älter als zehn Jahre. Dongguan ist eine reiche Stadt geworden. Und hier, in der Südstadt, haben sie sich ein neues Zentrum gebaut. Atmo Büro Autor Gleich gegenüber dem Theater hat Song Ganghu in einem Geschäftsgebäude der billigeren Sorte ein Büro bezogen. Wie die vielen anderen Kontore hier, ist es nur durch eine Glaswand von einem langen Flur getrennt. Die meisten Türen sind mit Fahrradschlössern verschlossen, die um die Griffe gelegt werden. Auch heute am Sonntag verteilt ein Bote Zeitungen. Song Ganghu nimmt sein Exemplar durch einen Türspalt in Empfang. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Nach meiner Verletzung habe ich von der Firma eine Entschädigung verlangt. Bis dahin hatte niemand aus dieser Fabrik jemals eine Entschädigung bekommen. Der Betrieb hat die Behandlung bezahlt und man bekam eine kleine Summe aus der Sozialversicherung ausbezahlt. Damit waren die meisten zufrieden. Sie wussten nicht, dass sie das Recht auf eine Entschädigung haben." Autor Bis 1995 gab es in China keine Gesetze, die Arbeitsbedingungen regelten. Inzwischen hat sich das ein wenig geändert. Eine der Errungenschaften: Bei einem Arbeitsunfall muss der Betrieb eine Entschädigung zahlen. So steht es auf dem Papier. Nur: Im Alltag werden solche Rechte einfach ignoriert. O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Einige Firmenchefs betrachten die Arbeiter als ihr Werkzeug. Der Arbeiter hilft ihnen beim Geldverdienen. Und wenn er sich verletzt, dann ist er nicht mehr zu gebrauchen, er hat keinen Wert mehr. Er bekommt ein bisschen Geld und wird weggeschickt." Autor So ging es auch Song, als er sich 2007 den Daumen durchstanzte. Die Geschäftsführung der Fabrik teilte ihm mit, die Betriebsbestimmungen sähen überhaupt keine Entschädigungen vor. O-Ton Song Ganghu 1. Übersetzer "Es gab da eine kleine Gruppe. Die haben einem bei den Verhandlungen geholfen. Damals bin ich zu einer Versammlung dazugekommen. Da waren zehn oder mehr Arbeiter mit Verletzungen und jeder hat seine Geschichte erzählt. Das hat bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Da habe ich beschlossen, mich dort als Freiwilliger zu engagieren." Autor Song studierte die Gesetze und verschaffte sich offizielle Tabellen, die Entschädigungsansprüche regeln. Er recherchierte, welche Behörden für die Durchsetzung der Ansprüche zuständig sind und wie Gerichtsprozesse funktionieren. Inzwischen leitet er die kleine Organisation mit drei Mitarbeitern und dem unverdächtigen Namen "Wohltätigkeitszentrum Kerzenlicht." O-Ton Song Ganghu Übersetzer ?So viele Jahre habe ich damit verbracht, ständig den Job zu wechseln, bin nie irgendwo geblieben. Aber das hier, das mache ich jetzt schon sieben Jahre, seit ich mich damals verletzt habe. Es ist verrückt. Ich verdiene nicht viel. Aber ich mache trotzdem weiter.? Gong & Atmo Büro O-Ton James Fu Übersetzer "Früher hatten wir jede Woche Stromausfälle. Zweimal in der Woche mussten wir den Generator anwerfen, um weiterarbeiten zu können. Die vielen Fabriken verbrauchten mehr Strom als die Stadt zur Verfügung stellen konnte. Heute gibt es keine Stromausfälle mehr. Es wird jetzt längst nicht mehr so viel Strom verbraucht." Autor Die Geschichte vom Aufstieg der Stadt Dongguan und damit auch die von James Fu`s Druckerei nahm 2008 plötzlich eine unerwartete Wendung. Zuerst gerieten in den USA Banken wegen riskanter Kreditpapiere in Schwierigkeiten. Das Finanzsystem geriet ins Wanken, Unternehmen hatten Schwierigkeiten, an Geld zu kommen, Menschen wurden entlassen, die Konjunktur brach ein. Dann folgte in Europa die Eurokrise. Dongguan, die Stadt, die mit "Made in China" groß geworden ist, schlitterte nun mit "Made in China" in die große Krise. O-Ton James Fu Übersetzer "Unsere Aufträge sind zurückgegangen. Der gesamte Export ist eingebrochen. Vor der Krise haben wir viele Leute beschäftigt. Wir hatten mehr als 700 Angestellte. Heute sind es noch 300." Autor Chinas Regierung reagierte schnell auf den Einbruch der internationalen Märkte. Konjunkturprogramme sollten den Rückgang der Exporte kompensieren. Große Infrastrukturprojekte im Landesinnern boten Unternehmen und Arbeitern neue Perspektiven. Investoren wurden ermutigt, sich in den westlichen Provinzen anzusiedeln. Schnell zog die Konjunktur wieder an. Doch nach Dongguan kamen viele Arbeiter nicht zurück. O-Ton James Fu Übersetzer "Vielleicht liegt es daran, dass die jüngeren nicht mehr bereit sind, so zu arbeiten. Bei uns wird an Maschinen gearbeitet. Das ist anstrengend und schmutzig. Das wollen viele nicht mehr.? Autor Fabriken hatten plötzlich Schwierigkeiten, Stellen zu besetzen. Die Löhne stiegen. Das Modell "Made in China" ? billige Exporte durch billige Arbeitskraft ? geriet in Dongguan an seine Grenzen. O-Ton James Fu Übersetzer ?Wir versuchen, die Kosten zu kontrollieren, müssen Ausgaben reduzieren. Wir ersetzen Menschen durch Maschinen. Die Qualitätskontrolle zum Beispiel machen wir jetzt mit Scannern. Damit werden die Blätter automatisch durchgecheckt. Das geht viel schneller als mit Arbeitern." Autor Mit Kostenkontrolle allein wird James Fu seine Probleme nicht lösen können. Immer mehr potentielle Kunden verlassen Dongguan. Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Landesinnere oder gleich in billigere Länder. Allein 1000 taiwanische Unternehmen haben Dongguan in den letzten Jahren in Richtung Südostasien verlassen. O-Ton James Fu Übersetzer "Das Exportgeschäft wird immer kleiner werden. Wir müssen jetzt versuchen, auf den chinesischen Markt zu kommen. Das ist schwer. In China sind Beziehungen sehr wichtig. Die müssen wir erst noch entwickeln. Wir sind ganz am Anfang. Noch sind 80, 90 Prozent unserer Produktion für den Export bestimmt." Atmo Autor Das Dorf Tiantangweicun liegt am äußersten Rand des Gebiets von Dongguan. Der Ortsname ließe sich übersetzen mit "Umgeben vom Paradies". Wo dieses Paradies liegen soll, erschließt sich allerdings nicht. Die Hauptstraße mit den verkachelten Häusern, auf der ein paar Mopeds auf Fahrgäste warten, ist es jedenfalls eher nicht. Und auch im Haus von Xie Shouxiang erinnert nichts an das Leben im Paradies. Wenn es überhaupt an etwas erinnert, dann an eine kafkaeske Hölle. Atmo Papierrascheln und O-Ton O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Man kann es so sagen: Hier in Dongguan brauchst Du nicht zu versuchen, denen mit der Vernunft zu kommen oder mit der Wahrheit. Du brauchst hier gar nicht erst mit Gesetzen zu argumentieren. Du kannst hier die schlimmsten Verbrechen anzeigen. Die Kommunistische Partei wird die korrupten Beamten niemals belangen." Autor Vor ihm auf dem Tisch liegt stapelweise Papier. Es sind Kopien von Eingaben an Behörden, die Xie Shouxiang im Lauf der letzten 15 Jahre gemacht hat. Mehrseitige Aussagen, von Hand geschrieben. Protokolle, getippt und mit offiziellem Stempel. Eingangsbestätigungen der Beschwerdebüros. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Es fing an damit, dass ich eine Schweinezucht aufgemacht habe. Dann kam die Lokalverwaltung und hat mir die Zucht einfach abgenommen. Sie haben gesagt, ?ihr Bauern dürft keine Viehzucht eröffnen. Das sei Spekulation. Ich bin zur Provinzverwaltung gegangen und habe nachfragt. Sie haben mir gesagt, es gebe gar keine Gesetze gegen Spekulation mehr. Aber hier bei der Polizei haben sie mir gleich noch eine Strafe aufgebrummt und ich musste 1200 Yuan bezahlen." Autor 15 Jahre ist das her. Doch die Wut, die sich auf Xie Shouxiang´s braungebranntem Bauerngesicht abzeichnet, wenn er seine Geschichte erzählt, scheint sich in den Jahren kaum abgekühlt zu haben. Immer wieder tippt der Mann auf eins der Papiere, sucht ein Dokument heraus. 1999 machte er seine erste Eingabe bei den Behörden. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Als ich die Beamten wegen der Schweinezucht angezeigt habe, sind einige Alte aus dem Dorf zu mir gekommen und haben gesagt: ?Erzähl auch die Geschichten, die hier früher geschehen sind?.? Autor Es ging um Vorfälle aus den achtziger Jahren. Das war die Zeit, in der die ersten Fabriken nach Dongguan kamen. Es war die Zeit des Goldrauschs. Wer immer irgendeine Chance sah, an dem industriellen Boom mitzuverdienen, versuchte es. Das ländliche Idyll, das das Leben hier über Jahrhunderte geprägt hatte, ging unter. Und manche Bewohner ließen sich diesen Untergang vergolden. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Damals wollten wir eine Fabrik hier ins Dorf holen. Die Dorfbewohner spendeten 20.000 Quadratmeter Land. Doch die Fabrik wurde nie gebaut. Der Parteisekretär und einige andere Beamte haben das ganze Land einfach selbst genutzt oder verkauft und das Geld behalten. Sie haben uns betrogen." Autor In China gehört das Land in den Städten dem Staat. In den Dörfern gehört es der Dorfgemeinschaft. Sie können entscheiden, ob sie es als Ackerland nutzen oder es bebauen wollen, ob sie es verpachten wollen oder selbst nutzen wollen. Den Parteisekretären und Bürgermeistern auf dem Land bietet das häufig die Möglichkeit, sich zu bereichern. Für Xie wurde der Auftrag der Alten der Beginn eines Lebenswegs, wie es ihn wohl nur in China gibt ? Ein Leben als Beschwerdeführer. O-Ton Xie Shouxiang, chin. Übersetzer ?Einmal hat mich der Vorsitzende der Parteidisziplinarkommission von Guangdong, Yang Changwei, sogar in meinem Haus besucht. Er hat mir versichert, dass die Provinzregierung diese Sache sehr ernst nimmt. Wir werden uns darum kümmern, hat er gesagt. Aber drei Tage später hat unser Kreisvorsitzender den Parlamentspräsidenten Li Peng nach Dongguan eingeladen. Und der Korruptionsbekämpfer war weg." Autor Xie ist überzeugt, dass die korrupten Beamten Schutz von ganz oben genießen. Wie Zehntausende Beschwerdeführer ist auch er mehrmals nach Peking gereist, um Eingaben im Beschwerdebüro der Zentralregierung zu machen. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Wir glauben ja an die Kommunistische Partei. Und wir treten für Gerechtigkeit ein. Wir wollen nicht glauben, dass China unter der Kommunistischen Partei wirklich so ein finsterer Ort ist." Autor Eine Antwort hat Xie auf seine Gesuche bei der Regierung nie bekommen. In seinem Dorf hat sich nichts geändert. Statt der Kader, die er bestraft sehen wollte, landete er selbst für ein Jahr im Arbeitslager. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Sie haben gesagt, ich hätte Staatsgeheimnisse verraten. Indem ich Korruption anzeige, verrate ich also Staatsgeheimnisse. Welche Staatsgeheimnisse bitte soll es in unserem Dorf geben?" Autor Seine Tochter kommt kurz herein, sagt guten Tag und ist schnell wieder draußen. Xie hatte einmal zwei Kinder. Die Tochter und einen Sohn. Der Junge ertrank als Zehnjähriger im Becken eines Wasserwerks. Es war ein Unfall. Die Wachmannschaft war in der Mittagspause und so hat niemand das Kind rechtzeitig gefunden. Xie versuchte Anzeige zu erstatten. Er warf den Betreibern vor, das Becken nicht richtig gesichert zu haben. Doch die Polizei nahm die Anzeige gar nicht erst auf. Das traurige Ereignis befeuerte seine Wut und seine Entschlossenheit. O-Ton Xie Shouxiang Übersetzer "Seit die Leute sehen, wie sich die Beamten an mir gerächt haben, reden sie nicht mehr mit mir. Hier im Dorf steht niemand mehr auf meiner Seite. Auch meine Frau hat sich von mir getrennt.? Atmo Rascheln Autor Und als ob auch das in seinen Papieren stünde, beugt er sich wieder über den Tisch und sucht nach einem weiteren Beleg für das Unrecht, das ihm widerfahren ist. Atmo Moped Autor Dann geht er aus dem Haus und setzt sich auf sein Moped. Er rauscht durchs Dorf, über die neue Umgehungsstraße in einen Waldweg. Zehn Minuten geht es über einen holprigen Lehmweg. Auf einer Lichtung hält er an. Atmo Autor Der Geruch von verbranntem Plastik liegt in der Luft. Zerschnittene Kunststoffteile liegen herum. In einem Kessel brodelt ein Sud aus Essensresten. Das Plastik dient als Brennstoff. Unter einem Wellblechdach dösen ein paar Schweine, so fett, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sie noch auf ihren Beinen stehen können. Xie Shouxiang hat am Ende doch wieder eine Schweinezucht aufgemacht. Daneben liegt ein kleiner Fischteich. Xie holt einen großen Sack mit Fischfutter aus einem Bretterverschlag und beginnt, das körnige Zeug ins Wasser zu werfen. Atmo Fischteich Autor Xie betrachtet die Fische, die sich um das Futter reißen. Zwei Enten stürmen ins Wasser uns schnappen ebenfalls nach dem Fischfutter. Nach einer Viertelstunde hat Xie den ganzen Sack verfüttert. Er betrachtet die Fische und sieht für einen kurzen Moment zufrieden aus. Atmo - Gymnastikstudio O-Ton Xiao Xiang Übersetzerin "Als ich hierhergezogen bin, wusste ich nicht, was das für ein Ort ist. Erst nach einem halben Jahr haben mich Leute gefragt, wo ich wohne. Und ich habe geantwortet: in Houjie. Da haben sie mir gesagt, was hier los ist. Natürlich hatte ich mich über die vielen Mädchen gewundert, aber erst da habe ich erfahren, dass das hier ein spezieller Ort ist. Das hier war ein Paradies für Männer, jeder wusste das. Es hat niemanden interessiert. Das war kein Geheimnis." Autor Houjie ist ein Vorort im Süden von Dongguan. Xiao Xiang und Peipei sitzen im Vorraum eines Gymnastikstudios auf Kissen und trinken Tee. Xiao Xiang hat das Studio vor ein paar Jahren aufgemacht. Peipei ist Joga-Lehrerin. O-Ton Peipei Übersetzerin "Eine Freundin hatte hier ein Geschäft. Alle Kundinnen waren solche Mädchen. Da fragst Du nicht groß nach. Die geben viel Geld aus. Unsereins kauft ja keine Schuhe für 800 Yuan. Aber es gab immer viele Mädchen, die sich das leisten konnten." Autor Peipei, weißes T-Shirt, Jeans, sitzt an dem niedrigen Tisch. Vor einigen Jahren hat es sie hierher nach Dongguan verschlagen, anlässlich der Hochzeit einer Freundin. Und weil sie keine Lust mehr auf die Schule hatte und auf ihren Aushilfsjob im Restaurant eines Onkels, ist sie in Dongguan geblieben. O-Ton Peipei 2. Übersetzerin "Irgendwann war mir langweilig. Da habe ich gedacht, ich mache mal was für meine Gesundheit und bin in ein Joga-Studio gegangen. Nach einiger Zeit haben sie mir angeboten, mich zur Trainerin auszubilden. Das fand ich gut. Eine Jogastunde dauert eine oder eineinhalb Stunden. Dann bekommst du dein Geld. Woanders muss man den ganzen Tag dafür arbeiten." Autor Es ist früher Nachmittag. Im Studio ist nicht viel los. Nebenan machen ein paar Frauen ihre Übungen. Peipei hat noch Zeit bis zu ihrem nächsten Kurs. Sie verabschiedet sich von ihrer Chefin und geht nochmal für ein paar Stunden nach Hause. Atmo Autor In ihrem winzigen Zimmer setzt sich Peipei auf das bunt bezogene Bett. Neben dem kleinen Kühlschrank ist es das einzige Möbelstück im Raum. Im Flur stehen Säcke mit Kleidungsstücken und anderen Textilien herum, in Plastik verpackte T-Shirts, Jeans, Röcke liegen auf und neben dem Bett. Dazwischen Supermarkttüten mit Knabberei und Getränkedosen. O-Ton Peipei Übersetzerin "Die Kleidung verkaufe ich abends auf der Straße. Das mache ich eigentlich mehr aus Langeweile. Abends kommen Leute von außerhalb, die kaufen das." Autor Wenn man Peipei zuhört, kann man den Eindruck gewinnen, als sei die größte Herausforderung in ihrem Leben der Kampf gegen die Langeweile. Peipei ist Mitte zwanzig. Sie mag große Sonnenbrillen und hat eine ziemlich unbekümmerte Art, Dinge zu erzählen. O-Ton Peipei 2. Übersetzerin ?Ich habe mir jetzt vorgenommen, morgens früh aufzustehen und abends spät ins Bett zu gehen. Aber ich bin so faul. Manchmal habe ich gar keine Lust aufzustehen. Oft schlafe ich mehr als zehn Stunden.? Autor Ihr Wohnheim ist eines jener Gebäude, die es überall gibt in den Industriegebieten in China. Häuser aus Beton, schnell hochgezogen, mit langen Korridoren, in denen sich nummerierte Türen aneinanderreihen. Dahinter jeweils ein kleiner Raum mit Bad und Kochnische. Eine typische Unterkunft für Wanderarbeiter. O-Ton Peipei Übersetzerin ?Nachts konnte man hier die Mädchen manchmal weinen hören. Und dann konnte man hören, wie sie Krach mit einem Mann hatten. Man konnte hören, wie sie geschlagen wurden. Trotzdem blieben sie bei diesem Mann.? Autor Peipeis Leben spielt sich an einem Ort ab, den man im ganzen Land als "Sexhauptstadt" kennt. Genau kann heute kaum noch jemand sagen, wann aus dem öden Industrieort eins der Zentren der Sexindustrie wurde. Wahrscheinlich hat es schon vor der Krise angefangen, als Geschäftsleute aus aller Welt in großer Zahl in die Stadt kamen. Vielleicht ging es auch danach erst richtig los, als die Fabriken Tausende junge Frauen auf die Straße setzten, als Geschäfte schlossen und Wohnheime sich leerten. Niemand weiß, wie viele Prostituierte am Ende hier gearbeitet haben. Vielleicht waren es tatsächlich Hunderttausend, wie es Zeitungen unter Berufung auf "Schätzungen" melden? O-Ton Peipei Übersetzerin "Wir hatten immer Kontakt zu den Mädchen, man hat mit ihnen geplaudert, wenn man sie getroffen hat. Aber ich habe auch immer aufgepasst, dass ich nicht zu eng mit ihnen befreundet bin. Viele hatten ja einen Freund ? also keinen richtigen Freund, sondern einen ? das ist jetzt kein schönes Wort ? einen Wachhund. Und man musste Angst haben, dass man auch in die Fänge dieser Männer gerät." Autor Wenn Peipei erzählt, klingt es, als habe sie nie etwas anderes gekannt, als das Nebeneinander von Rotlichtmilieu, Geschäften und Fabriken. Dabei stammt sie wie die meisten hier aus einem kleinen idyllischen Dorf in Zentralchina. O-Ton Peipei Übersetzerin "Weil hier so viele Mädchen gearbeitet haben, war hier immer was los. Es gab viel zu tun. Die Mädchen müssen ja essen. Und sie müssen sich einkleiden und wohnen. Außerdem gab es sehr viele Kosmetiksalons und Friseure. Und die Wohnheime. Das Geschäft lief für alle super." Autor Peipei wurde Vertreterin für Kosmetikprodukte - eine der Branchen, die in der Stadt ganz besonders florierten. Gong O-Ton CCTV-Reporter Übersetzer "Der Reporter betritt das Hotel und ein Manager begrüßt ihn. Der Manager führt den Journalisten in einen großen Saal und sagt: Gleich beginnt das Casting." TV-Musik O-Ton Reporter Übersetzer "Zwei Minuten später kommen mehr als ein Dutzend junge Frauen auf die Bühne.? Atmo O-Ton Reporter Übersetzer ?Jedes der Mädchen hat ein Schild mit einer Nummer umgehängt. Wenn dem Kunden ein Mädchen gefällt, dann sagt er dem Manager die Nummer und der Manager sorgt dafür, dass der Kunde mit dem Mädchen auf eins der Hotelzimmer gehen kann. Alle Anwesenden hier suchen käuflichen Sex" Klangholz Autor Im Februar 2014 entschloss sich Chinas Zentralfernsehen, den Chinesen zu zeigen, was im ganzen Land ein offenes Geheimnis war. Mit versteckter Kamera klapperte ein Reporter die Saunaclubs und Massagezentren der Industriestadt ab. Der Bericht war der Startschuss für eine Kampagne gegen Prostitution in der Stadt. O-Ton Peipei Übersetzerin "Ich war zu Hause bei meinen Eltern. Aber in den Nachrichten kam nichts über eine Katastrophe oder einen Unfall in Dongguan. Dann erst habe ich erfahren, dass sie Razzien machen." Autor In China ist Prostitution verboten ? allgegenwärtig ist sie trotzdem, nicht nur in Dongguan. Ging man in Dongguan gegen die Prostitution vor, weil es allzu offensichtlich war? Oder fand ein Machtkampf statt, der auf die Parteielite in der Stadt zielte? Hat der Fernsehbericht die Behörden aufgerüttelt? Oder wurde er gezielt lanciert, um gegen die Prostitution vorgehen zu können? O-Ton Peipei Übersetzerin "Als ich nach den Razzien nach Houjie zurückgekommen bin, waren die meisten Mädchen noch hier. Sie haben abgewartet und gedacht, es wird schon vorbeigehen. Aber dann gab es neue Razzien. Alle Bars, alle Karaoke-Läden wurden geschlossen. Selbst diejenigen, in denen es gar keine Mädchen gab. Man kann jetzt nicht einmal mehr eine Massage hier bekommen. Selbst die teuren Orte haben sie geschlossen. Alles ist jetzt zu." Autor Houjie ist nach den Razzien ein zweites Mal in die Krise geraten. Nach den Bars und Karaoke Schuppen traf es die Friseure, Kosmetiker und die Boutiquen. Die Gitter vor vielen Geschäften sind runtergelassen. Die ersten Hotels haben geschlossen. Andere haben in ihren Fenstern Schilder aufgestellt, die mit Rabatten werben. Peipei wird jetzt erstmal abwarten. O-Ton Peipei Übersetzerin ?Meine Eltern wollen, dass ich zurückkomme. Sie finden, ich gebe zu viel Geld aus. Sieben, achttausend Yuan verdiene ich im Monat, aber ich kann locker mehr ausgeben. Ich bitte meine Eltern manchmal, mir etwas zu schicken. Dann schimpfen sie und sagen, ich soll nach Hause kommen und einen Laden aufmachen, mir ein stabileres Leben suchen. Aber ich denke, ich bin noch jung. Ich will noch ein bisschen Spaß haben. Wir können ja in ein paar Jahren nochmal darüber sprechen.? Atmo Autor Houjie ? der gleiche Vorort. Ein Dorf am Ortsrand. Hier deutet nichts auf die schillernde Vergangenheit der Stadt hin. Irgendjemand hat seinen Kleinwagen auf einem Basketballplatz geparkt, der hier ziemlich verloren in die Landschaft gebaut wurde. Daneben drängt sich eines jener eng bebauten Arbeiterdörfer. Nur ein alter Tempel unterbricht die Häuserfront. Gegenüber, auf der anderen Seite des Sportfelds grüne Hügel. Ein abschüssiger Weg führt zu einem Industriegelände, auf dem sich blaue Metallfässer stapeln. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Wir haben diese Fässer immer an der Falz aufgeschnitten. Jedes einzeln. Und dann haben wir sie in eine Metallpresse geschoben. Dort werden sie dann wieder zu Blech gewalzt." Autor Auf einem Mäuerchen am Rand des unbenutzten Basketballfeldes sitzt Huang Riqiu und nestelt nervös an einer Plastiktüte. Neben ihm Song Ganghu, der Mann vom ?Wohltätigkeitszentrum Kerzenlicht.? Näher an die Fabrik möchten beide nicht herangehen. Denn mit dem Besitzer ist Huang im Streit. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer Als ich gerade ein Stück Blech in die Maschine geschoben habe, bin ich an einer Ecke hängengeblieben und da ist meine Hand in die Presse geraten. Die Maschine hat nicht gestoppt. Autor Jetzt fehlen Huang drei Finger an der rechten Hand. Song Ganghu drängelt ein wenig. Er möchte dem Fabrikbesitzer nicht begegnen. Kurz verhandelt er mit einem Mann, der bei offener Fahrertür in seinem Auto sitzt. Es ist ein sogenanntes schwarzes Taxi, das Fortbewegungsmittel in den Vororten, wo die städtischen Taxis selten hinkommen. Atmo Autofahrt Autor Im Auto geht es über einen Feldweg, plötzlich eine Mülldeponie mitten im Grün. Dann wieder Felder. Obstgärten. Die Piste mündet auf eine achtspurige Straße, die in die Vorstadt Humen führt. In einer Seitenstraße hält das Auto. Atmo Autotüren Schritte Schlüssel Autor Huang schließt die Tür zu einer kleinen Hütte auf. Von der Decke, die mit Pappe verklebt ist, hängt ein riesiger kaputter Ventilator. Ein Sack Reis steht auf einer Holzpritsche, daneben ein Teekessel, weiter hinten ein Bett mit einem Moskitonetz. Die Hitze steht in der Hütte. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Entschuldigung. Es ist mir sehr unangenehm. Setzt Euch." O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Ganz schön heiß ist es bei Euch. Wo schlaft ihr? Da hinten? Können wir uns hier hinsetzen?? Autor Song setzt sich auf eine Holzpritsche, während Huang nach draußen geht, um ein paar Früchte zu kaufen. Seine Frau setzt sich dazu. Sie sei erst vor zehn Tagen aus dem Dorf gekommen, um ihrem Mann zu helfen, erzählt sie, ihre beiden jüngsten Kinder seien bei den Großeltern geblieben, sie gingen ja noch zur Schule. Atmo Huang Autor Huang kommt mit einer Tüte Litschis zurück. Seine Frau und er stammen aus einem Dorf im nördlichen Teil der Provinz Guangdong ? etwa 200 Kilometer von hier. Das erste Mal kam er 1988 nach Dongguan. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Ein paar ältere Brüder aus dem Dorf hatten hier Arbeit gefunden. Sie haben mich mitgenommen. Wir mussten um 6 Uhr losfahren. Die Straßen waren kurvig und schlecht. Am ersten Tag haben wir die halbe Strecke geschafft. Dann wurde es dunkel. Erst am zweiten Tag sind wir hier angekommen." Autor Heute führt eine Autobahn von seiner Heimatregion nach Dongguan. Zwei Stunden dauert die Fahrt. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Wir haben damals alle auf dem Bau gearbeitet. Sechs Yuan hat man damals am Tag verdient. Im Monat brachte man es auf 100 Yuan. Zum Leben brauchte man nur wenig davon. Das meiste konnte man nach Hause schicken." Autor Nach heutigem Kurs würde dieses Monatseinkommen etwa zehn Euro entsprechen. Doch damals gab es keinen Wechselkurs. Ausländer durften gar kein chinesisches Geld besitzen. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Wir waren nicht reich. Aber es war anders als heute. Wir waren jung. Alle jungen Leute haben es damals so gemacht. Man kam her, hat ein bisschen gearbeitet, und wenn die Arbeit nach einer gewissen Zeit beendet war, dann hat man sich amüsiert. Es war nicht so wie jetzt, wo man das ganze Jahr in der Stadt schuften muss." Autor Beim Blech-Recycling hat Huang zuletzt 3.000 Yuan verdient, 300 Euro. Er ist 45 Jahre alt. Doch die sonnengegerbte Haut in seinem Gesicht lässt ihn älter aussehen. Huang fährt mit der gesunden Hand über seine Fingerstümpfe. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "So ganz verheilt sind sie noch nicht. Sie fühlen sich noch nicht gut an. Hier vorne sind sie glaube ich immer noch entzündet." Autor Nach seinem Unfall hat Huang einige Monate im Krankenhaus gelegen. Er verdient seitdem nichts mehr. Seine Frau muss jetzt das Geld für die Familie verdienen. Der Besitzer der Firma hat ihm einen Jahreslohn als Entschädigung angeboten ? viel zu wenig, findet er. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Ich möchte diese Sache nach dem Gesetz lösen. Ich werde mich zuerst ans Arbeitsbüro der Regierung wenden und dann an ein Gericht. Aber ich glaube, ich habe wenig Chancen zu gewinnen. Wenn das Gericht mir eine Entschädigung zuspricht, dann wird er nicht bezahlen wollen. Er wird einfach abhauen und sich verstecken." O-Ton Song Ganghu Übersetzer "Keine Sorge. Wenn Du ein Urteil hast, kannst du es vollstrecken lassen. Du kommst an Dein Geld." O-Ton Huang Riqiu Übersetzer ?Ich habe wirklich Angst dass er wegrennt. Dieses Leben ist schwer. Ich möchte nach Hause gehen. Zu Hause warten zwei Kinder auf uns. Aber solange diese Frage nicht gelöst ist, kann ich nicht nach Hause. Je länger das dauert, desto nervöser werde ich.? Autor Huang und Zeng haben insgesamt drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. 12, 14 und 16 Jahre sind sie alt. O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Die älteste ist gerade losgezogen, um Arbeit zu finden. Sie hat die Mittelschule abgeschlossen und ist mit einer Mitschülerin nach Zhejiang gegangen. Ich weiß gar nicht genau, was sie dort macht." Musik O-Ton Huang Riqiu Übersetzer "Ich habe versucht, ihr einen Rat zu geben. Ich habe ihr gesagt, wenn Du Geld verdienen willst, kannst Du auch zu Hause einen Job finden. Und dann lernst Du einen Beruf. Wenn Du einen Beruf hast, hast Du es leichter, dann kannst Du mehr verdienen. Aber in dem Alter denken sie nicht sehr weit. Sie ist wie wir damals. Wir wollten ja damals auch unbedingt sofort los und Geld verdienen. Das Hirn denkt einfach nicht so weit. Ich wollte ihr helfen, ihr einen Rat geben. Aber sie hat nicht auf mich gehört." Autor Huang zuckt mit den Schultern. Er sitzt auf der Pritsche in dem alten Haus. Die Glühbirne über seinem Kopf wirft einen Schatten um seine Augen. Huang Riqiu sieht jetzt sehr traurig aus. Absage Werkbank Dongguan Lebenswege Made in China Ein Feature von Mathias Bölinger Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014. Es sprachen: Philipp Schepmann, Bernd Blömer, Jochen Langner, Volker Niederfahrenhorst, Jochen Kolenda, Axel Gottschick, Nicole Engeln und Bettina Scholmann Ton und Technik: Gunther Rose und Katrin Fidorra Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Hermann Theißen Gong 1