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(Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924) Zitator (X) Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. (Musil: Ebd.) Zitator (X) Sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumlaufen zu berechnen; mit einem Worte: Sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit. (Mann: Ebd.) Zitator (X) Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. (Musil: Ebd.) Zitator (X) Die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, dass sie vor einer gewissen, Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt. (Mann: Ebd.) Zitator (X) Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. (Musil: Ebd.) Zitator (X) Sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. (Mann: Ebd.) Zitator (X) Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (Musil: Ebd.) Zitator 1913 wissen die Menschen natürlich nicht, dass sie in einer Vorkriegszeit leben, sie leben einfach in einem Jahr. ("Herr Illies, wie war das Jahr 1913?", Die Zeit von 12.01.2013) Sprecherin Florian Illies Buch über das Jahr 1913 ist zum Verkaufsrenner geworden, Monatelang stand es auf Platz eins der Bestsellerliste, zweitbestverkauftes Sachbuch des Jahre 2013 in Deutschland. 1913 - eine Vorkriegszeit? Nein - behauptet Florian Illies, es ist einfach ein Jahr. Doch auch das ist einfach eine Behauptung. Die, so plausibel sie klingt, schlichtweg falsch ist. Wer die Publizistik jenes Jahres untersucht, erfährt das genaue Gegenteil: Die Menschen wissen sehr wohl von der kommenden Katastrophe. Nur: sie glauben nicht daran. Ein Spagat zwischen Wissen und Glauben... Sprecherin Wir mögen informiert sein. Aber das reicht nicht. Entscheidend ist, in welchem Verhältnis wir zur Information stehen. In welches Verhältnis wir uns zu ihr stellen. Sprecherin Die Vorahnung der Katastrophe, selbst ihre ganz direkte Ankündigung ist damals omnipräsent. Einflussreiche Verbände, von Rüstungsindustrie und Militär finanziert, überschwemmen die Öffentlichkeit mit Liebeserklärungen an die Nation und an den Tod. Take 2 Zitator (X) Ja, das wird eine frohe, eine grosse Stunde, die wir uns heimlich wünschen dürfen. Der laute Wunsch nach Krieg wird oft zu eitlem Prahlen und lächerlichem Säbelrasseln. Aber still und tief im deutschen Herzen muß die Freude am Krieg und ein Sehnen nach ihm leben, weil wir der Feinde genug haben und der Sieg nur einem Volk wird, das mit Sang und Klang zum Kriege wie zum Fest geht. (...) Solchen Stunden wollen wir entgegengehen mit dem männlichen Wissen, dass es schöner, herrlicher ist nach ihrem Verklingen auf der Heldentafel in der Kirche ewig fortzuleben, als namenlos den Strohtod im Bett zu sterben. Wir sind auf dem kugelrunden Ameisenhaufen Erde von Bedeutung nur als Glieder einer Gemeinschaft, des Vaterlandes. Deutschland allein muß nach einem Kriege leben, blühen und gedeihen. Was aus uns wird, mag und soll uns piepe sein! (Otto von Grotberg, Jungdeutschland-Post. Wochenschrift für Deutschlands Jugend , 25.1.1913) Zitator Als infiziert durch die chauvinistischen Treibereien müssen wir leider schon recht weite Kreise der Bevölkerung ansehen, und zwar gerade der gebildeten Stände. Nebst den Infizierten der deutschen Intelligenz stehen nun aber weiter die ungezählten anderen, die ihre Infektion einfach ihrer Tageszeitung oder ihrem Stammtisch verdanken. Die unbewusste Freude am Gruseln mag dabei auch mitspielen. Und so leiden wirklich weite Kreise heute an Gespensterfurcht, oder nenne man es politische Nervosität, Nervenschwäche, Hysterie. Man hat angesichts des ewigen Kriegstratsches in Deutschland das Gefühl, in einer kriegsschwangeren Atmosphäre zu leben. (Ottfried Nippold, Der deutsche Chauvinismus, 1913) Sprecherin Chauvinistische Propaganda allerorten. Dazu die täglichen Nachrichten des fortschreitenden Wettrüstens und nicht weniger präsent: politische Drohgebärden. In den Jahren vor der Katastrophe scheinen sich die Vorbeben zu mehren: Zwei Marokkokrisen. Zwei Balkankriege. Zahlreiche Briefe und Tagebucheinträge belegen: Die Zeitgenossen geraten in einen immer "zittrigeren" Zustand. Auch die Dichter werden nervös. So fürchtet Harry Graf Kessler um die Aufführung eines geplanten Balletts. Er schreibt Ende 1912 an seinen Freund, den Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal: Zitator Die Spannung zwischen Österreich und Serbien sieht von hier sehr beunruhigend aus. Sollte es diesmal wirklich zum Weltkrieg kommen? Und was wird dann aus der Josephlegende? Wenn ihr uns nur nicht den Nijinsky abschießt! ( Hugo von Hofmannstahl und Harry Graf Kessler : Breifwechsel 1898-1935, 1968) Sprecherin Was lesen die Menschen jener Zeit? "Deutschland und der nächste Krieg". So der Titel eines der erfolgreichsten Sachbücher. Der Autor, General von Bernhardi: Er gehört zur militärischen Elite. Den Krieg hält er für absolut unvermeidbar, und er wirbt für den präventiven Erstschlag. Am anderen Ende des publizistischen Spektrums finden wir den Pazifisten und damals völlig unbekannten Volksschullehrer Wilhelm Lamszus und dessen Erzählung "Das Menschenschlachthaus- Bilder vom kommenden Krieg". Sie wird zum Bestseller. 1913 erreicht sie 70 Auflagen. Das Buch nimmt die Gräuel auf beeindruckende Weise vorweg. Take 3 Zitator (X) Die Erde hat sich aufgetan... Es blitzt und knallt, es donnert, und der Himmel reißt entzwei und fällt entflammt herab - Die Erde fliegt in Stücken auf... Die Menschen und die Erde explodieren und fahren rund wie Feuerräder durch die Luft... und dann.. Ein Krach, ein wütendes Getöse schlägt uns auf die Brust, dass wir rücklings zu Boden fliegen und Besinnungslos im Sand nach Atem ringen... und nun... das Ungewitter schweigt... der Luftdruck weicht von unserer Brust... Wir atmen auf... nur noch zerstreutes Flammenspiel und Puffen... Feuerwerk... Was aber ist denn das? Wir lugen furchtsam über die Erdwälle hinaus. Hat sich die rote Hölle aufgetan? Das schreit und gellt, das brüllt so unnatürlich wild und schrankenlos, dass wir uns enger aneinander schmiegen... und zitternd sehen wir, wie unsere Gesichter, unsere Uniformen rote nasse Flecken haben und erkennen deutlich Fleischfasern auf dem Zeug. Und zwischen unsern Beinen liegt, was vorher nicht gelegen hat - weiß glänzt es auf vom dunklen Sande und spreitet sich... eine fremde, abgerissene Hand... und da... und da ... Stücke Fleisch, daran die Uniform noch haftet - da wissen wir's und Grauen fällt uns an: Da draußen liegen Arme, Beine, Köpfe, Rümpfe... die heulen in die Nacht hinaus, das ganze Regiment liegt da zersetzt am Boden, ein Menschenklumpen, der zum Himmel schreit... (...) Und über alles lacht der blonde Kopf des jungen Oberlehrers. Die Schädeldecke ist ihm wie ein Samenkapsel aufgesprungen. Das ist das eiweisshaltige Gehirn eines gelehrten Mannes, eines Philosophen. Die Würmer, wenn sie kommen, werden sagen: Kalbshirn in Burgunder, ein leckerer schmaus. Und welche Farbenpracht: die offenen Leiber mit den gelben herausgequollenen Gedärmen, die von den neugierigen Kartätschen aufgeklappten Brustkasten mit ihren rosig feuchten Lungen, mit ihren dunkelroten dicken Lebern. Es schillert die fleischige Herrlichkeit in wunderbaren Farben. Komm Bruder Philosoph. Wir drehen uns den Kopf nach unten. Lass uns auf unsern Lorbeeren schlafen und lass uns nichts als deutsche Zukunft träumen!" (Wilhelm Lamszus, Das Menschenschlachthaus - Bilder vom kommenden Krieg, 1912) Sprecherin Wilhelm Lamszus. Ein Visionär. Und doch trifft ihn die Nachricht der Mobilmachung am 2. August 1914 völlig überraschend. Zitator Weil ich mir der unsagbaren Schrecken dieses Krieges im voraus bewusst geworden war, hatte ich im Grunde nicht glauben wollen, dass es je so weit kommen würde. (Wilhelm Lamszus zitiert in: "Grauen fällt uns an" , die Zeit von 12.8.2012) Sprecherin Von dem kommenden Ereignis wissen. Und dennoch nicht daran glauben. Es ist frappierend, wie viele unterschiedliche Autoren diese Gefühlslage immer wieder betonen. Der Philosoph Henri Bergson wird später schreiben, dass ihm dieser Krieg "zugleich als wahrscheinlich und als unmöglich" erschien: eine, Zitat, "komplizierte und widerspruchsvolle Idee, die bis zu dem verhängnisvollen Datum fortbestand" Guillaume Paoli, Philosoph aus Frankreich, heute in Berlin beheimatet, wollte die Besonderheiten der deutschen Gemengelage vor 1914 verstehen. Vor dem, was in Frankreich als "la grande guerre" gilt. Er hat sich dazu in Archive und Bibliotheken begeben, neutrale Studien und intime Berichte gelesen - und immer wieder auch politische Stellungnahmen und Einschätzungen. Auf diese Weise ist er - der mittlerweile auch auf Deutsch schreibt und veröffentlicht - zum Spezialisten eines ganz spezifischen Ausschnitts der deutschen Mentalitätsgeschichte geworden. O-Ton Autor 1 (0:39) Es wird oft erklärt, dass die Menschen wohl mit einem Krieg gerechnet hatten - aber mit einem Krieg nach dem Muster von 1870. Also einem relativ unblutigen Krieg. Ein Siegesritt sozusagen. Und das hätte zur Verharmlosung veranlasst. Aber diese Behauptung stimmt nur bedingt, weil: wer damals Zeitung las, der wusste schon, dass keine Wiederholung zu erwarten war, von einem Weltkrieg wurde damals offen geredet. Das war gar kein Geheimnis. Zitator Von den Dimensionen eines Weltbrandes, von dem Elend und der Zerstörung, die er über die Völker bringen würde, kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen, und alle Kriege der Vergangenheit werden wahrscheinlich ein Kinderspiel dagegen sein. (Reichskanzler Bethmann-Hollweg, Reichstagsdebatte, April 1913) O-Ton Autor 1.2 (0:48) Es ist also nicht so sehr, dass die Menschen sich ein falsches Bild vom kommenden Krieg gemacht hätten. Sondern eher umgekehrt - sie konnten sich gar kein Bild davon malen. Ein Weltenbrand - das Wort kehrt immer wieder zu dieser Zeit - einen Weltenbrand gab es noch nie in der Geschichte, es übersteigt das Vorstellungsvermögen der Menschen. Und bleibt deswegen eine reine Abstraktion. Und die Unvorstellbarkeit des Ereignisses kann sogar einen gewissen Optimismus nähren. Manche glauben, dass das Zerstörungspotential eines Weltbrandes der Abschreckung zugute kommen wird, dass keiner es wagen wird, so einen Krieg zu führen. Sprecherin Der Fantastik-Autor Paul Scheerbart etwa ist dessen gewiss: Künftig werden Kriege aus der Luft geführt. Das Zerstörungspotenzial eines Bombenangriffs ist enorm. Dennoch führt er aus: Zitator An den grossen Völkerfrieden glaube ich nicht. Wohl aber glaube ich daran, dass man in Europa Frieden herstellen kann. Und man wird es tun, denn ein Dynamitkrieg zwischen europäischen Kulturnationen sieht wie ein Völkerverbrechen aus. Es ist einfach haarsträubend, wenn man sich die Wirkungen eines solchen Krieges ausmalt. Und es ist ekelerregend. Das werden auch ganz sicherlich die meisten europäischen Offiziere empfinden und ganz einfach erklären, dass sie bei derartigem Kriegsspiel nicht dabei sein wollen. Man wird plötzlich das ganze Kriegshandwerk verabscheuen - davon bin ich fest überzeugt. (Paul Scheerbart: Die Entwicklung des Luftmilitarismus, 1910) Sprecherin Der Krieg wird permanent gedacht. Und doch: das Leben geht weiter. Man liest Zeitung. Man geht früh morgens ins Büro oder in die Fabrik. Auf den Feldern muß geerntet werden. Und ein Kind ist krank. Die Großmutter hat Geburtstag. Am Monatsende wird das Geld knapp. Zwei verlieben sich. Eine Scheune ist abgebrannt. Die kleinen Dinge. Die im Vordergrund. Das Säbelgerassel ist bloß Hintergrundgeräusch. Wie anhaltende Zahnschmerzen wird die virtuelle Katastrophe nicht mehr wahrgenommen. Der dicht gewebte Schleier des Alltäglichen liegt vor dem Weitblick. Sprecherin Der Berliner Journalist und Kritiker Franz Pfemfert. Herausgeber der Expressionisten- Zeitschrift "Die Aktion": Zitator Allwöchentlich versuchte ich durch "Die Aktion" Hindernisse zu organisieren. Ich langweilte damit eine Zeitgenossenschaft die nicht gestört sein wollte in ihrer Gemütlichkeit. Selbst die meisten von meinen "Gesinnungsgefährten" lasen wohl kaum, was ich für sie schrieb. Sie waren froh, ihre Verslein von mir gedruckt zu wissen, ihre Novellen, ihre kleinen eitlen Nichtigkeiten. Das Massengrab wartete; ich warnte, doch sie beguckten sich ihre Bildchen, hörten auf die Literaturphrasen verlogener Karriererevolteure, oder schielten nach den Futterkrippen des Journalismus. (Franz Pfemfert, Bis zum August 1914, 1918) Sprecherin Wie auch ein paar wenige andere versucht Pfemfert, den Schleier der Alltäglichkeiten zu zerreißen. Er hat begriffen, dass im Alltag, in der Routine der Menschen und - wie er es ausdrückt - deren "Gemütlichkeit" ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential lauerte. Doch den Alltag tatsächlich als eine Ursache der Katastrophe wahrzunehmen, diese Hellsichtigkeit wird erst in der Rückschau einsetzen. Erst nach dem Krieg wird Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" über die Ursachenkette sinnieren können. Take 4 Zitator (X) Es darf vorausgesetzt werden, dass das Wort "der Herd des Weltkrieges", seit es diesen Gegenstand gibt, zwar oft benützt worden ist, stets jedoch mit einer gewissen Ungenauigkeit in der Frage, wo dieser Gegenstand seinen Platz habe. (...) Denn mit den Ursprüngen und Ursachen ist es so bestellt, wie wenn einer seine Eltern suchen geht: zunächst hat er zwei, und das ist unbezweifelbar, bei den Großeltern aber sind es schon zwei zum Quadrat, bei den Urgroßeltern zwei zur Dritten und so fort in einer sich mächtig öffnenden Reihe, die das merkwürdige Ergebnis hat, daß es am Ursprung der Zeiten schon eine fast unendliche Unzahl von Menschen bloß zu dem Zweck gegeben haben müßte, einen einzigen den heutigen hervorzubringen. Mit anderen Worten: die Ursachenkette ist eine Weberkette, es gehört ein Einschlag zu ihr und alsbald lösen sich die Ursachen in ein Gewirk auf. Die Suche nach der Ursache gehört dem Hausgebrauch an, wie die Verliebtheit der Köchin die Ursache davon ist, dass die Suppe versalzen wurde. Auf den Weltkrieg angewendet, hat dieses Forschen nach einer Ursache und einem Verursacher das höchst positive negative Resultat gehabt, daß die Ursache überall und bei jedem war. (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften) O-Ton Autor 2 (0:26) Um einer Drohung vorzubeugen muss man schon etwas an der Gegenwart schätzen. Etwas vor der angekündigten Zerstörung retten wollen. Und das ist das Problem: weil diese Zeit, die wilhelminische Zeit eine sehr ungeliebte Zeit ist. Aus vielen verschiedenen Schichten, aus den widersprüchlichsten Gründen verdichtet sich eine massive Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen. Sprecherin 1913 findet der 1. deutsche Herbstsalon statt. An ihm nehmen Avantgarde-Künstler aus vielen Ländern teil. Länder, die bald Fronten gegeneinander aufmachen werden. Ein freundschaftliches Treffen kurz vor der Konfrontation. Im Katalog schreibt der Maler Franz Marc: Zitator Das ist der Grund unserer selbstgewählten Abschließung gegen die Anträge, die die Welt uns macht; wir wollen uns nicht mit ihr vermischen. (Erster Deutscher Herbstsalon: Berlin 1913, 1913) Sprecherin Wenige Monate später wird derselbe Franz Marc erklären: Zitator Die Welt will rein werden, sie will den Krieg. (Franz Marc, Das geheime Europa, 1914) Sprecherin Hat er zwischendurch seine Haltung gegenüber der Welt geändert? Nein, die beiden Sätze widersprechen sich im Grunde nicht. Marc geht es nicht darum, die Heimat zu retten, nicht einmal die Kultur zu verteidigen. Ganz im Gegenteil: Er sehnt sich nach der kompletten Zerstörung der von ihm gehassten Gesellschaft. Nach Läuterung durch Feuer. Franz Marc wird bald an der Front ein Ende mit Schrecken widerfahren. Und er ist kein Einzelfall. Es werden viele in das Gemetzel hineinschlittern, nicht aus Vaterlandsliebe, sondern aus Hass auf die Gegenwart. Take 5 Zitator (X) Erinnern wir uns des Anfangs. Wir hatten an den Krieg nicht geglaubt, unsere politische Ansicht hatte nicht ausgereicht, die Notwendigkeit der europäischen Katastrophe zu erkennen. Als sittliche Wesen aber - ja, als solche hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgend eine Weise ersehnt, hatten im tiefsten Herzen gefühlt, dass es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe. Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens. Mit unseren Nerven, unserer Seele hatten wir tiefer an dieser gräßlichen Welt zu leiden. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und Stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? (Thomas Mann, Gedanken im Kriege, 1914) Sprecherin Nerven, Seele, Ungeziefer des Geistes. Davon schreibt Thomas Mann 1914. "Das nervöse Zeitalter" - so wird die Epoche schon damals bezeichnet. Es erscheinen Bücher von Richard Krafft-Ebing, Sigmund Freud und zahlreichen anderen. Auch der Schriftsteller und Nervenarzt Alfred Döblin interessiert sich für die neurologischen Dispositionen seiner Zeitgenossen. Medizin wird zu Literatur, der "Nervenschwache" wird zum Gegenstand der Dichtung. Zitator Mit einer Stirn, die Traum und Angst zerfraßen, Mit einem Körper, der verzweifelt hängt An einem Seile, das ein Teufel schwenkt, - So läuft er durch die langen Großstadtstraßen. (Ernst Blass, Der Nervenschwache, 1911) Sprecherin Das Zeitalter der Neurologie. Es ist dem Aufstieg dieses jungen Fachgebiets zu verdanken, dass immer mehr Symptome einer neuartigen Kategorie, nämlich: der Nervosität, zugeordnet werden. Die neue Modekrankheit löst die alte ab. Während die Hysterie nur den Frauen zugeschrieben wurde, ist die Nervosität geschlechtsübergreifend. Sprecherin Der Globus wird gleichzeitig mit einem Stromnetz überspannt, das als Nervensystem der modernen Gesellschaft gelten kann. Das Nervensystem wird als Stromnetz im menschlichen Körper interpretiert. Den neuen Krankheitsbildern, vielfach als Netzstörungen beschrieben, wird mit Stromstößen begegnet. Immer mehr Nervenkliniken entstehen. Immer mehr Patienten bezeichnen sich selbst als nervös. Sprecherin Doch die Elektrizität ist nicht nur Deutungsmuster und Therapie der nervösen Störungen. Sie wird zugleich als deren Ursache gesehen. In den Städten stehen die Menschen permanent "unter Strom". Vom Sturmlauf der elektrischen Moderne überrumpelt, strömen Arbeiter und Angestellte in die Arztpraxen: Magengeschwüre, Schlafstörungen, Impotenz. An der Ursache gibt es keinen Zweifel: Schuld sind die Beschleunigung, die Mechanisierung, die Entfremdung des modernen Lebens. Zitator Durch den ins Ungemessene gesteigerten Verkehr, durch die Weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telefons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert; alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benutzt, selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem; große politische, industrielle und finanzielle Krisen tragen ihre Aufregung in viel weitere Bevölkerungskreise als früher.(...) Das Leben in den großen Städten ist immer raffinierter und unruhiger geworden. (der Neurologe Wilhelm Erb zitiert in S. Freud: Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. 1908) Sprecherin Die Abscheu vor dem modernen Leben ist nicht nur konservativen Autoren vorbehalten. Auch Gustav Landauer, ein Anarchist, schreibt über seine Zeitgenossen. Zitator Sie sind fast allesamt ganz und gar auf den Konsum, auf das Verzehren der Außenwelt angewiesen. Sie sind immer auf der Jagd nach Sensationen, Impressionen, Erlebnissen, und müssen die Welt mit immer steigender Heftigkeit in sich hineinpumpen, um nicht wie ein ausgeleerter Sack am Boden zu liegen. (Gustav Landauer, "Tarnowka", 1908) O-Ton Autor 3 (2:28) Das was zu dieser Zeit passiert ist, dass zum ersten Mal die schädlichen Nebenwirkungen des Fortschritts wahrgenommen werden. Da kommt eine neue Wortbildung: Zivilisationskrankheit. Also zum ersten Mal wird Zivilisationskrankheit verwendet, um die Nervosität zu beschreiben. Und die Symptome sind dann so vielfältig, dass bald kein Lebensbereich mehr vom Krankheitsverdacht ausgeschlossen wird. So dass die Zivilisation selbst als Krankheit empfunden wird. Wie wir wissen: Es ist eine Lebenslüge der konservativen Kulturkritik zu behaupten damals, dass die Technik, der Fortschritt ein Import aus England ist. Technik ist undeutsch. Walther Rathenau zum Beispiel schreibt in seiner "Kritik der Zeit", dass die Mechanisierung der Welt zu einer "Entgermanisierung" führt. Und auch die Nervosität wird als "amerikanische Krankheit" bezeichnet. Die politische Nervosität wiederum kommt aus Frankreich, das sind die Ideen von 1789 die ins reich von Frankreich aus eingeschmuggelt worden sind. So dass aus dem Westen die deutsche Kultur von der Zivilisation verdrängt wird - das ist die Erzählung. Aber natürlich gibt es auch Anhänger des Fortschritts, der Modernität, alles voran die Sozialdemokraten. Die schauen aber in die andere Richtung, also Richtung Osten. Die malen den russischen Teufel an die Wand, die warnen vorm "Blutzarentum" und vor der Bedrohung der germanischen Kultur durch halbbarbarische Horden - es gibt damals in der sozialdemokratischen Presse wirklich russisch-feindliche Artikel. So dass sich dann letztlich das Bild einer geistigen Einkreisung Deutschlands ergibt: Vom Westen her kommt die Zivilisation und vom Osten her die Barbarei und das ist natürlich auch eine wichtige Komponente der geistigen Mobilmachung, die schon vorm Krieg stattfindet. Und da sind wir dann wieder bei der Nervosität: denn so wie sich der menschliche Körper vor schädlichen Einflüssen von außen schützen soll, so muss der deutsche Geist vor den schädlichen Einflüssen der Barbarei geschützt werden. Sprecherin Selbst dort, wo die Ängste nicht politisch artikuliert sind, herrscht eine apokalyptische Stimmung. Der Expressionismus - auch "nervöse Kunst" genannt - schwelgt in Katastrophenphantasien. Zitator Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, In allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. (Jakob van Hoddis, Weltende, 1911) Sprecherin Ein weiteres Zeichen der Nervosität ist das rastlose Fernweh. In einer Zeit, in der es noch keine Reisepässe gibt, sind viele Menschen unterwegs. Wohlhabende Touristen fahren mit dem Zug in Kur- und Badeorte. Den Baedecker stets im Koffer. Derweil vagabundieren Landstreicher auf der Suche nach temporärem Obdach - sie werden zunehmend als Gefahr stigmatisiert. Zwischen diesen Polen entfaltet sich die Wandervogelbewegung. Auf der Suche nach Ursprünglichkeit, Kameradschaft und Erfahrung flüchten immer mehr junge Menschen aus den Städten in die idealisierte Natur. Kurzum: Keiner scheint so recht zu wissen, wo seinen Platz ist. Sogar eine pathologische Form von Fernweh wird entdeckt: Der Wandertrieb oder die Poriomanie. Ohne einsichtigen Grund, ohne fassbares Ziel laufen Menschen einfach weg. In quasi hypnotischen Zustand streifen sie herum, landen in fremden Ländern oder gar auf fremden Kontinenten. Hinterher erinnern sie sich an nichts. Die meisten Fälle betreffen übrigens Wehrpflichtige. Die nicht vor einem drohenden Krieg flüchten. Sondern vor der Langeweile der Militärausbildung. Die Mobilmachung schließlich hat für viele Männer einen gewissen Reiz. Endlich steht in Aussicht, die Reiselust zu befriedigt. Womit allerdings keiner rechnet ist die Tatsache, dass dem Reisen durch die Kriegsführung auch bald wieder ein Ende gesetzt wird. Aus einem Bewegungskrieg, wie er 1914 anfängt, entwickelt sich schnell ein Stellungskrieg. Die Soldaten werden mehr denn je fixiert sein, werden bewegungslos, dem Kriegstreiben ausgesetzt. O-Ton Autor 4 (0.38) Aber es wäre auch ein Irrtum zu glauben, dass die Ablehnung der Epoche damals nur eine Reaktion gegen das Neue, gegen die Moderne sei - weil, genauso wichtig ist die Auflehnung gegen das Alte, gegen die Tradition, gegen die bürgerliche Moral, die sexuelle Unterdrückung, gegen preußisches Kadavergehorsam, das spielt natürlich eine genauso große Rolle, und zwar sind das nicht zwei Komponenten, die voneinander getrennt sind sondern die sich vermischen. Praktisch in jedem Kulturkritiker dieser Zeit vermischt sich die Revolte gegen das Neue und gegen das Alte. O-Ton Autor 4.2 (1:21) Man muss sich vorstellen dass die Zustände damals wirklich unerträglich waren. Zum Beispiel verging keine Woche ohne Schülerselbstmord. Es gab viele Fälle. Viele Romane klagen auch das Schulsystem an. // Wir kennen "Unterm Rad" von Hermann Hesse, "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" von Robert Musil, "Professor Unrat" von Heinrich Mann - überall ertönt ein Schrei gegen Drill und Disziplin und überhaupt gegen die Vaterfigur. Die Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg ist von der Vaterproblematik beherrscht. Die Figur des Vaters, das Patriarchat, das Vaterland, der Obrigkeitsstaat, die autoritäre Erziehung... Nicht von ungefähr ist diese Zeit die Blütezeit sowohl der Psychoanalyse als auch vom Anarchismus - was in Deutschland ziemlich selten vorkam - in dieser Zeit ist Anarchismus, mit Gustav Landauer und Erick Mühsam sehr präsent. All diese Tendenzen zielten auf die Demontage der Vaterfigur. Zitator Die Tyrannei der Familie zerstören, dies mittelalterliche Blutgeschwür, diesen Hexensabbath und die Folterkammer mit Schwefel! Aufheben die Gesetze -Wiederherstellen die Freiheit, der Menschen höchstes Gut! Bedenke, dass der Kampf gegen den Vater das gleiche ist, was vor hundert Jahren die Rache an den Fürsten war. Heute sind wir im Recht! Heute singen wir die Marseillaise! (Walter Hasenclever, Der Sohn,1914) Sprecherin Ein Begriff taucht zum ersten Mal auf: "Jugendbewegung". Die Konfliktlinie wird nicht mehr ideologisch, sondern durch die Zugehörigkeit zur Generation definiert. Seit Anfang des Jahrhunderts blühen in Deutschland Protestformen, die wir heute eher mit der Generation der 1960er und 70er Jahre assoziieren Sprecherin Langhaarige Männer in Sandalen, Mädchen in selbstgenähten Trachten, Naturromantik, FKK, Vegetarismus, freie Liebe, Anthroposophie, Kritik der "entseelten Arbeit", Landkommunen, Wanderlust, Reformpädagogik, Frauenemanzipation, Gesänge am Lagerfeuer. All das, was wir in den 1960er und -70er Jahren erleben werden ist schon da. Sprecherin Die Jugend trachtet nach selbstbestimmter Lebensgestaltung. Und sie fühlt sich von den Älteren, ganz gleich welcher ideologischer Prägung, daran gehindert. Sprecherin Am 11. und 12. Oktober 1913 findet auf dem Berg Meißner bei Kassel der 1. Freideutsche Jugendtag statt. Er ist als Gegenveranstaltung zur martialischen Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig gedacht. Und doch haben wir hier keine Protestkundgebung vor uns. Sondern ein Fest. Weniger eine Auflehnung gegen eine überkommene Ordnung, als vielmehr die Feier eines neuen Prinzips. Rund 3.000 Jugendliche nehmen teil, die meisten davon auffällig gekleidet, um ihre Ablehnung der uniformierten Kultur im Kaiserreich zu betonen. Take 6 Zitator (X) Auf dem Zeltplatz angelangt suchten sich die Gruppen und Fähnlein Lagerplätze, und aus dem Durcheinander bunt gekleideter Mädchen und Jungen ordnete sich die Masse und wurde sesshaft auf Zeltbahnen. Reisig wurde gesammelt, um in der langgestreckten Senke Feuer zu entfachen. Ein märchenhaftes Biwakieren ohne Zelte begann. Und vom Winde getriebener Sang und Klang, Rufen, Lachen und Klappern der Kochgeschirre lockten Anwohner herbei, die dem Ereignis zuschauten. Nach dem Kochen wurde von Gruppe zu Gruppe heftig diskutiert und man tummelte sich bei fröhlichem Spiel. Hier warfen Recken Speere, man startete wilde Wettläufe, dort wurden Reigentänze veranstaltet. Auch junge 'Naturmenschen', braun und sehnig, mischten sich unter den 'Kultivierten' und lockten Kritik und Bewunderung hervor. (...) Während der ganzen Tagung verfloss wohl keine Minute, ohne dass -solange Tageslicht war- einer der Älteren Reden hielt, und es war sogar so, dass gleichzeitig mehrere Redner zu hören waren. Uns erschienen die aufgeworfenen Probleme von einer ungeheueren, weittragenden Bedeutung. Ich erinnere mich, dass man von einer Revolution sprach. Es war die sogenannte geistige Revolution... Man sprach davon, dass der Zeitpunkt einer großen Auseinandersetzung bevorstünde. Aber gegen wen und mit wem wollte man sich eigentlich auseinandersetzen? Das wussten die Leute auf dem Hohen Meißner nicht. Wenn man jemandem den Kampf ansagt, so war es die Gesellschaft. Alle Errungenschaften der Zivilisation -auch die Industrialisierung war gemeint- sollten liquidiert werden. Man sprach von der Abschaffung der Eisenbahn, der Post, des Telephons, Feuerwaffen sollten wieder durch Wurfspieße ersetzt werden. (Anonymer Zeitzeuge, zitiert in Hoher Meißner 1913: der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Hg. von Winfried Mogge, Köln, Verlag Wiss. und Politik 1988) Sprecherin Die allgemeine Ablehnung artikuliert sich, auf den ersten Blick zwar etwas konfus, aber doch mit erkennbarer Antikriegsstimmung. Oder, wie es der Schriftstellers Hans Paasche damals ruft: "Deutschland brennt, und wir sind die Feuerwehr!" Sprecherin Nicht nur die Jugend wehrt sich gegen die Kriegstreibereien. Einem Großteil der Menschen stand der Sinn nicht nach Krieg. Wer möchte schon Familie und Heimat verlassen? Wer fühlt sich für Heldentaten prädestiniert? Antikriegskundgebungen finden im ganzen Land statt. Noch zwei Wochen vor der Mobilmachung demonstrieren in Berlin 750.000 Menschen. Am 14. Juli 1914 schwören versammelte deutsche und französische Arbeiter, niemals aufeinander zu schießen. Einer der damaligen Beobachter, der hinterher historische Einordnung betrieb, war der Schriftsteller Stefan Zweig. Zitator Wenn es damals dennoch zur Konflagration kam, so war der eigentliche Grund, dass bis zum letzten Augenblicke niemand an den Krieg glaubte. Die allgemeine Mentalität hielt ihn für unmöglich, die sozialistischen Arbeiter vertrauten ihren Führern, die im entscheidenden Augenblicke ängstlich ihr Bekenntnis im Stiche ließen. (Stefan Zweig, 1914 und heute, in Zeit und Welt, 1946) O-Ton Autor 5 und 5.2 (1:27) Wir können nicht über die Vorkriegszeit sprechen ohne über die Rolle der Sozialdemokratie zu reden. Die SPD ist damals stärkste Fraktion im Reichstag, sie ist die größte Arbeiterpartei der Welt, sie ist mit Schwesterparteien international verbunden, und offiziell dem Frieden verpflichtet, und selbst Menschen und Intellektuelle die keine Sozialdemokraten sind setzen ihre ganze Hoffnung in diese Partei. 1912 im Dom zu Basel in einem quasi sakralen Akt schwören die Sozialisten aller Nationen alles zu tun um einen Krieg zu verhindern. Aber die Funktionäre weigern sich, sich zu praktischen Mitteln zu verpflichten. Vor einem Generalstreik fürchten sie sich mehr als vor einem Krieg. Take 7 Zitator (X) Der Krieg ist nicht nur Schrecken und Tod. Er ist oft genug auch die Ermöglichung einer höhern Organisationsform der Menschheit und ist damit gut und liegt in der Linie des menschlichen Fortschritts. Und wenn dem so ist, so muss er gewollt werden." (der SPD- Genosse Max Maurenbrecher, "die Demokratie und der Krieg", 1913) O-Ton Autor 5.2 Die SPD-Führer hoffen, die Bewilligung des Krieges in Machtzuwachs und Anerkennung umsetzen zu können. Sie halten den imperialistischen Zusammenprall für unabdingbar. Und sogar für notwendig, sie wollen in ihm einen Fortschritt erblicken. Weil der Kaiser genötigt sein wird um einen Krieg zu führen die Privatindustrie zu verstaatlichen - also doch einen Schritt Richtung Sozialismus zu machen. Dennoch werden weiterhin Hoffnungen geschürt, Antikriegsdemos organisiert und man, lässt die Minderheit um Rosa Luxemburg antimilitaristisch agitieren. So dass der Verrat erst am letzten Tag offenkundig wird. Zitator Es ist dumm, ein Wort der Vernunft zu sprechen, wenn die Stunde der Vernunft nicht da ist. Heute Manifeste zu schreiben, Resolutionen für den Frieden zu fabrizieren, nichts Zweckloseres gibt es, nichts Belangloseres. Und wenn die internationale Sozialdemokratie jetzt phrasentoll die "Schmach des Krieges brandmarkt",, wo die Genossen sich vielleicht schon zum Marschieren rüsten, sollte man die Führer auslachen oder auspeitschen. Denn allein die Pflichtvergessenheit dieser armseligen Mandatsschacherer ist schuld, dass die Völker Europas noch heute vor der Möglichkeit eines Weltbrandes zu bangen haben. Wäre die bombastisch quasselnde Viermillionenpartei nicht jahrzehntelang nationalistisch gedrillt worden, wir könnten heute jedes Kriegsgeheul heiter hinnehmen. (Franz Pfemfert, Die Aktion, 1.8.14) Sprecherin Politische Mittel, um gegen einen Krieg vorzugehen, stehen nicht mehr zur Verfügung. Ein biologisches Mittel taucht im letzten Moment noch auf. Der Halberstädter Arzt und später dann SPD-Stadtverordnete Alfred Bernstein, der im Gesundheitswesen einen Namen hat, ruft zum Gebärstreik auf. Take 8 Zitator (X) Der Sozialismus will eine Regelung der menschlichen Produktion, da soll er erst einmal eine Regelung der Produktion von Menschen besorgen. Kinderreiche Familien liefern das Kanonenfutter für das Bürgertum. Gibt den Reichen und der Regierung keine Kinder mehr, und der Staat ist verloren. Arbeiter, Eure Stärke ruht in Euren Geschlechtsorganen. Ihr Arbeiterfrauen, in deren Schoß unsere Zukunftshoffnungen ruhen, ihr Gedrückten und Geknebelten, ihr habt die Siegespalme in der Hand, wenn ihr Euch weigert, weiter als Gebärmaschinen zu fungieren. Wenn eine Familie dabei ausstirbt, wäre es auch kein Schaden, es gibt noch genug. Der Gebärstreik, der unblutige, er wird den Kapitalismus auf die Knie zwingen. (Alfred Bernstein, Aufruf zum Gebärstreik, 1913) Sprecherin Ein Gebärstreik. In den letzten Monaten des Friedens wird die Idee von der Arbeiterschaft, insbesondere deren weiblichen Teil, begeistert aufgegriffen. Sie breitet sich wie ein Ölfleck aus. Die Sozialdemokraten halten es für nötig, Gegenkundgebungen einzuberufen. Vor gewaltigen, stark emotionalisierten Zuhörermassen versucht die Parteiführung, die These mit dem Argument zu diskreditieren: Wenn dem Staat keine Soldaten mehr geboren würden, so gebäre die Arbeiterklasse auch keine Soldaten der Revolution mehr. Eine Angriffsrede Clara Zetkins kulminiert in dem grandiosen Satz: Zitator Ein Präservativ-Geschlechtsverkehr in der proletarischen Masse bedeutet ein Massenselbstmord der sozialdemokratischen Partei. Sprecherin Die Mehrheit der Zuhörer allerdings lässt sich nicht überzeugen. Selbst die populäre Führerin wird durch Lärm und Gebrüll unterbrochen. O-Ton 6 (0:59) Wir können den Gebärstreik als letzte Antikriegsbewegung werten. Es war ja ein rührender Versuch sich in einer verzweifelten Lage das eigene Schicksal wieder anzueignen. Wenn Entwicklungsgesetze zum Massengrab führen, wenn im Namen der historischen Notwendigkeit die Opferung der Söhne verlangt wird, dann ist ein Abbruch, ein Schwangerschaftsabbruch wünschenswert. Zwar kam die Zeugungsverweigerung zu spät, um zu verhindern dass der Krieg anfängt - dennoch war die Haltung konsequent wenn man bedenkt, dass dadurch die Zahl der Kriegswaisen etwas vermindert wurde. Übrigens sind nicht nur die Arbeiter wenig geneigt Kinder zu zeugen. In seinem Buch konstatiert Florian Illies ohne es erklären zu können, dass in der kulturellen Elite 1913 kein einziges Kind geboren wird. Zitator Aber eines Morgens rollte durch die Nebelluft das Echo von Signalen. (Ernst Stadler, Der Aufbruch, 1914) Sprecherin Ein Donnerschlag - so wird die Kriegserklärung am 2. August 1914 überall beschrieben. Und doch haben wir gesehen: Dieser Donnerschlag kam nicht aus heiterem Himmel. Ganz im Gegenteil. Die Atmosphäre war immer bedrückender geworden, schwül, elektrisch, nervös, gewitterschwanger. Dies erklärt die Erleichterung, das Aufatmen und gar die Begeisterung vieler Menschen, als das indirekt Gespürte endlich ein Gesicht bekommt - seine Fratze zeigt. Die Möglichkeit wird zur Wirklichkeit. Oder, mit den Worten Clara Zetkins: "Das Furchtbare ist Ereignis geworden". Zitator Fremde redeten sich an auf den Straßen, in den Ämtern vergaß man das Amt, in den Geschäften das Geschäft, man telephonierte sich ununterbrochen, von Haus zu Haus, um die innere Spannung zu entladen, die Restaurants, die Kaffeehäuser Wiens waren wochenlang voll bis tief in die Nacht von diskutierenden, von exaltierten, nervösen, aber immer schwätzenden und schwätzenden Menschen, jeder einzelne ein Stratege, ein Nationalökonom, ein Prophet. ( Das Wien von gestern in: S. Zweig, Zeit und Welt, 1943) O-Ton Autor 7 Wir haben alle das Bild im Kopf von der Massen Begeisterung, dem sogenannten "Augusterlebnis". Der Massen im August 1914. Nun haben die Forscher belegt, dass das Augusterlebnis eine Legende ist, die wurde hinterher konstruiert sowohl von Militaristen als auch von Sozialdemokraten, um ihre eigenen Taten zu rechtfertigen. Die Leute waren nicht so enthusiastisch, und da sind selbst die Zeugnisse des Bildungsbürgertums nicht sehr zuverlässig, weil für die meisten Menschen stellte sich die existenzielle Frage: Wie wird in diesem Sommer geerntet, wie wird die Familie überleben, Menschen hatten mit schieren Existenzängsten zu tun und deshalb hält sich die Begeisterung in Grenzen. O-Ton Autor 7.2 Es ist ein Rätsel. Zwei Wochen vor dem 2. August demonstrieren über eine halbe Million Menschen gegen den Krieg und dann haben wir diese Bilder von kriegsbegeisterten Menschen. Sind sie wirklich so begeistert? Was zeigen diese Bilder? Natürlich gab es diese Euphorie, aber die hatte auch eine Menge mit der Verdrängung von Angst zu tun. Und es wurden Augenzeugenberichte wieder gefunden die sagen das Umgekehrte: Die meisten Menschen sind schweigend und ängstlich. Sie sind alle natürlich draußen, damals gab es keinen Fernseher und alle sind draußen, um die Nachrichten zu bekommen. Aber sehr enthusiastisch sind sie nicht. Sprecherin In einer Mischung aus Euphorie und Panik, Gesang und Geheul erreicht die Nervosität ihren Höhepunkt. Nach dem 2.August 1914 ist keine Zeit mehr, nachzudenken. Erst viel später werden die Überlebenden auf jene Tage mit Befremden zurückblicken. Erst dann werden sie die Stimmen der Toten erreichen, die sie damals überhört hatten. Take 9 Zitator (X) Als ich am 4. August1914 eine Nummer des Matin aufmachte und in großen Buchstaben las "Deutschland erklärt Frankreich den Krieg", hatte ich das plötzliche Gefühl einer unsichtbaren Anwesenheit, die von der ganzen Vergangenheit vorbereitet und angekündigt worden war, in der Art eines Schattens, der dem Körper, der ihn wirft, vorangeht. (Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, 1932) Zitator Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand. (Georg Heym, Der Krieg 1, 1911) Take 10 Zitator (X) Es war, als wenn eine Legendenfigur aus dem Buche, das ihre Geschichte erzählt, herausträte und sich gemächlich im Zimmer platzierte. Sie hatte ihre Stunde abgewartet, und gemütlich ohne Umstände setzte sie sich an ihrem Platz. Dreiundvierzig Jahre vager Unruhe hatten darauf abgezielt, dieses Gemälde zu entwerfen: das Zimmer mit seinen Möbeln, die aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch, ich davor stehend und das "Ereignis" alles mit seiner Gegenwart durchtränkend. (Henri Bergson, die beiden Quellen der Moral und der Religion) Zitator In den Abendlärm der Städte fällt es weit, Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit, Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis. Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß. (Georg Heym, Der Krieg 1, 1911) Take 11 Zitator (X) Trotz meiner Bestürzung und obgleich ein Krieg, auch ein siegreicher, mir als eine Katastrophe erschien, empfand ich ein Gefühl der Bewunderung für die Leichtigkeit, mit der sich der Übergang von abstraktem zum Konkreten vollzogen hatte: Wer hätte gedacht, dass eine so furchtbare Möglichkeit ihren Eintritt in die Wirklichkeit mit so wenig Schwierigkeit vollziehen könnte? (Henri Bergson, die beiden Quellen der Moral und der Religion) Zitator In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht. Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht. In der Ferne wimmert ein Geläute dünn Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn. (Georg Heym, Der Krieg 1, 1911)