Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 08. August 2015, 11.05 – 12.00 Uhr Zwischen Aufarbeitung und Aufbruch - Albanien 30 Jahre nach dem Tod des Diktators Hoxha Mit Reportagen von Leila Knüppel Redaktion: Gerwald Herter Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – OPENING: O-Ton Sokrat Shyti (alb.): Was wir in Albanien haben, ist nur eine Utopie von Demokratie. Die ganze Wende war nur eine Farce. Wer während des Kommunismus an der Macht war, ist immer noch an der Macht. Sprecher: Sagt ein Opfer des kommunistischen Regimes in Albanien. Eine junge Stadtführerin stimmt zu. O-Ton Ornela Bickert (engl.): Als die Mauer in Berlin fiel, war Albanien auf die Demokratie überhaupt nicht vorbereitet. Das Land war abgeschottet. Es gab keine Widerstandsbewegung, die sich hätte erheben können. Das ganze Land schlief. Es lebte in einer vom Diktator geschaffenen Utopie. Und nach der Wende waren alle Parteien Teil des kommunistischen Systems, auch wenn sie sagten: Wir sind demokratisch. Die Wende gab es in Albanien nur, weil es in vielen anderen Ländern auch dazu kam.. Sprecher: Zwischen Aufarbeitung und Aufbruch. Albanien 30 Jahre nach dem Tod des Diktators Enver Hoxha. „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Leila Knüppel. MUSIK 1 REPORTAGE 1 Atmo: Autofahrt Gezim Peshkepia schaut aus dem Autofenster: die letzten Bauten Tiranas ziehen vorbei, neue Hotels, halbfertige Betongerippe sind noch am Stadtrand zu sehen. Dann: grüne Hügel, kleine Felder, Olivenbäume, Weinreben. Atmo: Peshkepia: Es hat sich so viel geändert. 150 Kilometer liegen vor ihm - auf dem Weg nach Ballsh. Eine albanische Kleinstadt südlich von Tirana. 1975 hat Peshkepia die Fahrt schon einmal unternommen, vor 40 Jahren. Auf einer Pritsche in einem LKW, gefesselt an einen Mitgefangenen. O-Ton Peshkepia: Wir waren viele Leute in einem nicht so großen LKW. Damals war er 35 Jahre alt und wurde aus dem Gefängnis von Tirana ins Arbeitslager gebracht. Inzwischen ist Gezim Peshkepia ein älterer Herr und lebt in Deutschland. O-Ton Peshkepia: Es war schrecklich, weil der Wagen hat so gewackelt. Acht Jahre lang war Peshkepia Zwangsarbeiter in Ballsh. Einer der zahlreichen Gefangenen im kommunistischen Albanien, an dessen Spitze über vierzig Jahre lang Diktator Enver Hoxha stand. Das Land, das nun während der Autofahrt vorüberzieht, war bis in die späten 80er Jahre für Ausländer kaum zugänglich. Während in der Sowjetunion längst Perestroika und Glasnost herrschten, folgte Albanien noch einem streng stalinistischen Kurs - isoliert von allen übrigen Staaten. O-Ton Peshkepia: Damals war ein Gesetz, „Agitation und Propaganda“. Und wegen diesem Gesetz wurde ich verhaftet. Es ist sehr absurd, weil jemand hört: Agitation und Propaganda, hat eine Vorstellung ich habe Poster mit Parolen usw. gemacht – nichts von diesem. Ich war ein geeignetes Kontingent für Gefängnis, weil ich stamme von einer Familie, die war verfolgt. Nach der Befreiung Albaniens von der deutschen Besatzungsmacht, 1944, hatten die Kommunisten die Macht in Tirana übernommen. Landbesitzer, Geistliche, Intellektuelle oder auch illoyale Weggefährten des Diktators Enver Hoxha wurden verhaftet, hingerichtet, ins Exil geschickt. O-Ton Peshkepia: Mein Vater wurde erschossen, ohne Prozess mit 22 Intellektuellen 1951. Er wurde erschossen wegen Terrorismus. Aber Waffe von meinem Vater war nicht eine richtige Waffe, seine Waffe war nur ein Bleistift. Mit dem hat er Gedichte geschrieben. Er war ein Dichter. Jetzt sind wir in der Nähe von Ballsh. Atmo: Amarildo: „Now you smell the oil...“, Peshkepia: „Wir sind in der Nähe.“ Schon etliche Kilometer vor dem ehemaligen Arbeitslager in Ballsh steigt einem ein beißender Geruch in die Nase: Öl. Nahe der Kleinstadt steht die größte Raffinerie Albaniens. Atmo: Peshkepia: „Es ist ein Gebiet, wo gibt es Öl.“ Peshkepia hatte als Zwangsarbeiter die Raffinerie mit aufgebaut und dann betrieben. O-Ton Peshkepia: Das war eine Luxusarbeit – in Ausführungszeichen Luxus. Die kann man nicht vergleichen mit Bedingungen in Spac oder Kupfermine. Dort arbeiteten andere Zwangsarbeiter unter gefährlichsten Bedingungen, gerade im Bergbau. Etwa 60.000 Albaner wurden verschleppt und in Arbeitslagern interniert. Über 7.000 überlebten die Strapazen nicht. Atmo: Auto stoppt Der Wagen hält vor dem Pförtnerhäuschen, der Sicherheitsdienst kontrolliert lange die Ausweise, möchte die Besucher aus Tirana erst nicht reinlassen. Atmo: Diskussion Dann, nach einigen Diskussionen, darf Peshkepia begleitet von Wächtern auf das Gelände fahren. Atmo: Peshkepia: Das ist pure kommunistische Mentalität. Wachsam zu sein, uns ist diese Mentalität noch geblieben. Der Wagen fährt vorbei an den Metallbauten der Raffinerie, schiebt sich einen Hügel hinauf, stoppt neben einem kleinen, halb verfallenem Steinhäuschen. Atmo: Aussteigen O-Ton Peshkepia: Hier war der Eingang von dem Gefängnis, hier war ein großes Tor. Und dann – hier waren sieben von diesen Baracken. Nun ragen nur noch ein paar Betonstreben in die Luft – die letzten Überbleibsel des Lagers, in dem mehr als 1000 Menschen eingesperrt waren. O-Ton Peshkepia: Hier war eine Baracke mit den Leuten, die waren schwerkrank oder alte Leute. Zum Beispiel, ich habe einen gefunden, der war 96 Jahre alt. Trotzdem hier bestraft wegen Agitation und Propaganda. Atmo: Gehen Peshkepia geht über den ehemaligen Appell-Platz: Jetzt wächst hier hohes Gras. Vögel singen, in einiger Entfernung arbeitet ein Bauer auf seinem Feld. Auf einer Anhöhe gegenüber steht ein Wachmann der Raffinerie - beobachtet die Besucher aus Tirana durch sein Fernglas. Atmo: Peshkepia: „Nichts geblieben.“ Peshkepia bleibt stehen. Hier, am Rande des Appell-Platzes waren früher die Zellen, erzählt er. Dort wurden die Gefangenen eingesperrt, wenn sie gegen eine der absurden Lagerregeln verstoßen hatten. Atmo: Peshkepia: „ Ich war zwei Mal dort, aber ist nichts geblieben. War so eng. - ja, so.“ Mit seinen Händen macht er deutlich, wie klein die Zellen waren. Ein langer Schlauch: Schulterbreit, so dass sich die Gefangenen kaum drehen konnten. O-Ton Peshkepia: Diese Zellen waren so gebaut, gegen den Wind. War sehr kalt von den Wind. Zum Beispiel einmal war ich in März, die ganze Nacht habe ich nur bewegt, konnte ich nicht schlafen. Peshkepia: Einmal, weil ich habe von meine Nichte ohne Genehmigung ein Foto von der Hand genommen, zuerst musste er das Foto gucken, kontrollieren... Reporter: Das heißt, sie hatten Besuch von ihrer Nichte... Peshkepia: Ja, die war klein, zusammen mit meiner Mutter. Reporter: Und weil sie ihnen ein Foto gegeben hat und sie haben danach gegriffen... Peshkepia: Ja. Reporter: Und wie lange mussten sie dann in die Zelle? Reshkepia: 15 Tage. (halb lachen, halb weinen) Peshkepia steigt ein paar überwucherte Steinstufen hinauf, zu den Überresten der Baracken. Er dreht sich, beschattet seine Augen mit der Hand, blickt ins Tal. Unten schlängelt sich ein staubiger Weg. O-Ton Peshkepia: Wir sind hier geblieben, und guckten für die Leute auf der Straße. Die kommen von der Familie zu Besuch. Einmal im Monat durften sie im Lager Besuch bekommen, erzählt Peshkepia. Seine Mutter sei bisweilen nach Ballsh gereist. Obwohl es schlimme Konsequenzen nach sich ziehen konnte. O-Ton Peshkepia: Es gab Leute, die haben auch den Arbeitsplatz verloren oder etwas anderes. Die haben viel riskiert. Also, außer meine Mutter, es sind einmal mein Onkel gekommen, als meine Mutter gestorben war, und meine Tante. Reporter: Ihre Mutter ist gestorben, während Sie in Ballsh waren? Peshkepia: Ja, im letzten Jahr. Reporter: Durften sie zur Beerdigung? Peshkepia: Nein. Peshkepia schaut sich noch einmal um. Geht dann den Weg zurück zum Auto. Früher waren hier drei Tore, hohe Zäune, Türme, von denen die Wächter hinunterblickten. Reporter: Hat jemand je versucht zu fliehen? Peshkepia: Ja, früher gab es viele, viele Fälle, die haben extra gemacht. Reporter: Um erschossen zu werden? Peshkepia: Ja, Selbstmord. Nun ist nichts mehr von den Zäunen zu sehen. Über die Barackenfundamente ist längst Gras gewachsen. Bald wird kaum jemand mehr wissen, was hier in Ballsh geschehen ist. Zur Verantwortung gezogen wurde bisher kaum jemand. Nach wie vor sei die gleich politische Elite an der Macht, sagt Peshkepia. O-Ton Peshpekia: Die Namen von den Ex-Politikern, die den Schaden an unserer Nation verursacht haben, sind fast die gleichen Namen von den Söhnen und Enkeln in Macht. Also, die politische Klasse ist das Gleiche. MUSIK 2 LITERATUR 1 MOD „In einem Land wie Albanien, wo auch noch dem unschuldigsten Dissidenten ohne lange zu fackeln der Kopf abgerissen wurde, war es verflucht schwierig, sich mit wirklicher Literatur abzugeben“, schreibt Fatos Kongoli. Heute ist der 71-Jährige einer der meistverkauften und meistgelesenen Autoren des Landes. Seine Karriere als Romanautor begann allerdings erst so richtig nach dem Ende der Hoxha-Diktatur. In seinem Roman „Hundehaut“ schildert er das heutige Albanien: den schwierigen Umgang mit der moralischen Erblast des Kommunismus. Und das Albanien von damals: eine beklemmende Welt voller Bespitzelung, willkürlichen Verhaftungen – und der Verbannung politische Gegner. SPRECHER Die Hexenvilla - das war nun wirklich keine Villa, sondern ein heruntergekommenes dreistöckiges Gebäude aus unverputztem rotem Backstein mit einem Ziegeldach. Und seine Bewohner waren auch keine Hexen oder Zauberer, sondern schlichte Menschenwesen, aber allen, die von außen auf sie schauten, jagten sie eine Todesangst ein. Daher der Name „Hexenvilla“. Den ersten Brief aus der Hexenvilla schrieb Mutter an meinen Vater gleich nach unserer Ankunft. Das war an einem Nachmittag, es fing schon an zu dämmern. Man hatte uns auf der Ladefläche eines Lastwagens hergebracht, auf der auch unsere Sachen waren. Mutter hatte behauptet, wir würden nun für eine gewisse Zeit in einer anderen Stadt wohnen, aber als wir ganz erschöpft ankamen, war weit und breit keine Stadt zu sehen, noch nicht einmal etwas Stadtähnliches. Später erfuhr ich, dass dort eine Stadt geplant gewesen war, dass man aber am Ende außer dem düsteren Gebäude, in dem wir hausten, nichts zustande gebracht hatte. Als unsere Sachen abgeladen waren, fuhr das Lastauto davon. Und fast gleichzeitig tauchte vor uns wie aus dem Boden gewachsen ein hünenhafter Mann auf. Einige Zeit darauf erfuhr ich, dass die Bewohner der Villa ihn Zerberus nannten. Als wir alles oben hatten, war es bereits dunkel. Zerberus erinnerte Mutter noch einmal daran, dass am nächsten Tag die Formalitäten erledigt werden mussten, und ging. Sie nahm meine Hand, und ich spürte, dass die ihre zitterte. Ich musste weinen. Warum, weiß ich bis heute nicht genau. Vielleicht, weil Mutters Hand zitterte, weil Zerberus die Formalitäten erwähnt hatte, wegen des Gestanks, der im Zimmer herrschte, wegen der schmutzigen Wand, der Kakerlaken, die über den Boden liefen, ohne sich von uns stören zu lassen, der trüben Glühbirne an der Decke oder wegen allem zusammen. Ich ahnte dunkel, dass das, was Mutter und mir widerfuhr, mit meinem Vater zu tun hatte. Er saß im Gefängnis, dort sperrte man schlechte Menschen ein, aber mein Vater war bestimmt kein schlechter Mensch. REPORTAGE 2 O-Ton Bickert: Jetzt stehen wir vor der Pyramide. Es sollte ein Mausoleum für Hoxha werden, aber seine Gebeine wurden nie hergebracht. Ornela Bickert zeigt auf den mit Graffittis besprühten Betonkegel, der im Zentrum Tiranas aus dem Boden wächst. Früher war er komplett mit weißem Marmor verkleidet, erzählt die Stadtführerin. Ein dreistöckiger Monumentalbau. Ausdruck des Personenkults um Diktator Hoxha, der auch nach dessen Tod 1985 nicht endete. O-Ton Bickert: Es gibt Überlegungen, den Bau abzureißen. Oder ihn zu erhalten. Meiner Meinung nach sollte man die Pyramide behalten. Man sollte etwas bewahren, was einen an die Vergangenheit erinnert. Damit man nicht vergisst, was damals passiert ist. Sonst kann sich die Vergangenheit wiederholen. Jetzt üben Skater hier ihre Kunststücke. Pärchen klettern die Schrägen empor, bis zur Spitze der Pyramide. Blicken in romantischer Zweisamkeit über Tirana. Atmo: Bickert: “People are skating, climbing up. I did it as well.” Bickert schultert ihren Rücksack – und führt ihre kleine Touristengruppe weiter. Seit zwei Jahren bietet die 28-Jährige Führungen durch die Hauptstadt Albaniens an. Ihre am häufigsten gebuchte Tour: „Auf den Spuren des Kommunismus“. Atmo: Bickert: “We broke with jugoslawia , then russia, then china, then total isolation.” Auf deutsch oder englisch erzählt sie den ausländischen Besuchern, wie Albanien nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bündnis mit Jugoslawien einging. Später mit dem Nachbarn brach, sich erst der Sowjetunion , dann China annährte – und schließlich außenpolitisch völlig isoliert dastand. O-Ton Bickert: Das ist eine neue Tour, die ich anbiete. Weil ich gesehen habe, dass die Leute sich dafür sehr interessieren. Und Tirana hat viel zu dem Thema Kommunismus zu bieten. Nur Tirana selbst scheint noch nicht zu wissen, wie es mit seiner jungen Vergangenheit umgehen soll. Das Hoxha-Mausuleom, Hotel Dajti, das „Haus der Blätter“ - der einstige Sitz des Geheimdienstes Sigurimi – sie alle stehen bisher noch leer, sind heruntergekommene Bauruinen. Offene Wunden – inmitten der neuen Hochhäuser, Nobelcafés und Bars von Tirana. O-Ton Bickert: Der Zustand ist jetzt so: Wir wissen einfach nicht, was wir damit anfangen sollen. Atmo: Bickert: “Now we are at an other spot, in Blokul.” Bickert ist mit ihrer Touristen mittlerweile im Block angekommen, dem Szene-Viertel im Zentrum Tiranas. Während der Diktatur wurde die Gegend streng bewacht, der Zugang war normalen Bürgern verboten. O-Ton Bickert: Hier lebten die wichtigsten Leute des kommunistische Regimes. Die Villa, die wir gerade sehen zum Beispiel: Das war das Haus von Enver Hoxha und seiner Familie. Die Fensterläden heruntergelassen, der Rasen gemäht – so steht die Diktatoren-Villa da, als warte sie darauf, dass ihr Besitzer irgendwann wieder zurückkehrt. Jenseits des Grundstücks haben längst Restauranttische, Sonnenschirme, Bierreklamen das einstige Zentrum der Macht überwuchtert. Wo Hoxha früher die Abkehr von westlicher Dekadenz predigte – reihen sich heute hippe Bars, Cafés und Clubs aneinander. Studentinnen in leichten Sommerkleidern nippen an Cocktails, Backpacker tippen Nachrichten in Smartphones. O-Ton Bickert: Früher, im Kommunismus waren keine langen Haare, Bärte erlaubt, keine Sonnenbrillen, keine Rucksäcke. Weil sie als westlich galten. Wegen Kleinigkeiten konnte man damals im Gefängnis landen. Die Stadtführerin erzählt von einem Architekten, der über acht Jahre Zwangsarbeit im politischen Gefängnis von Spac leisten musste. Ein von ihm geplantes Wohnhaus hatte zu viele Balkone und Erker – Architektur westlicher Dekadenz. Atmo: Vom Haus / Architekten erzählen Die einstige Diktatur Hoxhas – hier, im Block, gleicht sie einem Gruselmärchen. Für die albanische Jugend unvorstellbar, sagt Bickert. Sie selbst hat sich mit der jüngsten Geschichte ihres Landes erst richtig beschäftigt, als sie beschloss, Stadtführungen anzubieten. O-Ton Bickert: Im Geschichtsunterricht haben wir nichts darüber gelernt. Auch in den Museen stoppt die Geschichte 1944. Mit Beginn der kommunistischen Herrschaft in Albanien. Vielleicht sind die Ereignisse auch noch zu jung, jedenfalls hört die Geschichte in den Museen 1944 auf. Bickerts Tour endet vor dem Café ?omiteti. O-Ton Bickert: Drinnen ist es so eingerichtet, wie ein Wohnzimmer von damals. Atmo: reingehen In dem kleinen Café, das von einigen jungen Albanern betrieben wird, zeigt Bickert Schnapsgläser in Vitrinen, alte Fernseher und Radiogeräte – alle Made in Albania. Atmo: zeigen Sie setzt sich an einen der Tische – natürlich ebenfalls ein Überbleibsel aus kommunistischen Zeiten. Beim Espresso versucht sie zu erklären, warum Albanien sich mit dem Erinnern so schwer tut. Der Transformationsprozess – in Tirana verlief er schleppend. 1991, bei den ersten freien Wahlen, siegte die Nachfolgepartei der Kommunisten. O-Ton Bickert: Das Land war abgeschottet. Es gab keine Widerstandsbewegung, die sich hätte erheben können. Das ganze Land schlief. Es lebte in einer vom Diktator geschaffenen Utopie. Und nach der Wende waren alle Parteien Teil des kommunistischen Systems, auch wenn sie sagten: Wir sind demokratisch. Die Wende gab es in Albanien nur, weil es in allen anderen Ländern auch passiert. Atmo: Duff - Kneipenmusik Abends füllen sich die Bars und Restaurants im Szeneviertel Block. Auch im "Duff" hat der Barkeeper jede Menge zu tun. Die Musik wummert laut, auf der meterhohen Videoleinwand ist ein Baseballspiel zu sehen.. O-Ton Ljarja: Jeder möchte jetzt im Block leben. Deshalb sind die Wohnungspreise hier auch so hoch. Jeder reiche Typ möchte hier leben - so wie ein Diktator. O-Ton Stefi Ilo: Deswegen geht’s hier nachts auch so hoch her, mit Bars, Restaurants, Clubs. Der Besitzer des "Duff" – der 31-jährige Stefi Ilo steht gemeinsam mit seinem Cousin Leander Ljarja an der Bar. Hinter dem Tresen mixt Ilos Bruder gerade Mochitos. Die drei betreiben die Kneipe zusammen. O-Ton Ilo: Ich habe neun Jahre in Boston gelebt. (05:30) Ich bin mit meiner Familie hingezogen, habe dort meine Schule zuende gemacht. Und als ich dann zurückgekommen bin, habe ich diese Bar aufgemacht. Weil es in Tirana keinen Ort gibt, wo man Football- oder Baseballspiele gucken kann. (04:46) Ilo ist einer der wenigen, die zurückgekommen sind in ihre Heimat. Die meisten jungen Albaner gehen weg – und bleiben in den USA, Griechenland, Italien. Bis 2010 wanderte fast die Hälfte der Bevölkerung aus, knapp 1,5 Millionen Menschen. Ilo versucht jetzt Tiranas Jugend amerikanische Collegespiele wie Bierpong, Jelly Shots und Burger schmackhaft zu machen. Ein ziemliches Risiko, so eine Bar, meint er. O-Ton Ilo: Es ist zwar sehr einfach eine Bar zu eröffnen. Für einen Euro erhältst du eine Lizenz. Und solange du wenig Umsatz machst, zahlst du auch nur wenig Steuern. O-Ton Ljarja: Aber wenn du irgendwelche Probleme hast, ist es sehr schwer, sie zu lösen. Wenn du niemanden hast, der dir hilft. O-Ton Ilo: Es ist gut, Connections zu haben. Dann kommen die Steuereintreiber nicht jede Woche, die Polizei lässt dich dann in Ruhe. Weil er keine „Connections“ habe, müsse er abends die Musik eben früher leise machen, als andere Clubs. So sei das eben in Albanien, sagt der junge Mann in T-Shirt, modischen Jeans und Baseball-Cap. Und die Connections, das seien eben nach wie vor die Verbindungen aus kommunistischen Zeiten. O-Ton Ilo: Mit dem Kommunismus ist es vorbei. Aber die Kommunisten sind noch immer hier. Ich habe den Eindruck, dieses Land liebt den Kommunismus, in einem gewissen Sinne: Die Leute, die während der Diktatur gut gelebt haben, jedenfalls. Die Opfer, die sind ins Ausland gegangen. Die meisten. Ilo selbst kommt aus einer Familie, die während der Hoxha-Zeit verfolgt wurde – erzählt er. „Schlechte Familien“ - wurden sie damals hinter vorgehaltener Hand genannt. Ihre Eltern gehören zu den ersten, die zu Wendezeiten auf der Straße protestierten – erzählen die beiden Cousins stolz. O-Ton Ilo: Nach der Wende ging’s dann sehr schnell. Die Leute wollten leben wie in Italien, der Style, die Bars. Es ging zu schnell. O-Ton Ljarja: Die Leute sind habgierig. Jeder will reich sein. Ilo hat sein Glas ausgetrunken. Die Bar hat sich geleert. Sein Bruder wischt abgeknabberte Zitonenscheiben und Bierpfützen vom Tresen. In einer halben Stunde schließt das "Duff". Nebenan wummern noch dunkle Elektrobeats - wohl eine Bar mit besseren Verbindungen nach oben. MUSIK 3 REPORTAGE 3 Atmo: Kaffee bestellen Dilaver Bengasi ist bereit zu reden. Gegen entsprechende Bezahlung versteht sich. Der bullige Mann mit kurzgeschorenem weißen Haar war während der Hoxha-Diktatur Direktor der Staatspolizei. Nun sitzt er in einem Café in Tirana, zählt die Stationen seiner Bilderbuchkarriere auf: Erst Vize-Direktor der Staatsanwaltschaft in Tirana, dann Direktor; ab 1985 Direktor der Staatspolizei. Atmo: “He is the director of the ministry of interior.” Nach der Wende setzte er seine Karriere fast ohne Brüche fort. Er wurde Chefinspektor im Innenministerium, später Anwalt und Professor an einer Privatuniversität, erzählt der 71-Jährige. Atmo: “And its been now four years, that he is a professor at university for master science, privat university.” Dann hebt er – ganz Anwalt – zu einer Verteidigungsrede für den Sigurimi an. Dem ehemaligen Geheimdienst des kommunistischen Regimes, der gegen subversive Gruppen im Inneren vorgehen sollte - und das Land nach außen schützen. Opfer berichten von Drohungen und Erpressungen, Erniedrigung und Folter. Schläge, Eintauchen in Fäkaliengruben. Selbst Diktator Hoxha erklärte den Sigurimi zu einer „ziemlich delikaten“ Waffe. Atmo: Erzählen Bengasi berichtet hingegen von zahlreichen Vorfällen, in denen der Sigurimi Albanien vor ausländischen Agenten geschützt und die Ermordung Hoxhas verhindert habe. Natürlich habe der Sigurimi auch Fehler gemacht, räumt er ein. O-Ton Bengasi: Es wurden zu viele Menschen verhaftet, die gegen das Regime waren. Das war unnötig. Aber damals war es so: Der Staat gab dir ein Haus, eine Arbeit. Du hast keine Steuern gezahlt. Die einzige Regel war: Sage nichts Schlechtes über den Staat, sonst kommst du ins Gefängnis. Das waren die damaligen Gesetze. Gesetze funktionieren in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort. Die Leute hätten den Gesetzen einfach folgen sollen. Landesverrat, Sabotageversuch, Landesflucht, systemfeindliche Agitation und Propaganda waren nur einige Vergehen auf der langen Liste, die damals galt. O-Ton Bengasi: Damals haben die Leute gegen das Gesetz verstoßen. Und nun bekommen sie auch noch Entschädigung. Von unseren Steuern, die wir zahlen. Bengasi lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust. Was die Opfer der damaligen Zeit alles fordern – für ihn unverständlich. Auch dass nun, nach jahrelangen Diskussionen, die Archive des Geheimdienstes geöffnet werden, sieht Bengasi kritisch. Dabei ist Albanien eines der letzten ehemals kommunistischen Länder Europas, das diesen Schritt geht. Die meisten haben ihre Geheimdienst-Archive bereits vor Jahren freigegeben. O-Ton Bengasi: Wie geht man damit um, wenn man erfährt, dass man von der eigenen Schwester, dem Onkel ausspioniert wurde. Das führt nur zu sozialen Konflikten. Daher meine ich als Bürger, die Akten sollten zwar geöffnet werden – aber die Namen der Kollaborateure sollten geheim bleiben. Kann er denn die Gerüchte bestätigen, zahlreiche der Sigurimi-Akten seien schon längst geschreddert worden? – Bengasi antwortet eher zögerlich. O-Ton Bengasi: Vielleicht gibt es einige Falle, in denen die Akten zerstört wurden. Im Auftrag wichtiger Personen. Weil sie Probleme bekommen, wenn bekannt wird, was darin steht. Was Bengasi dagegen sofort erzählt: Beim heutigen albanischen Geheimdienst sind noch immer ehemalige Sigurimi-Mitarbeiter tätig. Atmo: Er bestätigt… Für ihn scheint das kein Problem zu sein. Während des Gesprächs lässt Bengasi ein Aufnahmegerät mitlaufen, außerdem hat er eine Zeugin mitgebracht. Er möchte sich in jeder Hinsicht absichern. Folter auf Polizeirevieren – von der zahlreiche Opfer der Diktatur berichten. Nein, das habe es zu seiner Zeit nicht gegeben, sagt er. Atmo: Bengasi zu Foltervorwurf… Dass er nach der Wende wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht stand und in erster Instanz zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde – erwähnt er erst einmal nicht; auf Nachfrage bezeichnet er das Verfahren als „kriminell“. Ein politisch motivierter Prozess - initiiert vom damaligen Staatsoberhaupt Sali Berisha. Dem ehemaligen Leibarzt Hoxhas. O-Ton Bengasi: Eine höhere Instanz entschied später, dass ich unschuldig bin. Berisha hat mich verhaften lassen, weil er Angst vor mir hatte. Und bis heute hat sich niemand bei mir entschuldigt. Aber wenn ich hier durch die Straßen gehe, respektiert mich jeder. Bengasi berichtet von seinen Fahndungserfolgen während des Kommunismus. Von seinem erfolgreichen Kampf gegen das Verbrechen. O-Ton Bengasi: Ich werde schon nostalgisch, wenn ich an früher zurückdenke: Es gab Universitäten, eine kostenlose medizinische Versorgung, freie Bürger. Das Schlimmste war das Gesetz gegen Agitation und Propaganda. Zu viele wurden deswegen verhaftet. Aber es gab einen funktionierenden Staat. Keine Drogenprobleme, keine Prostitution, kein Blutrache. Immer wieder schaut Bengasi in die Runde. Schließt das Ende seiner Ausführungen mit einem militärisch klingendem „Jawoll?“. Etwas Deutsch hat er in der Schule gelernt. Hat er sich bei den Opfern des kommunistischen Regimes jemals entschuldigt? O-Ton Bengasi: Nein, ich werde mich niemals entschuldigen. Ich habe die Straftaten ja nur untersucht. Ich habe nie Haftstrafen ausgesprochen. Ich habe Straftaten untersucht. Atmo: Bengasi: „Jawoll?“ MUSIK 4 LITERATUR 2 Irgendwann einmal erschrak ich während des Unterrichts ganz schrecklich, weil mir klar wurde, dass mich das gleiche Schicksal erwartete wie meine Mutter. Ich würde einen Mann heiraten wie meinen Vater, der kam ins Gefängnis, und für mich wartete dann eine Hexenvilla, ganz gleich, wo. Das war ein ewiges Gesetz. Ohne den Lehrer um Erlaubnis zu fragen, rannte ich aus dem Klassenzimmer. Mein Gesicht war schweißüberströmt. Ich wollte so schnell wie möglich bei Mutter sein, ihr um den Hals fallen, beteuern, in Zukunft nie mehr ungehorsam zu sein. Sie nie mehr alleine zu lassen. Als ich schließlich ankam und ins Zimmer stürzte, brachte ich kein Wort heraus. Der verkalkte Sokrates war bei ihr. Sie saß mit bleichem Gesicht auf einem Stuhl am Tisch. Noch nie hatte ich sie so bleich gesehen. Sie warf mir einen Blick zu, er schweifte ab und verlor sich irgendwo im Leeren. Bis der verkalkte Sokrates mir über den Kopf strich, mich von ihr wegführte, sich zu mir herunter, beugte, mich auf beide Wangen küsste und mir mit erstickter Stimme zuflüsterte, ich dürfe meine Mutter jetzt nicht bedrängen, es sei etwas sehr Schlimmes geschehen. Genaueres erfuhr ich erst später. Der verkalkte Sokrates teilte mir nur mit, dass mein Vater gestorben war. Er war zusammen mit einem anderen Häftling bei einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis getötet worden. REPORTAGE 4 Atmo: Tufa begrüßt seinen Gast und stellt ihn vor. Sokrat Shyti setzt sich vorsichtig auf das rote Kunstledersofa. Eine hagere Gestalt in grauen Anzughosen, das gebügelte Hemd bis oben hin zugeknöpft. Den Hut behält er auf. Er ist ins "Institut für Studien der kommunistischen Verbrechen" gekommen, um von seinem Schicksal zu erzählen, während der Hoxha-Diktatur. Der Leiter des Instituts – Agron Tufa – ist mittlerweile ein guter Freund geworden. Atmo: Erzählen, “ He published a writing, this, at a time, it didn't get published he just …” Shyti ist verurteilt worden, weil er damals heimlich ein Buch geschrieben hat. Eine Satire über die parteipolitisch verordnete Illusion, im Kommunismus seien alle Menschen gleich. Er wurde ins Nirgendwo verbannt. Zusammen mit seiner Mutter und Schwester musste er in einem Kuhstall leben, Zwangsarbeit leisten. O-Ton Shyti: Keine Fenster, keine Dämmung. Nur wir alleine im Stall – mit der Kuh. Atmo: Tufa: “Our institute is right now a work from Mr. Sokrates, ….” Nun veröffentlicht Tufas Institut die Lebensgeschichte des 74-Jährigen. Etliche solcher Schicksale haben sie hier bereits aufgezeichnet, erzählt der Institutsleiter. Aber sie müssen sich beeilen, denn viele der Opfer sind nicht mehr die Jüngsten. O-Ton Tufa: Mein eigener Vater war ebenfalls ein Opfer des Regimes. Er ist gestorben, bevor wir seine Geschichte dokumentieren konnten. Denn: Das Institut wurde ja erst 2010 gegründet. Tufa holt einige vom Institut veröffentlichte Studien aus dem Schrank hinter seinem Bürotisch: „Enzyklopädie des kommunistischen Terrors“, „Stimmen der Erinnerung“, Band eins, zwei, drei. Ähnlich der Stasi-Unterlagenbehörde in Deutschland, soll das Institut die kommunistische Vergangenheit des Landes aufarbeiten, die Öffentlichkeit darüber unterrichten. Institutsleiter Tufa ist eigentlich Dichter und Schriftsteller, lehrt an der Universität von Tirana. Das Schicksal seiner Familie brachte ihm letztlich den Posten am Institut ein. O-Ton Tufa: Mein Vater wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ich war damals drei Jahr alt. Er wurde verurteilt, weil er sich weigerte, für die Sigurimi zu spionieren. Fünf Jahre später wurde mein Bruder verhaftet. Sie sagten, er habe aus dem Land fliehen wollen. Aber der Prozess war eine Farce. Wie in Kafkas Romanen Eindringlich erzählt der Institutsleiter von damals. Wut versteckt sich hinter seinen Worten. Wut darüber, dass Albanien sich so schwer tut mit dem Erinnern. Tufas Institut ist da das beste Beispiel: Hier fehlt es an allem, sagt der Institutsleiter. Zu wenig Geld, zu wenig Personal. Und zu den wichtigsten Unterlagen und Archiven habe er nach wie vor keinen Zugang: zu den Aufzeichnungen des Sigurimi – dem Geheimdienst des kommunistischen Regimes. O-Ton Tufa: Per Gesetz ist es uns zwar gestattet, die Akten einzusehen, aber bisher wurden alle Anträge abgelehnt. Im April verabschiedete das albanische Parlament ein Gesetz zur Öffnung der Sigurimi-Akten. Nach jahrelangen Diskussionen – denn Politiker fast aller Lager fürchteten, die Archive könnten letztlich nur dazu genutzt werden, politische Gegner auszuschalten. Nun gibt es zwar ein solches Gesetz, aber Tufa bezeichnet es als pure Fassade. O-Ton Tufa: Es gab zwei Gesetzentwürfe. Ein Entwurf sah vor, dass ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes nicht Richter, Lehrer oder Parlamentarier werden konnten. Wie bei euch in Deutschland. Aber dieser Entwurf wurde abgelehnt. Das geltende Gesetz hat für die Täter keine Konsequenzen. Zwar verbietet das Gesetz ehemaligen Sigurimi-Mitarbeitern Staatsbedienstete zu werden. Wer ein solches Amt aber schon hat, darf seinen Job behalten. Tufa glaubt ohnehin nicht, dass je relevante Akten auf seinem Schreibtisch landen. O-Ton Tufa: Es gibt ein bestimmtes Verfahren, damit wir eine Genehmigung erhalten. Und einer, der uns diese erteilen könnte, ist ein ehemaliger Sigurimi-Mitarbeiter. Bisher wurden nur wenige Parteikader vor Gericht gestellt. Der Prozess war eine Farce, meint Tufa. O-Ton Tufa: Selbst der Nachfolger Hoxhas, Ramiz Alia, verbrachte gerade einmal ein Jahr im Gefängnis. 50 Jahre Morden, ein Jahr Gefängnis. Sie haben auf der Polizeistation gemütlich Kaffee getrunken, und sie wurden nie richtig verurteilt. Deswegen wurde dieses Verfahren auch "Kaffee-Prozess" genannt. Der alte Shyti nickt resigniert. 27 Jahre hat er in der Verbannung verbracht. Bis 1991 das kommunistische Regime fiel. O-Ton Shyti: Ich war 23 Jahre alt, als ich verurteilt wurde. Als ich zurück kam, war ich ein alter Mann. Sie haben mir meine Jugend genommen, aber meine Würde als Mensch konnten sie mir nicht nehmen. Ich bin noch immer hier, um Zeugnis abzulegen. MUSIK 5 LITERATUR 3 An der Tür des Verwaltungsgebäudes hatte man einen „Blitzbrief“ angeschlagen. Die Verfasser stellten die Frage, wie lange die Direktion noch ein sittenloses Weib als Putzfrau beschäftigen wolle, die Tochter und Ehefrau von Volksfeinden, während ihre eigenen ehrenwerten Töchter auf Ackern schuften mussten, auf denen die Frösche herumhüpften. An diesem Abend trank Mutter wieder. Am nächsten Morgen sagte sie zu mir, sie fühle sich nicht wohl, ich solle alleine zur Schule gehen. Sie war tatsächlich blass. Gegen Abend kam ich nach Hause zurück. Mutter hatten sie schon weggebracht. Im Zimmer wartete der verkalkte Sokrates. Er blieb in dieser Nacht bei mir. Und auch noch in weiteren Nächten. Mutter hatte Rattengift genommen. Ich wusste damals noch gar nicht, was das bedeutet. Heute läuft es mir eiskalt über den Rücken, wenn ich an ihre Qualen denke. Wenigstens weiß ich, wo sie begraben ist. Eines Tages werde ich sie dort besuchen. REPORTAGE 5 Atmo: Werkstatt / Fluss Ernst schaut Ibrahim Rugova aus dem Werkstatttor - hinaus auf den Fluss, wo Kühe weiden, Jungen am Uferrand spielen. In einigen Wochen wird der erste Präsident des Kosovo aus der Gießerei am Stadtrand von Tirana abgeholt – und in der Innenstadt der albanischen Hauptstadt aufgestellt. Atmo: Klopfen Bildhauer Lati Metani sieht zum bronzenen Präsidenten nicht auf. Er ist nur eines der vielen neuen Denkmäler; eine neue Bronzestatue für die Stadt, in der einst der Diktator des Landes Enver Hoxha überlebensgroß von seinem Sockel blickte – hinunter auf die Menschen in den Straßen von Tirana. Bis Demonstranten ihn 1991 endgültig vom Sockel stürzten. Atmo: Klopfen; Metani „This gets covered with ground...“ (alb.) Der 64-jährige Bildhauer beugt sich über eine große Holzkiste, in der der Gipsabduck der nächsten Bronzestatue liegt - inmitten feiner Erdkrumen. Sorgfältig drückt er die Erde an den Abdruck, klopft sie mit einem Hammer fest, bedächtig, fast liebevoll. O-Ton Ladi Metani: Am schwierigsten ist es, die ganzen Details zu kopieren. So entsteht die Form, in die er später das flüssige Metall gießen wird. Wer dann zum bronzenen Denkmal erstarrt – ob fanatischer Diktator, barmherzige Weltverbesser oder heroische Kämpfer längst vergangener Zeiten – das kümmert ihn längst nicht mehr. Ton Metani: Als Albanien mit der Sowjetunion befreundet war, haben wir Marx und Lenin gemacht, als dann die Chinesen kamen: Mao Zedong. Und nun herrscht Kapitalismus und wir sind mit den USA befreundet. Nun machen wir die Amerikaner, Clinton zum Beispiel Sei etwa 50 Jahren arbeitet der Mann mit dem weißen, wallenden Haar, mit Walross-Schnurrbart und bunt bedrucktem Hemd als Gießer, Bildhauer und Künstler. Atmo: Erzählen (albanisch): „Mit 13 Jahren habe ich angefangen in der Gießerei zu arbeiten...“ Mit 13 Jahren hat er mit der Arbeit angefangen, erzählt er. Früher, während der kommunistischen Diktatur Hoxhas, in der staatlichen Kunstgießerei in Tirana. Jetzt, als Rentner noch ab und an in dieser privaten Gießerei, die ehemalige Kollegen von ihm betreiben. O-Ton Metani (alb.): Es war damals im Kommunismus eine Ehre in der Kunstgießerei zu arbeiten. Wir haben großen Respekt genossen. Die Bezahlung war gut, weil unsere Arbeit wichtig für die Politik war. Aber natürlich hatte die Partei auch bei uns ihre Spione. Wie überall. Manchmal wusste man, wer es war: Wir nannten sie damals die 80-Leks, weil sie 80 Lek Lohn für's Spionieren bekamen. Damals durfte ihnen kein Fehler unterlaufen, sagt Metani – beugt sich über sein Werkstück, drückt weiter Erde an die Gipsform. O-Ton Metani (alb.): Auch beim Aufstellen der Statuen mussten wir sehr vorsichtig sein. Wir mussten sie dafür am Kopf abseilen. Da hatten wir angst, jemand würde fragten: Warum hängt ihr sie? Atmo: Ton-Statue auswickeln Einen Raum weiter wickelt Dylber Neciri eine dünne Plastikplane von einer der Tonstatuen, an denen er gerade arbeitet. O-Ton Neciri: Das Gesicht ist noch nicht fertig, aber der Rest schon. Hier in der Gips- und Tonwerkstatt entstehen die Vorlagen für die späteren Metallstatuen. Der Bildhauer nimmt einige Lappen und nasse Handtücher von der Statue. O-Ton Neciri: Nun ist es warm, deswegen müssen wir in verpacken. Vor ihm steht ein dünner Schlacks, kaum größer als der Bildhauer selbst, in Cowboystiefeln und Jeans. Eine Gitarre um den Hals. Bob Dylan. O-Ton Neciri: Während des Kommunismus hätte ich so eine Figur nicht machen dürfen. Viel zu dekadent.. Wir machten Krieger mit vielen Muskeln Jetzt bin ich frei, ihn so darzustellen, wie er ist – seine ruhige Art. Er war ja nicht sehr energiegeladen. Früher hätte ich ihm vermutlich die Aura und Kleidung eines Bergarbeiters geben müssen. (lacht) Mit Albanien hat Dylan allerdings wenig zu tun, gesteht der Bildhauer. Nie war er dort. Sogar seine Musik war verboten. Jetzt darf er immerhin als Bronzestatue im Badeort Durres stehen – weil der Bürgermeister es sich so wünscht. O-Ton Neciri: In den 60ern und 70ern, als die Beatles und Dylan angesagt waren, da durften wir sie ja nicht hören. Darum ist meine Generation verrückt nach ihnen – und baut solche Statuen. Atmo: Taxi einsteigen, losfahren Für heute ist Ladi Metani mit der Arbeit fertig. Ein Freund holt ihn in seinem Taxi ab – heute ausnahmsweise. Erst geht es über eine staubige Landstraße, dann tauchen Autowerkstätten, ein paar Bars mit Plastikstühlen und verblichenen Sonnenschirmen auf. Schließlich sind wir mittendrin im Stau – in den Straßen von Tirana. Vor 1991 fuhren hier nur LKW, Busse und die Dienstwagen von Kombinatsleitern oder Parteifunktionären. Privatwagen waren nicht erlaubt. Nur ein Fahrrad durfte jeder Albaner besitzen. O-Ton Ladi Metani: „Als ich geheiratet habe, gab es in in Tirana nur vier Taxis. Es war sehr schwer, ein Auto zu organisieren. Aber ich kannte ein paar Leute, die wiederum kannten Leute – und so konnte ich meine Braut damals mit dem Auto abholen. Überhaupt – in Tirana sei fast nichts beim Alten geblieben seit der Wende, meint Metani. Nur die Politiker, die wären irgendwie noch immer die selben. Der Taxifahrer stimmt zu – und ergeht sich in einer Schimpftirade über Korruption und Vetternwirtschaft. Atmo: Taxifahrer wettert Metani schweigt dazu, pfeift dann lieber etwas vor sich hin. Atmo: Pfeifen Er hat genug von Politik, von pompösen Kriegern und Parteifunktionären, die die Fäuste recken. Die großen Bronzestatuen, an denen er mitgearbeitet hat, sie sind längst gefallen. O-Ton Metani. Als die Hoxha-Statue fiel – da habe ich mich genauso gefreut wie die anderen Albaner auch. Deswegen mag ich eigentlich auch gar nicht mehr an so großen Monumenten arbeiten. Irgendwann kommt die Zeit – und sie werden gestürzt. Ich bleibe bei meinen kleinen Statuen über die Legenden Albaniens. Sie werden immer bestehen. Seit er 30 ist, formt er eigene Kunstwerke – nach der Arbeit, nur für sich. Kleine Brozestatuen, mythische Gestalten – die aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen scheinen. Atmo: In Wohnung gehen.... Zu Hause – in seiner Zweizimmerwohnung in einem sozialistischen Wohnblock – serviert seine Frau Obst. Metani zeigt seine Kunstwerke. Mittlerweile gilt er als einer der renommiertesten Bildhauer Albaniens, auch wenn er darum nicht viel Aufhebens macht. An die hundert kleinen Statuen, bronzene Wandbilder schauen auf Ladi herab. Die ganze Anrichte und Wand darüber sind mittlerweile voll. Nur der Flachbildfernseher findet dazwischen noch Platz. Finstere Gestalten schreien von den Wänden herab, ihre Gesicher sind qualvoll verzerrt. Atmo: Ladi zeigt sein erstes Kunstwerk.... Metani nimmt eine kleine Bronzebüste – sie passt fast ganz in seine große, schwielige Hand. Ein wild dreinblickendes, bärtiges Wesen – halb Mensch, halb Fabelgestalt aus dunklen Wäldern. Es ist sein erstes, selbst entworfenes Kunstwerk. O-Ton Metani: Er sieht sehr stark und böse aus. Aber das liegt daran, dass den Albanern so viel passiert ist. Ein schlimmes Leben macht dich wild. Da kam auch die Wut her, die viele Leute dazu brachte, das System zu stürzen. Auf dem Boden neben der Anrichte stehen ein paar kleine Marmorstatuen. O-Ton Metani: Das waren ursprünglich Teile einer Hoxha-Statue. Sie stand in einem Mausoleum – der Pyramide. Wir sollten sie nach der Wende zerstören. Viele seiner Kollegen verkauften damals Teile der Statue an interessierte Journalisten. Metani hat seine Bruchstücke behalten und Neues daraus geschaffen. O-Ton Metani: Ich mag das Marmorgesicht hier am liebsten – es ist traurig. Aber die meisten Gesichter, die ich mache, sind traurig – sie weinen oder schreien. Metani setzt sich auf die Couch, holt seinen Tabak heraus – und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. Von der Wand schreien und weinen stumm Bronze- und Marmorgesichter herab. Werden sie irgendwann aufhören zu rufen? O-Ton Ladi Metani: Nein, andere Figuren werde ich erst machen, wenn auf der ganzen Welt Frieden herrscht. Dann kann ich hiermit aufhören – und mache eine schöne Frau. MUSIK 6 ABSAGE „Zwischen Aufarbeitung und Aufbruch – Albanien 30 Jahre nach dem Tod des Diktators Enver Hoxha“ Das waren „Gesichter Europas“ mit Reportagen von Leila Knüppel. Die Literaturauszüge stammen aus dem Roman „Hundehaut“ von Fatos Kongoli, erschienen im Ammann Verlag. Walter Gontermann hat sie vorgetragen. Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Angelika Bruchhaus. Redaktion: Gerwald Herter 1