Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 29. März 2014, 11.05 - 12.00 Uhr KW 13 Auszug nach "Merkelândia" - Junge Portugiesen in Deutschland mit Reportagen von Grit Eggerichs Moderation und Musikauswahl: Simonetta Dibbern Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Eine junge portugiesische Krankenschwester, die Deutsch lernt: Das DaVinci-System ist ein Roboter, der die Möglichkeiten des Chirurgen erweitert und eine minimalinvasive Alternative für schwere Operationen bietet. Eine linke Politikerin, die der verlorenen Generation eine Stimme gibt: Wir sehen, dass ein 40-Stunden-Job kein würdiges Auskommen bietet. Und so werden die Leute ruiniert, so viele Menschen sind gezwungen auszuwandern. Und ein junger Mann, der seit seinem Umzug nach München seine Familie nur noch selten sieht: Es ist besser den eigenen Weg zu gehen statt hierzubleiben und noch eine zusätzliche Belastung zu sein. Das große Problem in Portugal ist ja, dass Menschen sogar noch mit 30 bei ihren Eltern wohnen, weil sie sich alleine nicht ernähren können. Gesichter Europas: Auszug nach Merkelândia: Junge Portugiesen in Deutschland. Eine Sendung mit Reportagen von Grit Eggerichs. Am Mikrophon begrüßt Sie Simonetta Dibbern. Portugal ist ihre Heimat. Doch immer schon haben die Menschen das kleine Land am südwestlichen Zipfel Europas verlassen und ihr Glück in der Ferne gesucht: sei es als Entdecker und Abenteurer auf den Karavellen im 15. und 16. Jahrhundert. Als Eroberer und Kolonialherren in Afrika und Südamerika. Oder, viel später, als Arbeitsemigranten Richtung Norden, auf der Suche nach einem besseren Leben. Die unruhige portugiesische Seele ist am besten beschrieben mit dem Begriff Saudade. Ein Wort, das es in keiner anderen Sprache gibt. Saudade bedeutet Heimweh und Fernweh zugleich - Hoffnung, Sehnsucht, Melancholie. Die Saudade reist immer mit, bei jedem Abschied, bei jedem Aufbruch -auch wenn es den Portugiesen anscheinend leichtfällt, die Koffer zu packen und wegzugehen. Im 21. Jahrhundert ist es die wirtschaftliche Krise, die viele die Heimat verlassen lässt: sie gehen nach Brasilien, Angola, Mosambik - die ehemaligen Kolonien haben Portugal wirtschaftlich längst überholt. Und: sie gehen nach Nordeuropa: nach Frankreich, in die Schweiz. Und nach Deutschland. Was bedeutet: dass vor dem Weggehen das Lernen einer fremden Sprache steht. Im Deutschunterricht am Goethe-Institut in Porto wird vor allem das gelehrt, was für ein Leben in Deutschland nützlich sein könnte. Die Steuererklärung muss bis dsum eins-und-dreisigsten Funften abgegeben werden. Die Übungssätze sind nur ein Zeitvertreib. Noch hat der Unterricht gar nicht angefangen. Und die Lehrerin ist auch gerade erst reingekommen. Claudia Breitbarth heißt sie. Sie stellt ihre Tasche auf den Tisch und legt los. Guten Morgen, liebe Leute. Wir fangen mit einer Viertelstunde Verspätung an. Die müssen wir wieder reinarbeiten. Die Zeit ist tatsächlich knapp. Zehn junge Frauen sitzen hier - in Raum Berlin am Goethe-Institut von Porto - und ein einziger Mann. Alter: 22 bis 28 Jahre. Beruf: Krankenschwester, oder Krankenpfleger. Sie haben jetzt fast ein halbes Jahr Deutsch gelernt. Jeden Wochentag - von viertel vor zehn bis viertel nach drei. In ein paar Wochen treten sie im Uniklinikum Frankfurt an - zu ihrem ersten Arbeitstag. Hallo Marisa, wie war das Wochenende? Marisa war nämlich am Wochenende in Frankfurt. Ihr Freund lebt jetzt schon da - die beiden richten gerade ihre gemeinsame Wohnung ein. Guter Anlass für ein wenig Konversation. Mein Wochenende war sehr schön. Und wie war der Flug? Gutt. Ruhig. Hast du geschlafen? Nein, ich habe deutsch gelernt. Los geht's - mit den Hausaufgaben. Relativsätze. Der erste Teil handelt von den Regeln. Ana-Luiza? Ich heiß Ana-Luiza. Ich bin 22 Jahr alt. Relativsätze sind Nebensätze. Sie erklären ein Substantiv im Hauptstatz. Ich sag immer: die Deutschen verdrehen die Zunge. Und wir müssen diese seltsame Zungengymnastik halt nachmachen. An der Tafel stehen Sätze aus dem Übungsbuch. Zum Beispiel: "Da Vinci ist ein System. Damit kann man die Grenzen der offenen Chirurgie überschreiten." Aus zwei Hauptsätzen soll ein Satz werden. Diogo runzelt die Stirn, guckt an die Tafel. Wir sehen an jeder Ecke Englisch, am Flughafen, überall. Deutsch sehen wir in Portugal nie, ist ja auch keine Sprache, die viele Menschen sprechen, und so war der erste Kontakt mit Deutsch hier im Kurs. Wir konnten Hallo sagen, aber sonst nichts. Die Uniklinik Frankfurt hat voriges Jahr wieder ihre Aquisechefin für ausländische Mitarbeiter nach Portugal geschickt. Auf den Stationen herrscht Personalmangel. Und es kommt kein Nachwuchs. Deshalb holt sich die Personalabteilung jetzt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Ausland. Im Sommer fanden die Bewerbungsgespräche statt - mit einer Dolmetscherin. Alle die jetzt hier sitzen, haben eine Zusage bekommen. Dann kam der Vorvertrag ins Haus. Und die Einladung zum Deutschkurs - bezahlt vom neuen Arbeitgeber. Liliana fährt von ihrem Dorf an der Küste jeden Tag eine Stunde zum Goethe-Institut. Und nachmittags wieder zurück. Ich eiß Liliana, bin 22 Jahr alt, hier in Portugal abich keine Arbeit. Ich habe diverse Bewerbungen abgeschickt, aber ich habe keine Antwort gekriegt - nicht mal ne Absage. Und dann kommt irgendwann der Punkt, wo man Portugal als Land ohne Zukunft sieht. Und da entscheidet man sich, wie so viele andere, fürs Ausland. Viele private Kliniken in Portugal bezahlen ihren Schwestern und Pflegern Stundenlöhne von wenig mehr als 3 Euro. Und die öffentlichen Krankenhäuser haben kaum noch Geld zur Verfügung, um neues Personal einzustellen - der Staat spart überall - auch am Gesundheitssystem. Da Vinci ist ein System... Das war nur umformuliert, kein Relativsatz. Versuchen wir's noch mal langsam... Am Anfang als ich gesagt hab, dass ich ein Bewerbungsgespräch für eine deutsche Klinik habe, fanden meine Eltern das noch prima, so nach dem Motto: Ah, mein Sohn hat ein Berwerbungsgespräch für Deutschland! Und dann, als ich gesagt hab, dass die mich nehmen, haben sie gesagt: wie? Nehmen? Und dann haben sie gesagt, dass ich ja nicht gehen muss, wenn ich nicht will. Aber dass sie mich unterstützen, wenn ich es will. Claudia Breitbarth stellt sich an die Tafel und streicht ein Substantiv durch, kreist das Verb ein und macht einen Pfeil zum Ende des Satzes. Wir öffnen eine Lücke, schieben den Relativsatz hinein und beenden den Hauptsatz. Okay. 2. Satz. Liliana? Das DaVinci-System ist ein Roboter, der die Möglichkeiten des Chirurgen erweitert und eine minimalinvasive Alternative für schwere Operationen bietet. Wunderbar. Am Ende der Stunde ist die Tafel voller Pfeile und durchgestrichener Wörter. Zeit für eine Pause! Die portugiesische Geschichte von Abschied und Aufbruch hat auch in der Literatur Spuren hinterlassen: im 16. Jahrhundert hat der Volksdichter Luís de Camões seine "Lusíadas" geschrieben: eine Art portugiesischer Odyssee. Weil jeder Portugiese dieses Epos kennt, kann der junge Autor Goncalo Tavares davon ausgehen, dass die Leser alle seine Anspielungen verstehen. Uma Viagem a India, Eine Reise nach Indien: so heißt das jüngste Werk von Gonçalo Manuel Tavares, Jahrgang 1970. Formal und sprachlich lehnt er sich eng an das Original an, die Handlung jedoch spielt in der Gegenwart: Ein junger Mann mit Namen Bloom macht sich von Lissabon aus auf den Weg nach Indien, um weiser und glücklicher zu werden. Dabei ist er längere Zeit auch in Europa unterwegs, und der Erzähler der Geschichte räsoniert über die Schwierigkeiten, denen Bloom in der Fremde begegnet. Und die Bedeutung der Sprache. Sprechen wir darüber. Bloom ist ein intelligenter Mensch, in einem Land ohne geteilte Sprache wird er zum Idioten. Und dieser Umstand offenbart das ganze Übel, das die Vervielfachung der Sprachen für das Denken in der Welt mit sich bringt. Unter Chinesen, die seine Sprache nicht verstehen, kann der europäische Philosoph mit einem Betrunkenen oder einem dumpfen Tier verwechselt werden. Man sagt, jede Sprache kann als ein spezielles Verfahren definiert werden, die Stille zu unterbrechen. Und die Stille von Paris gleicht im Allgemeinen der Stille von London oder Wien, doch die Art, wie diese Stille unterbrochen wird, unterscheidet sich auf grausame Weise, auch wenn man die kurzen europäischen Wege berücksichtigt. Zu dieser Grausamkeit, mehr oder weniger geordnet in Syntax, Orthografie und Geschwätz, das auf zivilisierte Art den Sauerstoff und den Nebel durchbricht, dazu sagen wir Sprache. Emigraçao - Auswanderung. Lange war mit diesem Begriff nur eins gemeint: die große Auswanderungswelle, als Hunderttausende das Land verlassen haben, in den 1960er und 1970er Jahren. Auf der Flucht vor der Salazar-Diktatur und vor den Kolonialkriegen. Viele gingen illegal über die Grenze, die meisten nach Frankreich. Doch es gab auch legale Möglichkeiten der Ausreise: Das damalige Wirtschaftswunderland Deutschland hatte im März 1964 ein Anwerbeabkommen mit Portugal unterzeichnet, vor allem, um billige Arbeitskräfte für die Industrie zu rekrutieren. Ähnliche Verträge hatte die deutsche Bundesregierung bereits mit Italien, Spanien, der Türkei und Griechenland abgeschlossen. Die Verhandlungen fanden weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt - erst als der Millionste Gastarbeiter, der die Bundesrepublik erreichte, ausgerechnet ein portugiesischer Zimmermann war, gab es eine offizielle Willkommensfeier und ein Moped als Begrüßungsgeschenk. Nach Deutschland kamen vor allem diejenigen Portugiesen, die einen Arbeitsvertrag in der Tasche hatten - auch wenn es sich um einen Job im Niedriglohnsektor handelte. Wer jedoch Glück hatte, konnte sich weiterbilden und nach der Karriere im deutschen Betrieb in die Heimat zurückkehren - und dort ein erfolgreicher Unternehmer werden. Die Industrielampe beleuchtet einen massiven Arbeitstisch. Der Rest der Halle liegt im Halbdunkel. Vier Arbeiter stehen an den Ecken des Tisches. Darauf: Eine Schichtplatte. Die muss ganz sauber sein. Dann kommt Leim drauf... ... und dann das Dekorpapier - Hochglanz, weiß, für die moderne Küche. Am Schluss wird die Platte heiß gepresst. Falta de limpeza? Ocorreu alguma coisa como a de ontem....? Manuel Mota bückt sich über eine der fertigen Platten. Gestern hat er kleine Unebenheiten in der Hochglanzoberfläche entdeckt. Da hat jemand vorm Verleimen die Platte nicht ordentlich gefegt. Heute sieht alles gut aus. Das muss sehr sauber sein, die Platte, die Presse, sonst merkt man alles bei die Platten. Mota ist ein Manager in Lederjacke und Wollpulli. Hohe Stirn, ernsthafter Blick. Er war 13, als er anfing zu arbeiten - Vollzeit, in einer Weberei, wie seine Eltern. Ich habe mit den andern einfach in der Fabrik gelernt, Ausbildung hab ich gar keine. Wir waren damals alle bei der Textilindustrie beschäftigt, alle, oder in der Landwirtschaft, sonst gabs nix. Zwischen den Bergen kleine Dörfer, Ackerbau für den eigenen Bedarf, wenig Industrie. Manuel Mota hat sich in der Weberei hochgearbeitet bis zum Feinmechaniker, leistete seinen Militärdienst in Moçambique und wanderte aus - in ein Städtchen bei Darmstadt. Da waren schon viele Portugiesen. Und es kamen immer mehr - die meisten: Freunde und Verwandte aus Santo Tirso. In Groß-Umstadt gab es zwei Firmen, die viele Portugiesen damals angenommen haben, das war die Firma Resopal hauptsächlich, die damals viel Gastarbeiter aus Portugal genommen hat, und die Firma Palm und Walter, die heute nicht mehr gibt. Ich bin nur dahin gegangen weil ich dort Freunde habe, die mich dann einen Arbeitsvertrag besorgt haben, bei Resopal. Und da hat der junge Mann das gemacht, was heute seine Mitarbeiter an den Leim- und Pressmaschinen tun: Schichtstoffplatten hergestellt. Ich bin 71 nach Deutschland gekommen, das war noch vor der Revolution und das war hier eine Diktatur, die Unternehmer haben praktisch mit den Arbeitern alles gemacht was die wollen, die Gewerkschaften damals haben keine Macht, gar nix. Wenn der Chef kam, sagt gar nichts, nicht guten Tag oder guten Morgen, nix. In Deutschland war es anders. Wenn der Chef oder der Vorarbeiter kommen vorbei, begrüßen die Leute und sagen, geht es gut, ist alles in Ordnung, so was war hier unmöglich gewesen. In Portugal herrschten quasi-feudalistische Gesellschaftsverhältnisse, der Estado Novo zensierte die Medien, die Geheimpolizei forschte die Bürger aus. Ministerpräsident Salazar führte Kolonialkriege an drei Fronten: In Guinea-Bissau, Angola und Moçambique. Das Deutschland der 70er Jahre war ein anderer Planet. Bundeskanzler Willy Brandt wollte mehr Demokratie wagen. Die Gewerkschaften setzten wesentliche Arbeiterrechte durch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zum Beispiel. Der junge Einwanderer Manuel Mota wollte sich hier qualifizieren und immer besser werden. Seine portugiesischen Freunde haben am Anfang geholfen. Und mit den deutschen Kollegen hat er sich auch angefreundet. Nicht sofort - aber Mota hat die Erfahrung gemacht: wenn man sich Zeit lässt, tauen selbst die reserviertesten Teutonen irgendwann auf. Was ich einfach gemerkt habe bei den Deutschen, dass die am Anfang so ein bisschen distanziert sind, aber wenn die Leute richtig kennen, dann hat man praktisch alles, was man braucht bei den Deutschen. Die ersten Gespräche die ich geführt habe mit den Deutschen war nämlich über die deutsche Sprache. Weil ich immer täglich Bücher mitnehme, frage, wie es ist, warum dieses und jenes. Und deswegen war es einfach, Freunde zu gewinnen. Es schien so, als sei er gekommen um zu bleiben. Er heiratete seine Verlobte Conceição und holte sie nach Groß-Umstadt. Die beiden bekamen zwei Töchter, Anabela und Renata. Und alle in der Firma kannten diesen Manuel Mota - einen hilfsbereiten Kollegen, der gut deutsch konnte, für den Betriebsrat und die Geschäftsführung dolmetschte und nebenbei noch einen Getränkeladen führte. Aber Conceição wollte zurück und Europa veränderte sich - selbst an seinem äußersten westlichen Rand. 1986 traten Portugal und Spanien der EU bei - und plötzlich gab es da einen neuen Markt. Und da kam ein Angebot von der Firma Resopal, ob ich die Firma in Portugal vertreten wollte. Dann hab ich überlegt und dann hab ich akzeptiert und bin dann ein Jahr lang hier in Portugal gewesen, ein Jahr lang hab ich hier den Markt getestet, und dann hab ich mich entschieden hier zu bleiben. Conceição kam mit den Kindern und dem Hausstand nach. Eine der Töchter arbeitet als Marketingchefin in der Firma. Im Showroom neben der Produktionshalle zeigt Mota alles, was er anzubieten hat. Das hier ist eine Hochklappentür - mit Fernbedienung .... Inzwischen beliefert Manuel Mota die iberische Möbelindustrie mit seinen Platten, und mit importierten Beschlägen, Scharnieren und Schubladenelementen. Oder hier eine Schiebetür.... Damit macht er zweieinhalb Millionen Euro Jahresumsatz und beschäftigt 14 Mitarbeiter. Die meisten von ihnen sprechen deutsch. Adão Oliveira zum Beispiel, der gerade vom Gabelstapler runtersteigt: Kennen Sie BAP? Die sind gut! Verstehen ein bisschen schwer... Viele der Auswanderer der 60er und 70er Jahre sind wie Adão und Manuel zurückgekehrt. Ob die vielen jungen Leute, die im Moment das Land verlassen, auch eines Tages wiederkommen? In meiner Zeit, ich habe viele Erfahrungen dort gesammelt und habe ich es dann nach Portugal gebracht und okay, konnte ich hier langsam mein Geschäft bauen. Diese Leute mit Ausbildung, die dann weggehen, ich weiß nicht, ob die eines Tages zurückkommen. Ich wäre auch nicht zurückgekommen, um dann für jemand anders zu arbeiten. Mota ist jetzt 68. Er bekommt zwei Renten: eine deutsche und eine portugiesische - für 52 lange Arbeitsjahre. Davon könnte er leben. Aber ans Aufhören denkt er nicht. Er macht morgens früh in der Firma das Licht an. Und abends knipst er es wieder aus. Das ist eine kleine Firma. Da bin ich Mädchen für alles, wie man im Deutschen sagt: O último a sair apaga a luz. Ein Luxus, das Glück? Ein Luxus, die Gastfreundschaft der Nachbarn oder der unbekannten Bewohner von Paris, Rom, Wien, Prag? Ist Europa, oder gar die ganze Welt, eine Mixtur aus inkompatiblen Substanzen, so dass ein Mensch sich nie mit einem anderen Menschen so verbinden kann, dass er verschwände, wie eine Flüssigkeit sich in einer anderen auflöst, es sei denn in der Mutter, die das Kind im Bauch trägt. Aber kann ein Mensch nicht einmal im Leben Lust haben Einem Fremden die Tür zu öffnen? Sieben Jahre ist es inzwischen her, dass die Finanzkrise Europa erreichte. Und nach Griechenland auch Portugal dem wirtschaftlichen Ruin entgegentrieb. Seitdem ist die Verschuldung von Staat und privaten Haushalten stetig gewachsen, ausländische Unternehmen wanderten ab, die Arbeitslosigkeit stieg. Um den Zusammenbruch zu verhindern und dennoch nicht auf die Hilfe durch EU und IWF angewiesen zu sein, hatte der damalige Premierminister José Socrates im Frühjahr 2011 einen rigiden Sparkurs verkündet. Die Menschen protestierten, zu hunderttausenden gingen sie auf die Straße, am 12. März 2011. Aus dem Protest entstand eine Massenbewegung, Geraçao a rasca, Verlorene Generation - und von Portugal aus sprang der Funke wenige Monate später auch nach Spanien über. Genützt hat es nichts: Der EU-Rettungsschirm wurde aufgespannt, seitdem kontrolliert die Troika den nocheinmal verschärften Sparkurs der portugiesischen Regierung. Nach und nach scheinen die Maßnahmen zu greifen: Der portugiesische Haushalt ist inzwischen soweit konsolidiert, dass es wohl keinen zweiten Rettungsschirm geben und Portugal ab dem 17. Mai wieder auf eigenen Füßen stehen wird. Zu den Erfolgsmeldungen gehört unter anderem der Rückgang der Arbeitslosenzahlen - das jedoch liegt nicht zuletzt daran, dass viele Arbeitssuchende das Land verlassen haben. 100.000 bis 120.000 sind es jedes Jahr. Und so sind die Menschen immer noch wütend. Und sie gehen weiterhin auf die Straße, obgleich - auch dies ist der Emigration geschuldet: nicht mehr so zahlreich wie zu Beginn der Krise. Dia nacional de luta! Contra a exploração e o empobreciemto! Nationaler Kampftag! Gegen Ausbeutung und Verarmung! Zwischen Markthalle und Ufer haben sich ein paar hundert Menschen angesammelt. Der Tejo glitzert in der Sonne. Ein Mann schwenkt ein totes abgezogenes Karnickel - Portugals ungeliebter Premierminister heißt Coelho - Hase. Este governo quer tirar tudo que a gente conquistou! Virgínia und Isaura sind 80 und 83 Jahre alt. Sie halten mit fünf Genossen ein meterlanges Banner: Gegen den Rentenklau! Friert uns nicht das Leben ein! Virgínia trägt einen Aufkleber, der mit einer Nelke an die Revolution des 25. April und das Ende der Diktatur 1974 erinnert. Wir mögen Angela Merkel nicht. Isaura schiebt die Sonnenbrille hoch. Nicht ein bisschen! Aber das betrifft natürlich nicht die Deutschen. Das Volk hat damit nichts zu tun. Das beruhigt die deutsche Reporterin. Und ergibt auch Sinn. Denn die Demonstranten wollen ja heute noch die Internationale singen. Drei Meter weiter schwenkt die Kamera des portugiesischen Rundfunks auf die Protestgenereration der Kinder und Enkel des 25. April. Catarina Martins, die junge Parteichefin des Bloco de esquerda, des "linken Blocks",spricht in ungefähr zehn Mikrofone. Wir sehen, dass ein 40-Stunden-Job kein würdiges Auskommen bietet. Und so werden die Leute runiert, so viele Menschen sind gezwungen auszuwandern, die einzigen Arbeitsplätze, die die Regierung schafft, sind Praktikums- und Leiharbeitsplätze - unwürdige Arbeit von der man nicht leben kann! Der Linksblock fordert den Rücktritt der portugiesischen Regierung und ein Ende der Politik der Kürzungen. Sie wollen außerdem echte Arbeit statt Minijobs, Zeitarbeit und Werkverträgen. Hinter einer Traube von Kameramännern und Reportern steht die Basis des Linksblocks: Laura und Fabian sind dabei, von der linken Jugend. Laura verstaut gerade den neuen Expresso in ihrer Handtasche - die liberale Wochenzeitung - vergleichbar mit der ZEIT. Thema auf der Titelseite: der Schuldenabbau in der Zeit nach der Tróika. Ich würde lieber hier bleiben, ich bin in einer Partei und würde gerne mithelfen, dass es anders wird, es ist traurig zu sehen, wie unser Land um Jahrzehnte zurückgeworfen wird, es macht Angst. Wer ist schuld an der Misere in Portugal? Den Kommunistinnen fällt als erstes Angela Merkel ein, die Parteichefin der Linken sieht die Verantwortung bei der Regierung hier in Lissabon. Laura ist 22 und beendet dieses Jahr ihren Bachelor in Europastudien. Sie fürchtet, dass viele ihrer Landsleute die deutschen Stammtischparolen von den faulen Griechen und Portugiesen zu glauben beginnen. Diese Regierung behauptet, dass wir, die Bevölkerung, über unsere Verhältnisse gelebt hätten. Und das macht sie, damit wir all diese Kürzungen und die Zerstörung des Sozialstaats mittragen. Hier ist es ganz normal, dass die Regierung Vorbehalte gegen das eigene Volk hat: dass wir nicht arbeiten, dass es zu viele Menschen gibt, die von Sozialhilfe leben, dass wir unproduktiv sind, und dass es da ein Deutschland gibt und dort ein Frankreich, wo das nicht so ist, wo die Menschen effektiv arbeiten. Und die Leute übernehmen diesen Diskurs. Und dann sagen sie: Na dann geh ich jetzt da hin, wo wirklich gearbeitet wird und wo es eine Zukunft gibt und Sicherheit. Denn hier will ja eh niemand was anpacken. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung - auf der Straße am Fluss entlang, ein paar Tausend Menschen, viele Rentner, viele Leute mittleren Alters, fast keine Kinder. Fabian spricht plötzlich deutsch. Er ist in der Schweiz geboren. In Zürich. Sein Vater war in den 70er Jahren in die Schweiz ausgewandert. Dort hat er eine Schweizerin kennengelernt. Bekam zwei Söhne mit ihr und kam vor 20 Jahren mit Frau und Kindern zurück nach Portugal. Inzwischen lebt die Familie in Europa verstreut. Der Bruder in Deutschland, sein Vater in Frankreich, die Mutter ist in die Schweiz zurückgekehrt. Während der Krise sind alle wieder emigriert. Und ich bleib hier. Ich schaffe hier, ich will in Portugal bleiben. Seit der Tróika sind ungefähr 100.000 Portugiesen im Jahr Migranten geworden, in den Sechzigern war es ungefähr das Gleiche. Damals war Portugal im Krieg, aber jetzt ist kein Krieg, heute leben wir in einer europäischen Demokratie, und müssen wieder rausgehen, um leben zu können, denn in Portugal ist es nicht möglich. A - a - anticapitalista! Hinter dem Lautsprecherwagen läuft eine Frau rückwärts, sie animiert die Menge winkend mit der einen Hand, in der anderen das Mikrofon,. É preciso, urgente, correr com esta gente!! A luta continua! Wie sehen die Deutschen Angela Merkel eigentlich? Mutti! Gibt es das überhaupt noch? Das Gefühl, zu Europa zu gehören? Oder zählen nur noch Sparprogramme und Wirtschaftsinteressen? Die Neunzigerjahre waren eine Zeit der guten Beziehungen zu Europa, wir hatten das Gefühl dazu zu gehören, dass wir wachsen, und zwar in Richtung eines Europas mit höheren Löhnen und besseren Lebensbedingungen. Und das haben nicht nur wir so empfunden, sondern das war wechselseitig: ein Gefühl der Zugehörigkeit und der europäischen Identität. Natürlich haben wir uns immer eher zu deb ärmeren Länder gezählt, klar, aber wir hatten das Gefühl, wir erreichen was. Und plötzlich ist das alles vorbei. So fühlt sich das an. Die Sonne verschwindet langsam hinter dem Hügel und den Festungsmauern von São Jorge. Die Demonstranten kommen nach einem langen Marsch an der Praça dos Restauradores an. Das Denkmal in der Mitte erinnert an die Unabhängigkeit von der spanischen Krone im 17. Jahrhundert. Die Veteranen des 25. April singen. Laura und Fabian haben sich in den Arm genommen. Die Genossen vom linken Block legen ihre Pappschilder auf einen Haufen. Nächster Kampftag: 1. Mai. Ich komme also, oder meine Stimme in meinem Namen, ich komme, sagte er, an den Ort von dem ich aufgebrochen bin: Portugal, Lisboa, Rua Actor Isidoro, n° 31,erster Stock rechts. Ein sympathisches Viertel, mit einem Lebensmittelladen an jeder Ecke. Inmitten der Stadt, laut, mit Autoabgasen, bist du praktisch auf dem Land, denn du hast Apfelsinen und Äpfel in deiner Straße. In Portugal, so wie in allen Staaten Südeuropas, haben die engen familiären Strukturen während der Krise das schlimmste verhindert. Auf dem Land ebenso wie in den Städten. Die Löhne in Portugal waren immer schon niedrig. Seit Beginn der Finanzkrise jedoch sind sie jedes Jahr weiter gesunken - durch Kürzungen. Aber auch durch schleichende Änderungen wie Verlängerung der Arbeitszeit oder Steuererhöhungen. Wie in allen Ländern, in denen die Troika faktisch regiert, tragen die Arbeitnehmer die Hauptlast, um die Finanzmärkte in Europa zu sanieren. Mit möglicherweise fatalen Folgen. Dadurch nämlich, so warnte unter anderem die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, bereits vor 2 Jahren, entstehe ein Teufelskreis: wenn Job-Förderung, Lohn-Beihilfen und Unterstützung von Arbeitssuchenden weiter gekürzt würden, würden sich die Probleme des Arbeitsmarktes noch einmal verschärfen. Solcherlei Kritik jedoch hat bisher wenig genützt. Und so gibt es in den Beratungsstellen des portugiesischen Arbeits- und Bildungsinstituts, wie die staatliche Arbeitsagentur hier heißt, nur selten gute Nachrichten. Die Avenida da Liberdade, wo die internationalen Banken ihren Sitz haben, die großen Versicherungen und ein paar feine Geschäfte für Designermode und Handtaschen. Gleich um die Ecke, 600 Meter weiter an einer steil ansteigenden Straße: Eins der Jobcenter des portugiesischen Arbeitsamtes. Die Behörde hat Interviews mit Kunden und Beratern nicht erlaubt. Aber vor der Tür zu stehen, ist ja nicht verboten. Eine Frau kommt raus. Sie stellt ihren Rucksack auf einen Mauervorsprung und verstaut eine Dokumentenmappe. Maria do Céu Soares ist klein und schlank. Perfekt sitzende Jeans, roter Kaschmirpullover. Seit drei Jahren ist sie arbeitslos. Alle zwei Wochen muss sie hier vorstellig werden. Ich sag immer, das ist der Beweis, dass ich noch lebe. Sie hat im Einzelhandel gearbeitet und in ihrer Firma Karriere gemacht. Ich hab als Verkäuferin angefangen, dann war ich Abteilungsleiterin, Filialleiterin war mein letzter Job, sieben Jahre hab ich das gemacht. Dann kam die Insolvenz und die mussten schließen. Einer ihrer Söhne studiert. Der andere geht noch zur Schule. Ihr Bruder arbeitet seit vielen Jahren im Ausland: auf Baustellen und Bohrinseln in Spanien, Deutschland und Südafrika. Maria würde auch gern auswandern. Aber ich müsste meinen Mann und meine Söhne zurücklassen. Der jüngere ist 12. Er ist hyperaktiv und braucht ein bisschen mehr Betreuung. Das ist das einzige was mich hindert. Ich würde alles machen, um Geld zu verdienen. Hier gibt es kaum Jobs für sie, und: selbst wenn sie einen hätte: der Verdienst wäre nur wenig höher als die Arbeitslosenhilfe. Denn die Reallöhne sind seit Beginn der Krise stetig gesunken. Mein anderer Sohn ist mitten im Studium. Wenn ich ihm sage, danach zahlen sie dir 500 bis 600 Euro, dann ist er begeistert: 500 Euro, super! Und ich sag: super? Für dich vielleicht. In Portugal gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, der Arbeitnehmern gezahlt werden muss, die mindestens 40 Wochenstunden arbeiten: 485 Euro. Das macht im besten Fall einen Stundenlohn von 3 Euro. Davon zu leben ist kaum möglich. Lebensmittel, Mieten und öffentlicher Nahverkehr sind nur wenig günstiger als in Deutschland. Da würde ich sofort hingehen. Lieber heute als morgen. Denn da ist Arbeit etwas wert - im Gegensatz zu Portugal. Manuel ist ein großer Mann Mitte 40, dem man ansieht, dass er gerne kocht - und auch gerne isst. Er hat seinen kleinen Sohn an der Hand und will zu seiner Sachbearbeiterin. Die wird zwar kein Jobangebot für ihn haben - aber er muss hin, 14 Tage sind um. Manuel ist erst ein paar Monate arbeitslos. Nach drei Halbjahresverträgen hat ihn sein Arbeitgeber verabschiedet. Denn da hätte er mich fest einstellen müssen. Aber der Staat gibt Firmen Steuererleichterungen, die Arbeitslose einstellen. Mein Chef hat mich also in die Arbeitslosigkeit entlassen und bekommt von hier neues Personal. Und er zahlt schlecht! Es ist erlaubt, einem ausgebildeten Koch, 485 Euro zu zahlen. Der kann doch nicht 485 Euro verdienen! Ein Koch trägt so viel Verantwortung, er muss mehr verdienen. Aber die Behörde erlaubt das. Und das ist der Grund, warum ich von hier weg will. Jetzt gibt es 400 Euro Arbeitslosengeld. Genauso so hoch wie die monatliche Rate für den Kredit, den er abzahlt. Vor der Währungsunion hatte er sich eine Wohnung gekauft - für damals umgerechnet 50.000 Euro. Nun stehen Manuel und seine Frau kurz vor dem Bankrott. Von hinten nähert sich ein älterer Herr mit wenigen langen Haaren auf dem Kopf. Kennen Sie Marie Antoinette? Wissen Sie, wie sie gestorben ist? .... in der Guillotine. Das müsste man auch mit Angela Merkel Merkel machen: Kopf ab... Er lächelt frech. Sie beherrscht Europa, mit dem Euro. Und ihretwegen kommen wir alle hierher. Ich komm her, meine Freundin auch... Ich bin 69 und lebe von einer winzigen Rente... José Carlos hält eine schiefe selbstgedrehte Zigarette zwischen den Fingern, an der er nie zieht. Er wartet auf seine Freundin Alda. Sie ist gerade drinnen - und versucht, einen Job als Putzfrau zu bekommen. Er hat sein ganzes Leben gearbeitet, und bekommt jetzt 366 Euro Rente. Alda legt noch ihre 160 Euro Sozialhilfe drauf. Und abends gehen wir nach Santa Apolónia oder Marques de Pombal in eine der Suppenküchen. Wenn es die nicht gäbe - ich wüsste nicht, wie das gehen sollte. Manchmal überlegt José, wie es wäre, wenn er alles anders gemacht hätte. Mehr private Altersvorsorge oder ein anderer Job - warum ist er nicht Fußballer oder Formel-Eins-Fahrer geworden? Vielleicht ginge es ihm jetzt auch besser, wenn er vor 50 Jahren nach Deutschland gegangen wäre? Ich hatte eine Freundin, die war Portugiesin, hat aber in Deutschland gearbeitet. Und sie wollte, dass ich mitkomme, statt hier meinen Militärdienst zu leisten. Aber ich war 21, und ich war ein bisschen militaristisch drauf, ich wollte kein Deserteur werden, nur um mit ihr zu nach Deutschland zu gehen. Und so bin ich immer hier geblieben. Die Zeit vergeht im Galopp, kaum kann man laufen, ist man schon wieder am Ende. Die portugiesische Regierung hat den großen Unternehmen die Steuern ermäßigt. Die Löhne, das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe dagegen wurden auf Druck der Troika gekürzt. Gestiegen sind die Einkommensteuern. Und die Zahl der Suppenküchen. Die hat sich in den letzten eineinhalb Jahren mindestens verdoppelt - schätzen die portugiesischen Sozialverbände. Alda ist inzwischen herausgekommen. Ihre Sachbearbeiterin hat ihr Mut gemacht. War sehr gut da drin. Sehr gute Frau, hat sich angehört, was ich mache - ich bin professionelle Reinigungskraft - hats abgelegt, und jetzt guckt sie, ob es was für mich am Flughafen gibt! Die Abwesenheit von Industrie und bedeutenden Fabriken, das ist die Hygiene eines Landes wie dem unseren. Und wenn es keine wesentlichen Schornsteine gibt, sorgt selbst der Rauch einer Zigarette für statistische Effekte. Weder groß noch gewaltig, aber sympathisch ist es, dieses Land. Zwei Seiten zeigen zum Land, zwei Seiten zum Meer. Und so haut die Sache fast hin. Anders als bei der Auswanderungswelle in den 1960er und 70er Jahren sind es heute vor allem die gut Ausgebildeten, die das Land verlassen. Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure. Selbst portugiesische Krankenpfleger haben ein Studium absolviert - der Beitritt zur Europäischen Union Mitte der 80er Jahre hatte Portugal nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung gebracht, auch in Sachen Bildung und Ausbildung hatte das ehemals ländlich geprägte Land enorme Fortschritte gemacht. Davon profitiert nun das Ausland. Make-it-in-Germany - so heißt das Webportal der Bundesregierung, das junge Fachkräfte nach Deutschland locken soll. Viele Portugiesen kommen der Einladung nach. Und werden damit einem weiteren Sinne zur verlorenen Generation: der Exodus könnte, zusammen mit der sinkenden Geburtenrate, langfristig gesehen eine Zeitbombe sein für das System der Sozialversicherung in Portugal. Kurzfristig betrachtet hat die portugiesische Wirtschaft auch Vorteile von dem Auszug der jungen Portugiesen: Im Jahr 2012 überwiesen Auswanderer fast 3 Milliarden Euro in die Heimat. An ihre Familien. Denn auch in der Fremde ist die Verbindung eng. Die Sehnsucht groß nach dem kleinen Land unter der Sonne. Und wann immer es möglich ist, kehren sie zurück, voller Heimweh. Um dann wieder aufzubrechen in das Land im Norden, für das sie einen neuen Namen erfunden haben, nach der mächtigsten Frau der Welt: Merkelândia. Wir sind hier heute versammelt, um mein erstes Vierteljahrhundert zu feiern... Danke, dass ihr gekommen seid. João Paulo Costa steht vor seinen Cousinen, Onkeln, Tanten und Freunden, seinen Eltern und Großeltern. 40 Leute, gerührt und amüsiert, an einer langen Tafel. Parabéns pra você, nesta data querida... Vor zwei Tagen ist er angekommen. Mit einem günstigen Flug aus München, denn da lebt er seit eineinhalb Jahren. Seine Eltern standen am Gate in Porto und haben ihn mit nach Hause genommen. Wie jedes Mal, wenn JP angeflogen kommt, alle zwei bis drei Monate. Zum Glück für uns Migranten gibt es die Billigflieger. Für 40 Euro fliegen wir hin und wieder zurück - es dauert keine drei Stunden und wir sind in Portugal. Die billigen Airlines sind unser Taxi. Und damit ist Europa fast wie EIN Land geworden. Ein großer Herr um die 60 kommt und umarmt João Paulo. Bist du zufriedener in Deutschland? Ja. Kriegst du mehr Zuckerbrot oder Peitsche? João Paulo verdreht die Augen und zuckt die Achseln. Sein Patenonkel lächelt freundlich. Er spricht ein paar Worte deutsch. Draußen regnet es in Strömen, es ist 10 Grad kühl. Hier drinnen läuft die Klimaanlage auf Hochtouren, nicht um zu kühlen, sondern um den Raum zu heizen - ein Saal, halbhoch mit blau-weißen Kacheln dekoriert. Das Restaurant von João Paulos Mutter. Sie hat einige Stunden in der Küche gestanden, um das Drei-Gänge-Festmahl vorzubereiten. Jetzt gibt es die Vorspeisen: Stockfisch im Bierteig und frittierte Teigtaschen. Sie setzt sich und streicht die Haare aus dem Gesicht. Kein Problem, dass ihr Sohn jetzt in Deutschland lebt, sagt sie. Für mich ist das völlig in Ordnung! Die Leute sollten dahin gehen, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen können, Sklavenarbeit muss nicht sein. Wir haben hier sehr viele Leute, die leben vom Mindestlohn, 485 Euro, und arbeiten 50 Stunden die Woche. Das kann doch nicht sein! Ihr Gesicht ist gerötet, die Schürze hat sie noch an. Das Restaurant bringt zurzeit auch nicht viel ein - für ein privates Familientreffen ist der große Saal aber auch gut zu gebrauchen. Man merkt die Krise schon sehr. Die Kaufkraft ist nicht da. Mir wurde in diesem Monat der Lohn um 170 Euro gekürzt, wegen der Sparmaßnahmen. Wir haben wie alle Portugiesen auch Kredite aufgenommen, aber zum Glück können wir sagen: wir kriegen es noch hin. Aber die Banken kriegen zurzeit sehr viele Autos, Häuser und Grundstücke. Ihr Mann schenkt Rotwein ein. Er ist Polizist und musste schon einige Lohnkürzungen und massive Steuererhöhungen hinnehmen - seit Portugal vor drei Jahren Finanzhilfe bei der Europäischen Kommission beantragt hat. Wie sein Sohn war auch er einmal Auswanderer. Ende der 70er Jahre ging er nach Frankreich. Und da habe ich natürlich meine Eltern unterstützt, damals war das so, ich hab immer ein bisschen Geld geschickt - aber Gottseidank ist das ja nicht mehr nötig. Mein Sohn lebt sein eigenes Leben. Natürlich mach ich mir manchmal Sorgen... aber es ist besser den eigenen Weg zu gehen statt hierzubleiben und noch eine zusätzliche Belastung zu sein. Das große Problem in Portugal und den anderen Krisenländern im Süden ist ja, dass Menschen nach dem Studium und sogar noch mit 30 bei ihren Eltern wohnen, weil sie sich alleine nicht ernähren können. In den 60er und 70er Jahren haben die Migranten Devisen gebracht, heute sind sie für den portugiesischen Staat teuer - eine Investition, die keinen Ertrag bringt. Wir waren damals ja nicht ausgebildet. Wir haben uns als Maurer oder Mechaniker verdingt - das ist jetzt das Gegenteil: Portugal investiert in die Bildung der Jugend, und die anderen Länder profitieren davon. Hier in Portugal werden diese jungen Leute in ein paar Jahren als Steuerzahler fehlen. Er ist nicht sauer auf Angela Merkel oder die EU-Kommission. Ihn nerven die portugiesischen Politiker, die um jeden Preis allen Sparauflagen der Troika gerecht werden wollen. Inês und Érica gucken sich an, was João Paulo geschenkt bekommen hat. João Paulos Cousinen - beide kurz vor der Pubertät. Und heute abend äußerst gut gelaunt. Natürlich ist es blöd, dass João Paulo jetzt in Deutschland ist. Andererseits ist es gut, denn hier hat er keine Möglichkeiten. Und das alles wegen Cavaco Silva. Der zieht nämlich dem Volk das Geld aus der Tasche! Cavaco Silva hat als Premierminister der Konservativen für niedrige Löhne und billige Kredite gesorgt. Das war in den 80er und 90er Jahren - jetzt ist er Präsident. Und ein Heuchler, findet Inês. Sie greift sich einen Umschlag vom Geschenketisch. Ich bin Cavaco Silva. Ich werde jetzt diesen Umschlag öffnen und seinen Inhalt im Volk verteilen. Sie zieht 50 Euro aus dem Umschlag und tanzt im Kreis. Ich bin reich! Inzwischen steht der Hauptgang auf dem Tisch. Carlos, Joãos Patenonkel, sitzt vor einem Teller mit viel Reis und Fleisch und wenig Salat. Heiter blickt er den einzigen deutschen Gast in der Runde an. Mit einer Deutschen am Tisch zu sitzen, gibt einem das gute Gefühl, eine Auflage zu erfüllen. Zum Glück muss heute abend nicht gespart werden. Jetzt gibt's Torte und Champagner! Gegen halb 11 verabschieden sich die ersten Gäste... Spät abends steht João Paulos Vater am Tresen und bietet den letzten Besuchern Whisky an. Es geht ihm nicht schlecht. Er lebt an einem der besten Orte Europas, findet er. Das Klima ist toll, es gibt gutes Essen, wunderbaren Fisch, sehr guten Wein, die Lebensqualität ist sehr hoch. Unsere Industrie ist kaputt und wird sich nie wieder erholen. Aber eines Tages ist die EU eine echte Föderation. Und ich stell mir vor: wir sind die die Ferienkolonie. Sagen wir: Portugal wird das Miami Europas! Auszug nach Merkelândia. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Junge Portugiesen in Deutschland. Eine Sendung mit Reportagen von Grit Eggerichs. Sie hat auch die Verse von Gonçalo Tavares übersetzt: Aus seinem Epos "Eine Reise nach Indien". Gelesen wurden sie von Matthias Lühn. Ton und Technik: Hendrik Manook und Kathrin Fidorra. Am Mikrophon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams: Simonetta Dibbern. 22 22