KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 35. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt Autor : Niels Beintker Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 12.07.2011 Besetzung : Autor spricht selbst Regie : Produktion beim BR Produktion : O-Töne und Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- DeutschlandRadio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal Klagenfurt 2011: Eindrücke von vier Tagen Wettbewerb O-Ton Collage (Nina Bußmann u.a.:): "Ich hoffe, wir bewegen uns aufeinander zu. Nein, ich horche schon auf, wenn ich irgendwo was höre, was ich nicht jeden Tag höre. Und dann merke ich mir das. // "Ich hatte da schon mordsmäßigen Respekt davor, da zu sitzen und sieben geschärfte Kritikerzungen sich über meinen Text hermachen." // "Sprache ist ja das, was uns in der Beziehung als erstes und einfachstes verbindet. Über die Sprache wird, vielleicht noch über den Körper wird der schnellste Kontakt hergestellt, wobei ja der Körper mit einer viel unverschlüsselteren Sprache spricht." // Manchmal sagen mir Leute auch Dinge. Oder ich schreibe Sätze und merke, wie sie klingen und stelle sie um, lass sie klingen." Autor: Und dann klingt nichts mehr. Der Wettbewerb ist zu Ende. Die Stadt wie ausgestorben. Sengende Hitze auf den Steinen. Ein paar braune Blätter, die über den Neuen Platz in der Mitte Klagenfurts wehen. Sonst weitgehend Stille. Nur vor dem Rathaus ist etwas Bewegung. Die blauen Mietfahrräder, des Literaturmenschen liebstes Fortbewegungsmittel während der vergangenen Tage, werden auf einen LKW geladen. Der bunte Tross aus Autoren, Kritikern, Lektoren und Pressekollegen hat sich aufgelöst, ist in alle Richtungen davon gefahren. Wer am Sonntagnachmittag etwa den letzten Zug nach München nicht mehr erreicht - planmäßig um 16.29 Uhr - , der muss, wenn er auf die Bahn angewiesen ist, bleiben. In einer Stadt, die nun eigentümlich provinziell wirkt und dabei doch, über eine halbe Woche lang das Zentrum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sein wollte. Vielleicht ist beides ja kein Widerspruch. Gunther Geltinger: "Guten Morgen. Gerne einen Satz vorweg. - Applaus -Dion, der Junge, der in dem Text spricht, stottert. Ich tu das auch ab und zu. Es kann also sein, dass ich im Text stottere. Das liegt in der Natur meiner Sprache." (Lesung, Anfang) Autor: Der Wettstreit um den Ingeborg-Bachmann-Preis - den am Ende Maja Haderlap aus Klagenfurt für sich entscheiden konnte - begann mit einer bewegenden Geste. Der in Köln lebende Schriftsteller und Drehbuchautor Gunther Geltinger las als erster von 14 Kandidaten. Die Geschichte einer zerbrochenen Kindheit, in einer norddeutschen Moorlandschaft. Hochkonzentriert trug er Satz um Satz vor, am weißen Pult stehend. Der Körper voller Spannung, die Fingerspitzen beider Hände aneinander gepresst. Gunther Geltinger: "Das war heute beim Vortrag - das war keine Performance, die mir leicht fiel." Autor: Schließlich liest er in Klagenfurt vor einem besonderen Publikum. Und vor drei Fernsehkameras. Trotzdem wirkt er, bei aller Anspannung, souverän. Lesung Gunther Geltinger: "Eigentlich ist alles wie immer gewesen, doch gerade dieses Immer schien sich nun auf eine mir unbegreifliche Art verändert zu haben. In jeder von Margas altbekannten Gesten, in all ihren so oft gehörten Witzen, über die ich lachte, weil ich schon immer darüber gelacht hatte, lauerte bereits das letzte Mal. Doch das wusste ich damals noch nicht und kann es heute nur behaupten. Längst sind die Gefühle des Jungen im Moor versunken, das Ende meiner Kindheit ein Schlamassel aus zerlaufenen Ölfarben und Schnee. Doch was tun mit all diesen Bildern, meiner Erinnerungssucht?" Autor: Gunther Geltingers Text handelt von einer schwierigen Mutter-Sohn- Beziehung. Beide leben in einem Dorf, sind Außenseiter unter den Landwirten und ihren Familien. Die Mutter ist Malerin, steckt in einer Schaffenskrise und richtet sich Stück für Stück mit Tabletten zugrunde. Ihr Junge gerät in die Wirren der Pubertät, weiß nicht, wie der Selbstzerstörung der Mutter umgehen soll. Er ringt, auch in diesem Fall, mit den Worten. Erzählt wird das alles rückblickend, aus der Perspektive des Mannes, der als Kind erleben musste, wie die Mutter vom Rettungsdienst abgeholt wurde und für längere Zeit verschwand. Das alles umgebende Moor ist eine Metapher, so Gunter Geltinger. Gunther Geltinger: "Es ist eine Landschaft, die vor allem als Zeitarchiv fungiert und die als ein Archiv von Schichtungen - von Zeitschichten, Erinnerungsschichten, Bildschichten, Materialschichten - durch die sich der Erzähler aus der heutigen Sicht - da ist er so ungefähr 40 - rückerinnert und durchgräbt und feststellt, dass dieses Moor, das er in seiner Kindheit eher urtümlich, naturbelassen erinnert, ja auch schon ein kultiviertes war. Aber es wird kultiviert durch die Erinnerung. Die Erinnerung ist so etwas wie die Flurbereinigung eines Urwalds und wenn man das Alter bis 13 als unendliches Land sieht - in dem das Kind auch Zeitlosigkeit sieht, weil älter werden ist ein abstrakter Gedanke für ein Kind - dann ist das erinnerte Land das kultivierte Land und setzt ganz starke Grenzen. Und die Grenzen zeigt die Mutter auf, in dem sie sagt: Ich bin jetzt weg. Und sie entzieht sich körperlich." Autor: Der "Auszug aus einem Roman" von Gunther Geltinger gab die beiden großen thematischen Felder an, mit denen sich der überwiegende Teil der Klagenfurter Texte beschäftigte. Das eine: die Landschaften, gewissermaßen als Bühnen für die literarischen Gestalten. Abgeschiedene, wie auch sterbende Orte. Das andere: Menschen in existentiellen Situationen, in Ausnahmezuständen, wie eben das Kind, das die Mutter verliert. Lauter sonderbare Eigenbrötler, deren Innenleben ausgebreitet und erkundet wird. Auch Schramm gehört zu diesem Kreis, ein Lehrer, die Hauptfigur im Text "Große Ferien" von Nina Bußmann. Nina Bußmann: "Er ist ja ganz allein, den ganzen Text über und denkt ununterbrochen über die anderen Menschen nach. Und behauptet gleichzeitig, keinen anderen zu brauchen. Diese Situation hat mich interessiert. Und das andere ist - das ist auch ein Problem, das ich selber sehe und das mich umtreibt: Wie wichtig ist eigentlich diese Arbeit. Klar, in unserem Kulturkreis ungeheuer wichtig. Wie das kommt, wie man dahin kommt, wie das passieren kann? Klar, für den waren die sechs Wochen schon immer eine lange Zeit. Aber jetzt nehmen die kein Ende." Autor: Die Berliner Autorin gehörte nach Lesung und Diskussion, zu den größten Favoriten im Rennen um den Bachmann-Preis - nahezu einhellig war das Lob der Jury. Nina Bußmann erzählt, in einer unaufgeregten, aber sehr präzisen Sprache, von einer traurigen Existenz. Schramm rückt dem Unkraut im eigenen Garten zu Leibe, stellt Bierfallen gegen die Schnecken auf. Das sind seine großen Ferien. Er hat weder Familie, noch eine Partnerin oder Freunde. Die Einsamkeit des Freizeitgärtners beim Spatenstich. Lesung Nina Bußmann: "Er hatte sich die ganze Auffahrt vorgenommen. Gut drei Tage würde er daran zu tun haben, wahrscheinlich mehr. Zu Störungen käme es von allein. Und er war nicht mehr der Kräftigste. Selbst wenn es ihn packte, wenn er das Werkzeug gar nicht mehr aus der Hand legen wollte und zeitweilig glaubte, alles könne gelingen, selbst und gerade dann durfte er sich nicht vergessen. Er hatte es schon einmal übertrieben, es sollte nicht noch einmal passieren. Es war zu lächerlich. Er hatte dreißig Jahre lang gearbeitet, er hatte keinen Tag gefehlt. Das war nur der Anfang, scherzte er, den Becher in die Runde hebend, als es im Lehrerzimmer eine kleine Feierlichkeit zum Anlass gab: Mich werdet ihr so schnell nicht los, sagte Schramm, Sie können ja gar nicht ohne, meinte ein anderer." Autor: Satz um Satz wird ein quälender Konflikt skizziert. Vieles bleibt dabei im Ungefähren. Es gab eine Konfrontation mit einem Schüler namens Waidschmidt. Erst heimliche Sympathie, Spuren einer Verliebtheit. Dann die Provokation, ein Pornoheft auf dem Boden des Unterrichtsraums, schließlich eine zum Schlag erhobene Hand. Es könnte aber auch alles ganz anders gewesen sein. Nina Bußmanns Text, Teil eines Romans, der im nächsten Jahr bei Suhrkamp erscheinen soll, bleibt offen. Die Autorin, Anfang 30, groß, dünn, mit schmalem Gesicht und kurzen Haaren, sagt, es sei ihr nicht angemessen vorgekommen, ihren Text auf einen großen Paukenschlag hinzuführen. Nina Bußmann: "Es ist natürlich sehr offen erzählt und sehr vage. Aber ist schon relativ deutlich, was passiert ist. Und ich behaupte ja immer, wenn man genau hinschaut, dann weiß man, was passiert und was nicht passiert ist. Es ging mir nicht darum, eine unerhörte Begebenheit zu erzählen und szenisch zu schildern, sondern genau um dieses Ringen damit, dass wir - das sind alles Gemeinplätze - dass man diesen Wahrnehmungen und Erinnerungen nicht trauen kann und das können wir auch jeden Tag erleben: Wenn man gestern irgendetwas erzählt und am nächsten Tag behauptet, so uns so sei es gewesen, wird man von jeder anderen Person, die dabei ist, eine andere Version bekommen." Autor: Literatur als Erinnerungsarbeit, sprachlich sehr besonnen und feinfühlig. In vieler Hinsicht ein Kontrast zu dem Text, der zuvor beim Wettlesen zu hören war. Die Geschichte einer Frau, die einen kranken Mann versorgt, als billige Pflegekraft. Eine von Wut und Verachtung Getriebene, eine Art Rachegöttin. Die Anspielungen auf die griechische Mythologie sind vielfältig im Text von Julya Rabinowich aus Wien. Wilde Hunde an griechischen Sandstränden, Perseus, Medusa, schließlich ein Dart-Pfeil, der voller Wut auf die hübsche und ungezwungen libertär lebende Nachbarin gefeuert wird und sich in deren Fleisch bort. Julya Rabinowich, geboren 1970 im damaligen Leningrad, mit sieben Jahren - wie sie sagt - "umgetopft" nach Wien, wuchs mit den antiken Mythen auf. Julya Rabinowich: "Ich habe die Ilias gelesen, da war ich fünf, sechs - also erst vorgelesen bekommen, später dann selber gelesen. Ich habe von meinen Eltern, die ja beide Künstler gewesen sind, sehr, sehr viel Kunst zur griechischen Tradition gezeigt bekommen und wir waren viel im Museum. Ich habe diese ganzen Mythen von meinen Eltern durchaus als Märchen verstanden. Ich habe es so erlebt, als ob sie mein Hänsel und Gretel gewesen wären. Dagegen haben natürlich die Märchen gewaltig abgestunken und mich als Kind nicht wirklich mehr interessiert." (ab 6:20) Autor: Furor im ORF-Theater. Die Generalabrechnung einer Frau, die Julya Rabinowich als Borderlinerin beschreibt und die gefangen ist zwischen übermächtiger Mutter, einem behinderten Kind und jenem dahin siechenden Leo, den sie pflegt und vielleicht auch liebt. Sie ist keine billige Putze aus Osteuropa, sondern eine kluge, gebildete Frau. Und sie ist nicht nur Jägerin, sondern selbst Gejagte, eine Versehrte. Sie erinnert sich an Kindertage am Meer, deren Unbekümmertheit zerstört wurde. Lesung Julya Rabinowich: "Umso unerwarteter trifft mich der Schlag, gezielt und kräftig auf meinen Hinterkopf. Der Unterkiefer schlägt mit voller Wucht auf den oberen, die Zähne aufeinander. Die Stimmen verwischen kurzfristig zum Rauschen, das zum salzigen Geschmack in meinem Mund gerinnt. Minuten später sitze ich an unserem Küchentisch, während sie mich schweigend mit zu heißem Wasser und schnellen Bewegungen reinigt, und ich spucke Seifenlaugenreste in ein blutiges Taschentuch. Ich weine nicht. Ich sammle die ekelhaft schmeckende Flüssigkeit in meinem Mund, schwenke sie einmal von links nach rechts und wieder zurück und lasse sie ins rosige Papier tröpfeln, während das Handtuch aus grob gewebtem Stoff flammende Flächen auf meiner Brust hinterlässt, die zwischen den Bewegungen meiner Mutter aufleuchten, als würde sie mich bemalen. Ikonenrot." Autor: Die Jury in diesem Fall kein einstimmig deklamierender Chor aus einer griechischen Tragödie. Vielmehr gespalten zwischen Bewunderung und Ratlosigkeit. Trotzdem wurden auch Julya Rabinowich Chancen auf einen Preis beim Bachmann- Lesen eingeräumt. Am Ende eine Enttäuschung: Gar keine Würdigung. Eine der Ungerechtigkeiten bei einem solchen Wettbewerb. Trotzdem gilt für die Tage der deutschsprachigen Literatur das olympische Motto. Dabei sein ist alles am Wörthersee, natürlich auch beim Bürgermeisterempfang im idyllischen Schlösschen Maria Loretto am Ufer. Ungezwungenes Geplauder des Literaturbetriebes, bei Grillfleisch und Zitronensorbet. Am nächsten Morgen, beim Lesen, ist spürbar, dass etliche Texte von großer sprachlicher Qualität waren. Lesung Steffen Popp: "Suche nach Dorfbewohnern: Der emeritierte Professor schrubbt den Fliesenboden seiner Küche mit einer Wurzelbürste. Hand, die mal Walnüsse knackte, nun beinahe knochenlos, eine Arthrose-Fallstudie aus Sehnen, Muskeln, einigem Knorpel und Gewohnheit. Einen hässlichen Leuchter sieht Cordelia, darunter Ferro-Musikkassetten (Telemann, Händel), ausrangierte Laptops, darauf Staub von Zimmerpflanzen, Spuren von Zimmerspinnen." (Ms. 5, ab 7:35) Autor: Einige der nach Klagenfurt gereisten Literaturredakteure schlossen Wetten auf ihn ab. Steffen Popp, Lyriker und Schriftsteller, geboren in Greifswald, aufgewachsen in Dresden, wie unschwer am Idiom zu hören. Er lebt heute in Berlin und begab sich in seinem Wettbewerbsbeitrag auf die "Spur einer Dorfgeschichte". Drei Menschen fahren in die winterliche ostdeutsche Provinz, in ein sterbendes Dorf in Thüringen. Die Glashütten sind längst geschlossen, die Menschen in einer untergehenden Welt verharrend. Der alte Professor, ein in den Ruhestand geschickter Hüttenmeister, der die Besucher über Quarzsande und Aschen belehrt, eine Kunsthändlerin, die sagt, sie mochte Friedhöfe schon als Kind. Keine blühende Landschaft. Lesung Steffen Popp: "Substanzwert null, gerade noch zum darin Wohnen geeignet. Ein Fall für den Bagger, wenn nicht das Geld für einen Abriss fehlte." Autor: Die Tristesse wird geschildert in einer kraftvollen poetischen und rhythmischen Sprache. Die eigentlich unspektakuläre Reise in die traurige Region und die ebenso traurige Vergangenheit wird zum ästhetischen Ereignis mit spannenden Metaphern wie auch einer ungewöhnlichen Erzählperspektive: die dritte Person wechselt immer wieder zum "Du", verbindet Innenschau mit äußerer Erfahrung. Steffen Popp: "Die Frage stand für mich auch: wie will man denn einen Fingerabdruck oder eine DNA - es kommen ja all diese Dinge, die Helix, und mit dem Hirnbild - einen Abdruck eines Dorfes erzeugen oder das Dorf irgendwie abbilden in seiner Komplexität. Der Gegenstand ist halt nicht scharf. Weil so ein Dorf ist notwendigerweise räumlich und historisch unscharf. Und auch deshalb ist eigentlich der Erzähler nicht scharf. Es gibt dieses Du und es gibt diese drei anderen, die dann eine Rolle spielen, die dort vorkommen. Eine der Ideen, die von mir aus in diesem Text liegen, ist, dass das Du eigentlich alle diese drei Personen ist." Autor: Die Reise führt in altes Industriedorf, dessen Name geheim bleiben soll. Vom Rübenstein ist im Text über diese winterliche Reise in eine zerfallende Welt gelegentlich die Rede - eine kleine Referenz an die ersten DDR-Comic-Helden, die Digedags, die Steffen Popp, Jahrgang 1978, immerhin noch über seine älteren Freunde kennen gelernt haben könnte. Er las mit dickem Schal im ORF-Theater, wegen der Halsschmerzen beim Schwimmen im Wörthersee. Mit einem Schal hätte man vielleicht auch die folgende Diskussion der Jury besser überstanden, besonders die Äußerungen des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer. Man kann sich den Schal ja auch um die Ohren wickeln. Jury-Diskussion: "Da gibt es dann so Sätze wie: Und trotzdem ist es gut so zu denken, in diesem Mittelgebirge Erhabenheit zu simulieren. Und leider hatte ich eben oft den Eindruck, dass hier, in diesem Text Erhabenheit simuliert wird. Allein schon dadurch, dass er eigentlich, wenn man so will, doch eigentlich gar kein Prosatext ist, sondern, würde man ihn anders strukturieren, anders zeichnen, wäre es ein Gedicht. Und da ich zu den blöden Prosaautoren gehöre, die weder Gedichte lesen, noch sie wirklich beurteilen können und ein Problem mit der Lyrik haben, kann ich leider nicht so viel sagen, außer, dass ich das - ja - Satz für Satz lese und keine wirkliche Meinung dazu haben kann. Aber Frau Feßmann ist ja da, um sie zu haben." Autor: Das gehört längst zu den Gemeinplätzen der Tage der deutschsprachigen Literatur. Kritik an der Kritik, am Lesen und Leiden der siebenköpfigen Jury. In diesem Jahr keine Hydra, sondern eine auf hohem Niveau brav und höflich diskutierende Runde. Ohne den einen oder anderen ironischen Einwurf des Österreichers Paul Jandl hätte es so gut wie gar keine Watschn gegeben. Nur bei einigen wenigen Texten wurde das Kritikergespräch spürbar lebhaft. Dass sich aber ein Juror für einen der wichtigen Literaturpreise so offensiv zu seiner Unlust an der Lyrik äußert, ist trotzdem ein Affront. Glück im Unglück, dass er im dreitägigen Lesefieber dann doch unerwidert verhallte. Vielleicht wäre ein Hinweis von Jury- Präsident Burkhard Spinnen ganz hilfreich gewesen. Der nämlich beschrieb die Arbeit in der Kritikerrunde als "Demutsübung". Allzu leicht vergesse man als einsam lesender Kritiker, dass jedes Buch dramatisch viele Urteile hervorrufen könne. Man müsse sich nur einmal durch die Internetportale für Rezensionen klicken. Und dann die unendlich vielen verschiedenen Urteile eines jeden Lesers. Burkhard Spinnen: "Das dauert Gott weiß wie lange. Und wenn wir uns ansehen, was von der Literatur der vergangenen Jahrhunderte oder Jahrzehnte übrig bleibt, als Lesenswertes, dann sieht man, wie lange der Prozess geht. Dazu ist das hier ein Baustein und ich finde, hier wie an keiner anderen Stelle kann man sehen, wie diese Bausteine alle zusammen getragen werden, wie schwierig es für diese Bausteine ist, ein gemeinsames Gebäude zu ergeben, und dass das nicht nur die Schwierigkeit, sondern die Natur der Sache ist. Sie wollen auch nicht mit jemandem durch die Welt gehen an ihrer Seite, der zu allem, was Sie sagen über die Welt und die Gegenstände, sagt: Ja, genauso sehe ich das. Der ist vielleicht nett als Reisebegleiter, aber heiraten möchten sie den nicht." Autor: Die Frage, ob denn Familie und Landschaft alles waren, beantwortet Burkhard Spinnen mit einem kurzen Nö. Eine insgesamt große Vielfalt habe es gegeben: vom erdrückenden Wissenschaftsbetrieb über die Kriege der Gegenwart bis zu den Wirren der internationalen Finanzkrise. Auch die Breite der erzählerischen Perspektiven hebt Spinnen hervor, verweist auf mehrere Satiren. Tatsächlich, es ging gelegentlich lustig zu im ORF-Theater. Drei Wettbewerbsteilnehmer brachten das Publikum deutlich häufiger zum Lachen als die Kritikerrunde. Burkhard Spinnen: "Es wäre - salopp gesagt - doof, wenn das im Spektrum dessen, was wir an Literatur lesen, nicht mehr vorkäme. Ein großes Beispiel der Literatur des 20. Jahrhunderts, der Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften', ist ein satirisches Buch oder zumindest ein Buch mit ganz starken satirischen Elementen. Wenn wir die Gefahr der Satire scheuen, anzuecken, die Haltungen, die Einstellungen, die Überzeugungen der Leserschaft zu verletzen, wenn wir aus Markt- oder Marketingründen nur noch autarke Charaktere zeigen, die man so problemlos genießen kann, dann würde der Literatur ein Zug entzogen." Lesung Maximilian Steinbeis: "Die bisherigen Herausforderungen waren eher intellektueller Natur. Diejenigen, die nun vor Ihnen liegen, fordern andere Kapazitäten. Man kann nicht alleine eine Grube ausheben, die tief genug ist, einen Schatz aufzunehmen. Also werden Sie einen zweiten Mann brauchen - nicht mehr als einen, aber den brauchen Sie notwendig. Das kann Ihr Sohn oder Enkel sein, wenn Sie einen haben, dem Sie einschränkungslos vertrauen und der physisch zu solch schwerer Arbeit in der Lage ist. Es kann auch Ihre Tochter oder Enkelin sein, unter den gleichen Bedingungen. Geschwister: Niemals. Auch nicht Ihre Frau. Das geht nicht gut." Autor: Maximilian Steinbeis, Startnummer zwei beim Wettbwerb, war einer der drei Publikumserheiterer. Sein Text "Einen Schatz vergraben" handelt von der Absurdität der Finanzwelt. Ein Anlageberater fordert sein imaginäres Gegenüber auf, sein ganzes Vermögen in Gold anzulegen und es dann in der Erde zu vergraben. Nur so sei es sicher. Die Idee für diese Erzählung entstammt einem Gespräch mit einem Investmentbanker, erzählt Maximilian Steinbeis nach der Lesung. Der habe ihm erzählt, dass er - und einige andere seiner Kollegen - ihr Geld tatsächlich auf einem Acker vergraben. Im ersten Leben ist Steinbeis Journalist, er schreibt über juristische Fragen, über die Verfassung. Maximilian Steinbeis: "Bei Verfassungsthemen geht es darum, wie man einen Staat oder eine Gesellschaft so auf eine Regelungsgrundlage setzen kann, dass sie nicht in Mord- und Totschlag endet. Und das ist auch ein Thema, das mich auch literarisch immer wieder beschäftigt, im Grunde Angstphantasien, was dann passiert, wenn die Welt nur ein kleines bisschen anders beschaffen wäre, was dann sein könnte. Mein Roman ,Pascolini' handelt von der Möglichkeit der Bedingungen eines Bürgerkrieges, in einer Szene, wo kein Mensch je einen Bürgerkrieg vermuten würde, nämlich in unserem idyllischen, touristisch durch und durch erschlossenen Oberbayern. Vieles von dem, was ich schreibe, hat schon mit Politik zu tun, mit Vermeiden von Bürgerkriegen." Autor: So fröhlich der Text auch war, so gering waren letztlich seine Chancen auf einen Preis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Immerhin: Maximilian Steinbeis sagt über sich, er sei kein Literaturinsider, habe weder in Leipzig noch in Hildesheim literarisches Schreiben studiert. Und so sei schon die Einladung nach Klagenfurt eine Riesenchance für ihn. Jury-Entscheidung: "Ich stimme für Maja Haderlap. Popp. Haderlap, Haderlap - Applaus" Autor: Die Kür der Siegerin - ein spannendes Finale. Vier Mal muss abgestimmt werden, ehe die erforderliche einfache Mehrheit der Juroren zustande kam. Die Klagenfurter Schriftstellerin Maja Haderlap lässt die beiden größten Favoriten - Steffen Popp und Nina Bußmann - hinter sich. Mit ihr gewinnt nicht nur eine der ältesten Teilnehmerinnen bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Es gewinnt auch der Text mit der größten Authentizität - wie übrigens auch im letzten Jahr, als Peter Wawerzinek mit seiner autobiographisch motivierten Geschichte einer Muttersuche die Jury für sich entschied. Maja Haderlap erzählt in ihrem Wettbewerbsbeitrag, Auszug aus dem gerade erschienen Roman "Engel des Vergessens", über ein noch immer unbewältigtes Kapitel der Zeitgeschichte in Kärnten. Die Wanderung eines Mädchens mit dem Vater, einem Holzfäller, in den Wald, wird zum beschwerlichen Weg in die Vergangenheit. Lesung Maja Haderlap: "In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Man habe im Wald geschlafen, gekocht und gegessen, nicht nur in Friedenszeiten, auch im Krieg seien Männer und Frauen in den Wald gegangen. Nicht in den eigenen Wald, nein, dafür sei er zu schütter, zu klein und zu überschaubar gewesen. In die großen Wälder seien sie aufgebrochen. Die Wälder seien der Zufluchtsort vieler Menschen gewesen, eine Hölle, in der Wild gejagt worden sei und in der sie gejagt wurden wie Wild. Die Erzählungen kreisen um den Wald, wie auch der Wald um unseren Hof kreist." Autor: Und diese Erzählungen sind traumatisch, voller dunkler Seelenschatten. Sie handeln von Orten wie Dachau, Ravensbrück und Natzweiler, von Menschen, die inhaftiert wurden und nicht mehr zurück gekehrt sind, von Blut und Asche. Als die Deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Jugoslawien besetzte, schlossen sich viele Menschen in der Kärntner Grenzregion dem Widerstand an. Die Deutschen reagierten wie überall. Lynchjustiz, Erschießungen, Deportation. Mit jedem Schritt in das Dickicht wird Maja Haderlaps Erzählerin noch mehr mit dem Leid der Menschen auf beiden Seiten der heutigen österreichisch-slowenischen Grenze konfrontiert. Der Grenzzaun, vor dem sie einmal mit dem Vater steht, ist, als Teil des Eisernen Vorhangs auch ein Symbol für das lange Schweigen. Lesung Maja Haderlap: "Das sei der Hojnik-Hof, sagt Vater, da habe die Nazipolizei auch gewütet. Die Familie sollte abgeführt werden, aber der alte Hojnik habe sich geweigert, den Hof zu verlassen. Daraufhin sei er an Ort und Stelle erschlagen worden. Sein Sohn und seine Schwiegertochter sind erschossen worden, die Toten habe man in die Hojnik-Keusche geworfen und angezündet. Vater bricht plötzlich die Stimme. Er spricht in einem dünnen Ton. Ich finde das ärgerlich." Maja Haderlap: "Ich habe das Gefühl, dass hier jeder mit seinen Erfahrungen alleine gelassen worden ist, dass sie in keinen Zusammenhang gebracht worden sind, dass sich diese Geschichten fern von einer Öffentlichkeit oder fern von einem Bewusstsein dafür hier abspielen oder verloren gehen. Ich hatte das Gefühl, ich muss sie irgendwie noch sammeln, um sie zu erzählen, um sie aus dieser Vergangenheit heraus zu reißen." Autor: Maja Haderlap erzählt, in einer ruhigen, unaufgeregten Sprache die Geschichte ihrer Heimat. Sie wurde 1961 im österreichischen Bad Eisenkappel geboren. Und sie gehört, wie die Erzählerin ihres Romans, zur slowenischen Minderheit in Kärnten. 15 Jahre lang war sie Chefdramaturgin am Stadttheater in Klagenfurt. Sie veröffentlichte einige Gedichtbände in slowenischer Sprache, der Roman "Engel des Vergessens" ist ihr erstes Buch in der anderen, der deutschen Sprache. Mit ihrem Sieg enden die Tage der deutschsprachigen Literatur am Sonntag ein wenig unerwartet, dafür mit einem Heimspiel. Die weiteren Preise gehen an Steffen Popp und Nina Bußmann. Den Publikumspreis bekommt Thomas Klupp mit seiner ironischen Vermessung der deutschen Hochschultristesse, hier am Beispiel eines Kulturwissenschaftlers, der sich von einem Forschungsprojekt über Standbildpornographie im Internet den großen Sprung seines Lebens verspricht. Sex ist offenbar immer erfolgversprechend, auch bei einer sonst ehrwürdigen, eher biederen Veranstaltung wie dem Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Lesung Thomas Klupp: " Ja, vielleicht ist das die Lösung. Um dem pornographischen Onlinekosmos sein Geheimnis zu entreißen, muss ich noch tiefer in ihn eindringen. Noch viel, viel tiefer. Bis die Netzvagina nicht nur von innen gegen meine Stirnplatte drückt sondern den kompletten Schädelraum ausfüllt. Ein pinkfarbenes Schimmern und Leuchten, das sich durch jede einzelne Nervenfaser zieht - das muss ich erzeugen. Dann werden sich Antworten und auch eine Haltung der Sache gegenüber schon einstellen. Ich darf dabei nur nicht die Kontrolle verlieren. Das ist wichtig, nur nicht die Kontrolle verlieren. Das sage ich mir jeden Tag wieder, wenn ich mich an den Rechner setze und online gehe: Ich darf nur nicht, unter gar keinen Umständen, die Kontrolle verlieren." (Ms, S. 14, ab 28:50) Musik-Einspiel - wie oben, unterlegen Autor: Fröhliches Gelächter, viel Applaus. Trotzdem nicht mehr als ein allenfalls matter Höhepunkt am Ende von drei Lesetagen. Das Niveau der diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur war in den meisten Fällen hoch, zumindest mit Blick auf die sprachlichen Qualitäten vieler Texte. Die Themen dagegen, abgesehen vom Siegertext, in der Mehrzahl unauffällig: viel Innenschau, wenig Politisches. Insofern war dieser Bachmann-Jahrgang ein ruhiger und ging, wie es schien, dann doch ein wenig spurlos an der Geburtsstadt der österreichischen Schriftstellerin und Namensgeberin vorbei. Am Sonntagnachmittag, ein paar Stunden nach der Preisverleihung, war Klagenfurt wie ausgestorben. Große Ferien in Österreich. Nur noch die wenigen Blätter in der heißen Luft am Neuen Platz. Auch das ORF-Theater, in den vergangenen vier Tagen, ein lebendiger, quirliger Ort, still und einsam. Ein alter Herr sitzt an einem der Holztische im Garten, sein Hund schläft im Schatten. Und nirgendwo in der Stadt ein Zeichen, das gerade eine Klagenfurter Autorin einen der wichtigsten Preise für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gewonnen hat. Doch, die Stadt wirkt plötzlich auf eigenartige Weise provinziell. Die Literatur und ihr Betrieb haben jetzt erst einmal Ferien. 1