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Wir haben sein Abiturszeugnis, wo steht: Wernher von Braun will Techniker werden. Also, wo schon jemand mit 18 Jahren genau weiß, das ist mein Ziel. Er war wirklich Visionär des Weltraums, und die einzige Möglichkeit, die es damals gab, war eben das Militär. Sprecher Auf dem Raketenflugplatz in Berlin-Tegel experimentierte Wernher von Braun zusammen mit anderen jungen Leuten, um Raketen zum Einsatz zu bringen. Bis eines Tages Herren vom Heereswaffenamt auftauchten und sich für die Amateure zu interessieren begannen. Das war 1932. Von Braun war damals zwanzig Jahre alt. O-Ton 2, Holger Steinle Das Militär war interessiert an einer Waffe, die praktisch die Artillerie, die in Deutschland verboten war durch den Versailler Vertrag, die dieses Verbot aushebeln konnte, eine fliegende Kanonenkugel, die aber nicht aus einem Geschütz abgefeuert wurde, sondern sich selbst ins Ziel brachte. Die Militärs waren dann von dieser Idee angetan, dass man eine praktisch unbesiegbare Waffe schaffen kann - Raketen waren damals nicht abzuschießen mit ihrer mehrfachen Schallgeschwindigkeit. Deshalb wurde Geld in die Entwicklung dieser Waffe gesteckt, im großen Rahmen ab 1936 mit der Wiederaufrüstung. Sprecher Wernher von Braun war jung und begeisterungsfähig, ein kaltblütiger Idealist, fasziniert von der Dynamik des Raketenfeuers. Darin sah er die Energie, die den Menschen über alle Grenzen hinaus ins Universum, zu anderen Sternen hin bringen würde. Das Wissen hatte er aus dem Buch "Die Rakete zu den Planetenträumen" von Hermann Oberth, in Verbindung mit seinem Ingenieursstudium an der Technischen Hochschule Berlin. Atmo: Fliegergeschwader Sprecher Die Luftwaffe war der besondere Stolz des Naziregimes. Sie galt 1939 als die stärkste der Welt. Etwa 2.000 Kampfbomber standen ihr zur Verfügung. Für Wernher von Braun bot die Situation einzigartige Möglichkeiten, sein Interesse an der Raketenforschung auszuleben. Später bekannte er: Zitator, Wernher von Braun "Als junger Mensch war ich kaum interessiert an ,der Welt um mich herum' und regelrecht naiv in meinen politischen Ansichten. Zum Beispiel maß ich Hitlers Aufstieg zur Macht 1933 keine weitere Bedeutung bei, außer vielleicht insofern, dass mein Vater dabei seine Stellung verlor. Wie grundlegend die Veränderungen waren, die in Deutschland stattgefunden hatten, dämmerte mir erst nach und nach." O-Ton 3, Holger Steinle Eine Waffe zu bauen, war ihm nur ein Vehikel. Endlich hatte er Geld, unbeschränkte Forschungskapazitäten, denn die technischen Fragen, die er lösen musste, waren immens. Das war das größte Forschungsrüstungsprojekt im Dritten Reich, bis es endlich gelang, diese Technik erfolgreich zu realisieren. Dass dann eine Tonne Sprengstoff statt anderer Dinge oben in die Rakete reinkam, das war eben der Preis, den er dafür bezahlen musste. Ich denke, 1945, wenn die Russen ihn benutzt hätten, er hätte auch bei den Russen mitgearbeitet. Er war besessen von dem Traum des Flugs ins All. Und wer ihm die Möglichkeit dazu gibt, wes Geld ich nehm, des Lied ich sing. Wernher von Braun war meiner Meinung nach kein überzeugter Nationalsozialist. Er war besessener Techniker. Sprecher Politik und Wissenschaft. Wernher von Braun war der Prototyp des unpolitischen Wissenschaftlers. Und das Musterbeispiel eines Wissenschaftlers, der von der Lüge lebte, dass Wissenschaft und Politik getrennte Welten seien. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass er bis 1945 nicht habe durchschauen können, dass er für die Wehrmacht Mittel zum Zweck gewesen sei. O-Ton 4, Holger Steinle Natürlich hat der Ingenieur eine Verantwortung für die Sache, die er macht. Es wäre wirklich zu wünschen gewesen, wenn Wernher von Braun sich später einmal erklärt hätte, wie er zu der ganzen Sache steht. Selbst so nicht ganz lautere Charaktere wie der Rüstungsminister Speer hat ja im Rückblick doch gesagt, dass er das heute anders sieht und dass das Mitmachen in einem verbrecherischen System war. Solche Rückblicke kamen bei Wernher von Braun nie. Es ist nichts bekannt geworden. Ich denke aber auch vor dem Hintergrund, weil er durch solche Äußerungen das Ganze, seinen Traum, gefährdet hätte, wenn er gesagt hätte, diese Rakete, die ich hier entwickle, die entstand mit viel Blut, hierfür starben Tausende von Zwangsarbeitern. Dann wäre doch auch in einer Gesellschaft wie in den USA sofort die Frage entstanden: Wieso lassen wir so jemanden hier weitermachen, der solche Verfehlungen begangen hat? Von daher hat er immer versucht, diesem Thema auszuweichen, keine Stellung zu beziehen. Sprecher Aus dem Jahr 1965 ist ein aufschlussreiches Gespräch mit ihm überliefert. Der Mann, dessen Raketen einst auf London und Antwerpen zielten, war nun leitend am Weltraumprogramm der USA beteiligt. Ein West-Berliner Reporter befragte ihn während einer Autofahrt von Berlin- Wannsee, wo er an einem Galadinner mit dem amerikanischen Stadtkommandanten teilgenommen hatte, zur Technischen Universität, wo er einen Vortrag über das Apollo- Programm halten sollte. O-Ton 5, Wernher von Braun Mit dem Saturnprogramm sind wir heute zum ersten Mal dabei, wirklich Raketen zu bauen, die ausschließlich für die zivile bemannte Weltraumfahrt da sind, die gar keine militärische Anwendung mehr haben oder haben sollen, für die auch gar keine geplant ist. Insofern bauen wir jetzt nur noch das, was für den bemannten Flug nötig ist und können all diesen Bombenzauber vergessen. Reporter: Sind Sie froh darüber? Ja, sehr. Sprecher Man spürt in diesen zwei Worten die große Erleichterung, keine heikle Fragen zu einem Kapitel gestellt zu bekommen, das abgehakt sein sollte, aber nicht abgehakt werden kann, wenn man nur daran denkt, dass beim Bau der V-2-Rakete im KZ Mittelbau-Dora etwa 20.000 Häftlinge ums Leben kamen - weit mehr Menschen, als beim Einsatz der Rakete getötet wurden. Deren Zahl beträgt etwa 8.000. Atmo: Bomben fallen O-Ton 6, Adolf Hitler Wenn die britische Luftwaffe zwei- oder drei oder viertausend Bomben wirft, dann werfen wir in einer Nacht 150-, 180-, 230-, 300- oder 400 Tausend. Wenn sie erklären, sie werden unsere Städte im großen Ausmaß angreifen - wir werden ihre Städte ausradieren. Sprecher Als Wernher von Braun, noch auf dem Raketenflugplatz Tegel, vom Militär angeheuert wurde, gab es in Deutschland sechs Millionen Arbeitslose. Am 30. Januar 1933 zog Hitler in die Reichskanzlei ein, einen Monat später brannte der Reichstag und wieder einen Monat später war Hitler ein Regierungschef mit diktatorischen Vollmachten. Politische Gegner verschwanden in Gefängnissen, jüdische Geschäfte wurden boykottiert. Wernher von Braun aber war Techniker, er interessierte sich nicht für Politik. Interessant war für ihn, welche Möglichkeiten ihm das Militär bot, das ihn angeworben hatte. Hubert Reile vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt: O-Ton 8, Hubert Reile Ich glaube, dass er da in seinen Traum jeweils abtaucht und das macht einen nicht unschuldig. Das heißt, er hat das gesehen, und im Grunde genommen, einem Intellektuellen, einem klugen Menschen wie von Braun, dem muss man eher noch vorwerfen als dem durchschnittlichen Deutschen damals, dass er sehen musste, wo das hinführt. Aber wie viele andere zu der Zeit, die auch mitgelaufen sind, hat er wahrscheinlich seine persönlichen Entschuldigungen dafür immer wieder angepasst. Sprecher Auch in späteren schriftlichen Zeugnissen beteuert Wernher von Braun, dass er politisch uninteressiert gewesen sei und deshalb die Welt um sich herum nicht genügend gesehen habe. O-Ton 9, Hubert Reile Das kann man nicht wirklich glauben. Er stammt ja nicht aus einem unpolitischen Elternhaus. Sein Vater war Reichsminister, stand mitten in der Öffentlichkeit. Er war wirklich Angehöriger der Elite, der gute Wernher. Und dass er sagt, das hat mich alles nicht interessiert, also worüber haben die denn zu Hause gesprochen? Wer, wenn nicht der Sohn eines Reichsministers, sollte in der Lage gewesen sein zu erkennen, wo das politisch hinführt? Die ganze Familie war politisch engagiert, allerdings eben, das muss man sagen, politisch wahrscheinlich anfällig auch gegenüber den Ideen der Nazis. Das Elternhaus war deutsch- national, nicht nationalsozialistisch. Dass das dann verbunden wurde mit Rassenwahn, das hat einen überrascht, davon hat man sich innerlich distanziert, aber die innere Distanz hat nicht gereicht. Sprecher 1933, als Hitler an die Macht kam, wurde Wernher von Braun Mitglied der SS. Mit derselben Konsequenz, mit der er die Mathematik grundlegend gelernt hatte, begriff er bereits als Student, dass die Raketentechnik, wie er sie auf dem Raketenflugplatz in Tegel betrieben hatte, nie zu den Sternen führen würde. Er war voller Tatendrang, hatte einen Blick für das Wesentliche und die Fähigkeit, andere mitzureißen. 1937 übernahm er die Leitung der neu gegründeten Heeresversuchsanstalt in Peenemünde. Seine wichtigste Aufgabe war die Entwicklung von Raketen, die im Luftkrieg eingesetzt werden konnten. Mit zum Teil utopischen Versprechungen bemühte er sich um die Gunst Hitlers. Seit 1941 trat die Serienproduktion raketengetriebener Waffen neben die Forschung. Bald mangelte es an Arbeitskräften aufgrund des Krieges. Die SS verschaffte ihm ein riesiges Heer an Zwangsarbeitern. Nachdem ein britischer Bombenangriff 1943 Peenemünde getroffen hatte, wurde die Hauptproduktion in einen riesigen Bergstollen verlagert: in das Raketenwerk Mittelbau Dora, in der Nähe von Nordhausen im Harz. Im November 1942 begann die Rote Armee ihre Offensive bei Stalingrad. Das beschleunigte das Raketenprogramm. Immer mehr Arbeitskräfte aus den KZs wurden eingesetzt. Goebbels rief den "totalen Krieg" aus und verlangte nach der "Wunderwaffe", um die Übermacht der Feinde zu bezwingen. Wernher von Braun arbeitete unter Hochdruck. Über den rücksichtslosen Einsatz der KZ- Häftlinge muss er viel mehr gewusst haben, als er jemals zugegeben hat, meint Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. O-Ton 10, Jens-Christian Wagner Das erste Dokument, das ihn mit dem Einsatz von KZ-Häftlingen in Verbindung bringt, stammt vom 25. August 1943. Das ist ein Besprechungsprotokoll. Darin heißt es, dass die in Peenemünde eingesetzten KZ-Häftlinge mit den Maschinen nach dem Luftangriff, der einige Tage vorher stattgefunden hat auf Peenemünde, in unterirdische Stätten verlagert werden sollen. Sprecher Er hat gesehen, dass die Menschen unter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Mittelbau-Dora allmählich zu Grunde gingen. Zitator, Fritz Güntsche ",Wir haben nichts gewusst von alledem, was im Kohnstein und Lager Dora geschah!' So sagen alle die, die man jetzt verantwortlich macht für die Folgen des Naziregimes. Wer aber so etwas sagt, der lügt!" O-Ton 11, Jens-Christian Wagner Dieses Zitat stammt von einem ehemaligen Lehrer, und der regt sich über seine Mitbürger auf, die behaupten, von nichts gewusst zu haben und sagt: Ihr habt doch jeden Abend das Klappern der Holzschuhe gehört, wenn die Häftlingskolonnen durch die Stadt zogen, ihr habt das Krematorium rauchen sehen, ihr habt das verbrannte Fleisch gerochen. Jeder von euch hat das mitbekommen und viele von euch haben mitgemacht. Sprecher In den eineinhalb Jahren, in denen in Mittelbau-Dora unterirdisch Wernher von Brauns Raketen produziert wurden, starben 20.000 von 60.000 Häftlingen. Er habe persönlich nie an Gewalttaten oder körperlichen Misshandlungen von Gefangenen teilgenommen, beteuerte Wernher von Braun später und wies Verantwortung von sich. Ihm ging es darum, das Raketenprogramm voranzubringen und alles andere ging ihn nichts an: Die Behandlung der Gefangenen sei einzig Sache der SS gewesen. O-Ton 12, Jens-Christian Wagner Wernher von Braun war in diesem Fall mindestens Komplize dieses Verbrechens. Sprecher Urteilt Jens-Christian Wagner, der Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Die Theorie, dass Wissenschaft und Technik neutral und unpolitisch seien, erweist sich bei Wernher von Braun als bloße Schutzbehauptung. O-Ton 13, Jens-Christian Wagner Selbstverständlich, und Wernher von Braun war ein Meister des Agierens im politischen Raum, immerhin hat er zweimal vor Hitler einen Vortrag gehalten und mit ganz gezielter politischer Agitation den so genannten Führer davon überzeugt, weiterhin in das Raketenprogramm zu investieren, um den Feind zu bekämpfen. Später war von Braun ein Meister der Selbstinszenierung, auch der Selbstvermarktung, nicht zuletzt durch seinen engen Zugang zu Präsident Kennedy. Insofern führt seine eigene Biographie, die Behauptung, dass Politik und Technik zwei verschiedene Sphären seien, völlig ad absurdum. Sprecher 1965 äußerte sich Werner von Braun in einem Vortrag an der Technischen Universität Berlin zu dem Thema "Rakete als Waffe". O-Ton 14, Wernher von Braun Die Rakete hat eine praktische Anwendung nicht nur gefunden auf dem Gebiet der Erforschung der Planetenräume und des Mondes, sondern, wie Sie alle wissen, auch als Waffe. Wir alten Raketenleute haben das oft bedauert. Und doch glaube ich, dass diese Entwicklung nicht sehr ungewöhnlich ist. Genau wie es in der Fliegerei 25 Jahre gedauert hat und in allen Ländern der Welt die Entwicklung der Fliegerei praktisch nur mit militärischen Mitteln gefördert wurde. Der Einsatz der Rakete als Waffe ist häufig kritisiert worden. Ich glaube aber, dass die Schaffung der Raketenwaffe auch etwas sehr Positives für sich hat. Ich möchte so weit gehen, dass ich sage, sie ist heute der wirksamste Friedenshüter der Welt geworden. Ich glaube jedoch, dass die nachhaltigste Wirkung, die die Rakete im menschlichen Leben haben wird, nicht ihr Einsatz als Waffe sein wird. Ich glaube, ihre wichtigste Rolle wird sein, dass sie den Arbeitskreis, den Wirkungskreis des Menschen über seinen Heimatplaneten hinaus erweitern und ihm das Universum erschließen wird. Sprecher Wernher von Braun war ein Visionär. Es ist kein Zufall, dass die Amerikaner ihn nach 1945 für sich entdeckten, obwohl er eigentlich vor das Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg gehört hätte. Er vereinigte außergewöhnliches technisches Können, Forscherelan und Phantasie für die technischen Möglichkeiten des neuen Zeitalters auf sich: eine erlesene Kombination für eine Weltmacht, die sich nicht zuletzt wissenschaftlich-technisch beweisen musste. 1965, als er seinen Auftritt in West-Berlin hatte, war nicht die Zeit, um bohrende Fragen nach seiner Vergangenheit zu stellen. Vielmehr waren die Zuhörer fasziniert, von ihm zu hören, dass im Raketenzeitalter Telefonverbindungen über den Atlantik per Nachrichtensatellit möglich würden. O-Ton 15, Wernher von Braun Ein Gespräch von Europa nach den Vereinigten Staaten oder auch nach Südamerika wird ein derartiges Gemeingut werden, dass Sie nicht mehr darüber nachzudenken haben als bei einem Gespräch in derselben Stadt. Es wird internationales Fernsehen geben, es wird internationale Telegrafie geben, die Satelliten verwenden. Sprecher Nach Hitlers Tod nutzte er schnell die Gelegenheit, zu den Amerikanern überzulaufen. Er sagte ihnen gleich: "Mein Land hat zwei Weltkriege verloren. Diesmal möchte ich auf der Seite der Sieger stehen." Der unpolitische Wissenschaftler hatte ein feines politisches Gespür dafür, wie er sich den neuen Herren andienen konnte. Die Zukunft sollte nicht von der Vergangenheit überschattet werden: Diese Haltung war der Schlüssel, um die Türen der Amerikaner zu öffnen. Deren Fragen nach der Verantwortung des Physikers wurden nicht mit einer Konsequenz gestellt, die seine berufliche Laufbahn gefährdet hätte. Von Brauns Wissen und Fähigkeiten waren offensichtlich für die Amerikaner zu wertvoll, um sie ungenutzt zu lassen. Und Wernher von Braun hatte keine Probleme damit, bei seiner Arbeit die Seiten zu wechseln. Wenn auf ihn das Etikett "unpolitischer Wissenschaftler" zutrifft, dann nur in dieser Hinsicht: Ob an der Startrampe seiner Raketen die Hakenkreuzflagge oder das Sternenbanner wehte, war für ihn unerheblich. O-Ton 16, Holger Steinle Der Ost-West-Konflikt ist da eine ganz zentrale Sache, um die Vergangenheit vieler dieser Forscher einfach zu versiegeln, wie eine ägyptische Grabkammer. Nicht daran rühren! Der hilft uns jetzt mit dem ganz Bösen auf der anderen Seite, diesen Wettlauf zu gewinnen. O-Ton 17, Sputnik der Sputnik-Piep-Ton Sprecher Oktober 1957, der Sputnik-Schock. O-Ton 18, Gagarins Weltraumflug kurzer Archiv-Ton Sprecher April 1961 - Jurij Gagarin, der erste Mensch im All: der zweite Schock. Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war auch ein Kampf um die Vorherrschaft in der Raumfahrt. Die sowjetischen Raumflüge waren für die USA eine Herausforderung. Im Mai 1961, einen Monat nach Jurij Gagarins Weltraumflug, sagte der neue US-Präsident John F. Kennedy der sowjetischen Vormachtstellung im All den Kampf an. O-Ton 19, John F. Kennedy The dramatically ... everywhere. Sprecher Die dramatischen Vorgänge im Weltraum in den zurückliegenden Wochen hätten alle sehr beeindruckt, so wie es Sputnik getan habe, sagte Kennedy. Und beschwor die Amerikaner, endlich einmal erste im Weltraum zu werden. O-Ton 20, John F. Kennedy I believe that this nation ... safely to the earth. Sprecher Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wolle man einen Menschen auf den Mond und wieder sicher zurück zur Erde bringen. Das war eine derart kühne Vision, dass nur noch eines zählte: wissenschaftlich-technisches Können. Und die Besessenheit und Überzeugung, dass dieses Ziel auch erreicht wird. Wernher von Braun war für Kennedy und seine Nachfolger genau der richtige Mann. War es da noch wichtig, dass zwei Jahrzehnte zuvor seine Raketen westeuropäische Städte beschossen hatten? Mit dem Projekt "Overcast" waren gleich nach dem Krieg 350 deutsche Spezialisten in die USA geholt worden, die das Militär mit dem Krieg gegen Japan legitimiert hatte. Sie waren in die Staaten ausgeflogen worden, ohne sich vorher einem Entnazifizierungsverfahren stellen zu müssen. Mit der Operation "Paperclip" war das Ganze bestätigt und den Wissenschaftlern sogar eine Einbürgerung in Aussicht gestellt worden. Ähnliches hatte auch die Sowjetunion nach 1945 gemacht. O-Ton 21, Jens-Christian Wagner Dass einerseits in Nürnberg NS-Verbrecher verurteilt wurden und andererseits das US- Militär, übrigens gegen geltende gesetzliche Bestimmungen, NS-Raketeningenieure in die eigenen Dienste übernahm, ist natürlich ein Widerspruch, der gar nicht deutlicher sein könnte und zeigt letzten Endes die heterogene Struktur in der amerikanischen Regierung. Den Anklägern von Nürnberg ist das sicherlich nicht Recht gewesen. Sprecher Sagt Jens-Christian Wagner von der Gedenkstätte Mittelbau Dora. Atmo: Apollo 11-Start Sprecher Juli 1969: Die Vision wird Wirklichkeit. Die Hoffnungen, die die USA in den Raketentechniker Wernher von Braun gesetzt hatten, gehen in Erfüllung. Und Wernher von Braun ist am Ziel seiner Träume. Seine Saturn-Rakete erhebt sich am 16. Juli 1969 majestätisch von Cape Canaveral in den Morgenhimmel und schickt drei Astronauten in Richtung Mond. Die Reise dauert nicht so lange wie eine Atlantik-Überquerung mit einem Dampfschiff. Nach fünf Tagen landen die ersten Menschen auf dem Erdtrabanten. O-Ton 22, Landung, Reporter live Gelandet. Eagle ist auf dem Mond gelandet. Der Mensch hat seine kühnsten, seine verwegensten Träume verwirklicht. Neil Armstrong und Edwin Aldrin stehen mit ihrem Mondlandeboot Eagle im Meer der Ruhe. Acht Jahre nach der Zielsetzung Präsident Kennedys hat Amerika das nationale Ziel erfüllt. Beim Wettlauf mit der Sowjetunion um den ersten Platz auf dem Mond hat Amerika den Sieg davongetragen. Die USA haben den Beweis erbracht, dass sie die technologische Führungsrolle spielen. Sprecher 500 Millionen Menschen, so wird geschätzt, blickten auf das flimmernde Fernsehbild. Man konnte kaum erkennen, wie eine Figur im dicken weißen Schutzanzug vorsichtig eine kleine Leiter hinunterkletterte. Dann kam der entscheidende Moment: O-Ton 23, Neil Armstrong "That´s one small step for a man, but ..." Zitator Es ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein Riesensprung für die Menschheit. Sprecher Funkte Neil Armstrong zur Erde, als er am Morgen des 21. Juli 1969 als erster Mensch seinen Fuß in den Mondstaub setzte. In einem Kommentar des Berliner Rundfunks der DDR vom 22.7.1969 würdigt Günter Leuschner zunächst den großen Erfolg der Apollo 11-Mission. Er bewundert den Mut, die Kaltblütigkeit und das Können der drei amerikanischen Astronauten. Dann geht er auf eine Erklärung Wernher von Brauns ein, in der er eine gefährliche Geisteshaltung entdeckt: O-Ton 24, Günter Leuschner Beispielsweise dann, wenn ausgerechnet Wernher von Braun den Boden der Wissenschaft verlässt und erklärt: Wir wissen, dass Führerschaft im Weltall Führerschaft auf der Erde bedeutet. Hier ist nicht nur jedes erklärbare Maß an Begeisterung weit überschritten, hier wird vielmehr einer anerkennenswerten Tat ein miserabler Dienst erwiesen. Sprecher Wernher von Braun wollte auf der Seite der Sieger sein. 1969 war ihm dies - im zweiten Anlauf - gelungen. Aber selbst auf dem Höhepunkt seines Erfolges und seines Ruhms war für sensible Beobachter erkennbar, welche inneren Spannungen sein Leben prägten. In seinem 1969 erschienenen Buch "Of a fire on the moon" - "Auf dem Mond ein Feuer" - beschreibt der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer Werner von Braun so: Zitator Norman Mailer "Eine Pressekonferenz war für ihn, obwohl er sicherlich schon viele erlebt hatte, ein gähnender Abgrund vermeintlicher Gefahren. Deshalb zuckten seine Augen nach links und nach rechts, während er eine Frage beantwortete, blickten hin und her wie bei einem Tischtennisturnier. .. Da von Braun groß und kantig ist, mit einem massiven Körper, ... machten es seine verhältnismäßig dünne Stimme, diese hin und her zuckenden Augen und die semaphorhaften Bewegungen seiner Lippen offensichtlich, dass er ein Mann der Gegensätze ist. ... Es umgab ihn eine so verwirrende Aura von Kraft und Verletzlichkeit, Ruhe und Nervosität, von Härte und Mitgefühl, Phlegma und Sensibilität, dass sie den virtuosen Fähigkeiten eines Schauspielers wie Rod Steiger alle Ehre gemacht hätte." Sprecher Die Kriegs- und Nazigeschichte wurde 1969 überstrahlt von der friedlichen Apollo-Mission. Vergessen war sie nicht. Knapp zehn Jahre zuvor, 1960, war ein Hollywood-Film über Wernher von Braun gedreht worden: I aim at the stars - Wernher von Braun: Ich greife nach den Sternen. Dieser Film rief damals britische Kritiker auf den Plan: Sie beschwerten sich darüber, dass der Film den Mann reinwaschen würde und zum Helden mache, obwohl er am Bau der V 2-Raketen beteiligt war, mit denen Nazideutschland England beschossen hatte. Da in dem Film die Wissenschaft getrennt von Politik und sozialem Kontext gesehen wird, meinte der kanadische Komiker Morton Sahl, dass der Film eigentlich einen Untertitel haben sollte, but sometimes I hit London - Ich ziele auf die Sterne, aber manchmal treffe ich London. O-Ton 25, Jens-Christian Wagner Das bringt es im Grunde auf den Punkt. Sprecher Wernher von Braun hat Raketen für Hitler und für Kennedy gebaut. Jens-Christian Wagner von der Gedenkstätte Mittelbau-Dora: O-Ton 26, Jens-Christian Wagner Es gibt Äußerungen aus der Nachkriegszeit von ihm, die vermuten lassen, er sei ein Anhänger des Bildes des unpolitischen Technokraten, der für die Folgen seines Tuns nicht verantwortlich ist. Sicherlich ist von Braun ein politisch denkender Mensch gewesen, der sich über die Folgen seines Tuns durchaus im Klaren war, der ganz bewusst an der Entwicklung dieser Terrorwaffe gearbeitet hat, um das NS-Regime lebensfähig zu erhalten. Sprecher Hubert Reile vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt: O-Ton 27, Hubert Reile Erst mal klar, seinen Traum rechtfertigt nicht, dass er den Tod so vieler Menschen in Kauf nimmt. Ein junger begabter Ingenieur, wie er damals war, mit der Fähigkeit, andere zu begeistern, wenn er damals Deutschland verlassen hätte und zum Beispiel nach Amerika gegangen wäre, glaube ich, dann hätte er auch dort Karriere gemacht. Er hätte seinen Traum auch weiterleben können, ohne sich an den Opfern schuldig zu machen. Sprecher Wernher von Braun war nach der Mondlandung ein gefeierter Mann. Die dunkle Seite seiner Karriere schien vergessen. Erst als der Apollo-Ruhm nachließ und zugleich die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zunahm, rückte seine erste Karriere als Raketentechniker ins Blickfeld der Öffentlichkeit und damit die Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Arbeit und ihre Folgen. Wernher von Braun hatte zeitlebens diese Fragen von sich weggeschoben. Aber sie überschatten inzwischen das Bild, das wir von diesem Mann haben, der zweifelsohne eines der Genies der Weltraumtechnik des 20. Jahrhunderts war. 1