Zeitfragen 22. März 2017 Bollwerk gegen den "Hornvieh-Nationalismus" Eine Ideengeschichte zur Einheit Europas von Klaus Englert ERZÄHLER: Wer heute die mentale Geographie Europas überblickt, wird nahezu überall auf nationale Abschottung und patriotische Schutzwälle treffen. Der Geist der euro- päischen Integration, der jahrelang die politischen Debatten prägte, ist längst passé. Die Horizonte werden nicht erweitert, sondern verengt. Der bissige Kommentar eines deutschen Freigeistes scheint heute gültiger denn je: ZITATOR: "Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt wo alles auf größere und gemeinsame Inte- ressen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln" (13/92)? ERZÄHLER: Friedrich Nietzsche, der in Basel lehrende Altphilologe, ein Liebhaber französi- scher Kultur und italienischer Lebensart, hatte zusehends das Gefühl, das Preu- ßentum schneide ihm die Luft zum Atmen ab. Doch der Rufer in der Wüste ließ von seinen Visionen nicht ab: ZITATOR: "Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Nothwendigkeit - und eben- so, als Reaktion, die Friedenspartei" (13/93). ERZÄHLER: Der aus dem sächsischen Röcken stammende Pfarrerssohn gehörte zu den gro- ßen Europäern des 19. Jahrhunderts. Als Staatenloser lebte Nietzsche in der Schweiz und erlebte dort, wie Preußen gegen das geliebte Frankreich in den Krieg zog, an dessen Ende Bismarck 1871 seinen preußisch dominierten Natio- nalstaat schuf, der den Nationalismus auf dem Kontinent anheizte. Die europäi- schen Staaten und Reiche waren auf sich selbst bezogen. Eine Idee von Europa, von seinen Ursprüngen, vom Mythos Europa hatte in diesem Denken keinen Platz. Für den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann kommt es darauf an, die Perspektive zu weiten und wahrzunehmen, wie Europa entstanden ist: 1. O-TON (Liessmann): "Europa entsteht in Asien. Europa ist ein semitisches Wort, kein indo- europäisches Wort und heißt der ‚Abend'. Also Europa ist tatsächlich das Abendland. (...) Warum? Das Abendland ist ja nur dann das Abendland, das vergisst man, das ist nie eine Selbstbezeichnung, sondern der Abend ist der Westen, wo die Sonne untergeht. Und Europa liegt nur im Westen, wenn ich nicht in Europa bin, sondern wenn ich irgendwo an den phönizi- schen Gestaden bin und nach Westen blicke - und dort geht die Sonne un- ter, und hinter dem Sonnenuntergang liegt noch ein Kontinent, und das ist Europa. Genauso wie für uns das Morgenland unsere Perspektive auf den Orient ist. Nur für uns geht dort die Sonne auf. (...) Abendland und Mor- genland sind komplementäre Begriffe, und zwar Fremdzuschreibungen". ERZÄHLER: Wenn Liessmann die "phönizischen Gestade" an der östlichen Mittelmeerküste erwähnt, dann darf natürlich nicht die phönizische Königstochter Europa fehlen. Auf die hatte es nämlich Göttervater Zeus abgesehen. In Gestalt eines Stiers ent- führte er sie, schwamm, mit Europa auf dem Rücken, nach Kreta und vergewal- tigte sie dort. 2. O-TON (Liessmann): "Das heißt Europa beginnt in Asien. Wir hatten immer dieses Verhältnis zu diesem Osten, zum asiatischen Raum. Das ist die Wurzel unserer Kul- tur bis zu einem gewissen Grad." ERZÄHLER: Europa war in den ersten Jahrhunderten keineswegs ein Kontinent mit geschlos- senen Grenzen. Die Ostteile empfingen orientalische Einflüsse durch das Osma- nische Reich, die Iberische Halbinsel durch die Umayyaden, die anfangs aus dem umkämpften Damaskus flohen, um später im neuen Kontinent das Koloni- alreich Al Andalus zu gründen. Weil Europa von Beginn an keine gesicherten Grenzverläufe besaß, war es we- niger ein Ort, sondern vielmehr eine Idee. Nichts zeigt das anschaulicher als die legendäre Bibliothek von Alexandria, die auf afrikanischem Kontinent fast das gesamte Wissen Europas versammelte. Aufgebaut wurde sie vom Mazedonier Ptolemaios I., dem Feldherrn von Alexander dem Großen. Innerhalb von zwei Generationen wuchsen die Bestände der Bibliothek auf über eine halbe Million Pergamentrollen an, darunter fanden sich alle wichtigen Werke der griechischen Natur- und Geisteswissenschaften seit Homer. In den antiken und mittelalterlichen Bibliotheken entstand wissenschaftlicher Fortschritt durch Wissenstransfer von einer zur anderen Kultur - vom Abend- land zum Morgenland und wieder zurück: Das war so im antiken Alexandria, im Bagdad des 8. Jahrhunderts und wenig später im muslimischen Córdoba. In Bagdad und Córdoba waren die arabischen Gelehrten nicht nur führend in Wis- senschaft und Philosophie, sie waren auch die besten Kenner der griechischen Werke, die sie in die eigene Sprache übersetzten. Angereichert durch eigene Kommentare gelangten die Werke schließlich zurück ins Abendland. 3. O-TON (Liessmann): "Europa war immer fasziniert vom Anderen, die Europäer waren faszi- niert vom Anderen, haben gewusst, wo das Andere, das viel beschworene Fremde wirklich beginnt. Das hat mit zwei Dingen zu tun: Dass die meis- ten Kulturen in Europa ähnliche Wurzeln haben. Das sind die griechische Antike, die römische Antike, das Judentum und das Christentum. Mit ei- nigen Einsprengseln des Islam aus der Frühzeit der Auseinandersetzung, die man nicht gering schätzen soll. Gerade die europäische Philosophie des Mittelalters wäre ohne die arabische Philosophie nicht denkbar. Nicht weil die arabische Philosophie so ungeheuer (...) originell gewesen wäre, sondern weil sich die arabischen Philosophen direkt von der antiken Phi- losophie verdanken (...). Gerade wenn wir das Verhältnis Europas zum Islam diskutieren: Wir haben eine gemeinsame Geschichte und Vergan- genheit, die war sehr konfliktreich, (...) die war zum Teil auch sehr dialo- gisierend." ERZÄHLER: Neugier für fremde Welten: das kennzeichnet, so Liessmann, die europäische Geschichte. 4. O-TON (Liessmann): "Das ist ja das Interessante: Dass diese (...) Neugier der Europäer im Hinblick auf andere Kulturen auch sehr viele verhängnisvolle Entwick- lungen angetrieben hat, an deren Folgen wir noch heute leiden, wenn man an Kolonialismus und die ganzen postkolonialen Entwicklungen denkt. (...) Aber es war auch der ursprüngliche Entdeckerdrang dabei, herauszu- finden, ob die Erde tatsächlich eine Kugel ist und wie es ist, wenn man einmal um die Kugel herumsegelt. Die technischen Möglichkeiten, solche Weltumseglungen vorzunehmen, haben andere Kulturen auch gehabt. (...) Aber es hat sich daraus nichts entwickelt. Es hat das Weltbild nicht wirk- lich verändert. Während die Weltumseglung und die dazugehörige Refle- xion ja genau zu einer der kopernikanischen Wenden geführt hat, die zu- tiefst charakteristisch sind für das europäische Denken." ERZÄHLER: Die Vorstellung, dass Europa ein Kontinent ist, dessen Völker sich durch be- stimmte Gemeinsamkeiten auszeichnen, entwickelt sich schon früh: Als sich im Spätmittelalter die Länder zu Staaten zusammenschlossen, überlegte man be- reits, wie sie sich in größere politische Verbände überführen lassen. Allerdings gingen derartige Überlegungen niemals über die bestehende monarchische Ord- nung hinaus. Beispielsweise meinte Dante in seinem Werk "De monarchia", ein den ganzen Erdball umspannendes Kaisertum könne den Weltfrieden garantie- ren. Aus diesen Gedanken reifte schließlich die Idee von der geistigen Einheit Europas heran. Allerdings wurde die Gestalt, in der sich diese Einheit zeigen sollte, unterschiedlich bestimmt. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts dachten an einen Verbund von Republiken, da sie - trotz aller kulturellen Unterschiede der Völker - von einem geistigen Band unter den Europäern ausgingen. Wilfried Loth, der als Professor für Neue Geschichte an der Universität Essen lehrte, sieht die ersten Schritte zu einer europäischen Friedensordnung im 16. Jahrhundert. Unter der Regentschaft des französischen Königs Heinrich IV. ent- stand der visionäre "Grand Dessein" (Große Plan), der, 150 Jahre später, die französischen Aufklärer inspirieren wird. Eine tragfähige Friedensordnung unter den Staaten blieb zwar zunächst Utopie, aber mit dem Entwurf war der Keim für eine Neuordnung Europas gelegt: 5. O-TON (Loth): "In der frühen Neuzeit wird es demokratischer und egalitärer in dem Sin- ne, dass da nicht mehr ein Hegemon vorgesehen ist, sondern dass eine gleichberechtigte Organisation der europäischen Staaten vorgeschlagen wird. Sehr prominent sind die Europa-Pläne des Herzogs von Sully, der 15 gleich starke Staaten plante, deren Vertreter dann gemeinsam, mit ge- meinsam bewaffneter Macht, mit gemeinsamem Heer über den Frieden in Europa wachen sollen." ERZÄHLER: Ein heutzutage vergessener Frühaufklärer machte zu Beginn des 18. Jahrhun- derts, als die absolute Monarchie noch unangefochten war, den bedeutendsten Schritt hin zu einer europäischen Friedensordnung. Europa war damals - ausge- löst durch die imperialen Gelüste des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. - in ein Zeitalter andauernder Kriegswirren eingetreten. Kriegsdrohungen gegen das Heilige Römische Reich, gegen Spanien, die Niederlande und Flandern ge- hörten zur Tagesordnung. Als der Abbé de Saint-Pierre 1712, nach dem Tod des Monarchen, seinen "Traktat vom ewigen Frieden" verfasste, dachte er an eine Friedensordnung, die zum Vorteil aller Nationalstaaten gereichen würde. Dantes Universalmonarchie verwarf der Abt, wohl aber wollte er Sullys Plan eines eu- ropäischen Bundes weiterentwickeln, der - wie er schrieb - zur Zeit Heinrich IV. "die Billigung der meisten europäischen Herrscher fand" . Abbé de Saint-Pierre entwickelte die Idee eines dauerhaften Schiedsgerichtes, das bei Konflikten zwischen einzelnen Staaten zusammentreten sollte. Zudem wollte der Frühaufklärer die Staaten zu einer föderativen Gemeinschaft verei- nen. Er schlug einen Völkerbund vor, der allen christlichen Herrschern hinrei- chende Sicherheit für einen dauernden inneren und äußeren Frieden gewährt. Im ersten Grundsatzartikel für den Friedensvertrag schrieb der französische Abt: ZITATOR: "Es besteht von diesem Tage an zwischen den unterzeichneten Herrschern und, wenn möglich, zwischen allen christlichen Herrschern ein dauerndes, ewiges Bündnis zum Zweck der Erhaltung eines ununterbrochenen Friedens in Europa. Zu diesem Zweck wird der Bund bestrebt sein, mit den benachbarten moham- medanischen Herrschern Schutz- und Trutzbündnisse abzuschließen, damit jeder innerhalb seiner Grenzen den Frieden wahrt. " ERZÄHLER: Wilfried Loth kommentiert: 6. O-TON (Loth): "Es gibt beim Abbé de Saint-Pierre ein Element, das ganz zentral ist für die heutige Konstellation - nämlich die europäische Versammlung mit Mehrheitsentscheid. Mehrheitsentscheidungen in dem europäischen Rat - das ist ganz zentral, das ist die Einführung des Prinzips der Supranationa- lität in das europäische Projekt." ERZÄHLER: Das Werk des französischen Abts, das in Form eines Vertragswerks verfasst wurde, beeinflusste Jahrzehnte später die führenden Philosophen der Aufklärung - vornehmlich Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Der Königsberger Philosoph veröffentlichte 1795, als der preußische König Friedrich Wilhelm II. regierte, sein einflussreiches Werk "Zum ewigen Frieden". Kants Schrift war eine indirekte Kritik am Regierungsstil des Monarchen, der - anders als sein Onkel und Vorgänger Friedrich II. - der Aufklärung zutiefst misstraute: 7. O-TON (Loth): "Was Kant betrifft, da kommt hinzu - und ist auch ganz entscheidend für die heutige Situation - die Verbindung von europäischem Frieden, euro- päischer Organisation mit dem Prinzip der republikanischen Ordnung. Wir würden heute sagen: mit dem Prinzip der Demokratie. Für Kant ist eine solche europäische Friedensordnung nur möglich, wenn alle beteilig- ten Staaten Republiken sind, und nicht mehr Monarchien." ERZÄHLER: Immanuel Kant entwickelte in seiner Schrift zwei Grundpfeiler: Die republika- nische Ordnung, in der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, gesetzgebender Versammlung und Rechtsprechung vorherrscht. Bis heute gilt diese Gewalten- teilung als Fundament demokratischer Staaten. Doch Kant dachte darüber hin- aus, denn er wusste genau, dass die kriegerischen Zustände in Europa jedes de- mokratische Gemeinwesen erschüttern würden. Deswegen entwarf er den Föde- ralismus freier, gleichberechtigter Staaten, die sich zu einem Völkerbund zu- sammenschließen. Zu einem Völkerbund, der einzig in der Lage ist, den Frieden zu garantieren. Kant zeigte sich optimistisch, dass der Völkerbund unter Leitung einer mächtigen republikanischen Nation wie Frankreich dieses Ziel verwirkli- chen könne. Diese von Kant entworfene Idee lag tatsächlich dem Völkerbund zugrunde, der nach dem 1. Weltkrieg gegründet wurde, schließlich der Charta der Vereinten Nationen von 1945. An diesen Zusammenhang erinnert Peter Trawny, Philosophie-Professor an der Universität Wuppertal: 8. O-TON (Trawny): "Was daran aktuell ist, ist gewiss, dass sowohl Abbé de Saint-Pierre als auch Kant den Krieg (...) in Europa verhindern wollten, der damals ge- wissermaßen zur Normalität Europas gehörte. Daran konnte man nach dem 2. Weltkrieg - oder mit der Gründung des Völkerbundes nach dem 1. Weltkrieg - anknüpfen. Ich sehe diese Aktualität nach wie vor." ERZÄHLER: Konrad Paul Liessmann erinnert daran, dass Kants "Zum ewigen Frieden" als Gründungsakt der westlichen Demokratien gelesen werden kann. Denn hier wurde die formale Kategorie der Menschenwürde entwickelt, die für alle Men- schen gleichermaßen gültig ist: 9. O-TON (Liessmann): "Alle diese in Europa grundgelegten Konzepte, Überlegungen und Vor- stellungen haben sich globalisiert, sind unterschiedlich aufgenommen und verarbeitet worden, werden von Europa wieder rezipiert, kehren auf Um- wegen wieder zurück, haben ihre Gestalt gewandelt. Mit der Menschen- rechtsidee ist es ähnlich. Natürlich gibt es ähnliche Konzepte (...) auch in anderen Kulturen. Aber in dieser verbindlichen Form, wie sie jetzt in die UN-Charta eingegangen ist, wie sie als Forderungen nach Grundrechten gestellt werden können, ist das im wesentlichen in Europa entwickelt worden aus einer Zusammenarbeit von Philosophen, von politisch den- kenden Menschen, auch von durchaus revolutionären Kräften." ERZÄHLER: 1849 trafen sich in Paris Politiker, Künstler und Intellektuelle, um den ersten internationalen Friedenskongress zu veranstalten. Zwar setzten sich in den Jah- ren der Zweiten Republik soziale Errungenschaften durch - die Abschaffung der Sklaverei, die Ausweitung des Wahlrechts und die Herabsetzung der Arbeitszeit. Dennoch trafen die Vertreter des Kongresses auf große Widerstände: Der Geist der Aufklärung war bereits ziemlich unkenntlich geworden. Und mit Louis Napoléon Bonaparte, dem Napoleon-Neffen, etablierte sich eine Gesetzgebende Nationalversammlung, die aus reaktionären Monarchisten bestand. In dieser geistigen Atmosphäre kamen im August 1849 die aus mehreren Ländern ange- reisten Kongress-Teilnehmer zusammen. Der damals schon berühmte Dichter und Politiker Victor Hugo, der sich kurz zuvor vom Royalisten zum Republika- ner gewandelt hatte, hielt vor den Teilnehmern eine flammende Eröffnungsrede: ZITATOR: Der Tag wird kommen, an dem sich Frankreich, Russland, Italien, England, Deutschland und alle Nationen des Kontinents - ohne ihre unterschiedlichen Ei- genschaften (...) zu verlieren - in einer höheren Einheit innig verschmelzen und dabei die europäische Brüderlichkeit bilden, genau so wie die Normandie, die Bretagne, der Burgund, Lothringen, das Elsass, alle unsere Landteile sich in Frankreich verschmolzen haben. Der Tag wird kommen, an dem es keine weite- ren Schlachtfelder mehr geben wird. (...). Der Tag wird kommen, an dem Ka- nonenkugeln und Bomben durch Abstimmungen, das allgemeine Wahlrecht und die ehrwürdige Schiedsgerichtsbarkeit eines großen souveränen Senats ersetzt werden, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England, was der Bundestag für Deutschland und das legislative Parlament für Frankreich ist! ERZÄHLER: Der Historiker Wilfried Loth kommentiert: 10. O-TON: "Victor Hugo steht für ein Charakteristikum der nationalen Einigungsbe- wegung im 19. Jahrhundert. Im Unterschied zum Zeitalter des Imperia- lismus und des Machtstaatsdenkens in Europa haben die Nationalbewe- gungen den künftigen Nationalstaat, den sie anstrebten, nicht als Solitär gedacht, sondern eingebettet in eine brüderliche europäische Gemein- schaft. Insofern ist Victor Hugo ebenso ein glühender Verfechter der fran- zösischen Nationalstaats-Idee und der französischen Freiheits-Idee wie ein Verfechter der Vereinten Staaten von Europa, wie er es formuliert hat." ERZÄHLER: Die Euphorie, die viele französische Intellektuelle für eine "Verschmelzung" Frankreichs mit Deutschlands hegten, war nicht von langer Dauer. 1871, ausge- löst durch den Deutsch-Französischen Krieg, war die Europa-Begeisterung end- gültig ausgeträumt. Die deutsche Regierung unter Bismarck wollte die unterle- genen Franzosen auf eigenem Terrain demütigen. Deswegen erfolgte die Pro- klamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum ersten Deutschen Kaiser ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles, dessen Deckengemälde die von Frankreich eroberten deutschen Länder zeigen. An diesem denkwürdigen Ort rief Bismarck das Deutsche Reich aus. Auch der junge Philosoph Friedrich Nietzsche nahm an dem Deutsch-Franzö- sischen Krieg teil, wurde aber bald krankheitsbedingt entlassen. Der Franzosen- Freund Nietzsche distanzierte sich mit deutlichen Worten von dem falschen Frieden und der deutschen Einverleibung von Elsass und Lothringen. Als er mit 25 Jahren wegen einer angebotenen Professur nach Basel übersiedelte, ließ er sich aus der preußischen Staatsbürgerschaft befreien. Der Basler Stadtverwal- tung gab er als Begründung an: Er wolle nicht in Friedenszeiten zum Waffen- dienst eingezogen werden. Tatsächlich war Nietzsche für den Rest seines Le- bens ein "Staatenloser". Einige Jahre später, als freier Schriftsteller, als begeis- terter Frankreich- und Italien-Reisender, schrieb er: ZITATOR: Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und ge- mischt, als "moderne Menschen", und folglich wenig versucht, an jener verlo- genen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt. (...) Wir sind - es soll unser Ehrenwort sein - "gute Europäer", die Erben Europas, die rei- chen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes." ERZÄHLER: In seinen nachgelassenen Notizen von Ende 1887 beschwört Friedrich Nietzsche das geistige Erbe seines französischen Wahlverwandten Victor Hugo: ZITATOR: Welchen Wert könnte es haben, jetzt wo alles auf größere und gemeinsame Inte- ressen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? (...) Und das in einem Zustande, wo die Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und Befruchten der eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Cultur liegt! Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Not- wendigkeit - und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei. (...) Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen." ERZÄHLER: Seit der Proklamation des Deutschen Reiches war die "Einigung Europas", die der Preuße Friedrich Nietzsche so sehr herbeisehnte, im Niedergang begriffen. Stattdessen regierte der "Hornvieh-Nationalismus". Im Gegenzug entstanden aber auch friedensbewegte Europa-Initiativen, so Wilfried Loth: 11. O-TON (Loth): "Wir haben im Herbst 1914, nachdem das große Schlachten begonnen hat, eine Fülle von Initiativen, die zur Rückkehr zur europäischen Idee aufru- fen. Diese Bewegung, die angesichts des großen Krieges entsteht, be- kommt nach dem Krieg noch größeren Auftrieb. 1923 ist das Jahr, in dem die Paneuropa-Union gegründet wird, propagiert von dem damals 29jährigen Grafen Coudenhove-Calerghi, und dies erste organisierte Eu- ropa-Bewegung hat in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg schon sehr große Resonanz gefunden. Das geht hin bis zur politischen Ebene, wo der fran- zösische Außenminister Aristide Briand 1929 zu einer Art Europäischer Union aufruft." ERZÄHLER: Die neuerliche Begeisterung für eine Europäische Union dauerte nur kurz: Die europäische Landkarte wurde in den Folgejahren durch den expansionistischen Nationalismus einer deutschen Regierung bestimmt, für die "europäische Brü- derlichkeit" gleichbedeutend mit Vaterlandsverrat war. Als der jüdische Philo- soph Edmund Husserl 1935 in Wien über die "Krisis des europäischen Men- schentums und die Philosophie" sprach, standen die Zeichen bereits auf Welt- verdüsterung. Die Chance auf eine europäische Friedensordnung, die Nietzsche und Hugo herbeigesehnt hatten, sah der deutsche Philosoph endgültig verwirkt. Europa attestierte er eine große "Müdigkeit". Im Grunde der herrschenden Bar- barei erblickte Husserl - wie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann er- kennt - den Verrat am europäischen Projekt: 12. O-TON (Liessmann): "Das war genau das, was er den barbarischen Nazis vorgeworfen hat: dass sie geistlos waren, dass sie nur darauf aus waren, zu beherrschen, zu be- nutzen, zu verwerten, zu verwenden, dass die so genannten Ideale, die sie verkündet haben, nur Propaganda waren, nur Ideologie." ERZÄHLER: Und trotzdem: In der Stunde der Gefahr beschwor Edmund Husserl den von Nietzsche gepriesenen "guten Europäer". Er solle den Geist Europas in den Zei- ten der "Krise" wach halten. Husserl hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass ausgerechnet Winston Churchill, der führende Politiker des britischen Em- pire, die europäischen Staaten aus der Schockstarre führen sollte. Im September 1946 hielt er in der Universität Zürich seine berühmte Rede. Die Zuhörer über- raschte er mit einem Vorschlag, der helfen sollte, die "Tragödie Europas" zu überwinden: 13. O-TON (Churchill): "Yet all the while there is a remedy which, if it were generally and spon- taneously adopted by the great majority of people in many lands, would as if by a miracle transform the whole scene, and would in a few years make all Europe, or the greater part of it, as free and as happy as Switzerland is today. What is this sovereign remedy? It is to recreate the European Fami- ly, or as much of it as we can, and to provide it with a structure under which it can dwell in peace, in safety and in freedom. We must build a kind of United States of Europe." ÜBERSETZER: Es gibt all die Zeit hindurch ein Mittel, das, würde es allgemein und spontan von der großen Mehrheit der Menschen in vielen Ländern angewendet, wie durch ein Wunder die ganze Szene verändern und in wenigen Jahren ganz Europa, oder doch dessen größten Teil, so frei und glücklich machen, wie es die Schweiz heu- te ist. Welches ist dieses vorzügliche Heilmittel? Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch soviel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. ERZÄHLER: Churchills Rede von 1946 entwickelte eine Vision, die die meisten Zuhörer überwältigte. Und dennoch: Trotz aller visionärer Kraft blieb Churchill dem bri- tischen Imperialismus und der Weltmacht-Rolle treu. Der europäischen Sonder- rolle hängen bis heute die meisten Briten an. Das zweite Manko: Churchill for- derte für die "United States of Europe" einen "erweiterten Patriotismus und ein gemeinsames Bürgerrecht". Diesem "Europa der Vaterländer", wie er es nannte, widersprachen seinerzeit achtzig europäische Föderalisten, die sich in Bern und Hertenstein trafen und zur Bildung eines demokratischen Europas aus dem Geist des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus aufriefen. Sie forderten einen "demokratischen Aufbau von unten nach oben" sowie eine föderalistische Orga- nisationsform. Schließlich sollten alle Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten an eine "Europäische Union" abgetreten werden. Doch die Entwicklung Europas nahm einen gänzlich anderen Verlauf. Die 1951 gegründete Montanunion, die sechs europäische Staaten umfasste, war auf wirtschaftliche Kooperation ausge- richtet. ZITATOR: "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" ERZÄHLER: So hieß sie. Kohle und Stahl waren nötig, um Kriege zu führen. Wenn dieser industrielle Kern der nationalen Hoheit entzogen wird, entzieht man der Mög- lichkeit, Kriege vorzubereiten, den Boden: das war der Friedensgedanke, der in der Idee der Montanunion steckte. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 entstand, erweiterte die Kooperation auf wirtschaftlichem Gebiet, ohne dass damit ein politischer Einigungsprozess einherging. Immerhin: Mit den in Rom beschlossenen Verträ- gen wurden auch ein Europäisches Parlament und ein Europäischer Gerichtshof beschlossen. Nach 1945 war das verhältnismäßig wenig, so Konrad Paul Liess- mann: 14. O-TON (Liessmann): "Nach diesem Krieg war Europa bedeutungsloser als je zuvor. Auch das darf man nicht vergessen, dass das schon die Dinge waren, die die so ge- nannten Paneuropäer, wie den Grafen Coudenhove-Kalergi, schon nach dem 1. Weltkrieg gestört haben, dass die Selbstzerfleischung Europas, das nicht gelungene Projekt der Befriedung der europäischen divergierenden nationalen Interessen - dass das, global gesehen, zu einem Bedeutungs- verlust von Europa führen muss." ERZÄHLER: Erst in den 1980er und 90er Jahren wurden Schritte unternommen, um der wirt- schaftlichen auch eine politische Integration folgen zu lassen. All das scheint mit den wachsenden autoritären Bewegungen wieder auf dem Spiel zu stehen. Nicht zufällig richten sich die Angriffe des Populismus gegen die Demokratie und Eu- ropa. Die entscheidende Frage ist: Wie stark und widerstandsfähig ist die Idee von Europa? S. 43 S. 77 1